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liebe leserinnen, liebe leser, Heimweh ist die ... - Christina Bacher

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editorial<br />

Foto: Bettina Kuchenbuch<br />

BANK EXTRA-Chefredakteurin<br />

Chr<strong>ist</strong>ina <strong>Bacher</strong><br />

Liebe Leserinnen, <strong>liebe</strong> Leser,<br />

<strong>Heimweh</strong> <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Sehnsucht in der Fremde, nach dem Zuhause. Die Sehnsucht<br />

aus der Heimat in <strong>die</strong> Ferne heißt Fernweh – viele Besucherinnen<br />

und Besucher des Offenen Treffs der OASE kennen beides:<br />

Einerseits das Unterwegssein und andererseits <strong>die</strong> Gedanken an<br />

Zuhause, wo auch immer das <strong>ist</strong>.<br />

Wir haben es uns nun in der Hauptreisezeit des Jahres zur Aufgabe<br />

gemacht, das Fernweh unserer Leser zu stillen, ohne, daß sie sich auf<br />

den Weg machen müssen. Unser Blick richtet sich nach Burkina Faso und<br />

Namibia, wir schauen nach St. Petersburg und Osaka – jedoch nicht<br />

durch eine rosa Tour<strong>ist</strong>enbrille. Neben den Texten unserer angestammten<br />

Autoren haben wir für <strong>die</strong>se Ausgabe erstmals – als Mitglied des<br />

Verbands International Network of Street Papers (INSP) – den Street<br />

News Service genutzt. Dieser stellt weltweit Geschichten anderer<br />

Straßenzeitungen zur Verfügung und versteht sich somit als globaler<br />

Motor gegen Armut. Der INSP verbindet 93 Straßenzeitungen in<br />

38 Ländern und fördert neue Projekte in Entwicklungsländern.<br />

Wir wünschen gute Lektüre und einen schönen Sommer,<br />

Chr<strong>ist</strong>ina <strong>Bacher</strong> und <strong>die</strong> Redaktion<br />

3


inhalt<br />

Foto: Matthias Bartholdi<br />

Schlaglichter aus der Welt<br />

„Taxi, Monsieur?“ Na aber sofort, denkt sich Matthias<br />

Bartholdi und verstaut sein Gepäck im Kofferraum. Gerade<br />

eben <strong>ist</strong> er aus dem Flugzeug gestiegen – in Burkina Faso.<br />

Für BANK EXTRA lässt er uns an seinen Reise-Eindrücken<br />

teilhaben. Servaas van den Bosch wiederum berichtet<br />

über den Haushaltsplan in Namibia. Und Karl Karam hat<br />

sich in Tanger umgesehen. Gehen Sie mit uns auf <strong>die</strong><br />

Reise auf den Seiten 6-22.<br />

Burkina Faso<br />

Inhalt<br />

Vorwort..........................................................3<br />

Inhalt, Überblick......................................... 4/5<br />

Foto: Agentur<br />

Themenschwerpunkt Rund um <strong>die</strong> Welt<br />

Verkäufer weltweit im Rampenlicht:<br />

Michail, Miroaki, Willi............................... 6-9<br />

Rheinland: Interview mit<br />

Konrad Beikircher.................................. 10-13<br />

Namibia: Neuer Haushalt in der Kritik.......14<br />

Burkina Faso: Das Gesetz<br />

der Straße.............................................. 15-18<br />

Konrad Beikircher<br />

Masuren: Vielleicht....................................19<br />

Eigene Welt: Kali kä oräa Gineka..............20<br />

Tanger: Begegnung.............................. 21-22<br />

4


inhalt<br />

„Stell dir vor, es <strong>ist</strong> Krieg und du kommst nicht mehr rein“,<br />

könnte man denken, wenn man durch den Atombunker<br />

in Kalk spaziert. Bernd Imgrund (Text) und Britta Schmitz<br />

(Fotos) haben das getan und ihre außergewöhnlichen<br />

Spaziergänge für das Buch „111 Kölner Orte, <strong>die</strong> man<br />

gesehen haben muss“ (Emons Verlag) aufbewahrt. Die<br />

BANK EXTRA druckt eine kleine, feine Auswahl ab. Ab<br />

sofort immer auf den Seiten 32/33.<br />

Reportage: Triebjäger unter Zwang..... 23-24<br />

Kurzgeschichte: Die Flucht zum<br />

Planeten Gordon..........................................25<br />

Foto: Kirsten Neumann<br />

Aus der Oase......................................... 26-27<br />

Buch-, Webtipps..........................................29<br />

Porträt: Heiko Sakurai................................30<br />

Comic: Heikos Kulturschau.........................31<br />

111 Orte: Der Atombunker.................... 32-33<br />

Heiko Sakurai<br />

Vorschau, Impressum..................................34<br />

Adressen......................................................35<br />

5


und um <strong>die</strong> welt<br />

Verkäufer weltweit im Rampenlicht<br />

Foto: Worldwide Vendor Spotlight<br />

Name: Michail Denisov<br />

Alter: 59 Jahre<br />

Stadt: St. Petersburg<br />

Land: Russland<br />

Straßenzeitung: „Put Domoi“<br />

(Heimreise)<br />

Als ich 1999 für <strong>die</strong> russische<br />

Straßenzeitung „Put Domoi“<br />

(Heimreise), vorher bekannt<br />

als „Na Dne“ (Ganz unten), zu arbeiten<br />

begann, lief in meinem Leben alles<br />

sehr gut. Dann erlitt ich jedoch einen<br />

Autounfall und trug schwere Verletzungen<br />

davon, <strong>die</strong> mich für den Rest<br />

meines Lebens zu einem Behinderten<br />

machten. Heute denke ich, dass<br />

der Verkauf der Straßenzeitung der<br />

einzige Job <strong>ist</strong>, den ich imstande bin<br />

auszuüben. Wenn ich auf der Straße<br />

stehe und <strong>die</strong> Zeitung verkaufe, fragen<br />

mich <strong>die</strong> Leute oft: „Wie <strong>ist</strong> es<br />

denn so, obdachlos zu sein?“ Viele<br />

sind sich nicht darüber bewusst, dass<br />

Obdachlosigkeit ein Problem darstellt<br />

und dass es obdachlose Menschen<br />

wie mich gibt. Andere haben eine<br />

sehr eingeschränkte, klischeehafte<br />

Vorstellung und denken, alle Obdachlosen<br />

seien „heruntergekommen und<br />

besoffen“. Umso überraschter sind<br />

sie dann, wenn sie sehen, wie ich gut<br />

gekleidet und nüchtern Zeitungen mit<br />

meinen eigenen Gedichten verkaufe.<br />

Viele versuchen auch meine Situation<br />

nachzuempfinden und mich besser<br />

zu verstehen. Manche Leute haben<br />

selbst ähnliche Erfahrungen gemacht.<br />

Mit denen kommt man am besten<br />

zurecht. Obdachlos sein, bedeutet<br />

allein zu sein. Das weiß ich aus eigener<br />

Erfahrung. Es <strong>ist</strong> unmöglich <strong>die</strong><br />

Menschen zum Zuhören zu bewegen,<br />

besonders in St. Petersburg. Die Menschen<br />

hier sind verschlossen. Nett,<br />

aber verschlossen. Dabei müssen<br />

<strong>die</strong> Menschen verstehen, warum es<br />

so wichtig <strong>ist</strong> Obdachlosen zu helfen.<br />

Denn nur wenn sie verstehen, helfen<br />

sie. Mir liegt es am Herzen, dass <strong>die</strong><br />

Menschen mir zuhören und wissen,<br />

dass ich in der Stadt, <strong>die</strong> ich <strong>liebe</strong>, als<br />

Obdachloser lebe. Ich empfinde <strong>die</strong> Tatsache,<br />

dass meine Gedichte in unserer<br />

Straßenzeitung abgedruckt werden,<br />

als einen meiner größten Erfolge.<br />

Wenn ich <strong>die</strong> Zeitung verkaufe, erzähle<br />

ich jedem: „Meine Verse kannst du<br />

auf der und der Seite lesen.“ Die Menschen<br />

schlagen <strong>die</strong> Seite nach und kaufen<br />

<strong>die</strong> Zeitung. Manche fragen mich<br />

sogar nach einem Autogramm. Ich<br />

glaube für <strong>die</strong> Menschen <strong>ist</strong> das Interessante,<br />

dass sie den Verfasser <strong>die</strong>ser<br />

Gedichte persönlich kennenlernen<br />

können. Insbesondere wenn <strong>die</strong> Menschen<br />

<strong>die</strong> Zeitung regelmäßig kaufen.<br />

Mir gefällt der Gedanke, dass <strong>die</strong>s der<br />

Grund <strong>ist</strong>, warum ich so viele Exemplare<br />

verkaufe. Mein Lieblingsort, oder<br />

besser gesagt, mein Lieblingsort in St.<br />

Petersburg, <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Strandpromenade.<br />

Ich <strong>liebe</strong> St. Petersburg wirklich sehr<br />

und würde <strong>die</strong> Stadt für keine andere<br />

eintauschen. Doch <strong>die</strong> Menschen rennen<br />

wie blind durch <strong>die</strong> Straßen. Die<br />

Strandpromenade <strong>ist</strong> hingegen ein<br />

Ort zum durchatmen. Dort kann man<br />

einfach auf das Wasser starren und an<br />

seine Liebsten denken. Ich hoffe, dass<br />

<strong>die</strong> Menschen sich eines Tages mehr<br />

Beachtung schenken und sich gegenseitig<br />

zuhören. Ich hoffe, dass meinem<br />

Problem Aufmerksamkeit gewidmet<br />

wird und dass <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> fragen<br />

„Wer sind <strong>die</strong>se Obdachlosen?“ und<br />

„Leben manche Leute wirklich so?“<br />

nie selber in eine solche Lage geraten.<br />

Ich habe eine kleine Tochter. Sie<br />

lebt bei meiner Ex-Frau. Ich wünsche<br />

mir, dass sie niemals am eigenen Leib<br />

erfahren muss, wie es <strong>ist</strong>, obdachlos<br />

und allein zu sein. Ich hoffe, dass sie<br />

meine Gedanken versteht, wenn sie<br />

älter <strong>ist</strong> und dass sie jeden Menschen<br />

freundlich und mit Respekt behandelt.<br />

6


und um <strong>die</strong> welt<br />

Verkäufer weltweit im Rampenlicht<br />

Name: Hiroaki Sugiura<br />

Alter: 42<br />

Stadt: Osaka<br />

Land: Japan<br />

Straßenzeitung: The Big Issue<br />

Ein Sozialarbeiter hat mal zu mir<br />

gesagt „Du b<strong>ist</strong> kein Marathon-Läufer,<br />

sondern ein Sprinter.“<br />

Ich neige dazu unbedingt arbeiten<br />

zu wollen. Allerdings, durch <strong>die</strong> Krankheiten,<br />

unter denen ich mein ganzes<br />

Leben lang gelitten habe, konnte ich<br />

nie für längere Zeit am Stück arbeiten.<br />

Als ich 19 Jahre alt war <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Firma<br />

meines Vaters bankrott gegangen und<br />

meine ganze Familie <strong>ist</strong> von Kobe nach<br />

Osaka gezogen. Ich bin aber geb<strong>liebe</strong>n<br />

und habe angefangen in einem Pachinko<br />

Spielsalon zu arbeiten und zu wohnen.<br />

Die Arbeit war sehr anstrengend.<br />

Ich hatte nur ein paar freie Tage im<br />

Monat und musste oft von 9 Uhr morgens<br />

bis Mitternacht arbeiten. Ich war<br />

so überarbeitet, dass ich unter starken<br />

Depressionen litt. Daraufhin kam ich<br />

ins Krankenhaus, aber kurz darauf<br />

arbeitete ich in einem Eisenwerk. Aber<br />

wieder konnte ich nicht lange arbeiten,<br />

weil meine Gesundheit zu schlecht war.<br />

Als ich aus dem Krankenhaus kam, fing<br />

ich an als Zeitungsbote zu arbeiten. Ich<br />

kam nie zu spät und vergaß nicht einmal<br />

eine Zeitung auszuteilen. Aber <strong>die</strong><br />

Medikamente machten mich rastlos<br />

und da ich keinen Schaden anrichten<br />

wollte, ging ich. Seit <strong>die</strong>ser Zeit bin ich<br />

in Behandlung und nehme Medikamente.<br />

Eines Tages erzählte mir eine<br />

Kundin, dass sie auch psychisch krank<br />

sei. Ich sagte zu ihr, „Du b<strong>ist</strong> nicht faul<br />

oder so. Du musst einsehen, dass<br />

es eine Krankheit <strong>ist</strong> und aufhören<br />

so hart mit dir selbst zu sein.“ Meine<br />

Bemerkung rührte sie zu Tränen. Jetzt<br />

kann ich ehrlich sagen, dass ich froh<br />

bin depressiv gewesen zu sein. Denn<br />

nun kann ich besser verstehen, was<br />

es heißt zu leiden. Zur Zeit wohne ich<br />

in einem Übergangsheim. Hier habe<br />

ich einen Schlafplatz, drei Mahlzeiten<br />

und ein Bad. Diesen Luxus verdanke<br />

ich meinen Kunden. Ich bin dankbar für<br />

alles, was sie mir geben. Hier zu wohnen<br />

heißt ich habe Zeit meinem Hobby<br />

nachzugehen – lesen. Meine Lieblingsautoren<br />

sind Masuji Ibuse und Osamu<br />

Dazai. Ich finde ihre Werke zeigen Güte<br />

gegenüber den Schwächeren. Ich mag<br />

vor allem Fugaku Hyakkei von Osamu<br />

Dazai. Lesen zu können gibt meiner<br />

Seele den Frieden, den ich nach meiner<br />

Krankheit brauche. Jeden Tag,<br />

wenn ich zu meinem Verkaufsstandort<br />

komme, sorge ich erstmal dafür, dass<br />

<strong>die</strong> Umgebung sauber <strong>ist</strong>. Ich finde ein<br />

Verkäufer sollte das tun. Seit Oktober<br />

verkaufe ich Zeitungen in Osaka. Allerdings<br />

<strong>ist</strong> es schon das vierte mal, dass<br />

ich als Verkäufer für <strong>die</strong> Straßenzeitung<br />

arbeite. Nachdem ich gekündigt hatte,<br />

wohnte ich in einer Notunterkunft,<br />

konnte aber The Big Issue nicht vergessen.<br />

Ich habe entschieden <strong>die</strong>sen<br />

Job so lange wie möglich weiterzumachen.<br />

Ich glaube, dass ich wieder ein<br />

normales Leben führen kann. Mein<br />

momentanes Ziel <strong>ist</strong> für <strong>die</strong> nächsten<br />

sechs Monate bis ein Jahr weiter Zeitungen<br />

zu verkaufen. Hoffentlich wird<br />

irgendwann meine Familie erkennen,<br />

dass ich hier ehrliche Arbeit le<strong>ist</strong>e und<br />

Zeitungen verkaufe und dass ich meine<br />

Familie dann wiedersehe.<br />

SNS Exklusiv © Street News Service:<br />

www.street-papers.org<br />

7


und um <strong>die</strong> welt<br />

„Ich arbeite gerne für<br />

Kölns älteste<br />

Obdachlosenzeitung!“<br />

8


und um <strong>die</strong> welt<br />

Name: Willi Godau<br />

Alter: 37 Jahre<br />

Stadt: Köln<br />

Land: Deutschland<br />

Straßenzeitung: BANK EXTRA<br />

Jeden Vormittag – außer sonntags<br />

– verkaufe ich <strong>die</strong> Straßenzeitung<br />

BANK EXTRA am<br />

Kölner Neumarkt. Ich bin Willi G. und<br />

bin 37 Jahre alt. Als ich vor ungefähr<br />

vier Jahren mit einem Kumpel das<br />

erste Mal in <strong>die</strong> Kölner Einrichtung<br />

OASE mitgekommen bin, da war ich<br />

noch ängstlich und vorsichtig, sozusagen<br />

ein gebranntes Kind. Ich saß<br />

damals schweigsam in der Ecke, heute<br />

<strong>ist</strong> das anders. Irgendwann habe ich<br />

mal mit angepackt und in der Kleiderkammer<br />

mitgeholfen, einer Frau beim<br />

Einkaufen geholfen und später habe<br />

ich mich im Verkaufen der Straßenzeitung<br />

BANK EXTRA versucht und dabei<br />

bin ich geb<strong>liebe</strong>n. Für mich hat <strong>die</strong><br />

Arbeit als Ehrenamtlicher in der Oase<br />

sehr viel mit meiner Vergangenheit<br />

zu tun. Anderen helfen, das hilft mir<br />

selbst, alles besser zu verstehen und<br />

zu verarbeiten.<br />

In Rondorf bin als viertes Kind geboren,<br />

d.h. sieben Jahre nach den anderen<br />

Geschw<strong>ist</strong>ern. Ich sollte eigentlich<br />

ein Mädchen werden, das hat mir mein<br />

Vater immer wieder erzählt. Die ersten<br />

Jahre meiner Kindheit waren sehr<br />

schön, da habe ich gute Erinnerungen<br />

dran. Wir wohnten zwar in einer Art<br />

Bunker, einem Übergangshaus, zuerst<br />

ohne Wasseranschluss. Aber was<br />

viel wichtiger war, das war der große<br />

Fußballplatz direkt vor der Haustür!<br />

Damals hatte ich viel Kontakt mit<br />

meinen Verwandten in Rodenkirchen,<br />

mein Vater war damals Dachdecker.<br />

Als ich drei Jahre alt war, sind wir nach<br />

Mechenich gezogen. Meine ältesten<br />

Brüder wollten dorthin, um eine vernünftige<br />

Wohnung mit Badezimmer zu<br />

haben. Wir waren zu viert in einem Kinderzimmer,<br />

ein Doppelbett, eine Liege<br />

und ich als Jüngster hatte damals ein<br />

Kinderbett. Kurz danach hat mein Vater<br />

seine Arbeit verloren, <strong>die</strong> Mutter war<br />

Hausfrau. Als er dann stellvertretender<br />

Hausme<strong>ist</strong>er wurde, kamen wir dann<br />

aber doch über <strong>die</strong> Runden, wir Jungs<br />

konnten sogar mit helfen. Bis dahin<br />

waren es <strong>die</strong> schönsten Jahre.<br />

Dann kam der Zeitpunkt, an dem mein<br />

Vater auch <strong>die</strong>se Stelle verlor und er<br />

immer mehr Alkohol trank. Da war ich<br />

ungefähr sechs Jahre alt und bekam<br />

<strong>die</strong>se Ekzesse schon richtig mit. Er<br />

wurde immer aggressiver, war immer<br />

öfter zu Hause und terrorisierte uns.<br />

Zum Beispiel durften wir nur 5 Minuten<br />

duschen, wenn es länger dauerte,<br />

trat er <strong>die</strong> Tür auf und schlug uns. Mein<br />

ältester Bruder, den er vergötterte,<br />

der war da schon beim Bund. Als ich<br />

mit 7 Jahren in <strong>die</strong> Schule kam, war<br />

ich erst auf einer normalen Schule und<br />

kam da auch super klar. Ich lernte lesen<br />

und hatte Freunde. Aber der Direktor<br />

konnte mich nicht besonders leiden,<br />

behauptete, daß ich mit den anderen<br />

nicht mitkomme. Dann musste ich auf<br />

eine Sonderschule in Sürth. Das war<br />

eine gute Schule, wirklich, aber mir<br />

hat <strong>die</strong> Sache einen Knacks gegeben.<br />

Danach kam ich nicht mehr so gut im<br />

Unterricht zurecht, hab mir zwar Mühe<br />

gegeben, aber nach einem Jahr sind<br />

wir dann wieder umgezogen und ich<br />

musste <strong>die</strong> Schule wieder verlassen.<br />

Für drei Wochen sind wir nach Vogelsang<br />

gezogen, dort war ich in einer<br />

modernen Behindertenschule. Da sich<br />

das Amt geirrt hatte, mussten wir aber<br />

wieder umziehen in <strong>die</strong> Brühler Straße.<br />

Das war dann wieder ein Sozialbau,<br />

dort <strong>ist</strong> mein zweitältester Bruder<br />

abgehauen. Er hatte Angst vor meinem<br />

Vater, ihn hatte er am schlimmsten<br />

in der Mangel. Kurz vorher hatte er<br />

ihm zwei Zähne rausgeschlagen, zu<br />

der Zeit habe ich dann auch mit Alkohol<br />

angefangen. Da war ich kurz vor<br />

meinem 9. Lebensjahr. Mein Vater hat<br />

Bowle gemacht, da mussten wir alle<br />

mittrinken, ob wir wollten oder nicht.<br />

Als Kind nimmt man ja gerne <strong>die</strong> Früchte<br />

und da kann ich mich bis heute noch<br />

erinnern: Ich war so betrunken, daß ich<br />

vom Stockbett runter aufs Kinderbett<br />

gesprungen bin, dann war der Lattenrost<br />

kaputt. Aber ich habe es eben<br />

gehasst, mit 8 Jahren noch in einem<br />

Gitterbett zu schlafen. Ich habe mich<br />

geschämt, aber ich durfte ja eh keinen<br />

Besuch mit nach hause bringen. Jedenfalls<br />

ging der Lattenrost zu Bruch und<br />

ich habe das erste Mal richtig Schläge<br />

bekommen. Mein Vater hat mich an<br />

den Haaren aus dem Bett herausgezogen<br />

und mit einem nassen Militärgürtel<br />

auf mich geschlagen, daß ich<br />

eine Woche nicht richtig sitzen konnte.<br />

Trotzdem bin ich da noch in <strong>die</strong> Schule<br />

gegangen, obwohl das <strong>die</strong> allerletzte<br />

Schule war. In der Zeit fing das an, daß<br />

ich meinen Urin nicht halten konnte. So<br />

bekam <strong>die</strong> Schule das zwar mit, aber<br />

da hat sich keiner drum gekümmert.<br />

Eine Lehrerin hat mir mal Kleidung<br />

geschenkt, ich wollte dann nicht mehr<br />

hin. Dann habe ich mich im Park versteckt<br />

oder bin rumgelaufen. Einmal<br />

hat mich auch <strong>die</strong> Polizei aufgegriffen<br />

und nach hause gebracht. Kaum waren<br />

<strong>die</strong> weg, gabs dann richtig Schläge, als<br />

mein Bruder mich schützen wollte, hat<br />

er auch noch welche bekommen. Mein<br />

Vater hat meinem Bruder das Trommelfell<br />

zerschlagen, darauf kann er<br />

bis heute nichts hören. Meine Mutter<br />

hat manchmal versucht, dazwischen<br />

zu gehen. Aber <strong>die</strong> war selbst so arm<br />

dran, <strong>die</strong> hat uns nicht helfen können.<br />

Kurz nach meinem neunten Geburtstag<br />

bekam ich Schläge, so dass meine<br />

Brille zu Bruch ging. Ich habe damals<br />

schon sehr schlecht gesehen, ich habe<br />

meine Brille also mit nur einem Glas<br />

angezogen, bis ich eine neue Brille<br />

vom Arzt verschrieben bekam. Dafür<br />

wurde auch mein Taschengeld von<br />

5 DM im Monat gesperrt. Ab dem<br />

10. Lebensjahr durfte ich dann gar nicht<br />

mehr zur Schule gehen.<br />

Und Willi G. schreibt weiter für <strong>die</strong><br />

BANK EXTRA, wie er es schaffte,<br />

sich von seiner Familie zu d<strong>ist</strong>anzieren<br />

und seinem Vater zu verzeihen<br />

und wie er schließlich<br />

einen Freund fürs Leben fand.<br />

9


und um <strong>die</strong> welt<br />

„Wäre ich aus Köln,<br />

hätte ich keine Schnitte!“<br />

Konrad Beikircher im Interview mit der BANK EXTRA<br />

10


und um <strong>die</strong> welt<br />

Konrad Beikircher <strong>ist</strong> ein Multitalent: Psychologe, Kabarett<strong>ist</strong>,<br />

Schriftsteller, Musiker, Kosmopolit. Vor allem <strong>ist</strong> er aber eines:<br />

Im Herzen ein Rheinländer. Wir sprachen mit ihm deshalb<br />

über das Lieblingsthema der Kölnerinnen und Kölner: Köln.<br />

Aber er erzählte auch über sein neues Buch, über seinen<br />

Retter in Pubertätsnöten, Adriano Celentano, über Opern ohne<br />

Längen, rheinische Legenden und über seine bewegte Zeit<br />

als Gefängnispsychologe.<br />

BANK EXTRA: Herr Beikircher, Ihre Biographie<br />

zeigt einige spannende Veränderungen<br />

und Wendepunkte. Sie<br />

kamen als 20-jähriger junger Mann<br />

aus Bruneck, Südtirol, nach Bonn. Was<br />

hat sie dazu bewogen, ins Rheinland<br />

zu kommen?<br />

Konrad Beikircher: Ich bin nicht ins<br />

Rheinland gekommen, weil ich hierhin<br />

wollte. Vielmehr bin ich hierhin<br />

gekommen, weil ich weg wollte. Ich<br />

wollte weg aus Südtirol, weg aus den<br />

Dolomiten, weg von der katholischen<br />

Engstirnigkeit, von all <strong>die</strong>sen grauenhaften<br />

Dingen. Ich war drei Semester<br />

in Wien Referent der südtiroler<br />

Studentenschaft. Und dann war das<br />

ein ganz spontaner Entschluss. Der<br />

Sozialreferent sagte: „In Deutschland<br />

gibt es gebührenfrei Stu<strong>die</strong>nplätze für<br />

Südtiroler.“ Wegen der angeblichen<br />

Unterdrückung der Südtiroler durch<br />

<strong>die</strong> Italiener wurden wir südtiroler Studenten<br />

ja auf Händen getragen. „Aber<br />

München, das geht nicht, sondern<br />

weiter draußen.“ Ich fragte: „Ja, wo<br />

denn überall?“ Göttingen, Hamburg,<br />

Berlin, Bonn. Ich wusste: Das Fach<br />

Psychologie war damals in Bonn sehr<br />

gut besetzt. Dann habe ich nicht lange<br />

überlegt. Freunde meines Vaters<br />

haben mir eine Bude besorgt. Dann<br />

war ich drei Tage später in Bonn.<br />

BANK EXTRA: Ein schneller Entschluss…<br />

Konrad Beikircher: Ich war selber überrascht<br />

über meine Entschlussfreudigkeit.<br />

Aufgewacht bin ich dann, nachdem<br />

ich zwei Tage hier war. Ich habe<br />

kein Wort verstanden. Ich dachte:<br />

„Hier bleibe ich auf gar keinen Fall. Ich<br />

packe <strong>die</strong> Koffer gar nicht erst aus. Hier<br />

will ich wieder weg.“ Aber dann <strong>ist</strong> es<br />

halt anders gekommen.<br />

BANK EXTRA: Was hat Sie veranlasst zu<br />

bleiben?<br />

Konrad Beikircher: Eigentlich <strong>die</strong><br />

Scham, meinem Vater eingestehen zu<br />

müssen, dass ich mich vertan habe.<br />

Zumindest zunächst. Dann aber, mit<br />

jeder Woche Rheinland, hat mich <strong>die</strong><br />

faszinierende Frau Münch, meine Zimmerwirtin<br />

in Bonn, ‚bönnsch Mädche’<br />

reinsten Wassers, immer tiefer in <strong>die</strong>se<br />

unglaubliche Welt am Rhein hineingezogen<br />

und dabei blieb es dann.<br />

11


und um <strong>die</strong> welt<br />

„Entweder Psychiatrie oder Knast…“<br />

BANK EXTRA: Sie haben Musik und Psychologie<br />

in Bonn stu<strong>die</strong>rt, Ihr Diplom<br />

in Psychologie absolviert. Dann haben<br />

Sie eine interessante Berufswahl<br />

getroffen. Sie waren Gefängnispsychologe<br />

in der JVA Siegburg. Warum?<br />

Konrad Beikircher: Ich habe neben dem<br />

Studium gejobbt, als freier Mitarbeiter<br />

beim Generalanzeiger in Bonn.<br />

Da habe ich natürlich Seiten in Bonn<br />

kennen gelernt, <strong>die</strong> nicht so schön<br />

waren. Darüber sollten wir berichten.<br />

Gleichzeit waren es <strong>die</strong> 68-Zeiten. Ich<br />

war natürlich auf der Straße, selbstverständlich<br />

haben wir demonstriert. Ich<br />

habe mich mit meinem Papa gestritten,<br />

habe mich als wahrer Sozial<strong>ist</strong><br />

gefühlt. Deshalb war uns klar, meiner<br />

damaligen Frau und mir: Es kommt für<br />

uns nur eine soziale Tätigkeit in Frage.<br />

Also entweder Psychiatrie oder Knast.<br />

BANK EXTRA: Wann haben Sie den<br />

Sozial<strong>ist</strong>en abgelegt? Oder sind Sie es<br />

noch? Sie entsprechen nicht gerade<br />

dem Klischee…<br />

Konrad Beikircher: In Bezug auf das<br />

Herz für Minderheiten bin ich sozial<br />

geb<strong>liebe</strong>n. Sozial<strong>ist</strong> bin ich wohl nicht<br />

mehr so richtig, dazu haben mich das<br />

Leben und <strong>die</strong> Einsichten in größere<br />

Zusammenhänge doch zu sehr abgeschliffen.<br />

Ich engagiere mich aber nach<br />

wie vor für <strong>die</strong> Benachteiligten, egal,<br />

wo sie sind.<br />

BANK EXTRA: Wie haben Sie das<br />

gemacht: Von einer sehr gut dotierten<br />

Tätigkeit im öffentlichen Dienst des<br />

Strafvollzugs, kurz vor einer Beförderung,<br />

in das eher unsichere Leben des<br />

Kabarett<strong>ist</strong>en zu wechseln?<br />

Konrad Beikircher: 1971 habe ich angefangen.<br />

Das war ein Aufbruchsgefühl<br />

damals – wir waren ja <strong>die</strong> ersten<br />

Gefängnispsychologen – und haben<br />

einen roten Teppich gelegt bekommen<br />

vom Min<strong>ist</strong>erium. Wir konnten damals<br />

also viele Dinge tun, da können <strong>die</strong><br />

Gefängnispsychologen heute nur von<br />

träumen. Ich bin mit den jugendlichen<br />

Straftätern in Siegburg Mittagessen<br />

gegangen, draußen. Ich habe das dem<br />

Anstaltsleiter gesagt: „Das sind junge<br />

Leute. Die kriegen hier einen Koller.<br />

Die müssen mal raus.“ Mit einer Naivität<br />

ohnegleichen. Ich habe das 15<br />

Jahre lang gemacht. Es <strong>ist</strong> nie etwas<br />

passiert. Ich bin der Überzeugung:<br />

Wenn man jugendlichen Straftätern<br />

mit kontrolliertem Vertrauen begegnet,<br />

man muss natürlich offene Augen<br />

haben, das wird honoriert. Mir <strong>ist</strong> kein<br />

einziger abgehauen…. Das <strong>ist</strong> der<br />

Grund, warum ich damals gegangen<br />

bin: Dieser völlige Blödsinn, dass der<br />

Psychologe in einer geschlossenen<br />

Situation erklären soll, wie jemand in<br />

der freien Situation, „draußen“, funktioniert,<br />

lebt und tickt.<br />

BANK EXTRA: Ihr Thema heute <strong>ist</strong> <strong>die</strong><br />

Sprache und Kultur des Rheinländers.<br />

Ihr neues Buch heißt dann konsequenterweise<br />

„Wer weiß, wofür et<br />

jot es“. Wir gehen davon aus, dass es<br />

nicht ausschließlich ein Loblied auf <strong>die</strong><br />

gemütliche rheinische Seele <strong>ist</strong>…<br />

Konrad Beikircher: Ich habe da auch<br />

Geschichten drin, <strong>die</strong> der kölschen und<br />

rheinischen Seele unbekannt sind. Es<br />

geht auch um Düsseldorf und Aachen.<br />

Und „dat kennt der Kölsche jar nit“, weil<br />

er außer sich gar nichts kennt. Und es<br />

<strong>ist</strong> natürlich der kabarett<strong>ist</strong>isch überhöhte<br />

Blick auf <strong>die</strong>ses Lebensgefühl.<br />

Es <strong>ist</strong> ja wirklich anders hier, es <strong>ist</strong><br />

überhaupt nicht deutsch, schon eher<br />

wallonisch oder französisch. Wenn er<br />

auch nicht kochen kann, der Rheinländer.<br />

Das <strong>ist</strong> eine einzige Katastrophe.<br />

Insgesamt <strong>ist</strong> es aber doch eine ganz<br />

witzige, mediterrane Art hier zu leben.<br />

BANK EXTRA: Witzige Art zu leben?<br />

Vielleicht von Weiberfastnacht bis Veilchen<strong>die</strong>nstag.<br />

Am Aschermittwoch sitzen<br />

dann alle wieder mit langen, griesgrämigen<br />

Gesichtern in der U-Bahn<br />

und granteln vor sich hin…<br />

„Mir geht <strong>die</strong>ses Wetter auch auf das<br />

Gemüt…“<br />

Konrad Beikircher: Also, ich glaube, das<br />

hat ziemlich viel mit Licht und Wetter<br />

zu tun. Was soll ich sagen: Das <strong>ist</strong> einfach<br />

Scheiße hier. Wenn man einmal<br />

das andere kennen gelernt hat, das<br />

Leben südlich der Alpen… Mir geht es<br />

auf das Gemüt, wenn von November<br />

bis März der Vorhang zu <strong>ist</strong>, niemand<br />

zieht <strong>die</strong> Rollladen hoch, es <strong>ist</strong> immer<br />

<strong>die</strong>ser Dunst, <strong>die</strong>ser Hochnebel. Also<br />

ich kann das schlecht ertragen. Ich<br />

denke, da bin ich nicht der einzige…<br />

BANK EXTRA: Kommen wir noch einmal<br />

auf Ihr neues Buch zurück. Der Kölsche<br />

wird allgemein als gutmütig, gemütlich<br />

und fröhlich beschrieben. Sogar sein<br />

Lieblingshassobjekt, den Düsseldorfer,<br />

verwaltet und pflegt er eher mit<br />

niedlicher Hingabe. Gibt es eigentlich<br />

gar nichts Gemeines an <strong>die</strong>sem kölschen<br />

Charakter?<br />

Konrad Beikircher: Klar, das gibt es.<br />

Selbst in Redensarten. Eine klassische<br />

Situation <strong>ist</strong>: Du b<strong>ist</strong> in Köln, stolperst,<br />

fällst hin. Da guckt dich der Kölsche an<br />

und sagt: „Bisse jefalle?“ Ohne Dir zu<br />

helfen. Wie alle Menschen hat der Kölner<br />

Schadenfreude. Und es gibt eine<br />

große Laissez faire-Haltung in Köln.<br />

Über <strong>die</strong> hat sich Heinrich Böll schon<br />

aufgeregt, und zwar zu recht. In dem<br />

Sinne: „Et is mer ejal.“ Also <strong>die</strong> kölsche<br />

Übersetzung des französischen Egalité.<br />

So leicht der Kölner bei Dingen, <strong>die</strong><br />

ihm gefallen, mitgeht und singt und<br />

mitmacht, so schnell dreht er sich auch<br />

um, wenn man etwas von ihm will,<br />

wenn man ihn einfordert und anfängt,<br />

verbindlich zu werden. Das hat er nicht<br />

so gerne. Die kölsche Anonymität heißt:<br />

So lange Du mit ihm Kölsch trinkst, <strong>ist</strong><br />

alles in Ordnung. Heute duzt er dich,<br />

und morgen guckt er dich mit dem<br />

Arsch nicht an. In Norddeutschland <strong>ist</strong><br />

das anders: Wenn Du den ersten Schritt<br />

machst, dann steht der Kontakt. Die<br />

machen halt nicht den ersten Schritt.<br />

12


und um <strong>die</strong> welt<br />

„Es muss über <strong>die</strong> Kinder laufen…“<br />

BANK EXTRA: Nicht nur Tier- und Pflanzenarten<br />

verschwinden auf der Weltkarte.<br />

Sondern auch Dialekte und<br />

Sprachen. Die Iren, Waliser und Schotten<br />

zum Beispiel pflegen deshalb ihr<br />

Gälisch. Wie könnte das Kölsche als<br />

Dialekt besser gefördert und gepflegt<br />

werden?<br />

Konrad Beikircher: Man muss bei den<br />

Kindern anfangen. Das Kölsche wird<br />

ja schon gepflegt, besonders von der<br />

Akademie für kölsche Sprache. Es<br />

geht nur so. Auf der Straße wird ja häufig<br />

auch kein richtiges Kölsch gesprochen.<br />

Da kann man sich vielleicht <strong>die</strong><br />

Sprachmelo<strong>die</strong> abgucken. Viele Kölnerinnen<br />

und Kölner sind sehr unsicher<br />

in Bezug auf ihren Dialekt. Dabei <strong>ist</strong><br />

er sehr schön. Es gibt schöne starke<br />

Wortformen wie „Da jinken wir“ – da<br />

gingen wir. Von alleine passiert nichts<br />

mehr. Dialekt findet zu wenig statt. Es<br />

bleibt nur der Weg: Es muss über <strong>die</strong><br />

Kinder laufen…<br />

BANK EXTRA: Der kölsche Dialekt kreiert<br />

einen Teil der kölschen Identität.<br />

Jedes Volk oder jede Volksgruppe hat<br />

darüber hinaus Legenden, <strong>die</strong> wie<br />

Klebstoff <strong>die</strong> gemeinsame Identität<br />

zusammenhalten. Wie sieht das bei<br />

den Legenden und den Mythen der<br />

Kölnerinnen und Kölner aus?<br />

Konrad Beikircher: Viele Mythen geraten<br />

in Vergessenheit. Wenn wir über<br />

rheinische Mythen sprechen, das<br />

<strong>ist</strong> schwierig. In Köln sind wir näher<br />

dran: Willi Ostermann, das <strong>ist</strong> eine<br />

mythische Figur. Der Kölsche hat<br />

einen Trend zum lebendigen Mythos,<br />

dazu gehören Tommi Engel, <strong>die</strong> Bläck<br />

Fööss, <strong>die</strong> Höhner, auch Brings mit<br />

ihrem „singe, poppe, danze“. Man<br />

sieht daran: Der Kölner hat kein Langzeitgedächtnis.<br />

Anders in Südtirol, <strong>die</strong><br />

haben Andreas Hofer oder in Leipzig,<br />

<strong>die</strong> haben den Johann Sebastian Bach.<br />

Aber da haben wir auch nichts hier in<br />

Köln. Mythen sind natürlich der Dom<br />

und Rhein. Aber um den Dom ringen<br />

sich zu viele Sentimentalitäten. Wirklich<br />

interessieren tut er <strong>die</strong> Kölnerinnen<br />

und Kölner aber nicht. Oder der<br />

Rhein… So schön <strong>ist</strong> er wirklich nicht,<br />

wie er besungen wird. Ich <strong>liebe</strong> ihn<br />

aber sehr, den Rhein, einfach weil ich<br />

Wasser <strong>liebe</strong>…<br />

BANK EXTRA: Sie sind Vielschreiber.<br />

Wie entstehen ihre Bücher? Sind<br />

es <strong>die</strong> Vorlagen für Ihre Kabarettprogramme?<br />

Oder schreiben Sie Ihre<br />

Sprachprogramme nach Tournee-Ende<br />

um und machen ein Buch daraus?<br />

Konrad Beikircher: Also, bei „Et kütt,<br />

wie et kütt“ und „Wer weiß, wofür et<br />

jot es“, da <strong>ist</strong> es so: Die sind aus dem<br />

Sprachprogramm, dem Kabarett, entstanden<br />

und ich habe hinterher noch<br />

etwas dazugeschrieben. Anders <strong>ist</strong> es<br />

bei den Konzert- und Opernführern.<br />

Das <strong>ist</strong> ein Haufen Arbeit, schöne, fröhliche<br />

Arbeit, aber das <strong>ist</strong> „auf das Buch<br />

hinarbeiten“.<br />

BANK EXTRA: Was <strong>ist</strong> das Besondere<br />

an Ihrem Opernführer?<br />

Konrad Beikircher: Opernführer gibt es<br />

viele, auch witzige, unterhaltsame.<br />

Das Problem: Die witzigen schildern<br />

nur witzige Handlungen. Etwa Wagner<br />

unter den Aspekten des Strafgesetzbuches.<br />

Ich gehe ja wegen der Musik<br />

in <strong>die</strong> Oper. Für mich war deshalb wichtig:<br />

Fast jede Oper hat Längen. Das hat<br />

mich interessiert. Da habe ich genau<br />

hingeschaut: Wo sind <strong>die</strong> Längen? Wo<br />

kannst Du mal rausgehen und schauen:<br />

Hast Du eine SMS bekommen? So<br />

praktisch lebensberatend: Was sollte<br />

man nicht versäumen? Wo geht mir<br />

das Herz auf? Wo hat Verdi geklaut?<br />

Wo sind <strong>die</strong> Hits? Die Flops? Was kann<br />

ich im Foyer sagen, um als Opernkenner<br />

zu gelten?<br />

BANK EXTRA: Welche Opern haben<br />

denn keine Längen?<br />

Konrad Beikircher: Don Giovanni von<br />

Mozart und Othello von Verdi. Das<br />

sind zwei Opern, <strong>die</strong> haben garantiert<br />

keinen Zentimeter Längen.<br />

BANK EXTRA: Wir teilen eine gemeinsame<br />

Zuneigung in puncto Musik. Die<br />

Zuneigung zu Adriano Celentano. Wie<br />

kamen Sie darauf, Celentano-Lieder zu<br />

interpretieren?<br />

Konrad Beikircher: Celentano hat einfach<br />

meine Kindheit und Jugend begleitet.<br />

Nicht nur meine, sondern <strong>die</strong> meiner<br />

Generation. Das Phänomen war:<br />

Celentano war nie ein Idol. Er hatte nie<br />

<strong>die</strong>se D<strong>ist</strong>anz. Celentano war wie ein<br />

Freund. Er hat unsere Sprache gesprochen<br />

und in <strong>die</strong>ser Sprache Lieder<br />

gesungen. Das war wie hierzulande<br />

Udo Lindenberg. Celentano drückte<br />

das aus, was man als 14-, 15-jähriger<br />

so fühlt: „Warum guckt sie mich nicht<br />

an? Warum hat sie einen anderen?“<br />

BANK EXTRA: Kurz noch zum Thema<br />

Imis. Was erkennt der Zugere<strong>ist</strong>e, als<br />

Außenseiter, besser und genauer als<br />

<strong>die</strong> Kölnerinnen und Kölner an seiner<br />

Wahlheimat?<br />

Konrad Beikircher: Er hat Vergleiche. Der<br />

Kölsche hat keine Vergleiche. Deshalb<br />

hält er sich für den Maßstab allen rheinischen<br />

Seins. Kommt er dann nach<br />

Aachen, dann sagt er: „Das <strong>ist</strong> aber<br />

schön hier. Wusst isch jar nit.“ Wusstisch-nit<br />

<strong>ist</strong> aber keine Entschuldigung<br />

für gar nichts. Da kommt jetzt der Imi.<br />

Ich habe italienische Vergleiche. Dann<br />

kommst Du hierhin und sagt: „Mensch,<br />

das <strong>ist</strong> bei euch ja genau wie in Neapel!“<br />

„Wie, Neapel?“ Dann erklärst Du<br />

das. „Ja, wusst isch jar nit…“ Bei den<br />

Kölschen <strong>ist</strong> das stärker als woanders.<br />

Und dann kommt so ein Imi wie ich, der<br />

sagt: „Ist Euch schon mal aufgefallen<br />

wie Ihr sprecht? Das <strong>ist</strong> doch ganz toll.“<br />

Und schon wirst Du gefeiert, weil mir<br />

als Imi glauben sie das. Wäre ich von<br />

hier, hätte ich keine Schnitte.<br />

BANK EXTRA: Vielen Dank für das<br />

Gespräch.<br />

Das Gespräch mit Konrad Beikircher<br />

führte Peter Zitzmann.<br />

13


und um <strong>die</strong> welt<br />

Krankenschwester im Katutura-<br />

Krankenhaus in Windhuk<br />

(Servaas van den Bosch /IPS)<br />

namibischen Hauptstadt Windhuk.<br />

„Die Arbeitslosenquote steht bei fast<br />

40 Prozent. Der Staat hätte den Bergbau<br />

nationalisieren sollen, um Entlassungen<br />

überflüssig zu machen“, meint<br />

<strong>die</strong> Expertin. Stattdessen handele <strong>die</strong><br />

Regierung vorschnell und kümmere<br />

sich nicht um <strong>die</strong> Hintergründe der<br />

Arbeitsmarktkrise. Insgesamt umfasst<br />

der Mitte März vorgestellte namibische<br />

Haushalt 2,55 Milliarden Dollar.<br />

Das Defizit wird bei rund 400 Millionen<br />

Dollar oder 5,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes<br />

(BIP) liegen. Bis<br />

2010/11 soll <strong>die</strong> Staatsverschuldung<br />

nach offiziellen Angaben 2,32 Milliarden<br />

Dollar erreichen. Das entspricht 29<br />

Prozent des BIP.<br />

Viel für Bildung, wenig für<br />

Gesundheit<br />

Namibia<br />

Neuer Haushalt in<br />

der Kritik<br />

Steuererleichterungen keine entscheidende Hilfe<br />

Windhuk – Die namibische Finanzmin<strong>ist</strong>erin<br />

Saara Kuugongelwa-Amadhila<br />

<strong>ist</strong> mit ihrem neuen Haushalt in <strong>die</strong><br />

Kritik geraten, obwohl sie den Armen<br />

Steuererleichterungen in Höhe von 80<br />

Millionen US-Dollar in Aussicht stellt.<br />

Missfallen erregt unter anderem, dass<br />

der Staat erneut mehr für Verteidigung<br />

als für Gesundheit ausgibt. Finanzieren<br />

wird der Staat sein Steuergeschenk an<br />

<strong>die</strong> sozial schwachen Bevölkerungsgruppen<br />

zum Teil über eine höhere<br />

Einkommenssteuer für <strong>die</strong> Besserver<strong>die</strong>nenden.<br />

Für alle, <strong>die</strong> ein Jahresgehalt<br />

von über 75.000 Dollar beziehen,<br />

wurde der Steuersatz von 35 auf 37<br />

Prozent angehoben. Mit Unterstützung<br />

rechnen können auch Rentner,<br />

Behinderte, Waisen und sogenannte<br />

verletzliche Kinder. Im Falle der Rentner<br />

gibt der Staat 45 Dollar pro Monat.<br />

200 Dollar allerdings erhalten Kriegsveteranen.<br />

Die 2007 eingeführte Hilfe <strong>ist</strong><br />

höchst umstritten und wird den Staat<br />

im neuen Haushaltsjahr 24 Millionen<br />

Dollar kosten.<br />

Arbeitslosenquote von 40 Prozent<br />

Das alles helfe den Arbeitslosen nicht,<br />

moniert Hilma Shindondola vom<br />

Arbeitsforschungsinstitut LaRRI in der<br />

Der größte Posten im neuen Haushalt<br />

geht an das Bildungsmin<strong>ist</strong>erium<br />

mit 530 Millionen Dollar. Insgesamt<br />

246 Millionen Dollar – zehn Millionen<br />

davon aus dem neuen Haushalt – lässt<br />

sich Namibia <strong>die</strong> Hilfe für <strong>die</strong> nationale<br />

Luftlinie 'Air Namibia' kosten. 260 Millionen<br />

Dollar bekommt das Ressort<br />

Verteidigung und 240 Millionen Dollar<br />

der Bereich Gesundheit. Schon im letzten<br />

Haushalt wurde das Verteidigungsmin<strong>ist</strong>erium<br />

großzügiger bedacht als<br />

das Gesundheitsmin<strong>ist</strong>erium. Zivilgesellschaftliche<br />

Organisationen halten<br />

das für falsch und verweisen auf den<br />

schlechten Zustand der namibischen<br />

Krankenhäuser. Auch nach Angaben der<br />

Weltgesundheitsorganisation (WHO)<br />

lässt <strong>die</strong> medizinische Versorgung in<br />

Namibia zu wünschen übrig. Allerdings<br />

steht das südwestafrikanische Land<br />

mit drei Krankenhausbetten für 1.000<br />

Menschen im regionalen Vergleich<br />

noch gut da. Unzufrieden <strong>ist</strong> auch <strong>die</strong><br />

Opposition. Das Budget <strong>ist</strong> allein Sache<br />

der Regierungspartei SWAPO, <strong>die</strong> im<br />

Parlament zwei Drittel der Abgeordneten<br />

stellt. Die englischsprachige Tageszeitung<br />

'The Namibian' beschreibt auch<br />

<strong>die</strong> Haushaltsdebatte als sinnlos aus<br />

der Sicht der Opposition: Kein einziger<br />

Buchstabe, keine einzige Zahl werde<br />

geändert.<br />

Servaas van den Bosch<br />

Courtesy of IPS Europa

© Street News<br />

Service: www.street-papers.org 
<br />

14


und um <strong>die</strong> welt<br />

Burkina Faso<br />

Das Gesetz der<br />

StraSSe<br />

Ziemlich warm <strong>ist</strong> es schon am frühen Morgen, laut <strong>ist</strong> es, staubig <strong>ist</strong> es und<br />

bunt <strong>ist</strong> es sowieso, und wenn ich mit geschlossenen Augen und verstopften<br />

Ohren raten sollte, wo ich bin, würde es mir schon wegen der Düfte klar<br />

sein: Ich kann nur in Afrika sein! Genauer gesagt befinde ich mich gerade in<br />

Burkina Faso, einem Land mitten in Westafrika, in der Sahelzone zwischen<br />

Mali im Norden und Ghana im Süden. Größtenteils wird hier Landwirtschaft<br />

betrieben, oft am Rande des Ex<strong>ist</strong>enzminimums, und viele drängen in <strong>die</strong><br />

Hauptstadt Ouagadougou, um hier ihr Glück zu suchen. Dementsprechend<br />

voll <strong>ist</strong> es da auf den Straßen. Und auf den Straßen läuft alles ab. Und das<br />

muss auch so sein, denn wir sind ja in Afrika!<br />

Fotos: Matthias Bartholdi<br />

15


und um <strong>die</strong> welt<br />

Zweiräder bestimmen das Bild<br />

Um mich herum tobt das Leben und<br />

ich mache schon wieder den Fehler,<br />

meinen Arm ganz lässig aus dem Autofenster<br />

zu hängen. Sieht cool aus, der<br />

Arm wird auch mal braun, es <strong>ist</strong> aber<br />

eher schmerzhaft, wenn da ein flotter<br />

Mopedfahrer gegen fährt. Und davon<br />

gibt es hier in Ouagadougou viele; sehr<br />

viele.<br />

Burkina Faso <strong>ist</strong> ein traditionelles Zweiradland.<br />

Das fing schon während der<br />

Revolution an, damals in den 80ern,<br />

mit dem großen Revolutionär Thomas<br />

Sankara, der als Dienstwagen einen<br />

Renault 5 fuhr, gerne auch mal öffentlich<br />

<strong>die</strong> Gitarre spielte und alles etwas<br />

kleiner wollte. Die Mobilität der Bevölkerung<br />

wurde durch <strong>die</strong> Förderung<br />

des Zweirads erreicht, und so flitzen<br />

heute weiterhin alle Arten von Fortbewegungsmitteln<br />

rum: Fahrräder – oft<br />

Damenmodelle mit einem netten Korb<br />

am Lenker –, neuerdings billige kleine<br />

chinesische Motorräder mit beeindruckenden<br />

Namen wie Crystal, Crypton,<br />

Lady King und Fingfang, sehen aber<br />

alle gleich aus, Mopeds aller Baujahre<br />

und Marken, französische Mofas<br />

(Mobylettes) und Roller. Das beste <strong>ist</strong><br />

aber „mon mari est capable“ – „mein<br />

Mann <strong>ist</strong> fähig“ – (zu was er fähig <strong>ist</strong>,<br />

bleibt offen). Dieses kleine Motorrad,<br />

auch „Yamaha Dame“ genannt, <strong>ist</strong> seit<br />

jeher der Klassiker in <strong>die</strong>sen Ländern,<br />

wird seit Jahrzehnten nahezu unverändert<br />

gebaut und nicht nur von Damen<br />

gefahren.<br />

Die Ordnung im Chaos<br />

Eigentlich geht alles relativ geordnet<br />

und vorhersehbar zu: Die Horden von<br />

Mopeds und Fahrrädern wälzen sich<br />

durch <strong>die</strong> Straßen und biegen ohne<br />

Vorwarnung rechts ab oder unvermittelt<br />

auch mal links. Entdecke ich<br />

da einen Bekannten? Schnell auf <strong>die</strong><br />

andere Seite; was schert mich der<br />

Rest der Welt! Ist das etwa Fatouma<br />

oder Fleur oder Albertine? Nichts wie<br />

rüber und ein Schwätzchen gehalten.<br />

Jedenfalls oft genug auf Kollisionskurs,<br />

und der Autofahrer kann zusehen, wo<br />

er bleibt. Diese Tuchfühlung kann für<br />

Zartbesaitete recht aufregend sein,<br />

denn es kommt nicht selten vor, dass<br />

man mit dem Auto gerade mal auf<br />

Haaresbreite an einem Kotflügel oder<br />

einer Fußraste entlangschrammt.<br />

Einige Straßen haben extra Spuren für<br />

<strong>die</strong> Zweiräder, sogar mit gesonderter<br />

Ampelschaltung. Das funktioniert<br />

sogar wirklich gut: wenn <strong>die</strong> Autos<br />

rechts abbiegen wollen, müssen <strong>die</strong><br />

Mopeds warten und umgekehrt. Dass<br />

es natürlich immer mal ein paar Ausreißer<br />

gibt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gunst des Moments<br />

nutzen und mit vollem Karacho auf der<br />

Autospur langbrettern, sich zwischen<br />

den Autos durchfädeln und ihre Kollegen<br />

hinter sich lassen, fällt kaum ins<br />

Gewicht.<br />

Mobilität für alle<br />

Und jeder fährt hier Zweirad: schicke<br />

Mädels, Araber mit Kaftan, Alte, Junge,<br />

weiße Austauschstudentinnen,<br />

Chinesen, Büromenschen mit Laptoptasche<br />

und Europäer. Und viele tragen<br />

<strong>die</strong>se Schlafmasken, <strong>die</strong> man in den<br />

Flugzeugen bekommt, als Mundschutz<br />

gegen den Staub; dafür sind<br />

Helme überhaupt nicht angesagt. Ob<br />

<strong>die</strong>se Atemmasken nun wirklich gegen<br />

den Smog und <strong>die</strong> Nebelschwaden<br />

aus Abgasen helfen, <strong>die</strong> vermischt<br />

mit dem allgegenwärtigen Staub das<br />

Atmen hier manchmal recht schwer<br />

machen, <strong>ist</strong> mir unbekannt. Gegen den<br />

Dauerlärm von knatternden Motoren,<br />

gegen <strong>die</strong> Berieselung aus Lautsprechern<br />

und gegen <strong>die</strong> gellenden Hupen<br />

helfen sie sicherlich nichts.<br />

Der informelle Sektor<br />

Zum Lärm tragen natürlich auch <strong>die</strong><br />

Menschenmengen bei, <strong>die</strong> je nach<br />

Stadtviertel auf oder neben den Straßen<br />

ihren Geschäften nachgehen.<br />

Waren aller Art werden angeboten.<br />

Beliebt sind gerade kleine Landesfahnen<br />

mit Saugnapf, <strong>die</strong> man innen an<br />

der Windschutzscheibe befestigen<br />

kann. Es laufen ja gerade <strong>die</strong> Vorausscheidungen<br />

für <strong>die</strong> afrikanische<br />

Me<strong>ist</strong>erschaft. Da muss man Flagge<br />

zeigen! Überall zu haben sind auch<br />

Handyaufladekarten aller Anbieter. An<br />

jeder Straßenecke lauern <strong>die</strong> Bengel,<br />

16


und um <strong>die</strong> welt<br />

um einem <strong>die</strong> Karten anzudrehen,<br />

laufen meterweit neben den fahrenden<br />

Autos her, bis <strong>die</strong>se mal stoppen,<br />

und <strong>die</strong> Transaktion <strong>ist</strong> in Windeseile<br />

gelaufen. Zain, Telecel oder Celtel für<br />

1000, 2000 oder 5000? Alles da, und<br />

zwischendurch wird dann mal für 'nen<br />

Groschen <strong>die</strong> Scheibe geputzt, ohne<br />

vorher zu fragen natürlich, ein Wunderbaum<br />

oder Taschentücher der Marke<br />

Lotus (<strong>die</strong> so schnell zerbröseln, und<br />

in <strong>die</strong> man besser nicht leichtfertig<br />

reinschnäuzen sollte), <strong>die</strong> Tageszeitung<br />

oder anderer Schnickschnack an den<br />

Mann oder <strong>die</strong> Frau gebracht.<br />

Straßengastronomie<br />

Vor allem Frauen sorgen fürs leibliche<br />

Wohl. Mit schwer beladenen Wannen<br />

ziehen sie durch <strong>die</strong> Straßen und bieten<br />

<strong>die</strong> Früchte des Landes oder Brot<br />

oder Sesamplätzchen an. Und so eine<br />

reife pralle Mango zum Frühstück <strong>ist</strong><br />

schon etwas Tolles, vor allem wenn<br />

man weiß, dass sie nicht schon durch<br />

drei Kühlketten und etliche Supermarktlager<br />

gewandert <strong>ist</strong>. Ihre Genossinnen,<br />

<strong>die</strong> sich fest etabliert haben,<br />

sitzen derweil vor kleinen Holzkochherden<br />

am Straßenrand und backen<br />

am Morgen kleine Krapfen in Öl, <strong>die</strong><br />

mit etwas scharfer Soße oder Zucker<br />

ein guter Start in den Tag sind. Alternativ<br />

dazu sind Sandwiches mit gebratener<br />

Leber und Zwiebeln oder kleinen<br />

Fleischstücken zu haben. Nun, das <strong>ist</strong><br />

gewöhnungsbedürftig aber nicht weniger<br />

lecker. Mittags gibt es dann kleine<br />

Fleischspieße, den üblichen Reis mit<br />

Soße oder den vorzüglichen „Riz au<br />

gras“ (fetter Reis). Für <strong>die</strong>sen Reis, der<br />

mit Zwiebeln und traditionellen Gewürzen<br />

in großen Mengen Öl angebraten<br />

und gekocht wird, braucht man schon<br />

eine gute Konstitution. Aber eigentlich<br />

<strong>ist</strong> alles gesottene und gebratene<br />

gut bekömmlich und man kommt mit<br />

wenig Geld durch den Tag. Auch <strong>die</strong><br />

Bettler bekommen ihren Teil ab, und<br />

so sind alle zufrieden.<br />

Strenge Hierarchien<br />

Etwas gesetzter sind dann <strong>die</strong> Händler,<br />

<strong>die</strong> dann mit den absolut originalen<br />

Uhren drapiert in der Gegend<br />

herumziehen. Da geht man schließlich<br />

mit richtigen Werten um. Als junger<br />

Mann habe ich mir gerne mal eine<br />

echte Rolex oder eine Cartier mit 25<br />

Brillanten gekauft, um in der Heimat<br />

damit anzugeben. Heutzutage <strong>ist</strong> das<br />

natürlich verboten - theoretisch hier<br />

wohl auch. Es gibt natürlich nicht nur<br />

Uhren auf dem Markt der gefälschten<br />

Waren: Auch Sonnenbrillen sind darunter,<br />

dubiose, oft abgelaufene Medikamente<br />

aus Europa und Asien (rot fürs<br />

Blut, gelb für <strong>die</strong> Leber, grün für <strong>die</strong><br />

Hoffnung...), Gürtel oder Taschenlampen<br />

mit 17 LEDs. Alles für Spottpreise<br />

zu haben. In <strong>die</strong>sen modernen Zeiten<br />

sind natürlich Handyaccessoires<br />

extrem beliebt. Handyschalen – hier<br />

Fassaden genannt – aller Farben, schillernd<br />

oder nicht, glänzend oder matt<br />

finden für 'nen Euro ihren Käufer, und<br />

wenn jemand ein Ladegerät oder ein<br />

Täschchen oder einen Akku braucht,<br />

so kostet es bestimmt um einiges<br />

weniger als in unseren Geiz-<strong>ist</strong>-geil-<br />

Schuppen.<br />

Noch gesetzter sind dann <strong>die</strong>, <strong>die</strong> sich<br />

einen festen Platz ergattert haben.<br />

Es hat übrigens trotz scheinbarem Chaos<br />

alles seine Ordnung, es gibt wirklich<br />

ein Gesetz der Straße, und <strong>die</strong> Leute<br />

haben ihre festen Plätze, daher kann<br />

man durchaus auch Bestellungen aufgeben.<br />

Morgen steht der gleiche Typ<br />

wieder an der gleichen Stelle, spezialisiert<br />

auf Fassaden. Ich zum Beispiel<br />

will für mein hässliches Nokia-Diensthandy<br />

eine geile orange schillernde<br />

Fassade haben. Keine Frage, gestern<br />

bestellt, heute hole ich sie ab, <strong>die</strong> Fassade.<br />

Wird vor Ort auch direkt eingebaut,<br />

das gehört zum Service dazu.<br />

Schließlich kauft man aber auch gerne<br />

Größeres. Z.B. eine Wanduhr mit<br />

Westminster-Klang? Kein Problem. Ein<br />

billiges Dreirad für Zwei- bis Dreijährige?<br />

Auch kein Problem. Bilderrahmen<br />

aus Plastik im Barockstil mit oder ohne<br />

Neuschwanstein oder einem indischen<br />

Liebespaar drinnen? Ein Kinderspiel.<br />

Aktentaschen und Bürostühle, Poster<br />

von afrikanischen Wrestlingstars und<br />

Aufkleber mit Saddam Hussein oder<br />

17


und um <strong>die</strong> welt<br />

Bin Laden oder Barak Obama, Bälle<br />

und Zollstöcke, bunte Stoffe und Mehrfachsteckdosen?<br />

Alles <strong>ist</strong> zu haben.<br />

Und der Typ mit den Kopfkissen steht<br />

24 Stunden an seinem Platz! Also kann<br />

man auch nachts sein Kopfkissen kaufen,<br />

genau dann wenn man es braucht.<br />

Und das <strong>ist</strong> hier in Deutschland wohl<br />

kaum möglich. Afrika <strong>ist</strong> also wirklich<br />

eine ausgesprochene Dienstle<strong>ist</strong>ungsgesellschaft.<br />

All <strong>die</strong>s <strong>ist</strong> übrigens me<strong>ist</strong>ens zentral<br />

gesteuert und es steckt ein Patron<br />

dahinter, der bestimmt, wer was und<br />

wo verkauft. Dass jemand auf eigene<br />

Faust <strong>die</strong>sem Kleingewerbe nachgeht,<br />

<strong>ist</strong> eher selten.<br />

Alternative Geschäfte<br />

Abends gibt's dann leider andere<br />

Dienstle<strong>ist</strong>ungen auf der Straße. Junge<br />

Damen bieten auf ihren Mopeds<br />

eindeutigen Service an und nehmen<br />

einen mit wohin man will, oder wo<br />

es ihnen am geeignetsten erscheint.<br />

Ziemlich zweifelhaft angesichts der<br />

Seuchen, <strong>die</strong> so grassieren und auch<br />

aus menschlichen Gründen nicht zu<br />

empfehlen.<br />

Auch eine andere Art von Geschäft<br />

hat sich seit einiger Zeit eingebürgert,<br />

<strong>die</strong> man eher von unseren südeuropäischen<br />

Nachbarn kennt: Handtaschen<br />

ziehen vom Moped aus. Äußerst<br />

unfein und ziemlich rüpelhaft in <strong>die</strong>ser<br />

eher friedlichen Gesellschaft.<br />

Ziemlich nervig sind auch <strong>die</strong> sogenannten<br />

Garibous, kleine Jungs, <strong>die</strong><br />

mit Dosen um den Hals zum Betteln<br />

geschickt werden. Diese Koranschüler<br />

sammeln in den Gefäßen das Erbettelte<br />

und müssen abends einen Teil als<br />

Obolus an ihren Me<strong>ist</strong>er abgeben. Und<br />

wenn nicht, dann kann es auch schon<br />

mal Senge geben. Machenschaften,<br />

<strong>die</strong> man durchaus nicht unterstützen<br />

muss, und man sollte sich daher auch<br />

nicht von der Mitleidstour einlullen<br />

lassen.<br />

Not und Freude am gleichen Platz<br />

Schlimmer dran sind da schon <strong>die</strong><br />

Leute mit allen Arten von Behinderungen,<br />

Krüppel, Lepröse und ge<strong>ist</strong>ig<br />

Behinderte. Alte Damen sitzen auf<br />

dem Randstein und verbinden das<br />

Betteln mit ungeheurer Würde, und<br />

<strong>die</strong> Mädchen oder Jungen, <strong>die</strong> einen<br />

Teil ihrer Jugend damit verbringen,<br />

mit einem Blinden in der Stadt herumzulaufen,<br />

immer seine Hand auf der<br />

Schulter und zu den einträglichsten<br />

Bettelplätzen an Ampeln und Straßenkreuzungen<br />

zu führen, könnten sich<br />

bestimmt auch etwas besseres vorstellen.<br />

Und trotz der Armut und des<br />

täglichen Überlebenskampfes <strong>ist</strong> da<br />

immer eine bewunderungswürdige<br />

Leichtigkeit und eine gewisse Fröhlichkeit<br />

dabei. Alle haben ihren Platz<br />

auf der Straße, alle versuchen, etwas<br />

zu ergattern und haben vielleicht auch<br />

mal einen Glückstag.<br />

So wie mein Fahrer.<br />

In der Ruhe liegt <strong>die</strong> Kraft<br />

Ich fahre nicht selbst durch <strong>die</strong>sen<br />

Wirrwarr, sondern habe mir natürlich<br />

einen Fahrer genommen. Ich will<br />

ja nicht als Nervenbündel enden. Er<br />

stand abends am Flughafen, als ich<br />

angekommen bin: „Taxi, Monsieur?“<br />

Na aber sofort. In dem Gewühl noch<br />

extra eins suchen mit dem ganzen<br />

Gepäck, wäre doch etwas zuviel gewesen.<br />

Es <strong>ist</strong> nicht wie in Europa, dass da<br />

so eine Schlange steht und man sich<br />

einem Fahrzeug annähert. Hier spricht<br />

der Fahrer einen an und trägt dann das<br />

Gepäck in Sicherheit zum Auto, kurze<br />

Verhandlung, und ab dafür. Oder auch<br />

nicht. Bei mir war's „oder auch nicht“,<br />

denn <strong>die</strong> Karre sprang zunächst mal<br />

nicht an. Ein paar Jungs halfen beim<br />

Schieben und wir konnten uns dem<br />

Ziel nähern. Am nächsten Tag musste<br />

er mich abholen, zum Büro bringen,<br />

in <strong>die</strong> Stadt, einkaufen und so weiter.<br />

Und das jeden Tag, den ich in der<br />

Hauptstadt zu tun habe. Der Typ hat<br />

das große Los gezogen, denn er hat<br />

nun einen festen Kunden und muss<br />

schließlich eine Frau und zwei bis drei<br />

Kinder ernähren.<br />

Der Dienst am Kunden<br />

Ich rufe an: „Gilbert, morgen um viertelnachsechs<br />

muss ich ins Büro“, und<br />

pünktlich um viertelnachsechs <strong>ist</strong> er<br />

da. „Dann holst Du mich bitte um 17<br />

Uhr wieder ab und kaufst vorher noch<br />

zwei chinesische Koffer“, und er tut es.<br />

Rumpelt mit seinem nicht mehr taufrischen<br />

Fahrzeug deutscher Bauart<br />

<strong>die</strong> P<strong>ist</strong>en lang, wartet auf mich, redet<br />

nicht zuviel (das kann man getrost mir<br />

überlassen) und <strong>ist</strong> zum Glück ein eher<br />

zögerlicher ruhiger Fahrer, der manchmal<br />

vielleicht etwas zu lange an den<br />

Kreuzungen wartet, um zu sehen, ob<br />

nicht doch noch ein verwirrter Fahrradfahrer<br />

auftaucht. Aber besser, als<br />

wenn er sich in fahrlässiger Weise ins<br />

Getümmel stürzen würde und mich<br />

und meine Mitmenschen in Gefahr<br />

brächte. Sein alter Passat hat übrigens<br />

kein Taxischild auf dem Dach.<br />

Es <strong>ist</strong>, wie so viele, ein illegales Taxi,<br />

und Gilbert sollte sich tunlichst nicht<br />

erwischen lassen. Dass er manchmal<br />

mit der Handbremse bremsen muss,<br />

weil bremsen und Gas geben gleichzeitig<br />

eher schwierig <strong>ist</strong> und sonst der<br />

Motor ausgeht, stört mich wenig. Er<br />

bringt mich hin, wohin ich will! Und ich<br />

war auch mal jung und habe ziemliche<br />

Schrottkarren gefahren.<br />

Der Wagen gehört nicht ihm, und er<br />

muss täglich zwischen 10.000 und<br />

15.000 (14 bis 18 Euro) beim Besitzer<br />

abliefern, und da <strong>ist</strong> der Sprit noch nicht<br />

drin. Den Rest, wenn es denn einen<br />

gibt, darf er sich selbst einstecken. Ein<br />

hartes Los also, und umso zufriedener<br />

<strong>ist</strong> er, dass er mich selbst am heutigen<br />

Sonntagmorgen um sieben ins Büro<br />

kutschieren darf.<br />

info<br />

Matthias Bartholdi hat über 16<br />

Jahre in Afrika gelebt und gearbeitet<br />

und verbringt auch heutzutage<br />

<strong>die</strong> Hälfte der Zeit in afrikanischen<br />

Ländern. Er hat eine kleine Beratungsfirma<br />

und <strong>ist</strong> im Augenblick<br />

als Teamleiter in einem Projekt der<br />

Deutschen Entwicklungszusammenarbeit<br />

in Burkina Faso tätig.<br />

18


und um <strong>die</strong> welt<br />

Vielleicht ...<br />

Von Maria Bruske-Schmachtenberg<br />

Vielleicht, wenn es ihn nicht gegeben hätte, den Krieg, vielleicht<br />

lebte ich heute in Masuren, hätte einen masurischen Bauern geheiratet,<br />

und wir hätten einen See vor der Tür, an dem wir abends säßen und<br />

angelten oder Lieder sängen oder einfach nur dem sanften Plätschern<br />

lauschten nach getaner Arbeit.<br />

Vielleicht hätte ich mindestens zehn Cousinen und sieben<br />

Cousins, und <strong>die</strong> hätten wiederum Kinder, und <strong>die</strong> würden mit meinem<br />

Sohn spielen, sich zanken, sich wieder vertragen...<br />

Vielleicht lebte meine Zwillingsschwester noch, weil meine<br />

Mutter gesünder gewesen wäre und sie während der Schwangerschaft<br />

nicht so schwer hätte arbeiten müssen ...<br />

Vielleicht hätte es mich nach Danzig verschlagen, weil dort das<br />

Meer <strong>ist</strong>, oder nach Königsberg ...<br />

Vielleicht wäre Onkel Walter, über dessen Grab schon lange Gras<br />

gewachsen <strong>ist</strong>, mein Lieblingsonkel geworden, weil er so schön singen<br />

konnte, oder Onkel Paul, der so schweigsam war und heimlich Verse<br />

schrieb ...<br />

Vielleicht hätten meine Eltern mir so etwas wie Stolz vererben<br />

können, weil sie nicht <strong>die</strong> „Rucksackdeutschen“ gewesen wären, <strong>die</strong>, <strong>die</strong><br />

mit dem Persilkarton herübergekommen sind …<br />

Ganz gewiss wäre meine Cousine Wally heute keine Fremde für<br />

mich, weil es sie nicht hinter den eisernen Vorhang verschlagen hätte.<br />

Wohl kaum hätten wir als Kinder „Deutschland erklärt den Krieg“<br />

gespielt, und mein Cousin Richard bräuchte sich nicht zu schämen, weil<br />

er in der HJ war.<br />

Vielleicht hieße eine Freundin von mir Sarah oder Lilith oder<br />

Ester ...<br />

Vielleicht würde ich heute nicht nach Italien, sondern nach<br />

Russland reisen, an <strong>die</strong> Krim, würde durch <strong>die</strong> Taiga wandern, eine kleine<br />

Datscha irgendwo in einem Birkenwäldchen mein eigen nennen.<br />

Vielleicht hätte mein Vater nicht trinken brauchen, weil er keinen<br />

Russen erschossen hätte, und kein Kamerad wäre in seinem Arm gestorben.<br />

Die Magengeschwüre hätte er auch nicht bekommen brauchen, weil<br />

er nicht ein Haus hätte bauen müssen von geliehenem Geld.<br />

Vielleicht würde ich heute mit links schlesischen Mohnkuchen<br />

hinkriegen und würde noch immer Fleischbrutla sagen statt Frikadellen ...<br />

Vielleicht ...<br />

19


und um <strong>die</strong> welt<br />

„Kali kä oräa Gineka“<br />

(Gute schöne Frau)<br />

Wenn ich erzähle, ich arbeite<br />

mit chronisch psychisch<br />

Kranken zusammen, treffen<br />

mich nicht selten schiefe Blicke.<br />

Während <strong>die</strong> Einen meinen, <strong>die</strong>s sei<br />

doch wohl besonders hart, mutmaßen<br />

andere, das man wohl selber „nicht<br />

ganz dicht“ sein muss, wenn man das<br />

aushält.<br />

Sie können nicht wissen, wie wohl ich<br />

mich fühle mit meinen Ver-Rückten,<br />

aus der Mitte verschobenen Menschen.<br />

Hier weiß ich, woran ich bin und wenn<br />

mich Nico mit „Hallo Frau Professor,<br />

heute ganz in Strapse-Rot?“ (Nico<br />

drückt konsequent jedes Gefühl in<br />

Farben und Zahlen aus) begrüßt, dann<br />

zweifle ich keine Minute daran, hier bin<br />

ich richtig. Wir begegnen uns anderswo,<br />

jenseits der Worte und wenn es<br />

ihm schlecht geht und alles fünfzigmal<br />

rabenschwarze Nacht, dann <strong>ist</strong> es klar,<br />

dass er kaum geschlafen hat, das seine<br />

Heimkollegen ihn geärgert oder <strong>die</strong><br />

Gesamtweltlage ihm zugesetzt haben.<br />

So einfach <strong>ist</strong> das mit Nico.<br />

Meine kleine Griechin versucht nie,<br />

mir ein X für ein U vorzumachen.<br />

Me<strong>ist</strong> geht’s ihr „etzi, etzi“, was soviel<br />

heißt wie „nicht gut, nicht schlecht“.<br />

Wir begrüßen uns auf griechisch und<br />

manchmal, wenn sie nicht von bösartigen<br />

Dämonen geplagt <strong>ist</strong>, <strong>die</strong> ihr<br />

sagen, sie solle Kinder umbringen,<br />

strahlt sie mich an und sagt „Kali kä<br />

oräa Gineka“. Das verstehen dann nur<br />

sie und ich und das bleibt auch unser<br />

Geheimnis.<br />

Wenn ich morgens <strong>die</strong> Werkstatt<br />

betrete, sind meine „Verrückten“ noch<br />

schläfrig. Einige dösen in der Cafeteria.<br />

Andere rauchen und blaue Wolken<br />

hängen über ihren Köpfen.<br />

Frau Watzlawick liegt im tiefen Schlummer<br />

in ihren dicken Armen am Tisch.<br />

Wenn sie den Kopf hebt, <strong>ist</strong> ihr Blick<br />

glasig. Sie erhebt sich schwerfällig und<br />

watschelt dann traumwandlerisch in<br />

ihre Gruppe.<br />

Ausgestattet mit dem Handy, mit<br />

dem ich als Krankenschwester immer<br />

erreichbar sein muss, wandere ich<br />

von Werkstatt zu Werkstatt. Während<br />

ich Herrn Meier eine handvoll Pillen<br />

reiche, <strong>die</strong> er in einem Schluck mit<br />

Wasser hinunterspült und dabei etwas<br />

von Frühschoppen murmelt, höre ich<br />

mir <strong>die</strong> Klagen von Vanessa, <strong>die</strong>sem<br />

dicken fünfzigjährigem Mädchen, an.<br />

Sie zeigt mir ihren abgebrochenen Fingernagel<br />

und mault, dass alles sowieso<br />

Scheisse <strong>ist</strong> heute, das sie keine<br />

Lust zu gar nichts und außerdem Kopfschmerzen<br />

habe.<br />

Ich zücke mein Zauberfläschchen mit<br />

Lavendelöl, reibe ihr <strong>die</strong> Schläfen ein,<br />

stelle ihr ein Wochenende mit ihrem<br />

Freund Willi in Aussicht und schon<br />

verziehen sich <strong>die</strong> düsteren Wolken.<br />

Sie strahlt schon wieder übers ganze<br />

Gesicht und fragt: „Hör mal Schätzchen,<br />

was <strong>ist</strong> das, wenn man immer<br />

kalte Hände hat?“<br />

Wenn ich dann antworte „Kalte Hände,<br />

heiße Liebe“, lacht sie <strong>die</strong>ses blechernes<br />

Lachen, das nur sie zustande<br />

bringt.<br />

Zwei Männer kalbern herum, sie<br />

boxen und schubsen sich wie Jungbullen<br />

auf der Weide. Mit drohendem<br />

Zeigefinger gehe ich dazwischen und<br />

schon nehmen sie sich in den Arm und<br />

demonstrieren tiefste Liebe.<br />

Ich wandere durch <strong>die</strong> Werkstätten,<br />

messe hier einen Blutdruck, klebe<br />

dort ein Pflaster auf, schneide den<br />

eingerissenen Nagel von Herrn Weidmann,<br />

creme <strong>die</strong> Hände vom halbseitig<br />

gelähmten Herrn Weyer ein und<br />

bekomme als Dankeschön das hinreißendste<br />

Lächeln, was sich denken<br />

lässt. In der Küche steckt mir Frau<br />

Wessel heimlich einen frischgebackenen<br />

Reibekuchen zu und mit meiner<br />

Griechin tanze ich auf dem Gang einen<br />

Zirtaki.<br />

Frau Lubinski, <strong>die</strong> mir heute erzählt,<br />

sie heiße nicht Lubinski, sondern<br />

Bachmann, sie habe vier Kinder und<br />

vom letzten sei sie gestern entbunden<br />

worden, bekommt ihre Mittags-Medikamente.<br />

Sie werden nicht verhindern,<br />

dass sie morgen vielleicht Frau<br />

Schmitz oder Frau Meyer heißt. Seit<br />

dem Tod ihres Vaters richtet sie sich<br />

täglich in anderen Welten ein.<br />

Ich widerspreche ihr nicht, das würde<br />

sie verwirren und sage nur „Tschüss,<br />

Frau Lubinski, bis Morgen.“ Sie lächelt<br />

nachsichtig. Vermutlich hält sie mich<br />

für ein bisschen verrückt.<br />

Ich lasse sie in dem Glauben und beim<br />

Verlassen des Hauses denke ich, Verrückt<br />

sein <strong>ist</strong> – um mit Nicos Worten zu<br />

reden – tausendmal pinkfarben besser.<br />

Maria Bruske-Schmachtenberg<br />

20


und um <strong>die</strong> welt<br />

Fotos: Karl Karam<br />

Begegnung in<br />

Tanger<br />

Ich erinnere mich nicht, was mich<br />

an den Hafen von Tanger verschlagen<br />

hatte. Die Möwen schrieen <strong>die</strong><br />

Dämmerung herbei, als plötzlich ein<br />

barfüßiger, vielleicht dreizehnjähriger<br />

Junge mir gegenüberstand. Er trug ein<br />

schmutziges, kurzärmliges Shirt, seine<br />

Hose, bis zu den Knien hochgekrempelt,<br />

zeigte seine dünnen, braunen,<br />

von kleineren Abschürfungen übersäten<br />

Beine.<br />

Ich saß vor einem Café in Hafennähe,<br />

vor einem heruntergekommenen Eckhaus<br />

im Kolonialstil. Die Gegend war<br />

einsam. Gegenüber ein mehrere Fußballfelder<br />

großer<br />

Aschenplatz, dahinter, von einem Zaun<br />

getrennt, der Güterbahnhof. Gedämpft<br />

drang Lärm aus der nahegelegenen<br />

Altstadt in <strong>die</strong>ses Viertel mit baufälligen,<br />

anscheinend unbewohnten<br />

Häusern, an denen noch prächtige<br />

Fassaden und ein breiter Bürgersteig<br />

an früheres Leben erinnerten.<br />

Ohne sonst übliches Vorgeplänkel<br />

gerieten wir in ein Gespräch. Er hatte<br />

den Tag in Tanger verbracht und wollte<br />

in sein knapp eine Zugstunde entferntes<br />

Dorf zurück. Irgendein Geschäft<br />

– der Grund seines Aufenthalts in der<br />

Stadt – war ganz und gar nicht zu seiner<br />

Zufriedenheit verlaufen, doch ich fragte<br />

ihn nicht, worum es gegangen war. Er<br />

er-zählte von seinem Dorf und von seiner<br />

Familie, wobei, mal abwechselnd,<br />

mal gleichzeitig, seine schwarzen<br />

Augen und weißen Zähne aufblitzten.<br />

Der allabendlich willkommene Wind der<br />

Dämmerung blies <strong>die</strong> ungekämmten,<br />

schwarzen, leicht gelockten Haare in<br />

sein feinzügiges, auf mich zugleich<br />

wild wirkendes Gesicht. Ich fragte ihn,<br />

ob er auch einen Kaffee wolle – oder<br />

<strong>liebe</strong>r ein Glas Milch? Er bejahte freudig,<br />

ohne Höflichkeitsgetue: „Natürlich<br />

Kaffee“. Ich betrat das Café, das – bis<br />

auf <strong>die</strong> Tatsache, dass es fast leer war<br />

– jedem Film Noir Ehre gemacht hätte,<br />

rief dem Wirt <strong>die</strong> Bestellung zu und<br />

setzte mich wieder zu ihm. Zu mei-ner<br />

Überraschung ohne <strong>die</strong> geringsten Verständigungsschwierigkeiten,<br />

setzten<br />

wir unser Gespräch fort. Seine Stimme<br />

war klar, seine Worte schienen mir so<br />

deutlich und wohlgeformt wie <strong>die</strong> eines<br />

Poeten in einer Variation des marokkanischen<br />

Dialektes. Eine Schule hatte<br />

er noch nie besucht, wie er sichtlich<br />

ohne Bedauern antwortete. Zur Schule<br />

gehen Kinder!, betonte er – ich begriff,<br />

21


und um <strong>die</strong> welt<br />

dass seine Kindheit schon sehr lange<br />

zurückliegen musste.<br />

Als er mich fragte, woher ich komme,<br />

stellte ich fest, das Wort Almaaniya<br />

war ihm unbekannt. Ich versuchte es<br />

mit „Germany“ und „Uruba“ (Europa),<br />

doch er sah mich nur an, sehnsüchtig,<br />

winkte mit dem Kopf in Richtung<br />

Gibraltar und murmelte einige Male<br />

leise „Espanya“. Das war für ihn nicht<br />

nur das andere Ufer der Meerenge,<br />

es war <strong>die</strong> ganze Welt außerhalb der<br />

seinen. Er fragte mich, ob in Espanya<br />

wirklich jeder ein großes Auto fahre.<br />

Der Hinweis auf meinen abgewrackten<br />

Ford-Fiesta schien ihn nicht wirklich zu<br />

desillusionieren.<br />

„Zwei Kaffee?“, unterbrach uns ein<br />

hochgewachsener, sehr gepflegter<br />

junger Mann in schwarzer Hose und<br />

weißem Hemd, der Kellner, der mich<br />

sichtlich verwirrt ansah. Seine Augen<br />

durchsuchten <strong>die</strong> menschenleere<br />

Umgebung, offensichtlich vermisste<br />

er den Gast, für den der zweite Kaffee<br />

bestimmt war, den Jungen übersah er<br />

mit unbeirrter Selbstverständlichkeit.<br />

Als ich seinen Blick abfing und mit einer<br />

deutlichen Kopfbewegung zu dem Jungen<br />

an meinem Tisch leitete, flackerte<br />

Erstaunen in seinem Gesicht auf. Doch<br />

er fing sich sofort wieder und servierte<br />

von einem Messingtablett zwei Gläser<br />

Milchkaffee auf Untertellern samt<br />

Zuckerbehälter mit einer übertriebenen,<br />

schon zyni-schen Höflichkeit.<br />

Davon unbeeindruckt griff der Junge<br />

zum Teelöffel. Bevor er umrührte, füllte<br />

er Unmengen von Zucker ins Glas,<br />

nahm es in seine schmutzigen kleinen<br />

Hände und trank. Dabei wandte er nur<br />

für Sekunden seinen strahlenden Blick<br />

von mir ab. Auf meine Frage, welchen<br />

Zug er denn nähme, antwortete er<br />

mit einem herablassenden Lächeln.<br />

Er lehnte sich breitbeinig in den Stuhl,<br />

wobei seine Zehen kaum den Boden<br />

erreichten und erklärte mir überlegen,<br />

wie er unterhalb der Waggons<br />

reise, indem er zwischen <strong>die</strong> Gestänge<br />

klettere. Zwischen den vorderen<br />

Rädern des Waggons fänden <strong>die</strong> Füße<br />

sicheren Halt. Allerdings müsse man<br />

dafür kräftig sein, warnte er mich stolz,<br />

denn ein beträchtlicher Teil des Körpergewichtes<br />

sei während der gesamten<br />

Fahrt mit den Armen zu halten. Sehr<br />

ernst fügte er hinzu, er bevorzuge<br />

Güterzüge, denn vom Personal der<br />

Personenzüge würde nicht selten auch<br />

unterhalb der Waggons nach ungebetenen<br />

Passagieren Ausschau gehalten.<br />

Derart aufgeklärt, wuchs meine<br />

Zuneigung zu <strong>die</strong>sem dünnen, zähen<br />

Kerlchen. Wir lachten beide über <strong>die</strong><br />

dummen Schaffner, <strong>die</strong> sich einbilden,<br />

einen Kerl wie ihn schnappen zu können.<br />

Nur Wochen zuvor hatte ich allerdings<br />

erlebt, wie ein etwa gleichaltriger<br />

Junge ohne Ticket von einem Zivilpoliz<strong>ist</strong>en<br />

aus dem – wenn auch langsam<br />

fahrenden – Zug gestoßen wurde. Der<br />

so brutal hinaus Beförderte lief wütend<br />

und weinend hinter dem Zug her. Ich<br />

hatte mich gefragt, wie er aus <strong>die</strong>ser<br />

Einöde, fernab jedes Bahnhofs, wohl<br />

weitergekommen war. Doch <strong>die</strong> Episode<br />

behielt ich für mich, sicher, ihm<br />

damit nichts Neues zu erzählen.<br />

Wir unterhielten uns über seine 13 Geschw<strong>ist</strong>er,<br />

über <strong>die</strong> Enttäuschung seiner<br />

kranken Mutter, wenn er nun ohne das<br />

erhoffte Geld aus Tanger zurückkehre,<br />

über seinen kiffenden Vater, über das<br />

Mofa, dass er zweifellos einmal besitzen<br />

würde. Die Sonne war untergegangen,<br />

der Muezzin hatte schon zum<br />

Abendgebet gerufen. Drüben in der<br />

Altstadt gingen <strong>die</strong> Lichter an.<br />

Ich bezahlte den Kaffee. Dann gingen<br />

wir langsam nebeneinander über den<br />

Aschenplatz ins Dunkle Richtung Güterbahnhof.<br />

Ich spürte den Blick des<br />

Kellners in meinem Rücken. Noch<br />

einmal wandte ich mich um, sah auf<br />

das einsam stehende, einst prächtige<br />

Haus. Die Fenster des Cafés waren<br />

bis auf <strong>die</strong> erleuchtete Moschee in<br />

einigen hundert Metern Entfernung<br />

einzige Lichtquelle der Umgebung.<br />

Wie auf einer Bühne standen noch<br />

immer unsere Gläser auf einem der<br />

beiden Tische beidseits des Eingangs<br />

auf dem so unangemessen großstädtisch<br />

anmutenden Trottoir.<br />

Als wir nicht mehr weit vom Zaun waren,<br />

wünschte ich mir, wir würden ihn niemals<br />

erreichen. Ich zog 50 Dirham aus<br />

meiner Hosentasche, ein auch für mich<br />

nicht unerheblicher Betrag, überreichte<br />

ihm wortlos den Schein. Den ohnehin<br />

zwecklosen Rat, er möge sich eine<br />

Fahrkarte kaufen, untersagte ich mir.<br />

Ungläubig warf er einen Blick auf den<br />

blauen Geldschein, bevor er ihn ohne<br />

Zögern oder gespielte Bescheidenheit<br />

in seiner rechten Faust barg. Für einen<br />

Moment glaubte ich, so etwas wie<br />

Tränen in seinen aus der Dunkelheit<br />

funkelnden Augen zu sehen. Wiederum<br />

strahlte er mich an, doch es war<br />

nicht der Blick von zuvor im Café. Sein<br />

Gesicht spiegelte ungläubiges, <strong>die</strong>ses<br />

Glück noch nicht ganz begreifendes<br />

Erstaunen, er sah mir mit hemmungsloser<br />

Zuneigung in <strong>die</strong> Augen.<br />

Unvermittelt sprang er auf mich zu,<br />

küsste und liebkoste mit seinen Lippen<br />

sämtliche Stellen meines Gesichts. So<br />

heftig umarmte er mich, dass ich den<br />

Eindruck hatte, er hinge mit seinem<br />

Fliegengewicht an meinem Hals. Ich<br />

legte <strong>die</strong> Arme um seinen kleinen,<br />

sehnigen Körper, drückte ihn an mich,<br />

wobei ich, mit dem Kinn auf seinem<br />

Kopf, zu dem ins Dunkle versinkenden<br />

Espanya hinübersah.<br />

Unsere Wege trennten sich. Während<br />

er wahrscheinlich routiniert den Zaun<br />

zum Güterbahnhof erklomm, ging ich<br />

langsam in Richtung der trubelnden<br />

Altstadt, ohne mich noch einmal umzusehen.<br />

Mit einem Mal fühlte ich mich<br />

verdammt einsam. Um nichts <strong>liebe</strong>r<br />

wäre ich in <strong>die</strong>sem Moment mit ihm<br />

gefahren.<br />

Karl Karam<br />

22


eportage<br />

Triebjäger unter<br />

Zwang<br />

Für <strong>die</strong> Opfer <strong>ist</strong> es reiner Psychoterror,<br />

für <strong>die</strong> Täter ein Liebesbeweis.<br />

Rechtlich <strong>ist</strong> Stalking<br />

schwierig zu ahnden, griffige Präventionsmassnahmen<br />

fehlen. Immer wieder<br />

stand der Nachbar vor Sonjas* Tür.<br />

Manchmal brachte er ein „20 Minuten“,<br />

dann einen Liter Milch oder Grillwürste<br />

aus dem Sonderangebot. So weit so<br />

nett. Nur trug der Mann dabei ausser<br />

einem Unterhemd jeweils gar nichts.<br />

„Alle haben mich gewarnt, dass er<br />

seltsam sei“, sagt Sonja rückblickend.<br />

Doch sie versuche halt, anderen nicht<br />

mit Vorbehalten zu begegnen – auch<br />

nicht einem verwahrlosten Messie mit<br />

einem Alkoholproblem. So stoppte <strong>die</strong><br />

27-jährige Fotografin ab und zu für einen<br />

Schwatz im Treppenhaus und der ehemalige<br />

Taxifahrer berichtete ihr von seiner<br />

Glücklosigkeit bei Frauen. Schließlich<br />

ließ er sie gar seine vermüllte<br />

Wohnung fotografieren. Ihre Offenheit<br />

sollte für Sonja nicht ohne gravierende<br />

Konsequenzen bleiben. Anfangs hätten<br />

<strong>die</strong> dauernden Kontaktaufnahmen<br />

und schon bald täglich eintreffenden<br />

Liebesbriefe einfach genervt. Doch<br />

als er sie richtiggehend zu observieren<br />

begann, schlug <strong>die</strong> Gereiztheit in<br />

Unbehagen um. „Irgendwann kippte<br />

es. Einmal ließ ich mein Velo für<br />

zwei Tage am Bahnhof stehen – und<br />

er machte mich darauf aufmerksam.“<br />

Selbst wenn sie mitten in der Nacht<br />

heimkehrte, wartete der Mann auf sie<br />

und teilte ihr, me<strong>ist</strong> betrunken, seine<br />

intimen Wünsche mit: „Ich will, dass<br />

du mir ins Gesicht pisst.“ Als sie ihn<br />

bat, damit aufzuhören, weil sie sonst<br />

ausziehen müsse, nahm er sie nicht<br />

ernst: „Oh ja, zieh dich aus“, forderte<br />

er sie auf. Besonders geb<strong>liebe</strong>n <strong>ist</strong> ihr<br />

das erste Mal, als er sie am Arbeitsplatz<br />

aufgesucht hat. Da habe er ihr in<br />

<strong>die</strong> Augen geschaut und gesagt: „Jetzt<br />

heulst du fast.“ Erst versuchte sie, <strong>die</strong><br />

Sache nicht zu nah an sich ranzulassen.<br />

„Ich wollte mir nicht eingestehen, dass<br />

ich Angst hatte, wollte kein Opfer sein.“<br />

Deshalb erzählte sie ihren Mitbewohnern<br />

auch erst davon, als er ihr aus der<br />

Waschküche eine Unterhose klaute,<br />

<strong>die</strong> bis heute seinen Kühlschrank ziert.<br />

Sie wollte auch ihn nicht gleich „in <strong>die</strong><br />

Scheisse reiten“ und zur Polizei gehen,<br />

schickte stattdessen ein Einschreiben,<br />

in dem sie <strong>die</strong> Herausgabe ihrer<br />

Wäsche forderte. Als er wiederholt<br />

plötzlich in ihrem Zimmer stand und<br />

sie eines Nachts im Treppenhaus am<br />

Arm packte und in seine Wohnung zerren<br />

wollte, wurde ihr klar: „Ich werde<br />

gestalkt.“<br />

Perfides Massenphänomen<br />

Stalken bedeutet im englischen Jagd-<br />

Jargon „sich anpirschen“. Erstmals<br />

tauchte der Begriff Ende der Achtzigerjahre<br />

in den amerikanischen Me<strong>die</strong>n<br />

im Zusammenhang mit dem Verfolgen,<br />

Belästigen und Bedrohen von Prominenten<br />

auf. Wenn Robbie Williams<br />

oder Britney Spears von obsessiven<br />

Fans heimgesucht werden, oder der<br />

Schweizer Armeechef Roland Nef nach<br />

der Trennung von seiner Freundin <strong>die</strong><br />

Nerven verliert, sorgt das für Schlagzeilen.<br />

Dahinter verbirgt sich aber<br />

nach einhelliger Expertenmeinung ein<br />

Massenphänomen: Etwa zwölf Prozent<br />

der Schweizer Bevölkerung hat<br />

schon Stalking-Erfahrungen gemacht,<br />

39 Prozent der Opfer berichten sogar<br />

von körperlicher Gewalt. Allein in der<br />

Stadt Zürich gelangen nach Polizeiangaben<br />

jeden Monat im Schnitt zwei<br />

bis drei Fälle zur Anzeige, zudem geht<br />

man von einer erheblichen Dunkelziffer<br />

23


eportage<br />

aus. Auch der Reporter Atilla Szenogrady,<br />

der seit zwanzig Jahren täglich<br />

über das Geschehen aus den Zürcher<br />

Gerichtssälen berichtet, glaubt eine<br />

klare Zunahme von Stalking-Delikten<br />

feststellen zu können. Über <strong>die</strong> Ursachen<br />

<strong>ist</strong> nicht viel bekannt. Wohl<br />

besteht eine generelle Sensibilisierung<br />

für das Thema – in den Me<strong>die</strong>n<br />

genauso wie in der Rechtssprechung,<br />

ob aber weitere aktuelle gesellschaftliche<br />

Tendenzen wie Vereinzelung auch<br />

eine Rolle spielen, <strong>ist</strong> unklar. Als Risikofaktoren<br />

gelten Drogen- und Alkoholmissbrauch<br />

sowie Arbeitslosigkeit;<br />

Täter beginnen oft aus Langeweile zu<br />

stalken und geben so ihrem Leben<br />

Inhalt und Sinn. Bei der Zürcher Polizei<br />

führt eine Beamtin <strong>die</strong> Zunahme<br />

darauf zurück, dass es durch SMS und<br />

Internet auch mehr und einfachere<br />

Wege gibt, jemanden zu belästigen.<br />

Der Psychiater K.H. Bauer we<strong>ist</strong> aber<br />

auch darauf hin, dass solches Verhalten<br />

in der Psychologie seit über 100 Jahren<br />

beschrieben wird. In rund achtzig Prozent<br />

der Fälle sind Frauen <strong>die</strong> Opfer.<br />

Betroffene Männer befinden sich in<br />

einer merkwürdigen Lage. „Schließlich<br />

bin ich ihr ja körperlich weit überlegen“,<br />

meint der Bankangestellte Rolf*,<br />

der von einer Kollegin verfolgt wird,<br />

mit der er einige Male auf ein Feierabendbier<br />

gegangen <strong>ist</strong>. „Aber wenn<br />

sie plötzlich bewaffnet wäre, würde<br />

das ja nichts nützen.“ Sie geht perfid<br />

vor: Auf Rolfs Computer im Büro lud<br />

sie verbotene Pornografie herunter<br />

und verleumdete ihn. Dann machte sie<br />

<strong>die</strong> Telefonnummer von Rolfs Freundin<br />

ausfindig, rief <strong>die</strong>se wiederholt an und<br />

behauptete eine Affäre mit ihm zu<br />

haben. Zwar konnte Rolf seiner Freundin<br />

<strong>die</strong> Sache erklären – <strong>die</strong> hunderte<br />

von E-Mails sprechen eine klare Sprache.<br />

Doch dass sich Rolf seiner Freundin<br />

nicht anvertraute, sorgte dennoch<br />

für Verunsicherung in der Beziehung.<br />

„Ich habe halt lange gehofft, dass sie<br />

irgendwann aufhört, wenn sie merkt,<br />

dass es nichts bringt.“<br />

Weitgehende Rechtsunsicherheit<br />

Wie schwierig Stalking zu fassen <strong>ist</strong>,<br />

zeigt sich nicht nur in Einzelschicksalen,<br />

sondern auch in der Rechtspraxis.<br />

In Deutschland und Österreich,<br />

wo Stalking seit 2006 unter Strafe<br />

steht, macht sich Ernüchterung breit.<br />

Zwar gelangen seither tausende von<br />

Fällen zur Anklage, zu Verurteilungen<br />

kommt es jedoch selten. Und wenn,<br />

dann nicht wegen „hartnäckigen Nachstellens“,<br />

sondern wegen Körperverletzung,<br />

Bedrohung oder Nötigung.<br />

Die Grundproblematik, <strong>die</strong> sich ebenso<br />

aus dem Schweizer Recht ergibt,<br />

das keinen Stalking-Straftatbestand<br />

kennt, bleibt: Ein frühzeitiges Eingreifen,<br />

bevor Schlimmes passiert, <strong>ist</strong><br />

praktisch unmöglich. Per Polizeirecht<br />

können nur kurzfr<strong>ist</strong>ige Massnahmen<br />

getroffen werden, um <strong>die</strong> unmittelbare<br />

Bedrohung zu entschärfen, etwa<br />

<strong>die</strong> vorübergehende Wegweisung aus<br />

der Wohnung. Zivilrechtlich können<br />

Schutzmassnahmen, zum Beispiel ein<br />

Annäherungsverbot, ausgesprochen<br />

werden. Doch eine eigentliche Bestrafung<br />

des Täters bleibt aus. Erst Tatbestände<br />

wie Sachbeschädigung oder<br />

Diebstahl können verfolgt werden.<br />

Die Schweizer Gesetzgeber trugen<br />

der zunehmenden Problematik insofern<br />

Rechnung, indem der Gewaltbegriff<br />

breiter gefasst wurde und sich<br />

der Persönlichkeitsschutz seit 2007<br />

nicht mehr nur auf <strong>die</strong> physische, sondern<br />

auch auf <strong>die</strong> psychische, sexuelle<br />

und soziale Integrität bezieht. Im<br />

Zusammenhang mit Stalking bleibt<br />

<strong>die</strong> Strafverfolgung aber kompliziert,<br />

da es sich aus vielen, oft harmlosen,<br />

Einzelhandlungen zusammensetzt, <strong>die</strong><br />

in ihrer Summe jedoch Gewalt darstellen<br />

können. Und <strong>die</strong> Ermessensspielräume<br />

sind weit: Die Taten müssen<br />

eine „gewisse Intensität“ aufweisen<br />

und <strong>die</strong> Handlungsfreiheit des Opfers<br />

„in einem bestimmten Maß“ eingeschränkt<br />

werden. Es <strong>ist</strong> unklar, wie<br />

viel ein Opfer erdulden muss, zudem<br />

bestehen bei den Opfern Unterschiede<br />

in der Leidensfähigkeit. Wann<br />

<strong>ist</strong> ein Verhalten Furcht erregend, wann<br />

nur lästig?<br />

Präventive Wirkung angezweifelt<br />

Darauf zielte auch <strong>die</strong> Verteidigung im<br />

Falle eines besonders unbelehrbaren<br />

Stalkers am Züricher Obergericht ab:<br />

„Man kann sich ja vor der täglichen<br />

Werbeflut auch nicht wehren.“ Es<br />

sind nicht <strong>die</strong> Taten an sich – Telefonterror,<br />

unerwünschte Besuche und<br />

Geschenke –, sondern deren Hartnäckigkeit,<br />

<strong>die</strong> beeindrucken: 329 Mal<br />

hatte der 65-Jährige seine Angebetete<br />

angerufen – innerhalb von zwei Tagen.<br />

Das geht schon über fünf Jahre so,<br />

zum fünften Mal musste er sich deswegen<br />

vor Gericht verantworten. Er<br />

liess sich weder durch frühere Strafen<br />

noch durch Annäherungs- und Kontaktverbote<br />

beirren. Er <strong>liebe</strong> <strong>die</strong>se Frau bis<br />

zum Wahnsinn, das sei doch nicht verboten.<br />

Dass sie anders fühlt, kann er<br />

sich nur mit schwarzer Magie erklären.<br />

Das Gericht sah es anders und verurteilte<br />

ihn zu 600 Stunden gemeinnütziger<br />

Arbeit, 2000 Franken Buße und<br />

ordnete eine Therapie an. Ob es etwas<br />

bringt <strong>ist</strong> allerdings äußerst fraglich, zur<br />

Strafe meinte der Täter nur: „Für <strong>die</strong>se<br />

Frau würde ich mein ganzes Leben<br />

hergeben.“ Dass sie dem Opfer das<br />

Leben zur Hölle machen, sehen Stalker<br />

me<strong>ist</strong> nicht ein. Aus ihrer Sicht leiden<br />

sie selbst am me<strong>ist</strong>en unter ihrer<br />

krankhaften Liebe. Diesen Umstand<br />

berücksichtigt das im April <strong>die</strong>ses Jahres<br />

in Berlin eröffnete Beratungscenter<br />

„Stop Stalking“, das Täter nach dem<br />

Prinzip „Die Tat verurteilen, nicht den<br />

Menschen“ betreut. Voraussetzung<br />

<strong>ist</strong> jedoch, dass <strong>die</strong>se bereit sind, ihr<br />

Verhalten in Frage zu stellen. Nur dann<br />

könne eruiert werden, aus welchen<br />

Kränkungen und Konflikten heraus das<br />

Stalken begonnen habe.<br />

Ob Straf- oder Aufarbeitungsprozess:<br />

für <strong>die</strong> Opfer sind sie oft zu lang. Rolf<br />

spricht von „Psychoterror“ und Sonja<br />

von einer „ständigen Gedankenvergewaltigung“.<br />

Ihren Verfolger hat<br />

sie inzwischen wegen Diebstahl und<br />

Hausfriedensbruch angezeigt, <strong>die</strong><br />

Staatsanwaltschaft <strong>ist</strong> eingeschaltet.<br />

Doch das braucht Kraft, <strong>die</strong> den Opfern<br />

me<strong>ist</strong> fehlt. Sonja trägt nicht nur <strong>die</strong><br />

Beweislast, sondern muss auch mit<br />

den Reaktionen des Nachbars leben,<br />

der ihr nun mit einer Ehrverletzungsklage<br />

droht. Nun hat Sonja eine neue<br />

Wohnung, doch nicht nur <strong>die</strong> Adresse<br />

hat sie geändert, sondern – in Nuancen<br />

– auch ihre Persönlichkeit: „Ich merke,<br />

dass ich viel vorsichtiger geworden<br />

bin, hoffe aber, dass ich keinen Knacks<br />

gekriegt hab.“<br />

Yvonne Kunz<br />

Reprinted from Surprise ©<br />

Street News Service:<br />

www.street-papers.org<br />

24


kurzgeschichte<br />

Die Flucht zum<br />

Planeten Gordon<br />

Teil 3<br />

Das Raumschiff Meteor <strong>ist</strong> auf<br />

dem Mars notgelandet. Käpten<br />

John Stil und Zorak, der<br />

Anführer der Marsianer, öffneten <strong>die</strong><br />

Laderampe des Raumschiffs Meteor.<br />

Und da befahl der Käptn seinen zwei<br />

Robotern, Gamma Q und KUT2, wie<br />

seiner restlichen Mannschaft Schutzanzüge<br />

für den Mars anzulegen. Aber<br />

Zorak sagte: „Ihr braucht keine Schutzanzüge!<br />

Auf dem Mars <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Luft in<br />

Ordnung.“ Nun gingen wir über den<br />

Mars. Der Mars sah aus wie im Alten<br />

Rom. Tempel.. und <strong>die</strong> Menschen,<br />

<strong>die</strong> Marsianer in ihrer blauen Haut,<br />

steckten in römischen Kampfuniformen<br />

und saßen auf Einhörnern<br />

mit Flügeln. Als man uns<br />

sah, kam ein marsianischer Soldat<br />

auf uns zu und sagte: „Willkommen<br />

Erdmenschen! Der<br />

große Imperator Ming und Herrscher<br />

vom Mars bittet euch in seinen<br />

Tempel! Ich befehle euch eure<br />

Laserkanonen abzulegen.“ Käptn<br />

John Stil sagte: „Ich lasse mir nichts<br />

befehlen! Wir nehmen alles mit! Wir<br />

kommen trotzdem in Frieden.“ „Aber<br />

der große Imperator möchte es so!“<br />

Stil sagte: „Also gut, wir legen unsere<br />

Waffen ab. Aber keine linken Dinger!“<br />

Er befahl seiner Crew: „Bleibt an Bord<br />

des Schiffes. Ich nehme nur meine<br />

zwei Roboter Gamma Q und KUT2 mit<br />

und meinen Bordarzt, Professor Ralf<br />

Kommen.“ Nun standen wir vor einem<br />

römischen Tempel. Ich sah einen alten<br />

Mann auf einem Thron sitzen mit<br />

einem langen grauen Bart, der ihm bis<br />

zu den Füßen ging. Er begrüßte uns:<br />

„Ich bin der große Ming und Herr von<br />

Mingo City und der Herrscher vom<br />

Mars. Ich habe eine große Bitte an<br />

euch. Ich brauche eure Hilfe!“ Käpten<br />

Stil fragte: „Um was geht es denn?“<br />

„Es geht um meine Tochter, Prinzessin<br />

Adama. Sie wurde von den Veganern in<br />

einen tiefen Schlaf versenkt aus dem<br />

sie nicht mehr erwachte. Bitte helft<br />

uns!“ Ich befahl Dr. Kommen in den<br />

Raum, in dem <strong>die</strong> Prinzessin lag, mit<br />

hinein zu gehen. Der Raum war auch<br />

wie im alten Rom ausgestattet. Sie<br />

trug ein schönes goldenes römisches<br />

Gewand und lag auf einem Bett.<br />

Ihr langes blondes Haar glänzte wie<br />

Seide. Ihr blaue Haut war wirklich sehr<br />

sehr weich. Es sah aus als schliefe sie.<br />

Nun sagte der große Ming: „Wenn ihr<br />

sie wieder zum Leben erweckt, würdet<br />

ihr reichlich belohnt.“ Käptn Stil und<br />

Ralf Kommen und Zorak, der Käptn der<br />

Marsianer , sagten: „Lasst niemand in<br />

den Raum der Prinzessin!“ Nun verschloss<br />

er <strong>die</strong> Tür. Der Professor packte<br />

ein kleines silbernes metallenes Gerät<br />

aus, legte es der Prinzessin auf <strong>die</strong><br />

Stirn. In dem Moment schlug sie <strong>die</strong><br />

Augen auf, blickte ihrem Vater in <strong>die</strong><br />

Augen und sagte: „Vater, b<strong>ist</strong> du es? Wo<br />

sind wir? Wer sind <strong>die</strong>se Menschen?“<br />

„Mein Kind, das sind Menschen von<br />

der Erde. Das <strong>ist</strong> Käpten John Stil und<br />

seine Crew, <strong>die</strong> uns helfen <strong>die</strong> Veganer<br />

zu bekämpfen.“ Plötzlich hörte man<br />

draußen mehrere Soldaten schreien<br />

und wilde Laserschüsse. „Achtung,<br />

<strong>die</strong> Veganer greifen an!!“ Nun lief<br />

John Stil schnell zu seinem Raumschiff<br />

zurück und befahl seiner Mannschaft::<br />

„Alles fertig machen zum Angriff!!<br />

Alles auf <strong>die</strong> Brücke! Laserkanonen<br />

klar machen zum Gefecht! Feuer!!“<br />

Es zuckten wilde Blitze durch <strong>die</strong><br />

Luft. Tempel flogen um. Nun startete<br />

das Raumschiff und schlug zurück.<br />

Einige der Kampfjets waren getroffen.<br />

Nur das Mutterschiff blieb<br />

unversehrt. Nun sah ich auf dem<br />

Schirm eine Gestalt. Die Gestalt<br />

war furchteinflößend. Sie hatte<br />

eine goldene Maske als Kopf.<br />

Der lange Umhang hing ihm bis<br />

zu den Füßen. Er hatte nichts<br />

Menschliches. Nur unter der Maske<br />

guckten zwei menschliche Augen<br />

hervor. Er sah so aus, als sei er früher<br />

mal ein Mensch gewesen. Plötzlich<br />

hörte man ein lautes Atmen aus seiner<br />

Maske. „Ich bin Aaron. Herrscher<br />

der Veganer und Herrscher über <strong>die</strong><br />

Vega, achter Planet im Sonnensystem.<br />

Ihr Erdenwürmer und Marsianer, ich<br />

werde euch vernichten. Ich werde<br />

allein über <strong>die</strong> Galaxis herrschen und<br />

Prinzessin Adama wird für immer<br />

mein sein.“ Ein grausames Gelächter<br />

kam aus der Atemschutzmaske. Doch<br />

Käptn Stil beantwortete <strong>die</strong>se Aussage<br />

mit einem Laserschuss. So <strong>liebe</strong><br />

Leser, werden <strong>die</strong> Veganer <strong>die</strong> Marsianer<br />

vernichten? Und warum will der<br />

große Imperator <strong>die</strong> Tochter des großen<br />

Ming entführen? Doch dazu in der<br />

nächsten Folge der Geschichte.<br />

Kleiner Günter<br />

25


aus der oase<br />

jack dawson<br />

trifft paul<br />

schockemöhle<br />

Ich schreibe euch keine Geschichte<br />

und warum, wofür denn auch?<br />

Erzähle euch dementsprechend auch<br />

keine. Also lasst mich es beginnen.<br />

Wenn man von Anfang 1994 bis<br />

Anfang 1996 bei der JRGK (Jugendreitergruppe<br />

Köln) gearbeitet hat<br />

und ab April 1995 dort Reiten lernte,<br />

kann man getrost davon ausgehen,<br />

<strong>die</strong> JRGK bereut jeden Tag, Schulpferde-Unterricht<br />

zugelassen zu<br />

haben. Was es jetzt, wie man sieht,<br />

nicht mehr gibt. Warum nur?<br />

Ich öffnete einmal <strong>die</strong> Tür zu einem<br />

Hotel in Dortmund und traf <strong>die</strong><br />

Creme de la Creme, der internationalen<br />

Springreiterei und betrank mich<br />

nicht bis zur völligen Bewusstlosigkeit.<br />

Anders geschrieben, Enrico,<br />

also ich, der Jack Dawson (Titanic)<br />

der Reiterei traf Legenden. Ich habe<br />

zwar so einiges erwartet, nachdem<br />

<strong>die</strong> Tür dann offen war und ich in<br />

den Raum schaute, aber dass mich<br />

alle mal sehen wollten, hat mich<br />

doch sehr erstaunt. Meine Reaktion<br />

darauf: Ich ging zur Theke und<br />

begann mich zu betrinken, nicht fähig<br />

zu begreifen, dass ich mich inmitten<br />

<strong>die</strong>sen elitären Kreises befand, sie<br />

mich zu sich ließen. Schade, dass<br />

das meine Dream-Team-Schulpferde<br />

nicht mehr miterleben durften. Einige<br />

darunter waren Legenden....machten<br />

mich auch zu einer.<br />

Als ich endlich den Mut fand, jemanden<br />

anzusprechen, mir genug Mut<br />

angetrunken hatte, fragte ich ausgerechnet<br />

Paul Schockemöhle nach<br />

einem Pflegerbändchen – so zwischen<br />

zwei und vier Uhr morgens.<br />

Den damaligen Bundestrainer Herr<br />

Meier auch. Als Sozialhilfeempfänger<br />

konnte ich mir eigentlich das Bier,<br />

was ich dort trank, nicht le<strong>ist</strong>en –<br />

sagte ich ihnen natürlich nicht. Sie<br />

sagten beide nein und beleidigten<br />

mich dazu. Enttäuscht und verletzt<br />

schaffte ich es irgendwie in <strong>die</strong> Dortmunder<br />

Notschlafstelle, -absteige,<br />

in der Nähe vom Bahnhof. Zurück<br />

zu den Obdachlosen (Ärmsten der<br />

Armen) und <strong>die</strong>sen schäbigen und<br />

würdelosen Unterkünften. Enrico<br />

CLINOTEL engagiert sich<br />

mit Manpower in der OASE<br />

Es war nur ein ausführliches<br />

Gespräch mit dem Team der<br />

OASE erforderlich, um <strong>die</strong> Frage<br />

zu beantworten „Was können wir<br />

als Firma für Sie als soziale Einrichtung<br />

tun?“ CLINOTEL <strong>ist</strong> der erste<br />

trägerübergreifende gemeinnützige<br />

Krankenhausverbund Deutschlands,<br />

in dem aktuell 23 öffentliche und freigemeinnützige<br />

Krankenhäuser, <strong>die</strong><br />

nicht in Konkurrenz zueinander stehen,<br />

angehören. Wir bewerten den<br />

Erfolg unseres Unternehmens nicht<br />

nur aus der Perspektive von Finanzkennzahlen,<br />

sondern verfolgen hierbei<br />

einen umfassenden Managementansatz,<br />

der sich an internationalen Qualitätsmanagementkonzepten<br />

orientiert.<br />

Wie viele andere Unternehmen<br />

haben auch wir in der Vergangenheit<br />

unsere soziale Verantwortung in erster<br />

Linie gegenüber unseren Kunden und<br />

Geschäftspartnern und im Innenverhältnis<br />

gegenüber unseren Mitarbeitern<br />

gesehen und wahrgenommen.<br />

Ein wichtiger Schritt in der Unternehmensentwicklung<br />

war <strong>die</strong> Zielsetzung,<br />

unsere soziale Verantwortung in einem<br />

weiteren Umfang wahr zu nehmen<br />

und so kamen wir zu dem Entschluss,<br />

uns als Unternehmen in einem konkreten<br />

Projekt zu engagieren. Da wir<br />

seit 10 Jahren in Köln ansässig sind,<br />

war es nahe liegend, uns in Köln nach<br />

einem Partner umzusehen und so fiel<br />

unsere Wahl schnell auf <strong>die</strong> OASE,<br />

<strong>die</strong> uns bereits durch Kleiderspenden<br />

bekannt war. So wurde <strong>die</strong> Idee<br />

geboren, einmal pro Monat einen Mitarbeiter<br />

unseres Unternehmens für<br />

<strong>die</strong> OASE freizustellen. Hierbei sollten<br />

natürlich <strong>die</strong> Erfordernisse des „Tagesgeschäftes“<br />

der OASE und auch <strong>die</strong><br />

Qualifikation der CLINOTEL-Mitarbeiter<br />

berücksichtigt werden, besonderes<br />

Interesse bestand natürlich von vornherein<br />

an unserem IT-Spezial<strong>ist</strong>en ....<br />

Der erster Einsatz im März hinterließ<br />

nachhaltige Eindrücke, <strong>die</strong> unsere Entscheidung<br />

nochmals bestärkt haben.<br />

Es wäre schön, wenn unsere Idee<br />

Nachahmer finden würde, wir freuen<br />

uns auf jeden Fall auf <strong>die</strong> nächsten Termine!<br />

Prof. Dr. med. Andreas Becker<br />

Geschäftsführer CLINOTEL<br />

www.clinotel.de<br />

Hück han ich jet schönes erfahre<br />

Am 09.05.09 kün ich met dem Schiff fahre met den Behinderte. Noh Bonn<br />

fahre de dann. Dat es ming schönstes Jebootsdachjeschenk, denn ben ich<br />

jo schon 82 Johr alt. Hück hätt ming Buch metjeloch för dä schöne Övverraschung.<br />

Da kün ich widder met danze. Dat freut misch su. Dat ich su löstich<br />

sen kün. För 20 Euro dat es för misch dä schönste Dach. Mir jeht et jot.<br />

Wenn dat su blieve ben ich zufriede. Hoffentlisch weed dat Wedder baal jet<br />

schöner. Am 01.05.09 fahre ich met dem Schiff.<br />

För 15 Euro dä janze Dach. Ming Dochter un ming Fründin fahre met mir.<br />

Op dem Schiff fiere ich dann ming Jebootsdach. Kann et kum abwaate met<br />

dä Schiffstour, ben de Dach am zähle. Och de Dach för ming Jebootsdach<br />

zähle ich och de Dach. Dat Schrieve maach mir su viel Spaß. Nur oppasse<br />

muss ich wie ich dat schrieve. Minge Jedanke sin en Oodnung. Paar Fehler<br />

sin jo drin en dem Schrieve. Es jo ejal. Dat fällt nit op. Grüße an all de Fründe<br />

en dä Oase. <br />

Lies Molitor<br />

26


aus der oase<br />

Leserbrief<br />

Foto: OASE<br />

„Liebe Redaktion,<br />

<strong>die</strong> Bank-Extra entwickelt sich zu meiner<br />

Lieblingszeitschrift. Die Geschichte des<br />

Läufers finde ich besonders gut".<br />

Steffen Gomer,<br />

Bank-Extra Abonnent<br />

verkäuferPORTRÄT<br />

Foto: OASE-Archiv<br />

Pauls Theken-Geflüster<br />

Geld!<br />

Und Anstand?<br />

Es wird natürlich viel über Geld<br />

gesprochen. Über zu wenig,<br />

über ungerecht, über bösartig,<br />

Paul arbeitet in der OASE an der Theke. über gemein, eben über Verteilung<br />

im Allgemeinen. Es <strong>ist</strong> aber<br />

auch wirklich zum „Kotzen“, wenn man liest, dass über Kürzungen im Hartz 4<br />

Bereich nachgedacht wird. Auf der anderen Seite liest man vom reichen Geldsegen<br />

für Ex-Post Chef Zumwinkel. Der wegen Steuerhinterziehung zu 2 Jahren<br />

auf Bewährung Verurteilte hat sich seine gesamte Pensionsansprüche auszahlen<br />

lassen. Man höre und staune 20 Millionen Euro. Doch das <strong>ist</strong> nicht alles.<br />

Für <strong>die</strong> gut sechs Wochen vom 1. Januar 2008 bis zu seinem Rücktritt am<br />

15. Februar 2008 kassierte Zumwinkel (65) laut Geschäftsbericht der Post ein<br />

Gehalt von 714.045 Euro inklusive einer Bonuszahlung von 480.184 Euro. Obendrauf<br />

gab's noch Aktienoptionen im Zeitwert von einer Million Euro. Übrigens<br />

hat <strong>die</strong> Post einen Euro-Verlust von 1,7 Milliarden gemacht. Die Gier in allen<br />

Bereichen nimmt Überhand. Korruption soll angeblich in der Natur der Menschen<br />

liegen. 2 Seiten bestimmen unser Leben. Die schwarze und <strong>die</strong> weiße.<br />

Solange beide Seiten einigermaßen im Lot sind, läuft alles normal. Sobald aber<br />

eine Seite überschwappt, herrscht Chaos. Lesen Sie doch einmal im evangelischen<br />

Gesangbuch aus dem Psalm 46, Lied 201 – 3. Strophe: „Und wenn <strong>die</strong><br />

Welt voll Teufel wär...“<br />

Der Wal, der einen Delphin schluckt, erstickt.<br />

Ein Wal, der ohne Gier lebt, <strong>ist</strong> der König des Meeres.<br />

–<br />

Alles Große und Edle <strong>ist</strong> von einfacher Art.<br />

Name: Dieter Merkens.<br />

Warum verkaufst du <strong>die</strong> BANK EXTRA?<br />

Ich verkaufe <strong>die</strong> Bank-Extra, weil ich <strong>die</strong>ses<br />

Projekt mit unterstützen möchte!<br />

Stammplatz?<br />

Köln Bocklemünd, Mengenich.<br />

Die häufigste Reaktion auf<br />

<strong>die</strong> Zeitschrift?<br />

„Die BANK EXTRA <strong>ist</strong> <strong>die</strong> beste<br />

Obdachlosenzeitschrift hier in Köln.“<br />

Das schönste Erlebnis?<br />

Habe <strong>die</strong> BANK EXTRA einmal im „Rotlichtmilieu“<br />

verkauft. Man begegnete mir sehr<br />

freundlich…<br />

Was wirklich doof war?<br />

Die Reaktion eines Rentners: „Geh doch<br />

arbeiten!“<br />

Unterschied Sommer/Winter?<br />

Als Verkäufer <strong>ist</strong> es schon hart im Winter.<br />

Was ich mir für <strong>die</strong> Zukunft wünsche?<br />

Gute Verkäuferideen.<br />

Ich grüße…<br />

auch <strong>die</strong> Verkäufer anderer Obdachlosenzeitungen!<br />

Foto: privat<br />

Neu im Team<br />

der OASE:<br />

Susanne Alff<br />

„Ich bin Wahlkölnerin, das<br />

trifft es am besten“, sagt<br />

Susanne Alff, <strong>die</strong> eigentlich<br />

aus Recklinghausen stammt.<br />

Neben ihren Hobbys wie<br />

ausführliche Flohmarktgänge<br />

und ausgedehnte Fahrradtouren<br />

geht <strong>die</strong> 39jährige mit viel Spaß und Interesse ihrem Beruf nach.<br />

„Ich arbeite gerne mit Menschen an der Basis, biete Unterstützung <strong>die</strong> alltäglichen,<br />

persönlichen Dinge zu regeln und ein wenig Licht ins Dunkel zu<br />

bringen“, erklärt Susanne Alff, <strong>die</strong> seit dem 1. März 2009 das Team der OASE<br />

unterstützt.<br />

Neben der Straßenarbeit und dem Offenen Treff <strong>ist</strong> vor allem <strong>die</strong> Ambulante<br />

Begleitung ihr Aufgabenbereich. Nach mehreren Jahren in der Wohnungslosenhilfe,<br />

nach Jobs im Johanneshaus, einem Arbeitslosenzentrum und<br />

zuletzt in einem Männerwohnheim für Wohnungslose vom IB freut sich <strong>die</strong><br />

Sozialarbeiterin nun auf ihre neuen Aufgaben.<br />

Mail: alff@oase-koeln.de | Tel.: 02 21/98 93 53 14<br />

27


Clemens-Josef-Haus<br />

Willkommen im Clemens-Josesf-Haus auf dem Vellerhof, einem<br />

h<strong>ist</strong>orischen Gehöft inmitten eines Naturschutzgebietes, auf dem<br />

heute hilfebedürftige Menschen leben, wohnen und arbeiten.<br />

Fernab der „Straße“ sind <strong>die</strong> Menschen hier gern gesehene Gäste,<br />

<strong>die</strong> auf dem Gelände des Clemens-Josef-Hauses auf ihrem ganz<br />

persönlichen Weg begleitet werden.<br />

Clemens-Josef-Haus I Altenwohn- & Pflegeheim und stat. Einrichtungen der Gefährdetenhilfe · Vellerhof 1 · 53945 Blankenheim<br />

Gefährdetenhilfe: 0 26 97 . 91 00 16 · Altenwohn- & Pflegeheim: 0 26 97 . 91 00 25 · www.vellerhof.de<br />

Wohnungslosenhilfe<br />

Station machen I zur Ruhe kommen<br />

Übernachtung I Aufnahme I Wiedereinstiegshilfe I Lebenshilfe I Langzeitwohnen<br />

Arbeiten<br />

Qualifizierung erwerben I Selbstwertgefühl erleben<br />

Beschäftigung I Ausbildung I Arbeitstraining I Qualifizierung I Arbeitsvermittlung<br />

Pflegewohnheim<br />

begleiten und fördern<br />

I beraten und anleiten<br />

Pflege & Betreuung I Lebenszufriedenheit I Wohlbefinden I Menschlichkeit I Zu Hause<br />

28


tipps<br />

BuchTIPP<br />

Geschichte der<br />

Bundesrepublik<br />

deutschland<br />

Für H<strong>ist</strong>oriker <strong>ist</strong> 2009 das Jahr der<br />

großen Jubiläen, so <strong>ist</strong> z.B. der<br />

Mauerfall genau 20 Jahre her, <strong>die</strong><br />

Schlacht im Teutoburger Wald jährt<br />

sich gar zum 2000ten Mal. Auch <strong>die</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland hat ein<br />

Jubiläum, ihren 60. Geburtstag. H<strong>ist</strong>orisch<br />

interessierten Lesern, <strong>die</strong> sich für<br />

<strong>die</strong> sechs Jahrzehnte lange Geschichte<br />

der Bundesrepublik interessieren und<br />

von den massenhaft zu erwartenden<br />

Dokumentationsreihen im TV nicht viel<br />

halten, kann ich <strong>die</strong>ses (sehr günstige)<br />

Buch empfehlen. Marie-Luise Recker,<br />

Professorin an der Uni Frankfurt, fasst<br />

auf knapp 120 Seiten alles wichtige<br />

zusammen, was in sechs Jahrzehnten<br />

BRD so passiert <strong>ist</strong>. Sie konzentriert<br />

sich dabei auf <strong>die</strong> Sphären Politik, Wirtschaft<br />

und Gesellschaft. Drei gewonnene<br />

Fußballweltme<strong>ist</strong>erschaften<br />

werden daher ebenso wenig thematisiert<br />

wie etwa Nicoles Sieg beim<br />

Grand Prix.<br />

Dafür hat man beim Lesen aber immer<br />

das Gefühl, dass auch nur wirklich<br />

Wichtiges behandelt wird. Das Buch<br />

<strong>ist</strong> in der Reihe C.H. Beck Wissen<br />

erschienen, <strong>die</strong> ausdrücklich für <strong>die</strong><br />

breite Bevölkerung konzipiert <strong>ist</strong>. Das<br />

Buch bleibt daher auch für Laien verständlich<br />

und <strong>die</strong> Autorin verzichtet<br />

weitestgehend auf allzu fachwissenschaftliches<br />

Vokabular.<br />

Bastian Exner<br />

Marie-Luise Recker: Geschichte der<br />

Bundesrepublik Deutschland.<br />

Verlag C.H. Beck, 5,00 EUR<br />

Michal Hvorecky: Eskorta,<br />

Tropen-Verlag, 19,90 EUR<br />

ausstellung<br />

Eskorta<br />

Michal Kirchner<br />

<strong>ist</strong> Sprössling<br />

einer ungewöhnlichen<br />

Familie.<br />

Geboren aus der<br />

Zweckehe seiner<br />

homosexuellen<br />

Eltern muss er schon als Kind<br />

skrupellose Überwachung durch den<br />

tschechoslowakischen Geheim<strong>die</strong>nst<br />

miterleben. In seinem aktuellen Buch<br />

„Eskorta“ setzt der Autor Michal Hvorecky<br />

Dinge in Beziehung, <strong>die</strong> durch<br />

ihr Spannungsverhältnis wirken: „Der<br />

Osten <strong>ist</strong> der neue Westen!“ oder „Ich<br />

war schon immer davon überzeugt,<br />

dass ich als Frau besser ausgesehen<br />

hätte.“ Ein androgyner Held, eine Frau<br />

im Manneskörper und eine Stadt wie<br />

Bratislava, <strong>die</strong> durch Supermarktketten<br />

und einen internationalen Eskort-<br />

Service westlich erscheinen möchte.<br />

Eigentlich Stoff, aus dem Geschichten<br />

sein könnten. Doch Hvorecky verschenkt<br />

seine Chance, in dem er keinen<br />

roten Faden verfolgt und sich – wie sein<br />

gleichnamiger Held – lethargisch durch<br />

alle Stationen quält: Nach der düsteren<br />

Kindheit wird eine zufällige Erfolgsgeschichte<br />

erzählt, schliesslich unter<br />

Aufwendung aller verwendbarer Allgemeinplätze<br />

und Floskeln eine Liebesgeschichte<br />

und schliesslich propft der<br />

als berühmtester slowenischer Jung-<br />

Autor gefeierte Hvorecky einen grotesken<br />

Schluss auf. Sein Michal wird durch<br />

Einnahme der Antibabypille zur Frau<br />

und schließlich zur glücklichen Mutter.<br />

Spätestens dann <strong>ist</strong> klar, daß das ganze<br />

Buch, das so vielversprechend anfing,<br />

nur eine große Übertreibung darstellt.<br />

Mit einer großen Geschichte hat es<br />

aber leider gar nichts zu tun. (cb)<br />

Litaneien – Ausstellung in der Agneskirche<br />

vom 10. Mai bis 7. Juni.<br />

Agneskirche, Neusser Platz 18<br />

echolog web-tipp<br />

The Sheep Market<br />

www.thesheepmarket.com<br />

eichne mir ein Schaf!“ Als Ein-<br />

zum illustrierten Märchen<br />

„Zleitung<br />

„Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-<br />

Exupéry hat es <strong>die</strong>se Bitte zu Berühmtheit<br />

gebracht. Der so gebetene Flieger<br />

hilft sich nach einigen missglückten<br />

Versuchen bekanntermaßen aus der<br />

Patsche, indem er eine K<strong>ist</strong>e zeichnet,<br />

in der sich das Schaf befände.<br />

Eben<strong>die</strong>se Aufforderung haben <strong>die</strong><br />

Macher des Web-Art-Projektes „The<br />

Sheep Market“ an <strong>die</strong> Mitarbeiter<br />

des Künstliche-Intelligenz-Projekts<br />

„Mechanical Turk“ von Amazon<br />

gestellt. 0,02 Dollar bekamen sie für<br />

<strong>die</strong> Zeichnung eines nach links gewendeten<br />

Schafes, wobei <strong>die</strong> durchschnittliche<br />

Bearbeitungszeit 105 Sekunden<br />

pro Schaf betrug. Das Ergebnis: Eine<br />

virtuelle Herde von 10.000 Schafen,<br />

von denen keines dem anderen gleicht.<br />

Auf der Startseite präsentiert sich<br />

<strong>die</strong> Schafherde als abstrakte Pixelansammlung;<br />

fährt man mit dem Mauszeiger<br />

darüber, sieht man <strong>die</strong> Schafe<br />

vergrößert. Der Clou: Klickt man eines<br />

an, wird der Vorgang des Zeichnens in<br />

Echtzeit wiederholt, man wird Zeuge<br />

des kreativen Prozesses. Bemerkenswert<br />

<strong>ist</strong> <strong>die</strong> Vielfalt der künstlerischen<br />

Herangehensweise, <strong>die</strong> von dilettantisch<br />

bis ambitioniert, von der primitiven<br />

Strichzeichnung bis zu wahren<br />

kleinen Me<strong>ist</strong>erwerken, von einer<br />

möglichst natural<strong>ist</strong>ischen Wiedergabe<br />

bis zu eher abstrakten Umsetzungen<br />

reicht.<br />

<br />

Julian von Heyl<br />

Im Echolog unter www.echolog.de<br />

stellt Julian von Heyl regelmäßig neue<br />

Web-Tipps vor: Internetseiten jenseits des<br />

Mainstreams, <strong>die</strong> auch einen mehrfachen<br />

Besuch lohnen.<br />

29


porträt<br />

Heiko Sakurai: Der neue<br />

BANK EXTRA-Karikatur<strong>ist</strong><br />

Karikaturen sind Witzzeichnungen. Aber Witzzeichnungen zu einem wichtigen politischen Tagesthema. Heiko Sakurai <strong>ist</strong> Karikatur<strong>ist</strong>.<br />

Er kommentiert zeichnerisch das politische Zeitgeschehen. Für <strong>die</strong> Financial Times Deutschland, <strong>die</strong> Westdeutsche Allgemeine<br />

Zeitung und <strong>die</strong> Berliner Zeitung. Heiko Sakurai <strong>ist</strong> auch ehrenamtlich tätig. Er <strong>ist</strong> der neue Comic-Zeichner der BANK EXTRA.<br />

Wir stellen ihn deshalb hier kurz vor.<br />

Karikatur <strong>ist</strong> das bildliche<br />

Gegenstück zum Leitartikel<br />

oder Kommentar in „Die<br />

der Zeitung“. Sagt Heiko Sakurai und<br />

erläutert sein Handwerk. Wir stehen<br />

in seinem Arbeitszimmer. Eine große<br />

Zeichenplatte befindet sich vor der<br />

Fensterfront. Zum Arbeiten braucht<br />

er Licht. Auf dem Zeichentisch liegen<br />

Stifte, Pinsel, Zeichenpapier, Tusche<br />

und Aquarellfarbe. Die Regale sind<br />

voller Bücher. Mit vielen Bänden der<br />

Klassiker der politischen Karikatur. Er<br />

we<strong>ist</strong> auf <strong>die</strong> kunstvollen Details der<br />

Karikaturen von Daumier, Hogarth<br />

und Oliphant hin. Sakurai <strong>ist</strong> geborener<br />

Westfale, Jahrgang 1971, Sohn<br />

eines Japaners und einer Deutschen,<br />

graduierter German<strong>ist</strong>. Beim Thema<br />

Zeichnen <strong>ist</strong> er in seinem Element. „Im<br />

Prinzip versuchen wir Karikatur<strong>ist</strong>en,<br />

auf einer Ebene mit den Journal<strong>ist</strong>en<br />

zu sein. Ein Journal<strong>ist</strong> schreibt und<br />

will eine relevante Aussage treffen.<br />

Wir versuchen das mit unseren Zeichnungen.“<br />

Er habe schon als kleiner Junge gerne<br />

gezeichnet oder gemalt. Dann<br />

<strong>ist</strong> er zum Comiclesen gekommen,<br />

vor allem durch Asterix. Sakurai hat<br />

aber nicht nur <strong>die</strong> Qualität der Zeichnungen<br />

interessiert, sondern auch<br />

der geschichtliche Inhalt. Das hat<br />

sich dann weiter fortgesetzt. So <strong>ist</strong> er<br />

bei der Karikatur gelandet. Aus dem<br />

Hobby Comiczeichnen <strong>ist</strong> ein Beruf<br />

geworden. Über <strong>die</strong> Jahre hat er einen<br />

Fundus an druckreifen Comics angefertigt,<br />

zu geschichtlichen und kulturellen<br />

Themen. Kunstvoll gemalt mit Tusche<br />

und Aquarellfarbe. Diese Comics sind<br />

wie geschaffen für <strong>die</strong> BANK EXTRA.<br />

Deshalb stellt Heiko Sakurai sie jetzt<br />

unseren Leserinnen und Lesern zur<br />

Verfügung. Freuen Sie sich also mit<br />

uns auf einen der profilierten deutschen<br />

Karikatur<strong>ist</strong>en und weitere Folgen<br />

von „Heikos Kulturschau“. Für Heiko<br />

Sakurai „<strong>ist</strong> es auch eine Freude,<br />

dass <strong>die</strong>se Comics noch einmal einem<br />

neuen Publikum präsentiert werden<br />

und so Aufmerksamkeit erfahren“.<br />

pz<br />

Foto: Kirsten Neumann<br />

30


heikos kulturschau<br />

Gezeichnet von Heiko Sakurai.<br />

31


111 orte<br />

Der Atombunker<br />

Im Ernstfall<br />

wird auf den<br />

Gleisen campiert<br />

Text: Bernd Imgrund<br />

Fotos: Britta Schmitz<br />

Stell dir vor, es <strong>ist</strong> Krieg, und du kommst nicht mehr rein“, könnte man denken,<br />

wenn man durch den Atombunker Kalk-Post spaziert.<br />

Die gesamt U-Bahn-Anlage <strong>ist</strong> ein Relikt des Kalten Krieges der siebziger<br />

Jahre, als man noch damit rechnete, dass jederzeit „der Russe“ käme. Hinter<br />

unscheinbaren blechernen Wandverkleidungen stecken massive Stahlschleusentore,<br />

<strong>die</strong> im Ernstfall geschlossen werden können. Dahinter, in einem kaum<br />

quadratmetergroßen Kämmerchen, steht dann der Schleusenwart und zählt:<br />

„1, 2, 3 … 2.365.“ Denn Platz <strong>ist</strong> hier für 2.366 Flüchtlinge, deren letzter der<br />

Zähler selbst wäre. Die Frage, was denn mit dem 2.367. geschehe, beantwortete<br />

ein freundlicher Führer von der Berufsfeuerwehr einst eindeutig: „Tja, Feierabend.<br />

Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“<br />

Wem jedoch Einlass gewährt wird, der kommt in den Genuss eines ockergelb<br />

gestrichenen, verzweigten Geländes samt Operationssaal, Lebensmittellager<br />

für maximal vierzehn Tage und einem eminent wichtigen Luftkühlungssystem.<br />

Weil ein jeder Mensch ein Wärmekraftwerk mit einer Le<strong>ist</strong>ung von 100 Watt pro<br />

Stunde <strong>ist</strong>, kann es im Bunker binnen kürzester Zeit recht schwül werden. Im<br />

Ernstfall dürfen sich hier fünfzig Leute eine Kloschüssel teilen, hundertfünfzig<br />

Männer ein Urinal.<br />

Auch der Rudolfplatz beherbergt übrigens eine solche Anlage, insgesamt können<br />

sich kölnweit rund achttausend Menschen Hoffnungen auf einen Bunkerplatz<br />

machen. Geschlafen wird unter anderem rechts und links der Kalker Gleisanlagen.<br />

Dort können ebenfalls Tore herabgelassen werden, und dazwischen<br />

passen 1.096 mausgraue Feldbetten. Die übrigen Schlafstätten verteilen sich<br />

auf abgestellte KVB-Bahnen und Aufenthaltsräume.<br />

Die gesamte Anlage <strong>ist</strong> so funktional ausgerichtet, dass an keinerlei Freizeitgestaltung,<br />

<strong>die</strong> den sicherlich nicht leichten Alltag untertage etwas unterhaltsamer<br />

gestalten könnte, gedacht wurde: Es findet sich weder ein Video- noch ein<br />

Spiel- oder Fitnessraum.<br />

Adresse: U-Bahn-Station Kalk-Post ÖPNV: Bahn 1, 9, Haltestelle Kalk-Post<br />

Öffnungszeiten: In den Bunker gelangt man nur zu äußerst raren Gelegenheiten,<br />

etwa anlässlich von Bunkertouren der VHS. Die Gleise- potentielle Schlafstättensind<br />

selbstverständlich frei zugänglich. In der Umgebung: Vom Kalten Krieg in <strong>die</strong><br />

Konsumwelt der Gegenwart führt ein Gang in <strong>die</strong> KölnArkaden. Das gigantische<br />

Einkaufszentrum entstand auf dem Gebiet der ehemaligen Chemischen Fabrik Kalk.<br />

Der Abdruck unserer neuen Reihe „Kölner Orte“ geschieht mit freundlicher<br />

Genehmigung des Emons Verlags. Texte und Fotos sind entnommen aus dem Buch<br />

„111 Kölner Orte, <strong>die</strong> man gesehen haben muss.“ Bernd Imgrund/Britta Schmitz,<br />

Emons Verlag, ISBN-13: 978-3897056183, 5. Auflage.<br />

32


köln umsonst 111 orte<br />

33


vorschau<br />

vorschau<br />

IMPRESSUM<br />

Redaktionsleitung Chr<strong>ist</strong>ina <strong>Bacher</strong> (cb),<br />

bankextra@oase-koeln.de<br />

Redaktionsass<strong>ist</strong>enz Peter Zitzmann (pz)<br />

Redaktion Bastian Exner, Elisabeth Molitor, Enrico<br />

Mechelk, Gaby Schwarz, Gigi, Günther Thielen, Paul<br />

Hopf, Harry Püstel, Tamara Klein und viele freie<br />

Mitarbeiter<br />

Mitarbeit Martha Eske, Asal Shokooie<br />

Abonnements Sabine Rother, rother@oase-koeln.de<br />

Vertrieb Reiner Nolden<br />

Titelidee/-gestaltung Kerstin Alexander, Feuerland<br />

(www.agentur-feuerland.de )<br />

Daniel Quade, Britta Gallinat, Halali (www.hala.li)<br />

Umschlag-Foto: REUTERS/Toby Melville<br />

Fotos Chr<strong>ist</strong>ina <strong>Bacher</strong>, Robert Pudzianowski, Sabine<br />

Rother, Oase-Archiv, Peter Zitzmann, Privat<br />

Layout Petra Piskar (www.con-dere.de),<br />

Sebastian Müller<br />

Druck Druckhaus Süd (www.druckhaus-sued.de)<br />

lebensgeschichten<br />

Raimund spricht kaum noch. Er <strong>ist</strong> am Korsakow-Syndrom erkrankt und<br />

hat sein Erinnerungsvermögen zum Teil verloren, leidet also an<br />

Amnesie. Er scheint sich dennoch an einige Dinge zu erinnern und<br />

antwortet mit Ja oder Nein, selten ein paar Worte mehr. Wenn man<br />

ihn an Geschichten aus alten Zeiten erinnert, lacht er, und amüsiert<br />

sich über sich selbst und was für eine „Marke“ er damals gewesen <strong>ist</strong>.<br />

In der nächsten BANK EXTRA erzählen wir nicht nur <strong>die</strong> Geschichte<br />

von Raimund, der seine letzten Jahre im Seniorenheim der Caritas<br />

verbringt. Auch Willi kommt zu Wort: Einst als ungewollter Nachzügler<br />

in eine Familie geboren, <strong>die</strong> ihm oft <strong>die</strong> Luft zum Atmen nahm, hat er<br />

sich heute – auch durch das Schreiben – freigeschaufelt. Diese und<br />

viele andere Geschichten erwarten Sie in unserer Doppelausgabe,<br />

für <strong>die</strong> wir einige Überraschungen parat halten. Und wie immer <strong>die</strong><br />

obligatorischen Buch-, Platten- und Webtipps, den Comic von Heiko<br />

Sakurai sowie ein ausführliches Interview.<br />

Herausgeber<br />

Benedikt-Labre e.V. – OASE<br />

Alfred-Schütte-Allee 2-4, 50679 Köln<br />

Tel.: 0221/989353-0, Fax: 0221/98935316<br />

www.oase-koeln.de<br />

Depots<br />

Kiosk Bertram, Elke Bertram, Neumarkt, Köln<br />

Neidet Akgüns Kiosk<br />

Salierring 43, 50677 Köln-Südstadt<br />

Kiosk 44, Familie Mutreja, Schillingstr. 44, 50670 Köln<br />

OASE, Alfred-Schütte-Allee 2-4, 50679 Köln-Deutz<br />

Kontoverbindungen<br />

Konto-Nr. 165 020 31, BLZ: 370 501 98<br />

Sparkasse KölnBonn<br />

Konto-Nr. 230 460 16, BLZ 370 601 93<br />

Pax-Bank<br />

BANK EXTRA <strong>ist</strong> das Sprachrohr für alle Obdachlosen,<br />

deren Freunde, ehemals Obdachlose und<br />

andere Betroffene. Leserbriefe sind immer herzlich<br />

willkommen. Für namentlich gekennzeichnete<br />

Artikel und Leserbriefe sind <strong>die</strong> jeweiligen Autoren<br />

verantwortlich. Sie entsprechen nicht der Meinung<br />

der Redaktion. Bedürftigen wird für veröffentlichte<br />

selbstgeschriebene Artikel, Interviews und Fotos<br />

ein kleines Honorar gezahlt, wenn <strong>die</strong>s der Autor<br />

ausdrücklich wünscht. Nachträgliche Forderungen<br />

werden nicht akzeptiert.<br />

Es gilt <strong>die</strong> Anzeigenpreisl<strong>ist</strong>e vom 1.1.2009.<br />

Die Doppelausgabe der BANK EXTRA erscheint am 1. Juli 2009.<br />

Die BANK EXTRA <strong>ist</strong> Mitglied des<br />

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