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liebe leserinnen, liebe leser, Heimweh ist die ... - Christina Bacher

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und um <strong>die</strong> welt<br />

Name: Willi Godau<br />

Alter: 37 Jahre<br />

Stadt: Köln<br />

Land: Deutschland<br />

Straßenzeitung: BANK EXTRA<br />

Jeden Vormittag – außer sonntags<br />

– verkaufe ich <strong>die</strong> Straßenzeitung<br />

BANK EXTRA am<br />

Kölner Neumarkt. Ich bin Willi G. und<br />

bin 37 Jahre alt. Als ich vor ungefähr<br />

vier Jahren mit einem Kumpel das<br />

erste Mal in <strong>die</strong> Kölner Einrichtung<br />

OASE mitgekommen bin, da war ich<br />

noch ängstlich und vorsichtig, sozusagen<br />

ein gebranntes Kind. Ich saß<br />

damals schweigsam in der Ecke, heute<br />

<strong>ist</strong> das anders. Irgendwann habe ich<br />

mal mit angepackt und in der Kleiderkammer<br />

mitgeholfen, einer Frau beim<br />

Einkaufen geholfen und später habe<br />

ich mich im Verkaufen der Straßenzeitung<br />

BANK EXTRA versucht und dabei<br />

bin ich geb<strong>liebe</strong>n. Für mich hat <strong>die</strong><br />

Arbeit als Ehrenamtlicher in der Oase<br />

sehr viel mit meiner Vergangenheit<br />

zu tun. Anderen helfen, das hilft mir<br />

selbst, alles besser zu verstehen und<br />

zu verarbeiten.<br />

In Rondorf bin als viertes Kind geboren,<br />

d.h. sieben Jahre nach den anderen<br />

Geschw<strong>ist</strong>ern. Ich sollte eigentlich<br />

ein Mädchen werden, das hat mir mein<br />

Vater immer wieder erzählt. Die ersten<br />

Jahre meiner Kindheit waren sehr<br />

schön, da habe ich gute Erinnerungen<br />

dran. Wir wohnten zwar in einer Art<br />

Bunker, einem Übergangshaus, zuerst<br />

ohne Wasseranschluss. Aber was<br />

viel wichtiger war, das war der große<br />

Fußballplatz direkt vor der Haustür!<br />

Damals hatte ich viel Kontakt mit<br />

meinen Verwandten in Rodenkirchen,<br />

mein Vater war damals Dachdecker.<br />

Als ich drei Jahre alt war, sind wir nach<br />

Mechenich gezogen. Meine ältesten<br />

Brüder wollten dorthin, um eine vernünftige<br />

Wohnung mit Badezimmer zu<br />

haben. Wir waren zu viert in einem Kinderzimmer,<br />

ein Doppelbett, eine Liege<br />

und ich als Jüngster hatte damals ein<br />

Kinderbett. Kurz danach hat mein Vater<br />

seine Arbeit verloren, <strong>die</strong> Mutter war<br />

Hausfrau. Als er dann stellvertretender<br />

Hausme<strong>ist</strong>er wurde, kamen wir dann<br />

aber doch über <strong>die</strong> Runden, wir Jungs<br />

konnten sogar mit helfen. Bis dahin<br />

waren es <strong>die</strong> schönsten Jahre.<br />

Dann kam der Zeitpunkt, an dem mein<br />

Vater auch <strong>die</strong>se Stelle verlor und er<br />

immer mehr Alkohol trank. Da war ich<br />

ungefähr sechs Jahre alt und bekam<br />

<strong>die</strong>se Ekzesse schon richtig mit. Er<br />

wurde immer aggressiver, war immer<br />

öfter zu Hause und terrorisierte uns.<br />

Zum Beispiel durften wir nur 5 Minuten<br />

duschen, wenn es länger dauerte,<br />

trat er <strong>die</strong> Tür auf und schlug uns. Mein<br />

ältester Bruder, den er vergötterte,<br />

der war da schon beim Bund. Als ich<br />

mit 7 Jahren in <strong>die</strong> Schule kam, war<br />

ich erst auf einer normalen Schule und<br />

kam da auch super klar. Ich lernte lesen<br />

und hatte Freunde. Aber der Direktor<br />

konnte mich nicht besonders leiden,<br />

behauptete, daß ich mit den anderen<br />

nicht mitkomme. Dann musste ich auf<br />

eine Sonderschule in Sürth. Das war<br />

eine gute Schule, wirklich, aber mir<br />

hat <strong>die</strong> Sache einen Knacks gegeben.<br />

Danach kam ich nicht mehr so gut im<br />

Unterricht zurecht, hab mir zwar Mühe<br />

gegeben, aber nach einem Jahr sind<br />

wir dann wieder umgezogen und ich<br />

musste <strong>die</strong> Schule wieder verlassen.<br />

Für drei Wochen sind wir nach Vogelsang<br />

gezogen, dort war ich in einer<br />

modernen Behindertenschule. Da sich<br />

das Amt geirrt hatte, mussten wir aber<br />

wieder umziehen in <strong>die</strong> Brühler Straße.<br />

Das war dann wieder ein Sozialbau,<br />

dort <strong>ist</strong> mein zweitältester Bruder<br />

abgehauen. Er hatte Angst vor meinem<br />

Vater, ihn hatte er am schlimmsten<br />

in der Mangel. Kurz vorher hatte er<br />

ihm zwei Zähne rausgeschlagen, zu<br />

der Zeit habe ich dann auch mit Alkohol<br />

angefangen. Da war ich kurz vor<br />

meinem 9. Lebensjahr. Mein Vater hat<br />

Bowle gemacht, da mussten wir alle<br />

mittrinken, ob wir wollten oder nicht.<br />

Als Kind nimmt man ja gerne <strong>die</strong> Früchte<br />

und da kann ich mich bis heute noch<br />

erinnern: Ich war so betrunken, daß ich<br />

vom Stockbett runter aufs Kinderbett<br />

gesprungen bin, dann war der Lattenrost<br />

kaputt. Aber ich habe es eben<br />

gehasst, mit 8 Jahren noch in einem<br />

Gitterbett zu schlafen. Ich habe mich<br />

geschämt, aber ich durfte ja eh keinen<br />

Besuch mit nach hause bringen. Jedenfalls<br />

ging der Lattenrost zu Bruch und<br />

ich habe das erste Mal richtig Schläge<br />

bekommen. Mein Vater hat mich an<br />

den Haaren aus dem Bett herausgezogen<br />

und mit einem nassen Militärgürtel<br />

auf mich geschlagen, daß ich<br />

eine Woche nicht richtig sitzen konnte.<br />

Trotzdem bin ich da noch in <strong>die</strong> Schule<br />

gegangen, obwohl das <strong>die</strong> allerletzte<br />

Schule war. In der Zeit fing das an, daß<br />

ich meinen Urin nicht halten konnte. So<br />

bekam <strong>die</strong> Schule das zwar mit, aber<br />

da hat sich keiner drum gekümmert.<br />

Eine Lehrerin hat mir mal Kleidung<br />

geschenkt, ich wollte dann nicht mehr<br />

hin. Dann habe ich mich im Park versteckt<br />

oder bin rumgelaufen. Einmal<br />

hat mich auch <strong>die</strong> Polizei aufgegriffen<br />

und nach hause gebracht. Kaum waren<br />

<strong>die</strong> weg, gabs dann richtig Schläge, als<br />

mein Bruder mich schützen wollte, hat<br />

er auch noch welche bekommen. Mein<br />

Vater hat meinem Bruder das Trommelfell<br />

zerschlagen, darauf kann er<br />

bis heute nichts hören. Meine Mutter<br />

hat manchmal versucht, dazwischen<br />

zu gehen. Aber <strong>die</strong> war selbst so arm<br />

dran, <strong>die</strong> hat uns nicht helfen können.<br />

Kurz nach meinem neunten Geburtstag<br />

bekam ich Schläge, so dass meine<br />

Brille zu Bruch ging. Ich habe damals<br />

schon sehr schlecht gesehen, ich habe<br />

meine Brille also mit nur einem Glas<br />

angezogen, bis ich eine neue Brille<br />

vom Arzt verschrieben bekam. Dafür<br />

wurde auch mein Taschengeld von<br />

5 DM im Monat gesperrt. Ab dem<br />

10. Lebensjahr durfte ich dann gar nicht<br />

mehr zur Schule gehen.<br />

Und Willi G. schreibt weiter für <strong>die</strong><br />

BANK EXTRA, wie er es schaffte,<br />

sich von seiner Familie zu d<strong>ist</strong>anzieren<br />

und seinem Vater zu verzeihen<br />

und wie er schließlich<br />

einen Freund fürs Leben fand.<br />

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