jung & liberal 3|06 - Junge Liberale
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Thema Blindtext<br />
Thema<br />
Die Gerechtigkeit und die <strong>Liberale</strong>n<br />
> von Marco Buschmann<br />
10<br />
11<br />
Nicht selten kommt Misstrauen<br />
unter <strong>Liberale</strong>n auf, wenn das<br />
Wort von der Gerechtigkeit in der<br />
politischen Diskussion fällt. Gerne<br />
wird auf Friedrich August v. Hayek<br />
Bezug genommen, der darauf hingewiesen<br />
hat, dass es keine „soziale<br />
Gerechtigkeit“ geben könne und sie<br />
als Illusion abgestempelt hat. Aber<br />
das heißt für <strong>Liberale</strong> nicht, dass Gerechtigkeit<br />
kein Ziel ihrer Politik sein<br />
soll. Es heißt nur, dass wir ein anderes<br />
Verständnis von Gerechtigkeit als<br />
Sozialdemokraten haben, die sie allzu<br />
gerne zum Vorwand nehmen, um ein<br />
immer größeres Volumen an Transferleistungen<br />
einzufordern.<br />
Gerechtigkeit war selbst in<br />
der Antike kein Fremdwort<br />
Dies wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt,<br />
dass Gerechtigkeit seit<br />
der Antike nicht nur eine Transfer-<br />
oder Leistungsdimension (distributive<br />
Gerechtigkeit), sondern auch die<br />
Dimension des rechtlichen Ausgleichs<br />
(kommutative Gerechtigkeit)<br />
besitzt. Insbesondere die Letztgenannte<br />
ist auf das Engste mit denjenigen<br />
Ordnungsgedanken verknüpft,<br />
die wir heute unter dem Stichwort<br />
Rechtsstaatlichkeit zusammenfassen.<br />
Kommutative Gerechtigkeit<br />
besagt nämlich mit moderneren<br />
Worten, dass der Staat dem Grundsatz<br />
verpflichtet sein soll, dann für<br />
einen Ausgleich zu sorgen, wenn einer<br />
seiner Bürger in seiner Rechtssphäre<br />
verletzt ist. Ein Anwendungsbeispiel:<br />
Beschädige ich das Eigentum<br />
meines Nachbarn, bin ich ihm<br />
zum Ersatz des Schadens verpflichtet.<br />
Wenn ich dem nicht nach<br />
komme, wird dies mit staatlichem<br />
Zwang gegen mich durchgesetzt. Es<br />
heißt aber auch: Greift der Staat<br />
zu Unrecht in die grundrechtlich<br />
geschützte Sphäre eines Bürgers<br />
ein, ist er diesem zum Ersatz des<br />
Schadens verpflichtet.<br />
Diese für <strong>Liberale</strong> selbstverständliche<br />
Rechtsfolgen leiten sich direkt<br />
aus dem Prinzip der kommutativen<br />
Gerechtigkeit ab. <strong>Liberale</strong> streiten<br />
für dieses Prinzip und verteidigen es!<br />
Die strittigen Konfliktlinien mit den<br />
Anhängern anderer politischer Philosophien<br />
verlaufen hier nicht auf<br />
der Ebene des Prinzips an sich, sondern<br />
vielmehr bei der Frage, was<br />
denn sinnvollerweise ganz konkret<br />
zur Rechtssphäre eines Bürgers gehören<br />
solle: Wer der Ansicht ist, dass<br />
dazu ein Anspruch auf Erwerbsarbeit<br />
gehören solle, mag es für gerecht halten,<br />
dass Erwerbsarbeit durch staatliche<br />
Arbeitszeitverkürzungen umverteilt<br />
wird.<br />
Aber auch die distributive Gerechtigkeit<br />
hat ihren Platz in der politischen<br />
Philosophie des Liberalismus.<br />
Zwei Aspekte bilden hier je einen<br />
Anknüpfungspunkt: Bildung und politische<br />
Stabilität.<br />
<strong>Liberale</strong> Vorstellungen<br />
<strong>Liberale</strong> wollen, dass die Möglichkeiten<br />
eines Individuums zur Selbstverwirklichung<br />
in der Gesellschaft nicht von Geschlecht,<br />
Rasse oder Herkunft abhängig<br />
ist, sondern von seiner individuellen<br />
Leistungsfähigkeit. Jeder Mensch soll<br />
die Chance besitzen, auf der Basis eigener<br />
Leistung seiner Vorstellung von<br />
Glück nachzugehen. Diese Chance wird<br />
nach Ansicht der meisten <strong>Liberale</strong>n dadurch<br />
erhöht, dass jeder Mensch einen<br />
Anspruch auf ein Mindestmaß an Bildung<br />
hat, um Leistungsfähigkeit entfalten<br />
zu können. Dies ist nicht etwa<br />
das Ergebnis einer Debatte des 20.<br />
Jahrhunderts. Bereits John Stuart Mill<br />
hat dafür plädiert, dass der Staat eine<br />
Kluge Köpfe<br />
denken weiter !<br />
Art Schulpflicht durchsetzen und für<br />
das Schulgeld derjenigen, die es sich<br />
nicht leisten können, aufkommen solle.<br />
Hier wird eine Leistung an Bedürftige<br />
verteilt. <strong>Liberale</strong> plädieren hier für<br />
Umverteilung, also für Verteilungsgerechtigkeit.<br />
Der Unterschied beispielsweise<br />
zur Sozialdemokratie besteht<br />
hier nicht bei der Frage des „ob“. Die<br />
Konfliktlinien ergeben sich vielmehr<br />
bei der Frage, ob das Prinzip der Chancengesellschaft<br />
durch Bildung ein Prinzip<br />
ist, das zur „Optimierung“ strebt.<br />
Kann der Staat mit aller Macht absolute<br />
Chancengleichheit herstellen oder<br />
ist er bereit zu akzeptieren, dass die<br />
Menschen in vielen Bereichen selber<br />
Verantwortung für die Chancen ihrer<br />
Kinder übernehmen müssen? Denn<br />
das Defizit schlechter Erziehung in den<br />
ersten Lebensjahren wird wohl nur<br />
dann völlig auszuschließen sein, wenn<br />
man jedes Kind der einheitlichen Obhut<br />
einer „Norm- und Brutzentrale“<br />
übergibt, wie es in Huxleys düsterer Vision<br />
einer „Brave New World“ heißt.<br />
Der andere Anknüpfungspunkt für<br />
distributive Gerechtigkeit bei <strong>Liberale</strong>n<br />
ist politische Stabilität. Auch dieser<br />
Aspekt ist mit dem Ordnungsgedanken<br />
des Rechtsstaates verknüpft.<br />
Er besagt insbesondere, dass die Bürger<br />
ihr Verhalten an rechtlichen Leitlinien<br />
ausrichten können, auf deren<br />
Bestand sie vertrauen dürfen. Der Bestand<br />
rechtlicher Normen kann aber<br />
nur unter den Rahmenbedingungen<br />
politischer Stabilität als gesichert gelten.<br />
Da es in jedem Staats- und Wirtschaftssystem<br />
bestimmte Gruppen<br />
gibt, die von den jeweiligen Rahmenbedingungen<br />
mehr oder weniger profitieren,<br />
existiert in jedem System Unzufriedenheit.<br />
Unzufriedenheit jedoch<br />
gefährdet politische Stabilität. Sie<br />
kann gar zur gewaltsamen Revolution<br />
führen. Die <strong>liberal</strong>e Marktwirtschaft<br />
jedoch besitzt einen Vorzug: Sie macht<br />
das Angebot, dass es trotz aller Einkommensunterschiede<br />
den untersten<br />
Einkommensgruppen besser gehen<br />
solle, als es ihnen in jedem anderen<br />
Wirtschaftssystem erginge. Jedenfalls<br />
hat John Rawls dieses Kriterium in seiner<br />
Theory of Justice als wesentliche<br />
Legitimation der Marktwirtschaft vorgestellt.<br />
Dieses Angebot, das in der<br />
Praxis nichts anderes bedeutet, als einen<br />
Mindestlebensstandard (auch)<br />
durch Umverteilung zu sichern, bewirkt<br />
politische Stabilität. Daher erklärt<br />
selbst die radikal-<strong>liberal</strong>e bis libertäre<br />
Mont Pelerin-Society in Punkt<br />
4 ihres Statement of Aims die Sicherung<br />
eines Minimum-Lebensstandards<br />
zu ihrem Ziel.<br />
Wir sehen also, dass <strong>Liberale</strong> alles<br />
andere als ein gespaltenes Verhältnis<br />
zur Gerechtigkeit haben. Wir dürfen<br />
nur nicht zulassen, dass andere uns<br />
die Hoheit über die Deutung dieses<br />
Begriffes entreißen. Denn wer nicht<br />
auf der Seite der Gerechtigkeit steht,<br />
der ist ein Ungerechter. Und wer<br />
möchte Ungerechte schon gerne in<br />
politischer Verantwortung sehen?<br />
Marco Buschmann (28) war sechs<br />
Jahre lang Programmatiker der<br />
JuLis NRW. Heute ist er Rechtsreferendar<br />
und promoviert am Seminar<br />
für Staatsphilosophie und Rechtspolitik<br />
der Universität zu Köln.<br />
Ihr erreicht ihn unter<br />
marco_buschmann@yahoo.de.<br />
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<strong>jung</strong> & <strong>liberal</strong> Ausgabe 3|2006<br />
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