liebe leserinnen, liebe leser, Heimweh ist die ... - Christina Bacher
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und um <strong>die</strong> welt<br />
dass seine Kindheit schon sehr lange<br />
zurückliegen musste.<br />
Als er mich fragte, woher ich komme,<br />
stellte ich fest, das Wort Almaaniya<br />
war ihm unbekannt. Ich versuchte es<br />
mit „Germany“ und „Uruba“ (Europa),<br />
doch er sah mich nur an, sehnsüchtig,<br />
winkte mit dem Kopf in Richtung<br />
Gibraltar und murmelte einige Male<br />
leise „Espanya“. Das war für ihn nicht<br />
nur das andere Ufer der Meerenge,<br />
es war <strong>die</strong> ganze Welt außerhalb der<br />
seinen. Er fragte mich, ob in Espanya<br />
wirklich jeder ein großes Auto fahre.<br />
Der Hinweis auf meinen abgewrackten<br />
Ford-Fiesta schien ihn nicht wirklich zu<br />
desillusionieren.<br />
„Zwei Kaffee?“, unterbrach uns ein<br />
hochgewachsener, sehr gepflegter<br />
junger Mann in schwarzer Hose und<br />
weißem Hemd, der Kellner, der mich<br />
sichtlich verwirrt ansah. Seine Augen<br />
durchsuchten <strong>die</strong> menschenleere<br />
Umgebung, offensichtlich vermisste<br />
er den Gast, für den der zweite Kaffee<br />
bestimmt war, den Jungen übersah er<br />
mit unbeirrter Selbstverständlichkeit.<br />
Als ich seinen Blick abfing und mit einer<br />
deutlichen Kopfbewegung zu dem Jungen<br />
an meinem Tisch leitete, flackerte<br />
Erstaunen in seinem Gesicht auf. Doch<br />
er fing sich sofort wieder und servierte<br />
von einem Messingtablett zwei Gläser<br />
Milchkaffee auf Untertellern samt<br />
Zuckerbehälter mit einer übertriebenen,<br />
schon zyni-schen Höflichkeit.<br />
Davon unbeeindruckt griff der Junge<br />
zum Teelöffel. Bevor er umrührte, füllte<br />
er Unmengen von Zucker ins Glas,<br />
nahm es in seine schmutzigen kleinen<br />
Hände und trank. Dabei wandte er nur<br />
für Sekunden seinen strahlenden Blick<br />
von mir ab. Auf meine Frage, welchen<br />
Zug er denn nähme, antwortete er<br />
mit einem herablassenden Lächeln.<br />
Er lehnte sich breitbeinig in den Stuhl,<br />
wobei seine Zehen kaum den Boden<br />
erreichten und erklärte mir überlegen,<br />
wie er unterhalb der Waggons<br />
reise, indem er zwischen <strong>die</strong> Gestänge<br />
klettere. Zwischen den vorderen<br />
Rädern des Waggons fänden <strong>die</strong> Füße<br />
sicheren Halt. Allerdings müsse man<br />
dafür kräftig sein, warnte er mich stolz,<br />
denn ein beträchtlicher Teil des Körpergewichtes<br />
sei während der gesamten<br />
Fahrt mit den Armen zu halten. Sehr<br />
ernst fügte er hinzu, er bevorzuge<br />
Güterzüge, denn vom Personal der<br />
Personenzüge würde nicht selten auch<br />
unterhalb der Waggons nach ungebetenen<br />
Passagieren Ausschau gehalten.<br />
Derart aufgeklärt, wuchs meine<br />
Zuneigung zu <strong>die</strong>sem dünnen, zähen<br />
Kerlchen. Wir lachten beide über <strong>die</strong><br />
dummen Schaffner, <strong>die</strong> sich einbilden,<br />
einen Kerl wie ihn schnappen zu können.<br />
Nur Wochen zuvor hatte ich allerdings<br />
erlebt, wie ein etwa gleichaltriger<br />
Junge ohne Ticket von einem Zivilpoliz<strong>ist</strong>en<br />
aus dem – wenn auch langsam<br />
fahrenden – Zug gestoßen wurde. Der<br />
so brutal hinaus Beförderte lief wütend<br />
und weinend hinter dem Zug her. Ich<br />
hatte mich gefragt, wie er aus <strong>die</strong>ser<br />
Einöde, fernab jedes Bahnhofs, wohl<br />
weitergekommen war. Doch <strong>die</strong> Episode<br />
behielt ich für mich, sicher, ihm<br />
damit nichts Neues zu erzählen.<br />
Wir unterhielten uns über seine 13 Geschw<strong>ist</strong>er,<br />
über <strong>die</strong> Enttäuschung seiner<br />
kranken Mutter, wenn er nun ohne das<br />
erhoffte Geld aus Tanger zurückkehre,<br />
über seinen kiffenden Vater, über das<br />
Mofa, dass er zweifellos einmal besitzen<br />
würde. Die Sonne war untergegangen,<br />
der Muezzin hatte schon zum<br />
Abendgebet gerufen. Drüben in der<br />
Altstadt gingen <strong>die</strong> Lichter an.<br />
Ich bezahlte den Kaffee. Dann gingen<br />
wir langsam nebeneinander über den<br />
Aschenplatz ins Dunkle Richtung Güterbahnhof.<br />
Ich spürte den Blick des<br />
Kellners in meinem Rücken. Noch<br />
einmal wandte ich mich um, sah auf<br />
das einsam stehende, einst prächtige<br />
Haus. Die Fenster des Cafés waren<br />
bis auf <strong>die</strong> erleuchtete Moschee in<br />
einigen hundert Metern Entfernung<br />
einzige Lichtquelle der Umgebung.<br />
Wie auf einer Bühne standen noch<br />
immer unsere Gläser auf einem der<br />
beiden Tische beidseits des Eingangs<br />
auf dem so unangemessen großstädtisch<br />
anmutenden Trottoir.<br />
Als wir nicht mehr weit vom Zaun waren,<br />
wünschte ich mir, wir würden ihn niemals<br />
erreichen. Ich zog 50 Dirham aus<br />
meiner Hosentasche, ein auch für mich<br />
nicht unerheblicher Betrag, überreichte<br />
ihm wortlos den Schein. Den ohnehin<br />
zwecklosen Rat, er möge sich eine<br />
Fahrkarte kaufen, untersagte ich mir.<br />
Ungläubig warf er einen Blick auf den<br />
blauen Geldschein, bevor er ihn ohne<br />
Zögern oder gespielte Bescheidenheit<br />
in seiner rechten Faust barg. Für einen<br />
Moment glaubte ich, so etwas wie<br />
Tränen in seinen aus der Dunkelheit<br />
funkelnden Augen zu sehen. Wiederum<br />
strahlte er mich an, doch es war<br />
nicht der Blick von zuvor im Café. Sein<br />
Gesicht spiegelte ungläubiges, <strong>die</strong>ses<br />
Glück noch nicht ganz begreifendes<br />
Erstaunen, er sah mir mit hemmungsloser<br />
Zuneigung in <strong>die</strong> Augen.<br />
Unvermittelt sprang er auf mich zu,<br />
küsste und liebkoste mit seinen Lippen<br />
sämtliche Stellen meines Gesichts. So<br />
heftig umarmte er mich, dass ich den<br />
Eindruck hatte, er hinge mit seinem<br />
Fliegengewicht an meinem Hals. Ich<br />
legte <strong>die</strong> Arme um seinen kleinen,<br />
sehnigen Körper, drückte ihn an mich,<br />
wobei ich, mit dem Kinn auf seinem<br />
Kopf, zu dem ins Dunkle versinkenden<br />
Espanya hinübersah.<br />
Unsere Wege trennten sich. Während<br />
er wahrscheinlich routiniert den Zaun<br />
zum Güterbahnhof erklomm, ging ich<br />
langsam in Richtung der trubelnden<br />
Altstadt, ohne mich noch einmal umzusehen.<br />
Mit einem Mal fühlte ich mich<br />
verdammt einsam. Um nichts <strong>liebe</strong>r<br />
wäre ich in <strong>die</strong>sem Moment mit ihm<br />
gefahren.<br />
Karl Karam<br />
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