liebe leserinnen, liebe leser, Heimweh ist die ... - Christina Bacher
liebe leserinnen, liebe leser, Heimweh ist die ... - Christina Bacher
liebe leserinnen, liebe leser, Heimweh ist die ... - Christina Bacher
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
eportage<br />
aus. Auch der Reporter Atilla Szenogrady,<br />
der seit zwanzig Jahren täglich<br />
über das Geschehen aus den Zürcher<br />
Gerichtssälen berichtet, glaubt eine<br />
klare Zunahme von Stalking-Delikten<br />
feststellen zu können. Über <strong>die</strong> Ursachen<br />
<strong>ist</strong> nicht viel bekannt. Wohl<br />
besteht eine generelle Sensibilisierung<br />
für das Thema – in den Me<strong>die</strong>n<br />
genauso wie in der Rechtssprechung,<br />
ob aber weitere aktuelle gesellschaftliche<br />
Tendenzen wie Vereinzelung auch<br />
eine Rolle spielen, <strong>ist</strong> unklar. Als Risikofaktoren<br />
gelten Drogen- und Alkoholmissbrauch<br />
sowie Arbeitslosigkeit;<br />
Täter beginnen oft aus Langeweile zu<br />
stalken und geben so ihrem Leben<br />
Inhalt und Sinn. Bei der Zürcher Polizei<br />
führt eine Beamtin <strong>die</strong> Zunahme<br />
darauf zurück, dass es durch SMS und<br />
Internet auch mehr und einfachere<br />
Wege gibt, jemanden zu belästigen.<br />
Der Psychiater K.H. Bauer we<strong>ist</strong> aber<br />
auch darauf hin, dass solches Verhalten<br />
in der Psychologie seit über 100 Jahren<br />
beschrieben wird. In rund achtzig Prozent<br />
der Fälle sind Frauen <strong>die</strong> Opfer.<br />
Betroffene Männer befinden sich in<br />
einer merkwürdigen Lage. „Schließlich<br />
bin ich ihr ja körperlich weit überlegen“,<br />
meint der Bankangestellte Rolf*,<br />
der von einer Kollegin verfolgt wird,<br />
mit der er einige Male auf ein Feierabendbier<br />
gegangen <strong>ist</strong>. „Aber wenn<br />
sie plötzlich bewaffnet wäre, würde<br />
das ja nichts nützen.“ Sie geht perfid<br />
vor: Auf Rolfs Computer im Büro lud<br />
sie verbotene Pornografie herunter<br />
und verleumdete ihn. Dann machte sie<br />
<strong>die</strong> Telefonnummer von Rolfs Freundin<br />
ausfindig, rief <strong>die</strong>se wiederholt an und<br />
behauptete eine Affäre mit ihm zu<br />
haben. Zwar konnte Rolf seiner Freundin<br />
<strong>die</strong> Sache erklären – <strong>die</strong> hunderte<br />
von E-Mails sprechen eine klare Sprache.<br />
Doch dass sich Rolf seiner Freundin<br />
nicht anvertraute, sorgte dennoch<br />
für Verunsicherung in der Beziehung.<br />
„Ich habe halt lange gehofft, dass sie<br />
irgendwann aufhört, wenn sie merkt,<br />
dass es nichts bringt.“<br />
Weitgehende Rechtsunsicherheit<br />
Wie schwierig Stalking zu fassen <strong>ist</strong>,<br />
zeigt sich nicht nur in Einzelschicksalen,<br />
sondern auch in der Rechtspraxis.<br />
In Deutschland und Österreich,<br />
wo Stalking seit 2006 unter Strafe<br />
steht, macht sich Ernüchterung breit.<br />
Zwar gelangen seither tausende von<br />
Fällen zur Anklage, zu Verurteilungen<br />
kommt es jedoch selten. Und wenn,<br />
dann nicht wegen „hartnäckigen Nachstellens“,<br />
sondern wegen Körperverletzung,<br />
Bedrohung oder Nötigung.<br />
Die Grundproblematik, <strong>die</strong> sich ebenso<br />
aus dem Schweizer Recht ergibt,<br />
das keinen Stalking-Straftatbestand<br />
kennt, bleibt: Ein frühzeitiges Eingreifen,<br />
bevor Schlimmes passiert, <strong>ist</strong><br />
praktisch unmöglich. Per Polizeirecht<br />
können nur kurzfr<strong>ist</strong>ige Massnahmen<br />
getroffen werden, um <strong>die</strong> unmittelbare<br />
Bedrohung zu entschärfen, etwa<br />
<strong>die</strong> vorübergehende Wegweisung aus<br />
der Wohnung. Zivilrechtlich können<br />
Schutzmassnahmen, zum Beispiel ein<br />
Annäherungsverbot, ausgesprochen<br />
werden. Doch eine eigentliche Bestrafung<br />
des Täters bleibt aus. Erst Tatbestände<br />
wie Sachbeschädigung oder<br />
Diebstahl können verfolgt werden.<br />
Die Schweizer Gesetzgeber trugen<br />
der zunehmenden Problematik insofern<br />
Rechnung, indem der Gewaltbegriff<br />
breiter gefasst wurde und sich<br />
der Persönlichkeitsschutz seit 2007<br />
nicht mehr nur auf <strong>die</strong> physische, sondern<br />
auch auf <strong>die</strong> psychische, sexuelle<br />
und soziale Integrität bezieht. Im<br />
Zusammenhang mit Stalking bleibt<br />
<strong>die</strong> Strafverfolgung aber kompliziert,<br />
da es sich aus vielen, oft harmlosen,<br />
Einzelhandlungen zusammensetzt, <strong>die</strong><br />
in ihrer Summe jedoch Gewalt darstellen<br />
können. Und <strong>die</strong> Ermessensspielräume<br />
sind weit: Die Taten müssen<br />
eine „gewisse Intensität“ aufweisen<br />
und <strong>die</strong> Handlungsfreiheit des Opfers<br />
„in einem bestimmten Maß“ eingeschränkt<br />
werden. Es <strong>ist</strong> unklar, wie<br />
viel ein Opfer erdulden muss, zudem<br />
bestehen bei den Opfern Unterschiede<br />
in der Leidensfähigkeit. Wann<br />
<strong>ist</strong> ein Verhalten Furcht erregend, wann<br />
nur lästig?<br />
Präventive Wirkung angezweifelt<br />
Darauf zielte auch <strong>die</strong> Verteidigung im<br />
Falle eines besonders unbelehrbaren<br />
Stalkers am Züricher Obergericht ab:<br />
„Man kann sich ja vor der täglichen<br />
Werbeflut auch nicht wehren.“ Es<br />
sind nicht <strong>die</strong> Taten an sich – Telefonterror,<br />
unerwünschte Besuche und<br />
Geschenke –, sondern deren Hartnäckigkeit,<br />
<strong>die</strong> beeindrucken: 329 Mal<br />
hatte der 65-Jährige seine Angebetete<br />
angerufen – innerhalb von zwei Tagen.<br />
Das geht schon über fünf Jahre so,<br />
zum fünften Mal musste er sich deswegen<br />
vor Gericht verantworten. Er<br />
liess sich weder durch frühere Strafen<br />
noch durch Annäherungs- und Kontaktverbote<br />
beirren. Er <strong>liebe</strong> <strong>die</strong>se Frau bis<br />
zum Wahnsinn, das sei doch nicht verboten.<br />
Dass sie anders fühlt, kann er<br />
sich nur mit schwarzer Magie erklären.<br />
Das Gericht sah es anders und verurteilte<br />
ihn zu 600 Stunden gemeinnütziger<br />
Arbeit, 2000 Franken Buße und<br />
ordnete eine Therapie an. Ob es etwas<br />
bringt <strong>ist</strong> allerdings äußerst fraglich, zur<br />
Strafe meinte der Täter nur: „Für <strong>die</strong>se<br />
Frau würde ich mein ganzes Leben<br />
hergeben.“ Dass sie dem Opfer das<br />
Leben zur Hölle machen, sehen Stalker<br />
me<strong>ist</strong> nicht ein. Aus ihrer Sicht leiden<br />
sie selbst am me<strong>ist</strong>en unter ihrer<br />
krankhaften Liebe. Diesen Umstand<br />
berücksichtigt das im April <strong>die</strong>ses Jahres<br />
in Berlin eröffnete Beratungscenter<br />
„Stop Stalking“, das Täter nach dem<br />
Prinzip „Die Tat verurteilen, nicht den<br />
Menschen“ betreut. Voraussetzung<br />
<strong>ist</strong> jedoch, dass <strong>die</strong>se bereit sind, ihr<br />
Verhalten in Frage zu stellen. Nur dann<br />
könne eruiert werden, aus welchen<br />
Kränkungen und Konflikten heraus das<br />
Stalken begonnen habe.<br />
Ob Straf- oder Aufarbeitungsprozess:<br />
für <strong>die</strong> Opfer sind sie oft zu lang. Rolf<br />
spricht von „Psychoterror“ und Sonja<br />
von einer „ständigen Gedankenvergewaltigung“.<br />
Ihren Verfolger hat<br />
sie inzwischen wegen Diebstahl und<br />
Hausfriedensbruch angezeigt, <strong>die</strong><br />
Staatsanwaltschaft <strong>ist</strong> eingeschaltet.<br />
Doch das braucht Kraft, <strong>die</strong> den Opfern<br />
me<strong>ist</strong> fehlt. Sonja trägt nicht nur <strong>die</strong><br />
Beweislast, sondern muss auch mit<br />
den Reaktionen des Nachbars leben,<br />
der ihr nun mit einer Ehrverletzungsklage<br />
droht. Nun hat Sonja eine neue<br />
Wohnung, doch nicht nur <strong>die</strong> Adresse<br />
hat sie geändert, sondern – in Nuancen<br />
– auch ihre Persönlichkeit: „Ich merke,<br />
dass ich viel vorsichtiger geworden<br />
bin, hoffe aber, dass ich keinen Knacks<br />
gekriegt hab.“<br />
Yvonne Kunz<br />
Reprinted from Surprise ©<br />
Street News Service:<br />
www.street-papers.org<br />
24