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liebe leserinnen, liebe leser, Heimweh ist die ... - Christina Bacher

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und um <strong>die</strong> welt<br />

Fotos: Karl Karam<br />

Begegnung in<br />

Tanger<br />

Ich erinnere mich nicht, was mich<br />

an den Hafen von Tanger verschlagen<br />

hatte. Die Möwen schrieen <strong>die</strong><br />

Dämmerung herbei, als plötzlich ein<br />

barfüßiger, vielleicht dreizehnjähriger<br />

Junge mir gegenüberstand. Er trug ein<br />

schmutziges, kurzärmliges Shirt, seine<br />

Hose, bis zu den Knien hochgekrempelt,<br />

zeigte seine dünnen, braunen,<br />

von kleineren Abschürfungen übersäten<br />

Beine.<br />

Ich saß vor einem Café in Hafennähe,<br />

vor einem heruntergekommenen Eckhaus<br />

im Kolonialstil. Die Gegend war<br />

einsam. Gegenüber ein mehrere Fußballfelder<br />

großer<br />

Aschenplatz, dahinter, von einem Zaun<br />

getrennt, der Güterbahnhof. Gedämpft<br />

drang Lärm aus der nahegelegenen<br />

Altstadt in <strong>die</strong>ses Viertel mit baufälligen,<br />

anscheinend unbewohnten<br />

Häusern, an denen noch prächtige<br />

Fassaden und ein breiter Bürgersteig<br />

an früheres Leben erinnerten.<br />

Ohne sonst übliches Vorgeplänkel<br />

gerieten wir in ein Gespräch. Er hatte<br />

den Tag in Tanger verbracht und wollte<br />

in sein knapp eine Zugstunde entferntes<br />

Dorf zurück. Irgendein Geschäft<br />

– der Grund seines Aufenthalts in der<br />

Stadt – war ganz und gar nicht zu seiner<br />

Zufriedenheit verlaufen, doch ich fragte<br />

ihn nicht, worum es gegangen war. Er<br />

er-zählte von seinem Dorf und von seiner<br />

Familie, wobei, mal abwechselnd,<br />

mal gleichzeitig, seine schwarzen<br />

Augen und weißen Zähne aufblitzten.<br />

Der allabendlich willkommene Wind der<br />

Dämmerung blies <strong>die</strong> ungekämmten,<br />

schwarzen, leicht gelockten Haare in<br />

sein feinzügiges, auf mich zugleich<br />

wild wirkendes Gesicht. Ich fragte ihn,<br />

ob er auch einen Kaffee wolle – oder<br />

<strong>liebe</strong>r ein Glas Milch? Er bejahte freudig,<br />

ohne Höflichkeitsgetue: „Natürlich<br />

Kaffee“. Ich betrat das Café, das – bis<br />

auf <strong>die</strong> Tatsache, dass es fast leer war<br />

– jedem Film Noir Ehre gemacht hätte,<br />

rief dem Wirt <strong>die</strong> Bestellung zu und<br />

setzte mich wieder zu ihm. Zu mei-ner<br />

Überraschung ohne <strong>die</strong> geringsten Verständigungsschwierigkeiten,<br />

setzten<br />

wir unser Gespräch fort. Seine Stimme<br />

war klar, seine Worte schienen mir so<br />

deutlich und wohlgeformt wie <strong>die</strong> eines<br />

Poeten in einer Variation des marokkanischen<br />

Dialektes. Eine Schule hatte<br />

er noch nie besucht, wie er sichtlich<br />

ohne Bedauern antwortete. Zur Schule<br />

gehen Kinder!, betonte er – ich begriff,<br />

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