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Theatermagazin ZeitSchrift 1 10/11 - Druschba-Spezial

Programmheft "Romeo und Julia" Spezialausgabe der Theaterzeitschrift des LTT

Programmheft "Romeo und Julia"
Spezialausgabe der Theaterzeitschrift des LTT

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Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong><br />

<strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong><br />

Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen // www.landestheater-tuebingen.de


2<br />

Inhalt<br />

2158 KILOMETER WANDERLUST // 03<br />

Grußwort der Kulturstiftung des Bundes<br />

Der Blick auf das Fremde lässt uns das Vertraute schärfer sehen // 04<br />

von Simone Sterr<br />

druschba = freundschaft // 05<br />

Zwei Jahre Theaterpartnerschaft<br />

Kulturelle Differenzen – was ist Kultur heute? // 06<br />

von Homi K. Bhabha<br />

Zweisprachig Regie führen // 08<br />

Über die Inszenierungsarbeit an ROMEO UND JULIA / Ромео и Джульетта<br />

romeo und julia oder Ромео и Джульетта // <strong>11</strong><br />

von Janine Viguié<br />

Liebe kennt keine Grenzen // 12<br />

Vom Leben in binationalen und bikulturellen Beziehungen // von Elisabeth Beck-Gernsheim<br />

Endlich wieder Klassenfahrt // 15<br />

Schauspieler Christian Dräger berichtet über die Fahrt des LTT-Teams nach Petrozavodsk<br />

Leben in der Parapolis // 18<br />

von Mark Terkessidis<br />

Eindrücke // 22<br />

Aus der Produktion romeo und julia<br />

Kunst und Kultur für alle // 26<br />

von Tina Jerman und Meinhard Motzko<br />

eila & elli // 28<br />

Mutter und Tochter im Interview<br />

zwei wochen »KALTE HERZEN« // 30<br />

Eine deutsch-russische Jugendbegegnung // von Volker Schubert<br />

Gefördert im Fond<br />

Wanderlust der<br />

interkultur weltweit // 31<br />

IMPRESSUM // Herausgeber: Landestheater Württemberg- Hohenzollern Tübingen Reutlingen // Eberhardstr. 6 // 72072 Tübingen<br />

// Tel: 0 70 71/15 92 0 // Intendantin: Simone Sterr // Verwaltungsdirektor: Thomas Heskia // Redaktion: Christiane Neudeck<br />

// Satz und Gestaltung: Nina Klotz – baumundeule.de // Probenfotos: Patrick Pfeiffer // Druck: Kohlhammer und Wallishauser<br />

GmbH, Hechingen // Mit freundlicher Unterstützung der Stadtwerke Tübingen.<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


3<br />

gruSSwort<br />

2158 KILOMETER WANDERLUST<br />

Grußwort der Kulturstiftung des Bundes<br />

8225 Kilometer beträgt die Distanz zwischen den Westfälischen<br />

Kammerspielen Paderborn und seinem Partnertheater,<br />

dem Huajuyuan-Theater in Qingdao/China. Zwischen<br />

den Theatern in Schwedt und Szczecin/Polen, die<br />

ebenso im Rahmen des Fonds Wanderlust der Kulturstiftung<br />

des Bundes gefördert werden, liegen nur 45 Kilometer.<br />

Die Entfernung zwischen dem Landestheater Tübingen<br />

und seinem Partner, dem Nationaltheater Karelien Petrozavodsk/Russland,<br />

liegt da mit rund 2158 Kilometern<br />

im Mittelfeld. Das Landestheater Tübingen hat, wie alle<br />

28 im Fonds Wanderlust geförderten deutschen Stadt-,<br />

Staats- und Landestheater, eine Herausforderung angenommen:<br />

Gemeinsam mit dem selbst gewählten Partnertheater<br />

will es Distanzen überwinden, geografische, künstlerische,<br />

organisatorische und nicht zuletzt kulturelle. Wie<br />

Tübingen schauen viele Theater dabei nach Osten und<br />

schlagen eine Brücke ins angrenzende Polen, nach Bulgarien,<br />

Rumänien oder eben ins ferne Russland. Das Landestheater<br />

Tübingen und das Nationaltheater Karelien haben<br />

sich dabei eine doppelte Aufgabe gestellt: Einerseits<br />

bringen sie die für so ein Projekt unabdingbare kulturelle<br />

Verständigung und die Kommunikation über (sprachliche)<br />

Grenzen hinweg auch auf die Bühne und machen sie<br />

zum Thema der gemeinsamen Koproduktion. ROMEO<br />

UND JULIA scheint hier eine perfekte Wahl. Andererseits<br />

tragen sie den interkulturellen Gegebenheiten vor<br />

Ort Rechnung. Da man im an der Grenze zu Finnland<br />

gelegenen Karelien nicht nur Russisch, sondern auch Finnisch<br />

spricht, werden alle drei Kulturen Eingang in Shakespeares<br />

Tragödie finden.<br />

Der Fonds Wanderlust, mit insgesamt 5 Millionen Euro<br />

von der Kulturstiftung des Bundes ausgestattet, möchte<br />

deutsche Stadttheater auf die Reise schicken, damit sie<br />

sich neue Horizonte für die Arbeit vor Ort eröffnen können.<br />

Denn die der Einrichtung des Fonds vorangegangene<br />

Recherche der Kulturstiftung des Bundes hatte gezeigt:<br />

Viele Stadttheater wollen international arbeiten und sich<br />

neue Themen und Strukturen erschließen, es fehlt jedoch<br />

an Personal und Mitteln – und damit an Zeit und gedanklichen<br />

Freiräumen –, um neben der Betreuung des normalen<br />

Spielbetriebs Kooperationen mit Häusern außerhalb<br />

Deutschlands zu entwickeln. Hier setzt der Fonds Wanderlust<br />

an: Durch die feste Partnerschaft mit einem ausländischen<br />

Theater über die Dauer von zwei bis drei Spielzeiten<br />

hinweg bietet er den Theatern einerseits die Möglichkeit,<br />

sich im Ausland mit ihrer Arbeit zu präsentieren,<br />

andererseits in vielerlei Hinsicht von der Arbeit der ausländischen<br />

Partner zu lernen. Eine Zusammenarbeit auf<br />

Augenhöhe soll es also sein.<br />

Die Kulturstiftung des Bundes dankt der Intendantin des<br />

Landestheaters Tübingen Simone Sterr, dem Intendanten<br />

des Nationaltheaters Karelien Sergej Pronin, dem Künstlerischen<br />

Leiter Ralf Siebelt sowie den Dramaturgen Christiane<br />

Neudeck und Dmitri Svintsov für ihr außerordentliches<br />

Engagement, um diese lebendige und künstlerisch<br />

fruchtbare Partnerschaft aufzubauen. Wir wünschen Ihnen,<br />

dass Sie weiterhin zahlreiche Zuschauer für Ihr gemeinsames<br />

Projekt »<strong>Druschba</strong>/Дpyжбa« gewinnen können<br />

und dass die Kreativität, der Erfindungsgeist und die<br />

Wanderlust, mit deren Hilfe Sie die 2158 Kilometer Distanz<br />

zwischen Ihren Theatern immer wieder neu überwunden<br />

haben, Sie fortan bei Ihren Theaterprojekten begleiten<br />

wird!<br />

Hortensia Völckers<br />

Künstlerische Direktorin/Vorstand<br />

Alexander Farenholtz<br />

Verwaltungsdirektor/Vorstand<br />

3<br />

www.wanderlust-blog.de<br />

<strong>Theatermagazin</strong> // <strong>ZeitSchrift</strong>


danke<br />

ufer des Onegasees<br />

Der Blick auf das Fremde lässt uns<br />

das Vertraute schärfer sehen<br />

4<br />

Nahezu bei jeder Deutschen Erstaufführung, bei jeder Entdeckung<br />

eines ausländischen Autors für unsere Bühne, habe ich das Verständnis<br />

von Offenheit, Neugier, Wagnis, das unsere Theaterarbeit hier in<br />

Tübingen seit 5 Jahren prägt, mit diesem oder einem ähnlichen Satz<br />

beschrieben.<br />

Nun ist diese Aussage mit einer handfesten Erfahrung unterfüttert.<br />

Einer glücklichen zudem, die wir mit dem Theaterprojekt ROMEO<br />

UND JULIA / Ромео и Джульетта an unser Publikum weitergeben<br />

können.<br />

Verständigung, interkulturelle Kompetenz, Überwindung von Grenzen<br />

und Vorurteilen – das sind große Worte, denen wir nur bedingt<br />

gewachsen sind.<br />

Schauspieler, die sich kulturell fremd sind und sich sprachlich nicht<br />

verstehen, erzählen die Geschichte einer unmöglichen, wenn überhaupt<br />

erst im Tod stattfindenden Versöhnung und Befriedung zweier<br />

Gruppen. Ein einfaches Setting und dennoch ein kompliziertes<br />

Unterfangen. Sämtliche Schrift-, Körper- und Lautsprachen, die das<br />

Theater hat, werden dabei entdeckt und kommen zum Einsatz.<br />

Wir sprechen unterschiedliche Sprachen, wir haben uns – vielleicht<br />

gerade deshalb – gut zugehört und uns umso besser verstanden.<br />

Das Projekt »<strong>Druschba</strong>«, das wir vor über einem Jahr begonnen haben,<br />

und nun mit ROMEO UND JULIA abschließen, hat dem<br />

Stück etwas voraus: das Leben, die Freundschaft, die Liebe – sie stehen<br />

am Ende und nicht der viel zu früh ausgehauchte Atem zweier<br />

junger Menschen.<br />

Dafür und für die vielen Begegnungen, die wir in den letzten Monaten<br />

auf Reisen, in Vorstellungen, auf Proben erleben konnten,<br />

möchte ich mich bei allen, die an einem der Projekte beteiligt waren,<br />

bedanken.<br />

Danke an die Kulturstiftung des Bundes, an die Stadt Tübingen, an<br />

die Kreissparkasse Tübingen, an die Mitarbeiter/innen beider Häuser,<br />

die von den Werkstätten bis zur Verwaltung das Ungewöhnliche<br />

mitgemacht und sich eingelassen haben auf fremde Arbeitsweisen.<br />

Danke an die Ensembles für ihre Lust, miteinander umzugehen und<br />

für ihre Geduld, miteinander zu arbeiten. Danke den beteiligten Regisseuren,<br />

Dramaturgen, Übersetzern und Danke Ralf Siebelt für die<br />

Hartnäckigkeit, dieses Projekt unbedingt durchsetzen zu wollen.<br />

Simone Sterr<br />

– LTT-Intendantin<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


5<br />

partnerschaft übersicht<br />

<strong>Druschba</strong> = Freundschaft<br />

Zwei Jahre Theaterpartnerschaft des LTT mit dem Karelischen Nationaltheater in Petrozavodsk<br />

// von Projektdramaturgin Christiane Neudeck<br />

AM STADTRAND<br />

Lesung von IRINA – EINE FRISEUSE<br />

ROMEO UND JULIA Ensemble<br />

KABALE UND LIEBE<br />

Es begann damit, dass<br />

die Kulturstiftung des<br />

Bundes in der Spielzeit<br />

08/09 einen neuen<br />

Fonds für internationale<br />

Theaterpartnerschaften ins Leben rief und LTT-Hausregisseur<br />

Ralf Siebelt gerade in Tübingens Partnerstadt Petrozavodsk<br />

Bert Brechts »Kaukasischen Kreidekreis« inszenierte.<br />

Russland ist neben Deutschland eines der wenigen<br />

Länder, das eine hohe Dichte an subventionierten Theatern<br />

mit Repertoirebetrieb und festen Ensembles aufweist,<br />

und da das Karelische Nationaltheater in Struktur und<br />

Größe dem LTT ähnelt, war der Entschluss schnell gefasst,<br />

den gerade begonnenen Kontakt durch eine intensive,<br />

zweijährige Partnerschaft zu vertiefen und zu erweitern.<br />

Den offiziellen Startschuss dazu gab die Premiere von<br />

Aleksandr Vampilovs AM STADTRAND unter der Regie<br />

des russischen Theaterleiters Sergej Pronin, am 26.09.09<br />

in der LTT-Werkstatt. Die Inszenierung erlebte 22 nahezu<br />

ausverkaufte Vorstellungen!<br />

Am 28. und 29.<strong>10</strong>.09 konnten wir dann u. a. den russischen<br />

Dramatiker Oleg Bogaev zum WOCHENEN-<br />

DE RUSSISCHER DRAMATIK im LTT begrüßen. Mit<br />

Vorträgen, szenischen Lesungen und Diskussionen mit reger<br />

Zuschauerbeteiligung wurde das Tübinger Publikum<br />

kurzweilig und informativ auf den neuesten Stand zur Lage<br />

der russischen Gegenwartsdramatik gebracht.<br />

Ein Erlebnis der besonderen Art versprach das Gastspiel<br />

des russischen Partnerensembles mit KABALE UND LIE-<br />

BE von Friedrich Schiller im Großen Saal des LTT vom<br />

26. bis 28.03.<strong>10</strong> – in russischer Sprache mit deutscher<br />

Simultanübersetzung!<br />

Beim Aufenthalt der LTT-Crew in Petrozavodsk wurde<br />

nicht nur AM STADTRAND dem russischen Publikum<br />

gezeigt, sondern, ähnlich wie vorher in Tübingen, nun<br />

die deutsche Gegenwartsdramatik in lebendig inszenierten<br />

Ausschnitten und fachlicher Informationsvermittlung<br />

vorgestellt. Authentische Eindrücke vermittelt der Bericht<br />

auf Seite 15.<br />

Als Höhepunkt und Abschluss der erfolgreichen Zusammenarbeit<br />

steht ab dem 08.<strong>10</strong>.<strong>10</strong> ROMEO UND JULIA<br />

/ Ромео и Джульетта von William Shakespeare<br />

auf dem Spielplan des LTT. Die zweisprachige Arbeit orientiert<br />

sich dabei an den Übersetzungen von Frank Günther<br />

und Dmitrij L. Michalovskij, die sich wunderbar ineinander<br />

fügen und so das Aufeinanderprallen der beiden<br />

Gruppen in ihrer jeweiligen Muttersprache reibungsfrei<br />

ermöglichen. Das Drama, das Shakespeare von einer italienischen<br />

Novelle adaptierte, bietet sich in seiner Grundstruktur<br />

mit den beiden verfeindeten Familien, deren Hass<br />

durch die unmögliche, tragische Liebe von Romeo und<br />

Julia vielleicht versöhnt werden kann, für eine binationale<br />

Zusammenarbeit hervorragend an. Auch Shakespeare,<br />

der selbst wohl nie in Italien war, hat in vielen seinen Stücken<br />

Fremdheit und Exotismus und in allen seinen Dramen<br />

Missverständnisse durch unterschiedlichen Sprachgebrauch<br />

thematisiert und poetisch, sinnlich für die Bühne<br />

ausgearbeitet. So vermag, wie Theben bei den alten<br />

Griechen für Athen und Verona wahrscheinlich für England<br />

stand, in dieser Inszenierung der kleine Ausschnitt<br />

einer deutsch-russischen Begegnung einen Einblick in die<br />

Abgründe unserer globalisierten Alltagskultur vermitteln,<br />

in der nationale Identitäten immer mehr verschwimmen<br />

und nur mehr als Vorwände für xenophobe Angriffe taugen.<br />

Kultur findet heutzutage ganz woanders statt: immer<br />

da, wo Menschen sich begegnen, in Austausch treten und<br />

dazu bereit sind, voneinander zu lernen.<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


interkultur<br />

Kulturelle Differenzen – was ist Kultur heute?<br />

von Homi K. Bhabha<br />

In seinem Standardwerk »Die Verortung der Kultur« gelingt es Homi K. Bhabha den Grundstein für<br />

eine umfassende Kulturbetrachtung jenseits homogener, nationaler Identifikationen zu legen.<br />

6<br />

Es ist eine gängige Vorstellung unserer Zeit, die Frage der<br />

Kultur im Bereich des darüber Hinausgehenden (beyond)<br />

zu verorten. Unser Dasein ist heute von einem finsteren<br />

Gefühl des Überlebens geprägt, einem Leben an den<br />

Grenzen der »Gegenwart«, für die es keinen anderen Namen<br />

als die geläufige und kontroverse Instabilität des Präfixes<br />

»Post« zu geben scheint: Postmoderne, Postkolonialismus,<br />

Postfeminismus …<br />

Die Abwendung von den Einzelgrößen »Klasse« und »Geschlecht«<br />

als den vorrangigen konzeptuellen und organisatorischen<br />

Kategorien führte zu einer bewussten Wahrnehmung<br />

der Positionen des Subjekts – Rasse, Geschlecht,<br />

Generation, institutionelle Verortung, geopolitischer<br />

Raum, sexuelle Orientierung –, die jeder Einforderung<br />

von Identität in der modernen Welt immanent sind.<br />

Kultur als das »Darüber hinaus«<br />

Wenn der Jargon unserer Zeit – Postmoderne, Postkolonialität,<br />

Postfeminismus – überhaupt irgendeine Bedeutung<br />

hat, dann liegt diese nicht im populären Gebrauch des<br />

»Post« als Ausdruck einer Abfolge – Nach-Feminismus;<br />

oder einer Polarität – Anti-Moderne. Diese Begriffe, die<br />

nachdrücklich auf das »Darüber Hinaus« verweisen, verkörpern<br />

dessen rastlose und revisionäre Energie nur, wenn<br />

sie die Gegenwart in einen erweiterten und exzentrischen<br />

Ort der Erfahrung und Machtaneignung verwandeln.<br />

Die umfassendere Bedeutung der postmodernen Lage<br />

liegt in der Erkenntnis begründet, dass die epistemologischen<br />

»Grenzen« dieser ethnozentrischen Ideen auch die<br />

artikulatorischen Grenzen einer Reihe anderer dissonanter,<br />

ja sogar dissidenter Geschichten und Stimmen sind<br />

– Frauen, die Kolonisierten, Minderheitengruppen, diejenigen,<br />

deren Sexualpraktiken polizeilich registriert sind.<br />

Denn die Demographie des neuen Internationalismus besteht<br />

aus der Geschichte postkolonialer Migration, den<br />

Erzählungen der kulturellen und politischen Diaspora,<br />

den großen sozialen Verdrängungen von Bauern- und Ureinwohnergemeinden,<br />

der Exilpoetik, der düsteren Prosa<br />

von Flüchtlingen aus politischen und wirtschaftlichen<br />

Gründen. Konzepte wie homogene nationale Kulturen,<br />

die auf Konsens beruhende und nahtlose Übermittlung<br />

historischer Traditionen oder »organisch« gewachsene ethnische<br />

Gemeinschaften werden – als Basis kulturellen Vergleichs<br />

– derzeit grundlegend neu definiert.<br />

Von den persönlichen Geschichten zur »Weltkunst«<br />

Goethe meint, dass die Möglichkeit einer Weltliteratur<br />

aus der kulturellen Verwirrung entsteht, die von schrecklichen<br />

Kriegen und gegenseitigen Konflikten herbeigeführt<br />

wurde.<br />

»[...] denn die sämtlichen Nationen, in den fürchterlichsten<br />

Kriegen durcheinander geschüttelt, sodann wieder<br />

auf sich selbst einzeln zurückgeführt, hatten zu bemerken,<br />

dass sie manches Fremdes gewahr worden, in sich aufgenommen,<br />

bisher unbekannte geistige Bedürfnisse hie und<br />

da empfunden.« (Betrachtung zur Weltliteratur, 1830)<br />

Wie verhält es sich mit der komplexeren kulturellen Situation,<br />

in der »vorher unerkannte geistige und intellektuelle<br />

Bedürfnisse« durch die Überlagerung mit »fremden«<br />

Ideen, kulturellen Repräsentationen und Machtstrukturen<br />

entstehen? Goethe meint, »es wirkt die innere Natur einer<br />

ganzen Nation wie die des einzelnen Menschen unbewusst«.<br />

Nimmt man seine Idee hinzu, wonach das kulturelle<br />

Leben einer Nation »unbewusst« gelebt wird, dann<br />

kann sich das Verständnis herausbilden, dass Weltliteratur<br />

eine im Entstehen begriffene, präfigurative Kategorie sein<br />

könnte, bei der es um eine Art kulturellen Dissens und<br />

kulturelle Alterität geht und aus der sich nicht auf Konsens<br />

beruhende Formen von Zugehörigkeit auf der Basis<br />

von historischen Traumata entwickeln können. Das Studium<br />

der Weltliteratur könnte das Studium der Art und<br />

Weise sein, in der Kulturen sich durch ihre Projektion von<br />

»Andersheit« (an)erkennen. Während einst die Weitergabe<br />

nationaler Traditionen das Hauptthema einer Weltliteratur<br />

war, können wir jetzt möglicherweise annehmen, dass<br />

transnationale Geschichten von Migranten, Kolonisierten<br />

oder politischen Flüchtlingen – diese Grenzlagen – die<br />

Gebiete der Weltliteratur sein könnten.<br />

In der unheimlichen Welt zu leben, ihre Doppelwertigkeiten<br />

und Zweideutigkeiten im Haus der Fiktion inszeniert<br />

zu sehen oder ihre Entzweiung und Aufspaltung im<br />

Kunstwerk vorgeführt zu bekommen, heißt auch, ein tiefes<br />

Verlangen nach sozialer Solidarität zu bekunden:<br />

»ich suche das Einswerden ich möchte einswerden ich<br />

möchte einswerden«.<br />

Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000.<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


omeo und julia / Ромео и Джульетта<br />

Probenfoto Raúl Semmler, Martin Schultz-Coulon und Vjaceslav Poljakov // Foto: Patrick Pfeiffer<br />

7<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


interview<br />

Zweisprachig Regie führen<br />

Über die Inszenierungsarbeit an ROMEO UND JULIA / Ромео и Джульетта<br />

Zwischen den Proben zu ROMEO UND JULIA ergriff der<br />

theaterpädagoge des LTT, Volker Schubert, die Gelegenheit und<br />

bat den Regisseur Ralf Siebelt und die Produktions dramaturgin<br />

Christiane Neudeck zum Gespräch.<br />

Romeo und Julia Probenszene<br />

8<br />

Volker Schubert // Was war der Anlass ROMEO UND<br />

JULIA auf den Spielplan zu setzen?<br />

Ralf Siebelt // Das Projekt ist entstanden im Rahmen der<br />

zweijährigen Zusammenarbeit mit dem Karelischen Nationaltheater<br />

Petrozavodsk. Russisches Theater ist Gott sei<br />

Dank anders als deutsches Theater, russische Menschen ticken<br />

anders als deutsche, und diese Unterschiede in einer<br />

zweisprachigen Produktion erfahrbar und produktiv zu<br />

machen, ist das Anliegen von ROMEO UND JULIA. Da<br />

war klar, Fragen nach Verständigung in den Mittelpunkt<br />

zu rücken: Wie kommunizieren Menschen miteinander,<br />

die aus unterschiedlichen Kulturkreisen kommen? Und da<br />

bietet sich ROMEO UND JULIA als klassischer Stoff natürlich<br />

sehr gut an. Man kann den Konflikt sehr gut runterbrechen<br />

auf die Liebe von Romeo und Julia und den<br />

Streit und die Missgunst der sie umgebenden Gesellschaft.<br />

Was macht den Streit aus und warum versteht man sich<br />

nicht untereinander?<br />

Christiane Neudeck // Wenn man sich den Aufbau der<br />

Partnerschaft anschaut: Wir hatten hier zunächst eine<br />

deutsche Produktion eines russischen Stückes, AM<br />

STADTRAND, dann in Petrozavodsk die Inszenierung<br />

KABALE UND LIEBE von Schiller auf Russisch, die auch<br />

hier am LTT als Gastspiel zu sehen war. Dann war schon<br />

klar, auch eine zweisprachige Produktion als Abschluss zu<br />

machen, diese beiden Ensembles zusammen zu führen.<br />

V. S. // Ich kann mir vorstellen, dass das eine spannende<br />

Herausforderung für den Probenprozess ist. Wie sah das<br />

praktisch aus, zweisprachig zu proben?<br />

C. N. // Die Russen sprechen Russisch und die Deutschen<br />

Deutsch.<br />

R. S. // Vorteilhaft ist es natürlich, dass es Leute gibt in<br />

der Produktion, die beide Sprachen beherrschen. Wir haben<br />

zwei Assistentinnen am Start, die fließend Russisch<br />

sprechen, ich selbst kann in beiden Sprachen gut arbeiten,<br />

kann mich also mit den russischen Leuten verständigen<br />

und mit den deutschen Schauspielern sowieso, sodass<br />

wir auf der einen Seite eine ganz normale Probenkommunikation<br />

darüber haben, was wollen wir mit einer<br />

Szene ausdrücken, wo bewegt sich eine Figur hin, welche<br />

inneren Vorgänge interessieren einen jetzt gerade in diesem<br />

Moment an der oder der Szene … All das können<br />

wir natürlich den russischen Schauspielern genauso vermitteln,<br />

wie auch den deutschen Kollegen, jeweils in ihrer<br />

Originalsprache.<br />

Auf der anderen Seite aber – und das ist natürlich auch<br />

das Spannende – verstehen sich die Kollegen untereinander<br />

nicht so super, sprich, die Russen verstehen relativ<br />

wenig, von dem, was die deutschen Menschen so untereinander<br />

sprechen und umgekehrt. Und genau das, diese<br />

spezielle Ausnahmesituation von Kommunikation, in der<br />

die Spieler aufeinander angewiesen sind und verschiedene<br />

Sprachen quasi neu erfinden müssen, soll ja auch in den<br />

Probenprozess mit einfließen – d. h. die Spielweise ist natürlich<br />

extrem darauf ausgerichtet, dass sich da Menschen<br />

unterschiedlicher sprachlicher Hintergründe zusammenraufen<br />

müssen und sei es dann, in Streit auszubrechen, in<br />

Aggressionen zu verfallen, oder aber – und das ist ja das<br />

Tolle an der Geschichte –, dass es da ein Paar gibt, das<br />

es schafft, diese sprachlichen und kulturellen Gegensätze<br />

durch ihre Liebe zu überwinden!<br />

C. N. // Und das Besondere ist auch, dass wir kaum über<br />

die »Metasprache« Englisch arbeiten. In den Proben spiegelt<br />

sich wirklich diese Zweisprachigkeit wider, die man<br />

dann auf der Bühne auch sieht. Die Verständigung geht<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


interview<br />

also nur entweder über Übersetzung, oder darüber, dass<br />

die deutschen Schauspieler mittlerweile ein paar Brocken<br />

Russisch können und die russischen ein bisschen Deutsch.<br />

R. S. // Diese Austauschgeschichte findet auf allen Ebenen<br />

der Produktion statt: sowohl auf der Ebene der Schauspieler<br />

als auch im Produktionsteam selber. Irina Pronina<br />

beispielsweise macht bei uns die Kostüme, arbeitet<br />

sehr eng mit den Werkstätten zusammen, und da begegnen<br />

sich dann unterschiedliche Arbeitsweisen ganz direkt.<br />

Das funktioniert natürlich auch nicht immer reibungslos,<br />

doch beide Seiten können bei den Konflikten viel über Arbeitsstrukturen<br />

und Arbeitsprozesse lernen.<br />

V. S. // Kommen wir zurück auf die Sprache – Sprache der<br />

Liebe, hast du es genannt, Ralf. Ich kann mir vorstellen,<br />

dass man über die Grenzen der eigenen Sprache hinweg<br />

zu einer anderen Sprache kommt, die sich ja auch sehr gut<br />

mit Mitteln des Theaters ausdrücken lässt. Ist es so, dass<br />

man sich auch auf der Arbeitsebene mit der gemeinsamen<br />

Sprache des Theaters verständigt?<br />

R. S. // Ja. Auf der einen Seite gibt es natürlich diese Theatersprache,<br />

aber die wollen wir ja nicht erzählen. Das wäre<br />

ja dann doch zu einfach. Wenn man sagen würde: der<br />

russische und der deutsche Maurer verstehen sich sowieso,<br />

weil sie sich über das Mauern näher kommen, so wie<br />

sich der deutsche und der russische Schauspieler blind verstehen<br />

über eine wie auch immer geartete Theatersprache.<br />

Die Geschichte, die wir erzählen wollen, ist ja eher eine<br />

andere: Es ist möglich, dass sich in einem Umfeld des totalen<br />

Hasses und der Ignoranz und der Vorurteile Inseln<br />

der Verständigung, der Annäherung bilden. Shakespeare<br />

spricht da von einem Verona, wo es Capulets und Montagues<br />

gibt, die sich, aus welchem Grund auch immer –<br />

der wird auch bei Shakespeare nicht wirklich angegeben –<br />

hassen. Die Ausgangslage ist ja wirklich ein extremer Hass<br />

zwischen zwei Bevölkerungsgruppen einer Stadt …<br />

V. S. // … von der keine eine Minderheit innerhalb der<br />

anderen ist, sondern sie leben beide gleichberechtigt in einem<br />

wie auch immer gearteten Land …<br />

R. S. // Genau, in dieser schwierigen gesellschaftlichen Situation<br />

ist es, wenn auch nur für kurze Augenblicke, möglich,<br />

eingefahrene Feindschaften zu überwinden.<br />

Was könnte sinnlicher Ausdruck sein, wenn man miteinander<br />

verfeindet ist? Ich komme zum Beispiel aus dem<br />

Ruhrpott – also wenn dann türkische Leute an unsere<br />

Treffpunkte kamen, dann war sofort Feindschaft da, gar<br />

nicht aus irgendwelchen Erfahrungsgründen, sondern einfach,<br />

weil die Leute eine andere Sprache sprachen. Und<br />

weil man die Leute nicht verstanden hat, herrschte sofort<br />

Aggression, Nichtverständnis. Erst wenn man mal rüber<br />

gegangen ist zu den Leuten und sich zum Fußball spielen<br />

getroffen hat, kam dann durch, dass da ganz menschliche<br />

Eigenschaften am Start sind, die alle haben. Also sprich:<br />

dieser sinnliche Ausdruck der Feindschaft ist hier Sprache.<br />

Man versteht sich einfach nicht oder, noch besser,<br />

man versteht sich falsch. Sprache ist als Medium ja voller<br />

Missverständnisse, die wiederum ganz direkt in den Probenprozess<br />

einfließen. Die deutsche Anrede »Herr« ist bei<br />

entsprechender Betonung für einen russischen Menschen<br />

durchaus als Beleidigung zu verstehen, »Cherr« meint<br />

im Russischen nämlich »Schwanz«, und wer möchte sich<br />

schon gerne so anreden lassen … Auf der sprachspielerischen<br />

Ebene schreibt sich das Stück in dieser Konzeption<br />

quasi von selber weiter.<br />

C. N. // Und die Emotionalität der Szenen wird dadurch<br />

extrem aufgeheizt. Ich bin ja eine von den nur Deutsch<br />

sprechenden Zuschauern auf den Proben. Und dadurch,<br />

dass die vornehmlich russischen Julia-Szenen durch die<br />

Bank sehr emotional sind, fährt der Verstand vielleicht sogar<br />

ein wenig zurück und der »Bauch« übernimmt, und<br />

man versteht dann vielleicht nicht gleich konkret, was gesprochen<br />

wird, weil man ja die Wörter nicht kennt, aber<br />

man versteht das emotional und wird dadurch auch total<br />

berührt.<br />

R. S. // Zusätzlich gibt es innerhalb der Inszenierung auch<br />

Personen, deutschsprachige Figuren, die auch Russisch<br />

können. Es gibt die Figur des Paters Lorenzo, zu dem in<br />

seiner Rolle als Geistlicher beide Familien gehen. Die russische<br />

wie auch die deutsche Sprachgruppe wenden sich<br />

in Familienangelegenheiten, wie Hochzeiten, Taufen an<br />

ihn. Er ist eine Art Botschafter zwischen den beiden Lager<br />

und der Kern seiner Aufgabe ist, die beiden Lagern<br />

zu versöhnen und dementsprechend ist er auch in der Lage,<br />

Russisch zu sprechen, zwar nicht perfekt, aber er ist<br />

durchaus in der Lage, Kommunikation zwischen den Lagern<br />

herzustellen.<br />

C. N. // … und dem Publikum.<br />

R. S. // … und dem Publikum. Und für diese Übersetzung<br />

für das Publikum haben wir auch noch eine besondere<br />

Figur, den Fürsten Escalus, den Christian Beppo Peters<br />

spielt. Als Stadtoberhaupt ist dieser natürlich in der Lage,<br />

beide Sprachen zu sprechen, kann sich an die Russen und<br />

die Deutschen wenden.<br />

Und dem Publikum gegenüber tritt Beppo als eine Art<br />

9<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


interview<br />

<strong>10</strong><br />

Vermittler, Conferencier auf, der die konkreten Inhalte<br />

der Capulet-Szenen an die Zuschauer überträgt …<br />

V. S. // So eine Art Journalist, Berichterstatter …<br />

R. S. // Richtig. Journalist ist ein gutes Stichwort. Wir haben<br />

das in den Proben Beppo so vermittelt. Es gibt im<br />

ZDF so einen Hofberichterstatter, der über die Ereignisse<br />

am Englischen Hof berichtet, Hochzeiten oder Todesfälle.<br />

Dann hört man immer so einen älteren Herrn, der<br />

mit einer sonoren Stimme die Einzelheiten der Familiengeschichte<br />

erläutert. Und dafür ist bei uns, besonders am<br />

Beginn des zweiten Teils, Beppo da, der als Hofberichterstatter<br />

aus der Familie der Capulets die wichtigen Informationen<br />

an das Publikum trägt.<br />

V. S. // Du hast bereits die unterschiedlichen Mentalitäten<br />

und Arbeitsweisen der russischen und deutschen Spieler<br />

erwähnt. Inwieweit wird denn eine vorkonzipierte<br />

Szene konkret beeinflusst durch die Begegnung mit den<br />

Schauspielern, durch ihre Fantasien und Anregungen, die<br />

sie bei der Begegnung mit dem Text und der Situation<br />

bekommen?<br />

R. S. // Alles, was auf den Proben entsteht, ist ein wechselseitiger<br />

Prozess des Gebens und Nehmens. Die russischen<br />

Spieler gehen sofort in die Szene hinein, sind vielleicht<br />

furchtloser dem Material gegenüber und haben erst mal<br />

nicht den Bedarf, lange zu sprechen, zu diskutieren. Bei<br />

den deutschen Kollegen besteht schon ein großer Bedarf<br />

an Klärung, an diskursiver Annäherung an die Inhalte der<br />

Szenen. Beide Arbeitsweisen haben Vor- und Nachteile.<br />

V. S. // Nehmen wir doch das Beispiel der Begegnung der<br />

»Gang«, also Mercutio, Benvolio, Romeo mit der Amme.<br />

Kannst Du uns darüber etwas erzählen? Inwieweit wird<br />

der Prozess durch das praktische Arbeiten beeinflusst?<br />

R. S. // Am Anfang gibt es natürlich ein großes Fragezeichen:<br />

Wie gehe ich mit so einer Amme um, die da plötzlich<br />

in diesem fremden Russisch daher kommt, was die<br />

Mitglieder der Gruppe, der Romeo angehört, in dieser<br />

Geschichte mit Feindschaft verbinden. Und dann gibt<br />

es auf der Probe aufregende Diskussionen darüber: Wie<br />

kann man einen russischen Menschen am tiefsten beleidigen,<br />

war beispielsweise so eine Frage… Und die russischen<br />

Spieler haben uns erzählt, dass sie sich extrem beleidigt<br />

fühlen, wenn man die russische Nationalhymne in<br />

den Dreck zieht, für einen Deutschen fast unvorstellbar.<br />

Bei den Szenen, in denen das Deutsche und das Russische<br />

direkt aufeinander treffen, arbeiten wir sehr stark mit solchen<br />

Improvisationen und Assoziationen, und wir suchen<br />

natürlich nach dem Ausdruck jenseits der Sprache. Somit<br />

spielen körperliche Ausdrucksformen, Kämpfe und allgemein<br />

körperlicher Umgang eine sehr wichtige Rolle. Und<br />

natürlich die Musik …<br />

V. S. // Was kann man sich unter der Musik vorstellen?<br />

Welche Atmosphären schafft sie, unterstreicht sie?<br />

R. S. // Die Musik ist im Stück ein wichtiges Mittel, um<br />

Identitäten oder kulturelle Eigenheiten zu verdeutlichen.<br />

Eine Schlüsselszene des Stückes ist ja diese fette Party<br />

der Capulets. Und eine fette russische Party sieht einfach<br />

ganz anders aus als eine deutsche Party. Und da haben<br />

wir uns, ausgehend von unserer naiven Vorstellung vielleicht,<br />

gedacht: Da muss es abgehen mit den russischen<br />

Kollegen; da müssen Dinge entwickelt, Musiken gesucht<br />

oder Rhythmen gefunden werden, auf die man als russischer<br />

Mensch extrem abfährt und diese Vorschläge der<br />

russischen Kollegen sind dann wieder stark in den Gestaltungsprozess<br />

des Komponisten Jojo Büld eingeflossen.<br />

Wir haben da jetzt einen großen russischen »Klassiker«<br />

als Popsong – also einen russischen Popsong, den jeder<br />

Russe oder Ukrainer oder wo auch immer russische Menschen<br />

zusammen kommen, kennt. Und den hat Jojo bearbeitet<br />

und als Grundlage genommen für die Party. Und<br />

so ist Musik da noch mal ein ganz prägender Ausdruck<br />

für eine kulturelle Eigenheit, die sich dann im Spiel, im<br />

Tanz, in der Art, wie Leute miteinander umgehen, extrem<br />

widerspiegelt.<br />

Wir setzten Musik natürlich auch ein als Mittel, um Sprache<br />

oder Gefühle zu übertragen. Julia z. B. singt für Romeo.<br />

Unsere Begräbnisszene – wenn die Capulets erfahren,<br />

dass Julia gestorben ist – drückt sich eher musikalisch<br />

aus in einem herzergreifenden russischen Kirchenlied, was<br />

auch speziell von Jojo bearbeitet worden ist und auf die<br />

Stimmen der Kollegen zugeschnitten wurde.<br />

V. S. // Möchtest du etwas zum Raum sagen, den Vesna<br />

Hiltmann für eure Konzeption gebaut hat?<br />

R. S. // Der Raum ist sehr einfach, und das ist das Tolle daran.<br />

Symbolisch gesprochen, finden die sehr dynamischen<br />

Begegnungen auf einer schwankenden, ungesicherten Fläche<br />

statt, eine überdimensionale Schaukel ist der Ort, an<br />

dem die Figuren aufeinanderprallen. Es gibt nichts, woran<br />

sie sich festhalten können. Außer der Liebe vielleicht …<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


Aus der Produktion<br />

romeo und julia oder Ромео и Джульетта<br />

von Janine Viguié<br />

Vor allem für die Souffleuse stellt die Zweisprachigkeit einer Inszenierung in den<br />

Proben eine besondere Herausforderung dar. Janine Viguié, die sprachlich sehr<br />

bewandert ist, schildert ihre Erfahrungen:<br />

Janine Viguié / 43 / Deutsch-Französin, gebürtig aus Hessen, aufgewachsen in Tübingen / Studium der<br />

Skandinavistik, Romanistik und Germanistik, Abschluss Magister Artium, Russisch-Grundkenntnisse,<br />

deren Erwerb jedoch 20 Jahre zurückliegt / Souffleuse am LTT seit 1999<br />

ROMEO UND JULIA habe ich bereits in den Spielzeiten 1999/2000 und 2000/2001 souffliert.<br />

Wir benutzten damals dieselbe Übersetzung von Frank Günther, und ich bin freudig überrascht,<br />

wie vertraut mir der Text noch ist. Zumindest die deutschen Passagen. Für das Verständnis der russischen<br />

Passagen helfen mir die inhaltliche Vertrautheit mit dem Stoff sowie meine rudimentären<br />

Russisch-Kenntnisse.<br />

Auf Russisch zu soufflieren wird nicht von mir verlangt, zum Glück, denn schon bei der ersten Leseprobe<br />

stelle ich fest, dass ich nicht so schnell mitlesen kann, wie die RussInnen sprechen. Und<br />

auch wenn durch meinen täglichen Kontakt mit der Sprache so manche Vokabel aus der Versenkung<br />

wieder auftaucht bzw. neue hinzukommen und ich im Laufe der Proben mit dem russischen<br />

Text vertrauter werde, kann ich leider keine zuverlässige Texthilfe für die russischen KollegInnen<br />

leisten. Das kratzt ein wenig an meiner Berufsehre, was wiederum meinen sprachlichen Ehrgeiz<br />

weckt. Daher versuche ich, die russischen Passagen mitzulesen, so gut es geht, und manchmal gelingt<br />

es mir tatsächlich, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Wörter zu entziffern und vorzusagen.<br />

Ich bin gespannt, wie sich in diesem Punkt die Vorstellungen gestalten werden.<br />

Grundsätzlich sind die RussInnen aufgeschlossen, kontaktfreudig und sehr herzlich, und das reißt<br />

sämtliche Sprachbarrieren nieder. Zur Verständigung setzen wir deutsche, russische und englische<br />

Sprachfetzen unter Zuhilfenahme von lebhafter Mimik und Gestik ein. Irgendwie klappt das immer.<br />

Und wenn nicht, rufen wir eine der Übersetzerinnen oder den russischen Schauspieler Aleksej,<br />

der gut Deutsch spricht, hinzu.<br />

Die RussInnen gehen intuitiver an die Szenen heran, machen einfach mal, probieren aus. Die Deutschen<br />

sind in ihrer Herangehensweise intellektueller, diskutieren erst lange, bevor praktisch geprobt<br />

wird.<br />

Während Raúl (Romeo) darüber brütet (und ich mit ihm), wie der Dialog zwischen Julia und Romeo<br />

in deren ersten Begegnung beim Maskenball funktionieren soll, wenn keine/r der beiden weiß,<br />

was der/die andere gerade gesagt hat, löst Ljudmila (Julia) das Sprachproblem über die sinnliche<br />

Ebene: wenn man die Sprache des anderen nicht verstehe, rücken eben Stimme und Ausstrahlung<br />

in den Vordergrund. Und sie hat vollkommen Recht! Dann gehen die geschliffenen Dialoge Shakespeares,<br />

an denen mein sprachverliebtes Herz hängt, in unserer russisch-deutschen Version eben baden.<br />

Und trotzdem kann Shakespeares Sprache die Stimmen und die Ausstrahlung der sich ineinander<br />

Verliebenden transportieren, egal, was die beiden sich erzählen. Wieder was gelernt!<br />

Dass während der Proben bei Besprechungen und Diskussionen für die jeweils anderssprachigen<br />

KollegInnen immer übersetzt werden muss, erzeugt Leerlauf, ist deswegen manchmal mühsam und<br />

schluckt leider viel Zeit. Aber die positiven Eindrücke aus der zweisprachigen Produktion wiegen<br />

dies um ein Vielfaches auf. Den hoch motivierten RussInnen bei der Arbeit zuzusehen, ihren respektvollen<br />

Umgang mit allen Beteiligten zu erleben, und zu beobachten, wie sich die beiden Ensembles<br />

in ihren Unterschiedlichkeiten ergänzen, ist bereichernd.<br />

<strong>11</strong><br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


Liebe – Amore – Amour – любовь – Love<br />

Liebe kennt keine Grenzen<br />

Vom Leben in binationalen und bikulturellen Beziehungen<br />

// von Elisabeth Beck-Gernsheim<br />

Entgegen einer »vernünftigen«, gesellschaftlich problemlos anerkannten<br />

Partnerwahl entwickeln sich Gefühle meist irrational und spontan, lassen<br />

sich schwer kontrollieren. Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim untersucht<br />

die Chancen moderner inter kultureller Paarbeziehungen. Hätten<br />

Romeo und Julia heute die Möglichkeit zu überleben?<br />

12<br />

Es geschah bei einem Abendessen bei Freunden. Neben Andreas saß Olga, vor drei Monaten<br />

aus Petersburg zum Deutschstudium nach München gekommen. Olga: langes offenes<br />

Haar, helle Haut, volle Lippen, dazu dieser Gang, diese Haltung, wie aufregend weiblich.<br />

Olga: intelligent, funkelnd, schlagfertig, mit diesem gewissen Akzent, der jedem ihrer<br />

Sätze einen kleinen exotischen Beiklang verleiht, eine eigene Sprachmelodie. Andreas<br />

war hingerissen. Er brachte Olga nach Hause, er traf sie am nächsten Tag wieder … Nun<br />

sind sie ein Paar, seit sechs Monaten zusammen.<br />

Solche Paarkonstellationen über Nationalitätsgrenzen hinweg – oder über ethnische, kulturelle,<br />

religiöse Schranken hinweg – hat es natürlich auch früher gegeben. Doch während<br />

sie früher eine seltene Ausnahme darstellten, werden sie zur Gegenwart hin zunehmend<br />

häufiger. Durch Migration, Flucht und Vertreibung, durch internationale Arbeitsteilung,<br />

Wirtschaftsverflechtung, Massentourismus wächst die Zahl derer, die ihre Heimat und<br />

Herkunftskultur hinter sich lassen, für kürzere oder längere Zeit; die Länder- und Gruppengrenzen<br />

überschreiten, hier geboren werden, da aufwachsen, dort leben und arbeiten,<br />

lieben und heiraten. Ob Franzosen, die für ein Praktikum nach Deutschland kommen,<br />

ob Schweizer, die zum Urlaub nach Kenia fahren: Die Zahl der internationalen Begegnungen<br />

wächst. Und in der Folge nimmt auch die Zahl der gemischten Verbindungen zu:<br />

»Gelegenheit macht Liebe«, nennt man das.<br />

Alle Menschen sind gleich — aber nicht alle Ausländer<br />

Alle Menschen sind gleich: Das ist als Prinzip unbestritten. Aber, das vergessen die<br />

Gutmeinenden leicht, nicht alle Lebensgeschichten sind gleich. Wer als Migrant nach<br />

Deutschland gekommen ist, hat vieles erlebt, oft auch erlitten, was denen, die ihr Leben<br />

im gesicherten Wohlstandsland Deutschland verbracht haben, meist sehr fern und sehr<br />

fremd ist. Verlassen der Heimat, der dazugehörigen Menschen, auch der Sprache, der<br />

Landschaft, der Gerüche, der Klänge; vielleicht Armut und Hunger, vielleicht politische<br />

Umstürze, Flucht und Vertreibung, bis hin zu massiver Bedrohung, direkter Gewalt – das<br />

Gepäck der Erinnerungen, das der Migrant mit sich trägt, ist oft schwer. Das alles kann<br />

er, weil es seine Geschichte ausmacht, nicht einfach ablegen wie einen lästigen Sack. Er<br />

bringt es mit in das neue Leben – und auch in eine neue Liebesgeschichte.<br />

Viele von denen, die diese Besonderheit des anderen Partners aushalten, ertragen, mit<br />

tragen, mit stützen, wissen freilich auch, was sie, an den besseren Tagen, aus seiner Geschichte<br />

gewinnen: was sie daraus über andere Welten, andere Lebensverhältnisse erfahren,<br />

die ihnen ansonsten verschlossen wären.<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


Liebe – Amore – Amour – любовь – Love<br />

Kulturdifferenzen: über die Gefahren beim Reden und Schweigen<br />

Alle Menschen sind gleich, das bedeutet auch nicht: alle Kulturen sind gleich. Im Gegenteil.<br />

Ob Feste und Feiern, ob Essen und Trinken, ob Sexualität, Kindererziehung, Geschlechterverhältnis<br />

– das Repertoire der Unterschiede ist groß. Nicht zuletzt das gehört<br />

ja oft auch zur Anziehungskraft des Partners, dass er eine Prise Exotik und Buntheit hineinträgt<br />

in den stinknormal durchschnittlich langweiligen Alltag: sein Temperament! ihre<br />

Lebenslust! ihre Spontaneität!<br />

Allerdings hat diese Prise Exotik manchmal auch Kehrseiten, auf die man bei der Verständigung<br />

im Alltag trifft. Da ist plötzlich der eine oder die andere überrascht, irritiert,<br />

unangenehm berührt, reagiert sehr befremdlich. Auch bei durchaus harmlosen Anlässen<br />

können unvermutet Gewitterwolken am Partnerschaftshimmel aufsteigen. Und dies ist<br />

kein Zufall. Vielmehr sind die Regeln der Kommunikation, sowohl was die sprachlichen<br />

wie die nichtsprachlichen Ausdrucksformen angeht, in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich<br />

bestimmt. Zum Beispiel: Wann soll man reden, worüber soll man reden,<br />

wie lang soll man reden, wann soll man schweigen? Was ist das angemessene Verhalten<br />

in Bezug auf Augenkontakt oder Lautstärke der Stimme? Wann darf man lächeln, wo<br />

darf man laut lachen, wo gelten alle direkten Gefühlsäußerungen als unangebracht? Welche<br />

Höflichkeitsformeln, welche Komplimente, welche Geschenke werden erwartet – zu<br />

welchem Zeitpunkt, von wem und für wen –, welche dagegen wirken missverständlich,<br />

peinlich bis anstößig?<br />

Je größer die Kulturunterschiede, was die richtigen, die höflichen Formen des Umgangs<br />

angeht, desto eher kommt es zu Missverständnissen, Irritationen, peinlichen Situationen.<br />

Dies gilt in der Öffentlichkeit, es gilt für geschäftliche Beziehungen, die unter Umständen<br />

abgebrochen werden und scheitern. Und es gilt ebenso im privaten Bereich, zwischen<br />

Männern und Frauen, sowohl in der ersten Liebesbegegnung wie auch im späteren Beziehungsverlauf.<br />

Kannst du’s nicht lernen, mal offen deine Meinung zu sagen? Wie kannst<br />

du so mit mir reden? Wie kannst du so mit mir schweigen? Wie kannst du es wagen, dies<br />

vor meinem Bruder zu sagen? Wie kannst du es wagen, mich so unmöglich zu machen?<br />

In solchen Momenten beginnt die Erde zu beben.<br />

13<br />

Wie hältst du’s mit meinen Erinnerungen und Traditionen, mit dem, was mir vertraut ist<br />

und nah? Willst du dich durchsetzen um fast jeden Preis oder respektierst du auch meine<br />

Gewohnheiten, meine Vorlieben? Bist du neugierig oder stur und verschlossen? Findest<br />

du Gefallen auch an der Welt, aus der ich komme, oder lehnst du alles ab, was zu meiner<br />

Herkunft gehört? Ziehst du dich zurück oder kommst du mir ein Stück weit entgegen?<br />

Hilfst du mir beim Experiment unseres gemeinsamen Lebens? Hast du Vertrauen zu mir?<br />

Ach Liebster, bin ich dir weiterhin wichtig?<br />

Ach Liebste, liebst du mich noch?<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


Liebe – Amore – Amour – любовь – Love<br />

»Le mur d’amour«, Paris.<br />

Zu zweit eine interkulturelle Lebenswelt aufbauen<br />

14<br />

Je weiter die kulturellen Vorgaben voneinander entfernt sind, desto mehr müssen die<br />

Partner selbst Brücken bauen und basteln. Sie müssen, wie es in sozialwissenschaftlichen<br />

Studien heißt, die »Konstruktion einer neuen interkulturellen Wirklichkeit« leisten, eine<br />

»binationale Familienkultur« schaffen. Sie bewegen sich in einem Raum, der kaum vorstrukturiert<br />

ist, da zwei unterschiedliche Welten zusammentreffen. In dieser Situation,<br />

für die es weder eine Vorbereitung noch spezifische Regeln gibt, müssen die Partner ihre<br />

eigenen Arrangements selber entwickeln.<br />

Vieles, was sonst mehr oder minder selbstverständlich geschieht, muss hier entschieden,<br />

abgewogen, ausgewählt werden. Für die in diesem Szenarium verlangten Entscheidungen<br />

gibt es keine Vorbilder. Jedes Paar geht seinen eigenen Weg, sucht seine eigenen Formen.<br />

Ob sie sich dazu entschließen, ganz der einen Kulturtradition zu folgen oder ganz<br />

der anderen; ob sie Mischformen suchen, Elemente aus beiden Traditionen verknüpfen;<br />

ob sie mehrfach probieren, vielleicht auch flexibel wechseln: Dies alles hängt ab von der<br />

persönlichen Lebensgeschichte, dem gegenwärtigen Aufenthaltsort und den zukünftigen<br />

Plänen, nicht zuletzt auch von den Zwängen und Vorurteilen der jeweiligen Umwelt. So<br />

lebt jedes binationale Paar seine eigene Geschichte, seine ganz eigene Version der binationalen<br />

Familienkultur.<br />

Aber gemeinsam ist allen, dass sie sich aus der fraglosen Einbindung in eine oder nur eine<br />

Herkunftskultur herauslösen müssen. In diesem Sinne sind binationale Partnerschaften<br />

in besonderem Maß moderne Beziehungen. Wie es in einer einschlägigen Studie heißt:<br />

»Sie entsprechen dem Ideal der romantischen Liebe, sie sind individualistisch.« Nicht den<br />

Gesetzen von Herkunft und Heimat sind die Partner gefolgt, sondern, wie Romeo und<br />

Julia eben, dem Gesetz ihres Herzens. Oft haben sie sich gegen den Widerstand ihrer Familien<br />

durchsetzen müssen, oft auch gegen Paragraphen, Anordnungen, bürokratische<br />

Hürden. Als zwei Individuen haben sie sich füreinander entschieden, und als zwei Individuen<br />

müssen sie nun auch ihre Beziehung selber erhalten. Romeo und Julia vor einer<br />

neuen Herausforderung also: vor die Aufgabe gestellt, für die Kontinuität ihrer Verbindung<br />

zu sorgen, und dies ganz aus eigener Kraft, ohne das Korsett traditioneller sozialer<br />

Kontrollen.<br />

Textausschnitt aus: »Kursbuch 144 – Liebesordnungen«, Juni 2001, Berlin.<br />

Elisabeth Beck-Gernsheim, geb. 1946, bis 2009 Professorin für Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg,<br />

seit 2009 visiting professor an der NTNU/Universität Trondheim (Norwegen), lebt in München.<br />

Zuletzt erschienen: »Wir und die Anderen. Kopftuch, Zwangsheirat und andere Missverständnisse«, Frankfurt<br />

2007. »Was kommt nach der Familie? Alte Leitbilder und neue Lebensformen«, München 20<strong>10</strong>.<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


Klassenfahrt<br />

Endlich wieder Klassenfahrt<br />

Schauspieler Christian Dräger, er spielte Silva in AM STADTRAND, berichtet über die Fahrt des LTT-<br />

Teams nach Petrozavodsk // Fotos von Martin Maria Eschenbach<br />

Im April 20<strong>10</strong> war es endlich mal wieder soweit.<br />

Im Rahmen des »<strong>Druschba</strong>«-Projekts machte sich eine achtzehnköpfige<br />

Truppe von LTTlern auf den Weg in den hohen<br />

Norden, ins ferne Russland, nach Petrozavodsk, um dort die<br />

Inszenierung AM STADTRAND zu zeigen. Begleitet von unseren<br />

russischen Kollegen, die in den Tagen zuvor ihre Version<br />

von Schillers »Kabale und Liebe« am LTT gespielt hatten,<br />

bestiegen wir also unseren quietschgelben LTT-Beach-<br />

Bus in Richtung Flughafen Stuttgart. Anstatt Mütter und<br />

Väter standen diesmal Freundinnen, Männer und/oder Kinder<br />

und winkten mit weißen Taschentüchern. Tränen wurden keine<br />

verdrückt, jedoch packte wohl der ein oder andere noch<br />

sein letztes Vollkorn-Salatbrot aus, während einige unserer<br />

russischen Freunde in beeindruckendem Tempo<br />

morgens um neun ihre letzte Flasche Wodka leerten.<br />

Was haben wir denn gedacht, wir fahren ja<br />

auch nach Russland!<br />

Nach knapp dreistündigem Flug Landung in St. Petersburg,<br />

ach Mist hier liegt ja noch Schnee,<br />

ich dachte, wir hätten den Winter hinter<br />

uns ...<br />

Da standen wir nun, eine bunt zusammengewürfelte<br />

Gruppe (gefühlt: Alter von 19 bis 65,<br />

vom Rockgitarristen bis zur schwäbischen Hausfrau)<br />

aus Schauspielern, Dramaturgen, Technikern,<br />

Schneiderinnen etc. und waren in Russland. Kleine<br />

Busse, große Augen, weite, zerfallende Industrieanlagen,<br />

Autobahnen, riesige Vorstadt-Wohnblöcke<br />

und dann der Bahnhof, der erste russische Supermarkt<br />

(soooo viele verschiedene Wodkas, wow),<br />

der Nachtzug. Wunderschön alt und irgendwie doch<br />

so russisch, wie man sich das vorgestellt hat,<br />

es quietscht und hakt, aber alles funktioniert,<br />

jedes Detail ist sehr durchdacht und praktisch.<br />

Und bei 28° so schön gemütlich! Es<br />

wird die erste feuchtfröhliche Nacht und sie<br />

wird wohl nicht die letzte bleiben.<br />

Ankunft am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang<br />

in Petrozavodsk.<br />

Schöner hätte man uns nicht empfangen können,<br />

eine erwachende Stadt: kalt – aber<br />

mit blauem Himmel. Überhaupt bescheinigen<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


Klassenfahrt<br />

uns die Russen, die acht Tage Sonnenschein,<br />

die wir in den nächsten Tagen genießen werden,<br />

sind rein rechnerisch im April gar<br />

nicht möglich. Glück! Vielleicht auch eine<br />

kleine Hilfe für uns, die neuen Eindrücke<br />

zu verarbeiten. Denn sobald man die<br />

Hauptstraßen verlässt, zeigt sich in Petrozavodsk<br />

teilweise eine Einfachheit und<br />

Armut, die ich so nicht erwartet hatte<br />

und die bei Dauerregen vielleicht schwerer<br />

zu ertragen gewesen wäre.<br />

Wir kommen im Frühling, also zur beginnenden Schneeschmelze.<br />

Riesige schwarzgraue Schneeberge tauen und verwandeln ganze<br />

Straßen in solch große Pfützen, dass ich nur verwundert mit dem<br />

Kopf schütteln kann. Weil ich erstens solch seenartige, halbmetertiefe<br />

Pfützen in einer Stadt niemals für möglich gehalten<br />

hätte, und zweitens erstaunt bin, wie die Russinnen es schaffen,<br />

in diesem Pfützen- und Lachenlabyrinth ihre High-Heels so<br />

makellos sauber zu halten.<br />

16<br />

Wir werden in den nächsten Tagen, da muss man<br />

auch mal ehrlich sein, eine vom Wodka geprägte<br />

Zeit mit ihren Höhen und natürlich auch Tiefen<br />

erleben. Wir werden einiges über traditionelles<br />

Leben am Onega See, dem zweitgrößten See Europas,<br />

an dessen Ufer Petrozavodsk liegt, hören;<br />

nach dem Besuch des dritten Heimatmuseums allerdings<br />

nicht mehr zuhören und nicht mehr staunend<br />

vor einem 70 Jahre alten Holzlöffel stehen (nachträglich ENT-<br />

SCHULDIGUNG an unsere Führerin im traditionell wepsischen Bauernhaus,<br />

wir hatten einfach schon zu viele Löffel gesehen).<br />

Wir werden Theater spielen im Karelischen Nationaltheater und<br />

beim Applaus von schüchternen Mädchen und älteren Damen freudig<br />

Blumen entgegennehmen, was in Russland übrigens bei jeder<br />

Vorstellung, nicht nur bei Premieren wie bei<br />

uns, üblich ist. Die Blumen werden in der<br />

Pause im Foyer verkauft, so dass man sich<br />

schon mal ein Bild machen und dann in der<br />

Pause entscheiden kann, ob und wem man heute<br />

Blumen schenken möchte. Vielleicht liest<br />

das ja ein Tübinger Rosenverkäufer und kommt<br />

einfach mal abends im LTT vorbei und versucht<br />

sein Glück?<br />

Ich persönlich werde, nachdem eines Nachts meiner<br />

Brille durch Zauberhand der Bügel abbrach<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


klassenfahrt<br />

und am nächsten Morgen verschwunden war, obwohl<br />

ich mir fest vorgenommen hatte, ihn nicht<br />

zu verlieren, um ihn wieder anzukleben, einiges<br />

über russische Flexibilität lernen. Innerhalb<br />

von zwei Stunden waren die Gläser in ein<br />

neues, russisches Modell eingepasst und ich,<br />

glücklich sehend, um nur 30€ ärmer. In Deutschland<br />

unvorstellbar.<br />

Und wir werden natürlich mit unseren russischen<br />

Freunden feste Feste feiern und dabei lernen,<br />

dass ein Wodkarausch eine tiefgreifende und<br />

langwierige Erfahrung ist, weshalb Russland auch nur durch seine<br />

BürgerINNEN überlebt, weil bei vielen Männern das Gehirn erst<br />

ab den Mittagsstunden eingeschaltet werden kann.<br />

Wir werden singen, tanzen, lachen, weinen<br />

und immer wieder fasziniert mit großen Augen<br />

dasitzen, ob der seltsamen Wunder (Hotelrestaurant-Bands<br />

durch Zeitreise aus den<br />

80ern ins Heute gebracht, Straßen, die mehr<br />

Loch als Straße sind, eindrücklich lange<br />

orthodoxe Osterprozessionen), die uns jeden<br />

Tag aufs Neue begegnen.<br />

Nach acht Tagen werden wir so herzlich<br />

verabschiedet, wie wir zuvor willkommen<br />

geheißen und während unserer Zeit in Russland<br />

betreut wurden, alle sind da und wieder wird mit<br />

weißen Taschentüchern gewunken.<br />

Adé Petrozavodsk! Guten Morgen St. Petersburg!<br />

Zwei Tage haben wir noch das Glück, die zweitgrößte<br />

Stadt Russlands besichtigen zu können<br />

– und ich bin völlig überwältigt. Jeder, der<br />

in seinem Leben einmal die Möglichkeit hat,<br />

hierher zu kommen, sollte dies tun. Die Stadt<br />

ist absolut faszinierend und mit keiner anderen,<br />

die ich bisher gesehen habe, zu vergleichen.<br />

Wer Wien mag, wird St. Petersburg lieben!<br />

Es scheint, als hätte hier früher das Geld<br />

auf der Straße gelegen. Eine Prachtbau-Palast-Kathedralen-Kirche<br />

neben der Anderen. Wahnsinn! Und so werden hier die Augen<br />

noch ein bisschen größer, bevor sie dann zurück in Tübingen für<br />

mindestens ein dutzend Stunden zufallen und<br />

sich mein Gehirn im Traum von dieser wunderlichen,<br />

schönen und anstrengenden Reise<br />

verabschiedet.<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


parapolis<br />

Leben in der Parapolis<br />

von Mark Terkessidis<br />

18<br />

Die Inszenierung von ROMEO UND JULIA erklärt nicht, in welcher »Leitkultur« sich die beiden verfeindeten<br />

Familien bewegen. Es gibt die neureichen Russen auf der einen und die jungen, übermütigen<br />

Deutschen auf der anderen Seite. Es sind vor allem Sprache und Lebensstil, die die beiden Parteien<br />

trennen; und doch müssen sie sich einen gemeinsamen Lebensraum teilen. Auch unsere reale Welt<br />

wird enger, die Auswirkungen der Globalisierung verbinden, vernetzen und verschmelzen die Lebensräume<br />

unterschiedlichster Menschen, hier in Tübingen und weltweit.<br />

Mark Terkessidis beschreibt angesichts der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen in<br />

Deutschland modellhaft das Erscheinungsbild der heutigen Großstadt als vielfältige »Parapolis«.<br />

diese treffende Analyse der urbanen Vielheit mündet in die berechtigte Forderung »Kulturinstitutionen<br />

für alle« als Programm für die Zukunft.<br />

Die Vielheit der Stadt – »Parapolis«<br />

Angesichts der Mobilität, der Verschiebung von geographischen<br />

Nähe- und Ferneverhältnissen, der Durchlöcherung<br />

und Erweiterung der Stadt sowie der Entwicklung<br />

einer neuen architektonischen Morphologie der »erstarrten<br />

Bewegung« erscheint die normative Bindung an Vorstellungen<br />

von einem »Wir« oder von einer funktionierenden<br />

»europäischen Stadt« wenig zukunftsweisend. Wenn<br />

Personen mit Migrationshintergrund dazu aufgerufen<br />

werden, sich zu »integrieren«, dann stellt sich angesichts<br />

der skizzierten Entwicklungen die Frage, in welches Gebilde<br />

sie sich eigentlich eingliedern sollen. Traditionell war<br />

das der Nationalstaat. Aber die biographischen Beispiele<br />

sprechen von einer anderen Realität. Immer mehr Menschen<br />

leben an mehreren Orten zugleich und an diesen<br />

Orten sind sie jeweils keine »vollen« Rechtssubjekte mehr.<br />

Die Ausübung von Rechten ist immer noch an Sesshaftigkeit<br />

gebunden, und in diesem Sinn dürfen die erwähnten<br />

Personen an ihren aktuellen »Lebensmittelpunkten« nicht<br />

am Leben der Polis teilnehmen. Tatsächlich ist jene Polis<br />

längst auseinandergefallen. Die Stadt hat sich zu einer<br />

vielgliedrigen Parapolis entwickelt.<br />

In diesem Sinne ist die Bezeichnung Düsseldorf nur noch<br />

eine Art Label für einen losen Zusammenhang. Würde<br />

man Personen mit unterschiedlichen Hintergründen dazu<br />

auffordern, eine Karte der Stadt zu zeichnen mit den für<br />

sie wichtigen Orten, dann würde man schnell feststellen,<br />

dass sich mehrere imaginäre Städte überlagern. So haben<br />

sich zum einen enorme Spielräume ergeben für individualisierte<br />

Lebensentwürfe und kollektive Lebensweisen.<br />

Zum anderen jedoch lässt sich eine Zunahme von sogenannten<br />

horizontalen Konflikten beobachten – zwischen<br />

Minderheiten, die oft einen sehr unklaren Anspruch auf<br />

Repräsentation und Ordnung haben. Und die – das wissen<br />

wir spätestens, seitdem der islamische Fundamentalismus<br />

ein ständiger medialer Begleiter geworden ist – keineswegs<br />

grundsätzlich emanzipatorische Ideale verfolgen.<br />

Rassistisches Wissen<br />

Die Rede von der Ausländer- bzw. Fremdenfeindlichkeit<br />

setzt voraus, dass es auf einem Territorium zwei Gruppen<br />

gibt – die Deutschen und die »Ausländer« bzw. »Fremden«<br />

– und dass Personen aus der Gruppe der Deutschen gegenüber<br />

jener anderen Gruppe entweder »Vorurteile« haben<br />

oder gar feindlich auftreten. Die Gruppen gelten dabei<br />

als gegeben, wenn nicht gar als natürlich. Dabei im-<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


parapolis<br />

Mehrfach wurden die Werbetafeln und Plakate des LTT in dieser Weise beschmiert.<br />

19<br />

pliziert die Bezeichnung »Vorurteil«, es gäbe ein korrektes<br />

Urteil über »Ausländer« oder »Türken« und zumindest der<br />

Vorurteilsforscher sei im Besitz der richtigen Informationen.<br />

Und auch wenn in den letzten Jahren in den Theorien<br />

über »Fremdenfeindlichkeit« darauf hingewiesen wird,<br />

der »Fremde« sei immer nur eine Konstruktion, suggeriert<br />

der Begriff doch in anthropologischer Weise, man könne<br />

die Bevölkerung in Einheimische und Fremde aufteilen.<br />

Dabei kann man das eben nicht. Der erste Anwerbevertrag<br />

mit Italien datiert auf das Jahr 1955, und spätestens<br />

1998 hat die Bundesrepublik die Tatsache anerkannt, dass<br />

sie ein Einwanderungsland geworden ist. Aber immer<br />

noch gehen viele Theorien davon aus, die Feindlichkeit<br />

gegenüber dem »Fremden« habe etwas mit der mangelnden<br />

Vertrautheit mit bestimmten Sitten zu tun. Die Fremden<br />

scheinen immer gerade erst angekommen zu sein, sie<br />

wirken wie eine wiederkehrende Epiphanie, die immer<br />

aufs Neue für Überraschungen sorgt. Tatsächlich sind die<br />

»Fremden« längst Bestandteil der Bevölkerung geworden.<br />

Daher geht es, wenn man über Rassismus spricht, um eine<br />

Spaltung innerhalb einer Bevölkerung. Diese Spaltung hat<br />

eine institutionelle Grundlage, die Immanuel Wallerstein<br />

einmal »Ausschluss durch Einbeziehung« genannt hat und<br />

die er als spezifisch erachtete für die Epoche der Moderne.<br />

Die Versklavung, die Kolonisation, die Migration – all diese<br />

Vorgänge haben auf unterschiedliche Weise Menschen<br />

in ein institutionelles System einbezogen. Allerdings gab es<br />

bestimmte Bedingungen des Einschlusses. Die Migranten<br />

trafen im Deutschland der sechziger Jahre nicht auf einen<br />

offenen Arbeitsmarkt, sie wurden vielmehr von vornherein<br />

in bestimmte Segmente gedrängt. Man erwartete von ihnen<br />

primär unqualifizierte Handarbeit. Diese Schließung<br />

des Arbeitsmarktes spiegelte sich in einem rechtlichen<br />

Ausschluss: Diese Arbeitskräfte galten zunächst als »Gastarbeiter«,<br />

dann als »Ausländer«, in jedem Fall als Personen,<br />

die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhielten<br />

und deren Zugang zu Rechten stark limitiert bleiben<br />

konnte. Schließlich herrschte eine weitgehend ungebrochene<br />

kulturelle Hegemonie – es gab die beschriebenen,<br />

ebenfalls sehr ausschließlichen Vorstellungen davon, wie<br />

ein »Deutscher« zu sein hatte.<br />

Insofern wird die Gruppe der »Ausländer« bzw. der »Fremden«<br />

in den Institutionen der Gesellschaft überhaupt erst<br />

hervorgebracht. Gleichzeitig bildet sich ein Wissen über<br />

diese Gruppe. Dieses Wissen dient dazu, den in den Institutionen<br />

produzierten Unterschied zwischen »uns« und<br />

»ihnen« zu erklären und auch zu legitimieren. Schließlich<br />

dürfte es diesen Unterschied eigentlich gar nicht geben, in<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


parapolis<br />

Thema Rassismus geht es also nicht um »Feindlichkeit«<br />

gegenüber »Fremden«, sondern vielmehr<br />

um einen gesellschaftlichen »Apparat«, in dem<br />

Menschen überhaupt erst zu Fremden gemacht<br />

werden.<br />

Die Bevölkerung<br />

20<br />

Kunst-am-Bau-Projekt im Bundestagsgebäude<br />

der Demokratie sind der Theorie nach alle Bürger gleich,<br />

und so sollte es eigentlich unmöglich sein, dass eine Gruppe<br />

aufgrund ihrer Herkunft in einer schlechteren sozialen<br />

Position landet. Dieses Wissen sucht die Ursachen für<br />

jene Ungleichheit in den natürlichen Eigenschaften jener<br />

Gruppe, und daher habe ich es an anderer Stelle als »rassistisches<br />

Wissen« bezeichnet. Der Ausdruck Wissen mag in<br />

diesem Zusammenhang überraschen, doch alle Untersuchungen<br />

zeigen, dass »Vorurteile« in der Gesellschaft stark<br />

verbreitet sind. Es ergibt also keinen Sinn, wie ein bedeutender<br />

Teil der Forschung im Hinblick auf den Rassismus<br />

stets von den verzerrten Vorstellungen verirrter Einzelner<br />

auszugehen – es handelt sich um einen eingeführten und<br />

geteilten Wissensbestand.<br />

Wenn es nun die »natürlichen« Eigenschaften der betreffenden<br />

Gruppe sind, welche für den Abstand sorgen,<br />

dann wäre der Unterschied gerechtfertigt. Und so gelten<br />

die anderen in der Gesellschaft entsprechend der aktuellen<br />

diskursiven Gepflogenheiten als faul, schmutzig, übel<br />

riechend, grausam, patriarchal, sexistisch, gewalttätig, verblendet,<br />

fundamentalistisch etc. Und wie in einem umgekehrten<br />

Spiegelbild erstrahlt die Gruppe der Einheimischen<br />

als das exakte Gegenteil dieser Zuschreibungen.<br />

Das »rassistische Subjekt« verbirgt sich dabei als Phantom<br />

in den Institutionen; es spricht im Namen von etwas anderem<br />

– des Universalismus, der Toleranz, der Integration,<br />

der Kultur, der sozialen Sicherungssysteme etc. Beim<br />

Heute leben erstmals in der Geschichte der<br />

Menschheit mehr Menschen in Städten als auf<br />

dem Land. Städte lassen sich nicht abschotten;<br />

das Boot ist niemals voll. »Die Kraft der Urbanisierung«,<br />

meinte der Urbanist Shadrach Woods<br />

vor über 30 Jahren, »hat uns alle ins gleiche Boot<br />

gesetzt.« Die Vielheit in ihrem Boot, der Stadt,<br />

hat zweifellos eine gemeinsame Zukunft, aber sie<br />

ist ungewiss und sie kann sich nur entwickeln,<br />

wenn alle Individuen daran mitwirken können.<br />

Im April 2000 hat der Bundestag diese Situation<br />

übrigens symbolisch durchaus anerkannt. Damals<br />

erteilte das Haus dem Künstler Hans Haacke den<br />

Auftrag, im nördlichen Lichthof ein Kunstwerk<br />

aufzustellen. Darauf steht in Leuchtschrift: »Der<br />

Bevölkerung«. Dieser Text korrespondiert mit dem Satz<br />

auf dem Giebel des Hauses, »Dem deutschen Volke«. Diese<br />

Widmung wurde 1916 angebracht – es handelte sich<br />

um ein zähneknirschendes Zugeständnis des Kaisers an<br />

die Plebs. Ohne Zweifel transportiert »das Volk« trotz der<br />

Demonstrationen von 1989 in Deutschland weiterhin eine<br />

ausschließliche Bedeutung, eine ethnische Absolutheit.<br />

Dem wollte Haacke mit der Formulierung »der Bevölkerung«<br />

entgegentreten. Heute befindet sich die Demokratie<br />

in einem ständigen Übergang zwischen dem Volk und der<br />

Bevölkerung – ein Transit, der sich nicht vollständig auflösen<br />

lässt, sondern der der Gestaltung bedarf.<br />

Interkultur im Kulturbereich<br />

Nun kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Thema<br />

Einwanderung derzeit auf der Tagesordnung steht und die<br />

Bundesrepublik sich in einem bedeutenden Prozess der<br />

Veränderung befindet. Allerdings ist die Behandlung des<br />

Themas Interkultur im Bericht der Enquete-Kommission<br />

»Kultur in Deutschland« ziemlich ernüchternd. Das Thema<br />

Interkultur taucht auf gerade einmal neun von nahezu<br />

500 Seiten auf – das entspricht nicht ganz der Virulenz<br />

des demographischen Wandels. Man handelt es ab unter<br />

der Rubrik »Förderbereiche von besonderer Bedeutung«,<br />

in einem Kapitel mit der Überschrift »Migrantenkulturen/<br />

Interkultur«.<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


parapolis<br />

In einem anderen Kapitel zum Thema »interkulturelle Bildung«<br />

wird darauf hingewiesen, kulturelle Bildung solle<br />

einen »zentralen Beitrag« leisten für den »Zusammenhalt<br />

der Gesellschaft über alle Schichten, Generationen und<br />

Herkunftskulturen hinweg«. Für die »Randgruppen« stellt<br />

Kultur offenbar eine Art Schmiermittel der Integration<br />

dar. Ein solch instrumentelles Kulturverständnis würde<br />

man in Bezug auf die »deutsche« Kunst wohl kaum zu hören<br />

bekommen.<br />

Nun ist es angesichts knapper Kassen erlaubt und notwendig,<br />

über eine neue Legitimation von Kultur nachzudenken.<br />

Aber sind Kunst oder Theater nicht hoffnungslos<br />

überfordert, wenn sie die Aufgaben der Schule übernehmen<br />

und dann auch noch für den Zusammenhalt der Gesellschaft<br />

sorgen sollen? Wenn es um Interkultur im Kulturbereich<br />

geht, kommen enorme Ansprüche zusammen:<br />

Sie soll Bildung vermitteln, Perspektive geben, den Dialog<br />

befördern und am Ende noch Fundamentalismus und Gewalt<br />

verhindern.<br />

Man kann sicher auch sagen: Die Erwähnung von Interkultur<br />

im Bericht war ein erster Schritt. Es gibt einige<br />

Beispiele auf kommunaler Ebene, wo die Konzepte<br />

durchdachter und tragfähiger wirken. So spricht etwa die<br />

Stadt Mannheim in ihrem 2007 verabschiedeten »Handlungskonzept<br />

interkulturelle Kulturarbeit« ausdrücklich<br />

von Migration Mainstreaming. Die Autoren stellen klar,<br />

Interkultur müsse als Prinzip in den Kultureinrichtungen<br />

verankert werden, und es gelte, Menschen mit Migrationshintergrund<br />

den Zugang zu und die Teilhabe an diesen<br />

Einrichtungen zu erleichtern – auch im Bereich der<br />

Personalpolitik. Zudem will man die bereits vorhandene<br />

Vielfalt anerkennen und fördern, sowie die interkulturelle<br />

Kompetenz von Veranstaltern und Besuchern stärken.<br />

Diese Prinzipien lehnen sich stark an die Forderungen der<br />

»Stuttgarter Impulse zur kulturellen Vielfalt« an, die im<br />

Anschluss an den ersten Bundesfachkongress Interkultur<br />

verabschiedet wurden. Diese wiederum beziehen sich auf<br />

das Übereinkommen über den Schutz und die Förderung<br />

der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der UNESCO<br />

aus dem Jahr 2005. Der Text dieses Übereinkommens<br />

ist stellenweise durchaus ambivalent, weil die Verfasser<br />

doch erheblich schwanken zwischen dem Bewahren<br />

von Vielfalt und Vielfalt als Bestandteil von so etwas wie<br />

Kreativwirtschaft.<br />

Dennoch handelt es sich um eine offizielle Verankerung<br />

von Vielfalt – und die Bundesrepublik hat diesen Text ratifiziert,<br />

was bislang noch nicht flächendeckend ins Bewusstsein<br />

gedrungen ist.<br />

Schaut man auf Kultur in der Migrationsgesellschaft,<br />

dann ist der wirklich interessante Aspekt nicht jener des<br />

»Dialogs« zwischen den Kulturen, sondern jener der Nähe<br />

des scheinbar Verschiedenen. Insofern ist der Begriff Parallelgesellschaft<br />

äußerst unproduktiv. Denn in der Postmoderne<br />

zeichnet sich Kultur durch Diversifizierung aus,<br />

durch die Produktion von Differenz, die sich nicht grundsätzlich<br />

auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt.<br />

Die Clubnächte mit türkischer, griechischer oder iranischer<br />

Musik, die »ethnischen« Diskotheken, Kneipen und<br />

Restaurants; die kleinen Läden, die U-Bahn-Fahrkarten,<br />

Lebensmittel, Musik und Bücher anbieten; die afrikanischen<br />

Friseursalons, die Videos aus Nollywood verkaufen;<br />

der vietnamesische Großhandel mit seinen spezifischen<br />

Produkten – dieses ganze kulturalisierte Durcheinander ist<br />

keineswegs ein Nischenphänomen, es ist mittendrin. Es<br />

handelt sich um kreative Formen der unternehmerischen<br />

Selbsteingliederung in die Gesellschaft. Die Stadt lebt von<br />

ihren Heterotopien, von all den scheinbar »fremden« Orten,<br />

die dennoch benachbart sind. Und die Stadt ist per<br />

se ein Ort, dessen Charme in seiner Unübersichtlichkeit<br />

besteht. Und je weniger man die Produktion überblicken<br />

kann, desto interessanter und anziehender wirkt die Stadt.<br />

Aber auch für die Kultur im engeren Sinne gilt, dass sie<br />

die Differenz, das Unbequeme, das Inkommensurable<br />

und auch das Unkontrollierte braucht. Wenn man alles,<br />

was anders ist und sich entzieht, einem Diktat der Transparenz<br />

unterwerfen will, dann bekommt man am Ende<br />

nur Big Brother – und zwar in beiden Bedeutungen des<br />

Begriffs.<br />

Am Ende betrifft jedes Nachdenken über Interkultur immer<br />

das Ganze. In Deutschland ist der Gedanke der Gemeinschaft<br />

von der Vergangenheit beherrscht. Noch immer<br />

gilt das Prinzip der »Schicksalsverbundenheit« – man<br />

sieht eine Gruppe vor sich, die in der Vergangenheit gemeinsam<br />

etwas durchlitten und durchgestanden hat und<br />

die stolz auf ihre Leistungen blickt. Doch in der Parapolis<br />

gibt es keine gemeinsame Vergangenheit mehr. Die historischen<br />

Fäden verlaufen in alle möglichen Richtungen,<br />

nicht nur zu Hermann dem Cherusker. Was existiert, ist<br />

die gemeinsame Zukunft. Es ist egal, woher die Menschen,<br />

die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Polis<br />

aufhalten, kommen und wie lange sie sich dort aufhalten.<br />

Wenn erst einmal die Zukunft im Vordergrund steht,<br />

dann kommt es nur noch darauf an, dass sie jetzt, in diesem<br />

Moment anwesend sind und zur gemeinsamen Zukunft<br />

beitragen.<br />

Mark Terkessidis studierte Psychologie und arbeitet als Journalist und<br />

Migrationsforscher.<br />

Aus: Mark Terkessidis, »Interkultur«, Berlin 20<strong>10</strong>.<br />

21<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


Aus der Produktion<br />

Eindrücke<br />

Aleksej Belov hat den Aufenthalt der russischen Kollegen fotografisch festgehalten / Mit Probenfotos von<br />

Patrick Pfeiffer und O-Tönen aus der Produktion ROMEO UND JULIA / Ромео и Джульетта<br />

Aleksej Belov / 36 / aus Petrozavodsk / Schauspielausbildung<br />

am Glazunov-Konservatorium in Petrozavodsk<br />

/ Schauspieler am Nationaltheater Karelien<br />

Tübingen ist eine internationale Jugendstadt. Und<br />

hier ist eine sehr warme, künstlerische Atmosphäre.<br />

Gestört hat mich eigentlich nur die Hitze und<br />

eine hohe Luftfeuchtigkeit. Mein Opa war Wolga-<br />

Deutscher. Ich kann Deutsch ziemlich gut. Man<br />

kann vieles bei den deutschen Kollegen lernen, in<br />

erster Linie ihre Einstellung zur Arbeit. In der Beziehung<br />

hat mir diese Reise einen anderen Blick auf<br />

die deutsche Kultur und besonders auf die Theaterkultur<br />

gebracht. Ich werde die ehrliche, künstlerische<br />

Beziehung mit den deutschen Kollegen vermissen.<br />

Es macht viel Spaß, mit ihnen zu arbeiten.<br />

22<br />

Vesna Hiltmann / Ausstattungskoordinatorin des LTT /<br />

Bühnenbildnerin<br />

Der ausschlaggebende Punkt für die ersten Überlegungen<br />

zum Bühnenbildkonzept war, dass zwei Kulturen<br />

aufeinandertreffen. Sehr spannend für mich war, dass<br />

ich bei dieser Grundidee zunächst Parallelen zu meiner<br />

eigenen Geschichte ziehen konnte. Ich bin nicht in<br />

Deutschland geboren, sondern kam mit neun Jahren<br />

hierher. Ich wusste, was es heißt, einer fremden Kultur<br />

zu begegnen, Kindern, die eine fremde Sprache sprechen,<br />

die ich erst lernen musste. Die Vergangenheit<br />

holte mich einfach ein.<br />

Es ging für mich mehr um das Sein, das Aufeinandertreffen<br />

der beiden Kulturen. Und dass du dadurch immer<br />

in einer Bewegung bist, im Wanken bist. Das entspricht<br />

ja auch der Kommunikation der verfeindeten<br />

Gruppen, dass man sich mit Blicken mustert, ohne ein<br />

Wort zu sprechen, nie so richtig weiß, woran man ist.<br />

Annette Bauer / Fechtlehrerin an der<br />

Hochschule für Darstellende Kunst Stuttgart<br />

Die Produktion ROMEO UND JULIA<br />

war für mich eine echte Bereicherung! Bewegung<br />

verbindet, es bedarf kaum einer<br />

Sprache. Fechten und Stockkampf ist ein<br />

Dialog der Körper, eine Frage ein Angriff,<br />

eine Antwort eine Parade. Ich bin auf sehr<br />

gut ausgebildete Schauspieler getroffen,<br />

die sofort in diesen Dialog treten konnten.<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


Aus der Produktion<br />

Raúl Semmler / 26 / geboren in Jena, aufgewachsen vor<br />

allem in Berlin / Schauspielausbildung an der HfMDK Frankfurt<br />

a.Main / Festengagement am LTT<br />

Ich habe erfahren, dass Schauspieler sein in Russland<br />

sehr, sehr schwierig ist. Schauspieler hierzulande haben es<br />

auch schwer, jedoch gibt es einen Teil, der sich glücklich<br />

schätzen kann und festangestellt ist. Die russischen Kollegen<br />

aber müssen zwei bis drei Nebenjobs annehmen, um<br />

einigermaßen gut leben zu können. Unter den Russen ist<br />

sogar ein Professor einer staatlichen Schule, der das gleiche<br />

Problem hat. Ich finde es auch bemerkenswert, dass<br />

ein Schauspieler, hat er seine Ausbildung abgeschlossen,<br />

meist ein Leben lang an EINEM Haus bleibt.<br />

23<br />

Ljudmila Isakova / 20 / aus Olonec, Karelien / Schauspielausbildung<br />

an der Schule für Kultur und Künste (mit Auszeichnung) /<br />

Schauspielerin am Nationaltheater Karelien<br />

Ob ich eine typische Russin bin? Meine Nationalität ist Karelin,<br />

aber die Kulturen sind ähnlich. Ich liebe die Freiheit, Lieder,<br />

Tänze, Bliny u. a. Schwierig war in erster Linie die Sprachbarriere.<br />

Ich konnte kein Deutsch, aber jetzt beginne ich, es zu<br />

lernen. Manchmal ist es knifflig, im Geschäft die richtigen Lebensmittel<br />

zu wählen, weil ich die Aufschriften auf den Verpackungen<br />

nicht verstehe. Die Proben waren sehr gut! Am besten<br />

haben mir die Proben der Partyszene und der Kämpfe gefallen.<br />

Ich habe jetzt bei den Proben vieles in mir entdeckt; und es ist<br />

wichtig, was Neues zu finden, sich zu ändern. Manchmal musste<br />

ich mit mir selbst kämpfen, mich überwinden. Dank dem<br />

Training von Slava sind wir immer gut in Form!<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


24<br />

Aus der Produktion<br />

jojo Büld / Musiker und Komponist<br />

Die ersten Proben samt Kampfszenen haben mich stark an meine Kindheit<br />

in Berlin-Kreuzberg erinnert: Dort gab es in den 80er Jahren recht<br />

viele Gangs. Wenn man nicht aufpasste und zum falschen Zeitpunkt am<br />

falschen Ort war, hieß es: Schuhe her! Das war dann ganz schön erniedrigend,<br />

auf Socken nach Hause zu laufen. Auf der anderen Seite war einer<br />

dieser Gang-Türken mein bester Kumpel. Der wohnte im selben Haus,<br />

und es war völlig normal, mit allen im Wohnzimmer zu sitzen, Filme aus<br />

der Videothek zu glotzen und Baklava zu essen. Das kam dann also darauf<br />

an, unter welchen Umständen man sich traf. Die musikalische Arbeit<br />

mit den Schauspielern aus dem russischen Ensemble war von Anfang an<br />

sehr entspannt und produktiv. Zum einen liegt das wahrscheinlich daran,<br />

dass immer jemand beteiligt ist, der übersetzen kann; zum anderen aber<br />

an der musikalischen Leidenschaft der Schauspieler. Wann immer sich<br />

die Gelegenheit bietet, wird gesungen. Das ist wohl die universale Kraft<br />

der Musik: Wann immer Menschen zusammen kommen, die diese Leidenschaft<br />

teilen, ist jedes Eis gebrochen!<br />

Sergej Ignatjevic Lavrenov / 37 / aus Petrozavodsk<br />

/ Hochschule / Schauspieler am<br />

Nationaltheater Karelien, hat auch im Bereich<br />

der Fototechnik und als Taxifahrer gearbeitet.<br />

In Russland ist alles anders. Hier war für<br />

mich in erster Linie das Nichtbeherrschen<br />

der Sprache schwierig. Ich denke, das ist typisch<br />

für Russen, dass sie keine Fremdsprachen<br />

sprechen.<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


Martin Schultz-Coulon / 31 / Großburgwedel/Neuss<br />

am Rhein / Schauspielstudium, davor Studium Theater-,<br />

Film-, Fernsehwissenschaften / Festengagement am LTT<br />

Wenn du mit den Russen feierst, dann hat das viel<br />

mehr Form. Da wartet man nicht mit dem Tanzen,<br />

bis die Stimmung soweit ist, sondern da singt dann<br />

gleich nach dem ersten Wodka jemand ein Lied, und<br />

dann tanzen ALLE, und dann hören auch ALLE wieder<br />

gemeinsam auf und setzen sich. Du kannst sicher<br />

sein, dass sie sich für Gäste kleine Überraschungen<br />

ausdenken, Gastgeschenke mitbringen, wenn sie bei<br />

dir sind, dass vor jedem Wodka ein Toast ausgesprochen<br />

wird und dass sie jedem in der Liebe viel viel<br />

Glück wünschen. Den Wodka bei Tisch schenken nur<br />

die Männer ein, dafür ziehen sich die Frauen immer<br />

bombig an. Wenn du jemandem auf den Fuß trittst,<br />

musst du ihm den Fuß hinhalten, damit er sich revanchieren<br />

kann. Außerdem mögen sie Pilze. Letztens<br />

sind zwei Kollegen mit dem Fahrrad in den Schönbuch<br />

zum Pilze-Sammeln gefahren, weil sie das in<br />

Russland auch immer machen.<br />

Aus der Produktion<br />

Vjaceslav Poljakov / 32 / aus Petrozavodsk /<br />

Konservatorium für Darstellende Kunst / Schauspieler<br />

am Nationaltheater Karelien und Dozent<br />

für szenische Bewegung<br />

Bier war für mich vor meinem Aufenthalt hier<br />

und ist für mich immer noch typisch deutsch<br />

und es schmeckt mir sehr gut. Außerdem finde<br />

ich, dass die Stadt Tübingen sehr warm,<br />

freundlich und frei ist. Mit den deutschen Kollegen<br />

arbeitet es sich leicht und entspannt. Und<br />

mir hat es gefallen, dass sie während des von<br />

mir angeleiteten Trainings alles gegeben haben.<br />

25<br />

Patrick Schnicke / 32 / Großeltern aus Breslau / Verirrung<br />

in ein Jura-Studium (ein Semester); danach: Spanisch<br />

und Biologie auf Lehramt; dann Schauspielstudium<br />

an der Hochschule in Rostock / Festengagement am LTT<br />

Die Verständigung bei den Proben war anfangs doch<br />

schwierig, wurde aber von Tag zu Tag besser. Ich finde<br />

an der Arbeit besonders spannend, dass ich mehr<br />

auf Körpersprache achte, da Sprache nicht ausreichend<br />

für die Kommunikation ist. In erster Linie sehe ich das<br />

internationale Projekt als Gewinn für mich als Schauspieler<br />

in meiner Arbeit, weil ich die eigene Spielweise<br />

durch die Sprachbarriere eher überprüft habe. Ich würde<br />

gerne erneut international probieren.<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


kunst<br />

Kunst und Kultur für alle<br />

von Tina Jerman und Meinhard Motzko<br />

Im Rahmen von »Ruhr 20<strong>10</strong>« wurden in der Metropolenregion Ruhrgebiet unzählige Kunst- und Kulturprojekte<br />

entwickelt, durchgeführt und neu erfunden. Durch die dortige demografische Situation<br />

vor allem mit interkulturellem, die Bevölkerungsschichten versöhnendem Ansatz – nicht nur um die<br />

Blicke von außerhalb auf diese Region zu ziehen, sondern auch um die Lebensqualität der Ansässigen<br />

nachhaltig zu verbessern. Die Erfahrungen und positiven Ergebnisse, die die oft unkonventionelle<br />

Zusammenarbeit von Städten, Gemeinden und Kulturinstitutionen dabei sammeln konnten,<br />

regen zur Nachahmung an!<br />

26<br />

Das Pilotprojekt<br />

Migrantinnen und Migranten sollen in der Kulturarbeit<br />

in Nordrhein-Westfalen stärker berücksichtigt werden:<br />

Das war das Ziel des Pilotprojektes »Kommunales Handlungskonzept<br />

Interkultur«, das 2005 von der Kulturabteilung<br />

der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen<br />

initiiert wurde. Städte aus der gesamten Region bewarben<br />

sich um die Teilnahme, sechs Pilotstädte wurden ausgewählt.<br />

Ihr Auftrag war es, zunächst eine Bestandsaufnahme<br />

zur Beteiligung von Migrantinnen und Migranten<br />

am kulturellen Leben in der Stadt zu machen. Anschließend<br />

sollten sie Konzepte und Umsetzungsstrategien entwickeln,<br />

um Menschen mit Migrationshintergrund – als<br />

Kulturschaffende und als Rezipienten von Kultur – stärker<br />

einzubinden.<br />

Teilnehmende an dem partizipativen Prozess vor Ort waren<br />

Kulturmanager, Künstlerinnen und Künstler mit und<br />

ohne Migrationshintergrund, Kulturvereine, Kommunalpolitik,<br />

Verwaltung und freie und öffentliche Kultureinrichtungen,<br />

wie Theater, Museen, Ballett und Musikschulen.<br />

Die Koordination übernahm in der Regel das kommunale<br />

Kulturamt, teilweise gemeinsam mit weiteren<br />

Akteuren aus dem Kulturbereich.<br />

In vielen Kommunen (und nicht nur dort) dominiert im<br />

Zusammenhang mit Zugewanderten eine Sicht des »Defizitären«<br />

(Sprachprobleme, Bildungsdefizite, soziale Probleme,<br />

Probleme auf dem Arbeitsmarkt, Parallelgesellschaften,<br />

religiöser Fundamentalismus usw.). Die besonderen<br />

Chancen, die kulturelle Vielfalt und die besonderen Kompetenzen<br />

der Menschen mit Migrationshintergrund bieten,<br />

sind noch nicht erkannt. Auch die ersten Ergebnisse<br />

der Sinus-Studie* zu Lebenswelten und Migrantenmilieus<br />

bestätigen, dass die in der Öffentlichkeit diskutierten Probleme<br />

nur ein kleiner Ausschnitt der Lebenswelten von<br />

Menschen mit Migrationshintergrund sind.<br />

Das Pilotprojekt »Kommunales Handlungskonzept Interkultur«<br />

nutzte verschiedene Strategien, um zu einer positiven<br />

Sicht auf die kulturelle Vielfalt beizutragen.<br />

Mehr Kenntnisse, mehr Information<br />

Die theoretischen Grundlagen, der laufende Diskurs in<br />

der Fachöffentlichkeit und die internationalen Erfahrungen,<br />

zum Beispiel in klassischen Einwanderungsländern,<br />

sind vielen, in der Praxis stehenden Beteiligten nur selten<br />

zugänglich. Sie werden durch manchmal irrlichternde<br />

Leitkulturdiskussionen eher verwischt als geklärt. Deswegen<br />

wurde in allen Pilotstädten eine Beschäftigung mit<br />

den theoretischen Grundlagen vorangetrieben. Diese bedarf<br />

allerdings einer Verstetigung, die fortgesetzt werden<br />

sollte.<br />

Migration als Chance<br />

* Sinus-Studie: Die Alltagswelt von Migranten, ihre Wertorientierungen,<br />

Lebensziele, Wünsche und Zukunftserwartungen sind Gegenstand der<br />

sozialwissenschaftlichen Untersuchung »Die Milieus der Menschen mit<br />

Migrationshintergrund in Deutschland« (2006–08). Hierfür entwickelte das<br />

Heidelberger Institut Sinus Sociovision u. a. im Auftrag des Bundesministeriums<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ein Modell<br />

über acht unterschiedliche Migranten-Milieus.<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


kunst<br />

Altenhagener Brücke, Hagen // www.sehnsuchtnachebene2.de<br />

Ressortübergreifender Ansatz<br />

Eine Verbindung des Themenfeldes »Kultur und Migration«<br />

zu anderen Themenfeldern, wie Stadtentwicklung,<br />

Wirtschaftsförderung, Infrastruktur, Bildung oder Statistik,<br />

und entsprechende ganzheitlichere Entwicklungsansätze<br />

sind – anders als auf Landesebene – erst in den<br />

Anfängen erkennbar. Kontakte zu diesen Ressorts wurden<br />

in einzelnen Projekten (z. B. bei der »Altenhagener Brücke«<br />

s. Bild) gesucht und auch erfolgreich zur Umsetzung<br />

der Projekte genutzt. Nun bestehen hier erheblich bessere<br />

Kontaktmöglichkeiten, als das vor dem Pilotprojekt für<br />

denkbar gehalten wurde.<br />

Unterschiedliche Akteure in Verbindung bringen<br />

Neben den verschiedenen Ressorts der kommunalen Verwaltung<br />

wurden auch politische Parteien, Fraktionen und<br />

Entscheidungsträger angesprochen. An gemischten Workshops<br />

beteiligten sich in den meisten Fällen Vertreterinnen<br />

und Vertreter aus Stadtverwaltung und Politik gemeinsam<br />

mit Zugewanderten und Kulturschaffenden. Sie<br />

kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass gerade in<br />

der Kulturarbeit besondere Chancen bestehen, die Stärken<br />

und besonderen Leistungen von Menschen mit Migrationshintergrund<br />

zu verdeutlichen und damit zur Integration<br />

auf der Basis der Vielfalt beizutragen.<br />

Interkulturelle Kompetenz fördern<br />

Interkulturelle Kompetenz und ein Verständnis für deren<br />

Notwendigkeit ist in den meisten Verwaltungen, auch im<br />

Kulturbereich, eher selten anzutreffen. Häufig kennen die<br />

Mitarbeitenden in den Kultureinrichtungen und -verwaltungen<br />

der Kommunen keine Ansprechpersonen in den<br />

Migranten-Communities und wissen wenig über deren<br />

kulturelle Aktivitäten und Potenziale. Umgekehrt empfinden<br />

viele Menschen mit Migrationshintergrund das Verhalten<br />

von Verwaltungen als ablehnend, oft vermissen sie<br />

Sensibilität oder den Respekt vor einem gleichberechtigten<br />

Gegenüber. Beides führt auf beiden Seiten zu Ignoranz,<br />

Misstrauen und Abgrenzung. Entsprechend selten sind gemeinsame<br />

Projekte, Veranstaltungen oder Planungen.<br />

In den Pilotstädten konnte vor allem durch eine externe<br />

und bi-kulturelle Moderation bei den regelmäßig tagenden<br />

Runden Tischen die Bereitschaft zu einem vorurteilsfreien<br />

»Neustart« gefördert werden.<br />

In den meisten traditionellen Kultureinrichtungen, vor<br />

allem der »Hochkultur«, ist die Zielgruppe »Migranten«<br />

noch nicht entdeckt. Das verhindert nicht nur die gleichberechtigte<br />

Teilhabe eines Viertels der Bevölkerung an öffentlich<br />

geförderten Kulturangeboten, sondern hat auch,<br />

vor allem demografisch-perspektivisch, erhebliche betriebswirtschaftliche<br />

Folgen. Bis auf einige Ausnahmen ist<br />

es noch nicht gelungen, die Einrichtungen der »Hochkultur«<br />

auf breiter Basis für eine interkulturelle Neuausrichtung<br />

zu gewinnen. Gute Beispiele für die »Umorientierung«<br />

klassischer Kultureinrichtungen sind die Bibliotheken<br />

der Städte Hamm und Duisburg. Deren Aktivitäten<br />

erfreuen sich inzwischen bundesweiter Beachtung.<br />

Es geht weiter<br />

In allen sechs Kommunen ist deutlich geworden, dass ein<br />

erheblicher Bedarf an zusätzlicher Qualifizierung und Professionalisierung<br />

im interkulturellen Kulturmanagement<br />

und der darauf ausgerichteten Presse- und Öffentlichkeitsarbeit<br />

besteht. Deshalb wird nun als nächster Schritt,<br />

und eingebettet in das regionale Netzwerk der Kulturhauptstadt-Region<br />

Ruhr 20<strong>10</strong>, ein mehrjähriges Professionalisierungsprojekt<br />

angeboten. Es soll vor allem Mitarbeitende<br />

von Kultureinrichtungen, Kulturprojekten und<br />

Künstlerinnen und Künstler mit Migrationshintergrund<br />

in diesem neuen Arbeitsbereich unterstützen.<br />

Aus: Tina Jerman (Hg.), »Kunst verbindet Menschen – Interkulturelle Konzepte<br />

für eine Gesellschaft im Wandel«, 87, 91–95, 258f.<br />

Tina Jerman, M.A., geboren 1954 in Essen. Studium der Kunstgeschichte,<br />

Philosophie und Literaturwissenschaft in Bochum, Wien und Essen. Koordinatorin<br />

für interkulturelle und internationale Kunst- und Kulturprojekte<br />

und Lehraufträge. Veröffentlichungen zum Thema Kulturelle Vielfalt, Kultur<br />

und Nachhaltigkeit und Internationale Karikaturen. www.exile-ev.de<br />

Meinhard Motzko, Sozialwissenschaftler und Qualitätsmanagement-<br />

Auditor. Freiberuflicher Organisations- und Personalberater, besonders in<br />

Projekten zur Verwaltungsmodernisierung, Evaluation und Einführung moderner<br />

Managementmethoden in Verwaltungen und öffentlichen Betrieben.<br />

Er ist in Deutschland, Europa, Russland/Zentralasien und China tätig.<br />

27<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


Mutter und Tochter<br />

eila & elli<br />

Im Interview mit Dramaturgin Christiane Neudeck<br />

Mutter und Tochter – zwei Schauspielerinnen und am selben Haus engagiert, das gibt es in Deutschland<br />

kaum. In unserer Produktion sorgten Eila Hidman und Elli Nyarya mit ihrer Herzlichkeit für eine<br />

unnachahmliche familiäre Atmosphäre.<br />

28<br />

Eila Hidman / 60 / Petrozavodsk / Theaterschule / seit 44<br />

Jahren am Karelischen Nationaltheater in Petrozavodsk<br />

Elli Nyarya / 32 / Petrozavodsk / Hochschule (mit<br />

Auszeichnung)<br />

Lieblingstheaterstück? Es gibt viele!<br />

Lieblingsszene von ROMEO UND JULIA? Ich mag alle<br />

Szenen. Aber meine Lieblingsszene ist das Zusammentreffen<br />

von Amme, Romeo, Benvolio und Mercutio auf der<br />

Straße. Ich habe tolle, temperamentvolle Partner.<br />

Was war für dich »typisch deutsch« vor deiner Ankunft in<br />

Tübingen? Orgel, Akkordeon, Mundharmonika. Bach,<br />

Liszt und Goethe. Deutsch in der Schule. Wolga-Deutsche.<br />

Schiller. Pedanterie, Ordnung und Sauberkeit. Mercedes<br />

und VW. Gotischer Stil in der Architektur. Bier und<br />

Würstchen. Schlösser! Hitler, »Mein Kampf«. Kirchen!<br />

Rathäuser!<br />

Hat sich durch deinen Aufenthalt hier etwas in deinen Anschauungen<br />

geändert? Deutsche sind freundlich und entgegenkommend.<br />

Unbekannte Menschen begegnen einander<br />

mit einem Lächeln. Es gibt hier ein sehr hohes Lebensniveau!<br />

Und das freut mich!<br />

Was ist in Russland anders? Russland ist reich an Seele,<br />

klassischen Schriftstellern, Dichtern und Komponisten,<br />

Lieblingstheaterstück? Ich verliebe mich in alle Stücke, in<br />

denen ich mitwirke.<br />

Lieblingsszene von ROMEO UND JULIA? Jede Szene,<br />

in der ich dabei bin, ist auf ihre Art interessant, und ich<br />

mag sie alle, jede für sich. Aber als Schauspielerin mag ich<br />

am liebsten »die Klage über Tybalts Tod«. In dieser Szene<br />

kommt die Figur von Lady Capulet zu <strong>10</strong>0% zur Geltung.<br />

Was war für dich »typisch deutsch« vor deiner Ankunft<br />

in Tübingen? Bier und Würstchen, Volkswagen, deutsche<br />

Qualität.<br />

Hat sich durch deinen Aufenthalt hier etwas in deinen Anschauungen<br />

geändert? Zu <strong>10</strong>0%! Ich habe für mich ein<br />

wunderschönes Land entdeckt, über das ich nichts wusste.<br />

Fantastische, sehr sehr sehr schöne Männer! Wissensdurst,<br />

Neugier, Offenheit und Gemeinschaftsgefühl (z. B. Fußballfans).<br />

Das gefällt mir sehr, man spürt das Land!<br />

Was ist in Russland anders? Die Einstellung zum Leben.<br />

Man lässt vieles liegen, man nimmt es sich vor, es später zu<br />

machen, und am Ende kommt dieses Später nie.<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


Probenfoto ROMEO UND JULIA // Patrick Pfeiffer<br />

Mutter und Tochter<br />

an Ballett. Aber Russland ist auch bekannt für seine Oligarchen,<br />

Erdöl und -gas.<br />

Auf welche Schwierigkeiten bist du gestoßen? Man muss die<br />

Sprache lernen!<br />

Auf welche Schwierigkeiten bist du gestoßen? Schwierigkeiten<br />

mit der Sprache. Manchmal möchte ich mehr sagen,<br />

fragen und sprechen, aber die Fremdsprache setzt die<br />

Grenzen der Unterhaltung (ich spreche meistens Englisch<br />

in Deutschland).<br />

Wie gestaltete sich für dich die Probensituation? Es ist eine<br />

schöne kreative Atmosphäre. Ich mag alle Schauspieler<br />

und spüre ihre Energie, ihr Feuer, es gibt was zu lernen!<br />

Das ganze Team hat ein sehr hohes professionelles Niveau:<br />

Vesna Hiltmann, die Bühnenbildnerin – ich mag sie und<br />

spüre das Feuer. Janine Viguié, die Souffleuse – ein Wunder<br />

und ein Profi! Catharina Lühr und Annette Bauer, <strong>Spezial</strong>istinnen<br />

für Choreografie und Kampfkunst: sie denken<br />

umfassend, schaffen lebhafte und eindrucksvolle Szenen.<br />

Ralf Siebelt: fordert, kann zuhören, hat interessante Ideen<br />

und gewährt dem Schauspieler künstlerische Freiheit. Jede<br />

Probe ist für mich eine Entdeckung, eine Selbstentdeckung<br />

und das nähere Kennenlernen meiner Kollegen.<br />

Eine Herausforderung birgt die »Schaukel« – sie erfordert<br />

eine gute körperliche Vorbereitung, wenn man dabei noch<br />

die Kämpfe und die Tänze bedenkt, aber die Schauspieler<br />

gehen mit dieser Aufgabe sehr professionell um. Unser<br />

Team schreckt vor nichts zurück, auch vor der Schaukel<br />

nicht! »Gospodi pomiluj« (Herr, erbarme Dich!) und Jojo<br />

Büld retten in jeder Situation!!!<br />

Wie denkst du persönlich über die Chancen interkultureller<br />

Paarbeziehungen über Sprachgrenzen hinweg? Wenn man<br />

einen Menschen mit der Haut spürt, mit jeder Zelle des<br />

Körpers und der Seele, durch die Tiefe der Augen, durch<br />

einen leidenschaftlichen Kuss, dann gibt es keine Sprachgrenze.<br />

Die Sprache kann man lernen. Aber zart lieben,<br />

spüren, hören und verstehen – das kann nicht jeder. Die<br />

Liebe hat immer eine Chance!<br />

Was nimmst du für dich mit nach Russland? Viele neue<br />

und interessante Bekanntschaften: Patrick ist sehr einfühlsam,<br />

toll; Raúl und sein Saxophon; Beppo ist mein Tanzpartner;<br />

Martin bringt Glück, Udo ist Lorenzo für immer,<br />

Jojo ist Navigator im Synthesizer, »Gospodi pomiluj«; Annette,<br />

Catharina – Grazie, Begeisterung; Janine – Leidenschaft;<br />

Vesna – Feuer, Christiane – Muse des Dichters. Ich<br />

hatte was zu lernen und freute mich darüber.<br />

Was lässt du hier? Ich werde die Schauspieler und das ganze<br />

Team vermissen, Ralf und seinen behutsamen und vertrauensvollen<br />

Umgang mit den Schauspielern.<br />

Wie gestaltete sich für dich die Probensituation? Vor einer<br />

neuen Inszenierung kommt immer eine Leidenschaft. Das<br />

bedeutet, dass ich erfinde, vieles ausprobiere; es ist interessant,<br />

weiter zu gehen und zu schauen, was am Ende rauskommt.<br />

Im Moment gefällt mir alles, es ist für mich eine<br />

künstlerische Herausforderung, ich grüble viel über meine<br />

Rolle. Alles in allem ist die Arbeit interessant, sehr interessant!<br />

Wir sind inspiriert und kreativ am Werk! Aus dem<br />

Team habe ich alle ins Herz geschlossen. Es ist sehr schwer,<br />

Abschied zu nehmen!<br />

Wie denkst du persönlich über die Chancen interkultureller<br />

Paarbeziehungen über Sprachgrenzen hinweg? Für Liebe<br />

ist jedes Alter und jede Sprache zugänglich. Wenn die<br />

Menschen zueinander passen und einander verstehen,<br />

dann ist die Sprache keine Hürde. Verschiedene Kulturen<br />

– das ist interessant, jeden Tag was Neues erfahren und so<br />

leben, wie man noch nicht gelebt hat. Das ist klasse!<br />

Was nimmst du für dich mit nach Russland? Viele Emotionen<br />

und Eindrücke, tolle Freunde, die Arbeitserfahrung in<br />

so einem interessanten Projekt, erste Lernerfahrungen mit<br />

der deutschen Sprache. Viel Wärme und Sonne aus der<br />

Natur und von den Menschen, Reisen und Bekanntschaften,<br />

Besuch deutscher Vorstellungen (andere Schauspielschule,<br />

sehr interessant!).<br />

Was lässt du hier? Ich werde die Leute aus dem Projekt<br />

sehr vermissen, denn mit ihnen habe ich die meiste Zeit<br />

verbracht. Die Sonne und die Stadt werden mir auch fehlen,<br />

aber am meisten die Menschen, die Schauspieler, das<br />

deutsche »Hallo« und »Alles gut«. Ich vermisse sie jetzt<br />

schon.<br />

Ich möchte die Menschen besser kennenlernen, mit ihnen<br />

sprechen, sie verstehen. Ich möchte wieder und wieder<br />

kommen. Ich hoffe, es gibt noch gemeinsame Projekte<br />

und wir kommen wieder!<br />

Ich möchte eine tolle Premiere haben, die die ganze Stadt<br />

aufrüttelt. Ich möchte, dass die Zuschauer vor Begeisterung<br />

verrückt werden, das ist doch Shakespeare – Klassik<br />

– ROMEO UND JULIA!<br />

29<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


ein deutsch-russisches märchen<br />

zwei wochen »KALTE HERZEN«<br />

Eine deutsch-russische Jugendbegegnung // von Volker Schubert<br />

30<br />

Neben der Theaterpartnerschaft DRUSCHBA gab es dieses<br />

Jahr auch eine bemerkenswerte internationale Zusammenarbeit<br />

zwischen Jugendlichen, initiiert vom Internationalen<br />

Forum Burg Liebenzell in Zusammenarbeit mit der russischen<br />

Jugendorganisation Doroga und dem LTT: Vom 23.–28. August<br />

20<strong>10</strong>, in fünf Tagen also, entwickelten 14 Jugendliche<br />

aus Baden-Württemberg und <strong>10</strong> aus Petrozavodsk eine Aufführung<br />

nach Wilhelm Hauffs Märchen DAS KALTE HERZ, die<br />

zweisprachig im Sudhaus Tübingen aufgeführt wurde. Anschließend<br />

reiste die Gruppe nach Petrozavodsk, um neben<br />

vielen anderen Aktivitäten auch noch ein russisches Märchen<br />

einzustudieren und mit dem Hauffs aufzuführen.<br />

Nicht nur für die deutschen Jugendlichen eine unvergessliche<br />

Erfahrung. Das verbindende Element dort, wie in<br />

Deutschland: das gemeinsame Theaterspielen, die Erfahrung,<br />

Vorurteile zu überwinden in der Begegnung, im<br />

fremden Land, das eine Heimat ist, und auf der Bühne.<br />

In einer ehemaligen Datschensiedlung, 30 Kilometer außerhalb<br />

von Petrozavodsk, wurde ein Haus bezogen, das<br />

die Jugendlichen der Jugendorganisation Doroga mit EU-<br />

Geldern selbst gebaut haben. Die Stromleitung war gekappt,<br />

egal, wenn der Generator mal wieder ausfiel, egal,<br />

dass es nur eine kalte Dusche gab für 30 Leute und immerhin<br />

zwei Klos, sei’s drum. Der Freude tat das keinen Abbruch.<br />

Dann wurde eben bei Kerzenschein weiter geprobt<br />

an dem karelischen Märchen, das die Jugendlichen dort<br />

einstudierten. Und dann gab es da noch die Autobemalaktion,<br />

die Raftingreise, wo Luca über Bord ging, die Theaterführung,<br />

der Erlebnisparcours im Camp, Moskau…<br />

Julia Reiche, eine Teilnehmerin des Workshops, berichtet:<br />

DIE eindrücklichste Erfahrung gab es nicht; vielmehr einen<br />

ganzen Strauß davon. Zuerst einmal die Zeitlosigkeit<br />

des Stückes. Dann meine eigene Bewunderung für Wilhelm<br />

Hauff, der noch so unglaublich jung war, als er dieses<br />

Stück schrieb (genau genommen so alt wie ich jetzt).<br />

Unsere Ideen zur Umsetzung und die gemeinsame Arbeit<br />

in den Gruppen. Dass wir zwar Dolmetscher brauchten,<br />

aber auch mit Händen und Füßen gut kommunizieren<br />

konnten. Dass wir alle immer gemeinsam auf der Bühne<br />

standen (eine Vorstellung, die ich anfangs als problematisch<br />

empfand) und jeder mit einbezogen wurde. Schließlich:<br />

Dass wir alle unglaublich WARME HERZEN sind.<br />

Ich kannte vor dem Projekt weder Russland noch Russen.<br />

Mein Bild von ihnen war daher (fast zwangsläufig) von<br />

den üblichen Vorurteilen gefärbt.<br />

Beim Kennenlernen war ich dann<br />

aber vor allem davon überrascht, dass wir<br />

uns doch in so vielen Dingen so ähnlich sind: aufgeschlossen,<br />

interessiert, hilfsbereit und vor allem: nicht<br />

von der schrecklichen Geschichte beeinflusst, in der wir<br />

vor wenigen Jahrzehnten noch Feinde waren. In Russland<br />

wurden wir unglaublich warmherzig und freudig empfangen<br />

und versorgt. Ein ganzes Paket voller Erlebnisse wurde<br />

für uns geschnürt und wir durften hinter viele verschlossene<br />

Türen spicken.<br />

Das gemeinsame Theaterspielen hat uns in Transrapid-<br />

Tempo einander näher gebracht, wie ich es noch nie vorher<br />

erlebt habe. Die Sprachbarriere wurde nach kürzester<br />

Zeit völlig unwichtig. Und genau das haben wir auch in<br />

den Theaterstücken umgesetzt.<br />

Der andere Theater-Stil in Russland war für uns zwar erst<br />

einmal befremdlich, fast militärisch. Aber genau so, wie<br />

sich die russischen Jugendlichen auf unsere (Volkers) Arbeitsweise<br />

eingelassen haben, haben wir uns auf Wassilijs<br />

Stil eingelassen – und beide Märchen wurden wunderbar,<br />

wenngleich auch völlig verschieden.<br />

Die Dauer dieses Projektes kommt mir im Nachhinein<br />

viel länger vor, dabei waren es »nur« zwei Wochen. Wir<br />

haben echte neue Freunde gefunden und eine sehr intensive<br />

Zeit miteinander erlebt. Für mich persönlich war es<br />

eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens.<br />

Bei der zweisprachigen Inszenierung von ROMEO UND<br />

JULIA freue ich mich darauf, dass sie es genau so machen<br />

wie wir (oder wir wie sie?): Sie spielen auf Russisch und<br />

auf Deutsch, und jeder wird verstehen, worum es geht.<br />

Und schlussendlich bleibt doch die Botschaft: Auch wenn<br />

die Obrigkeiten lieber ihre Konflikte schüren, kann zwischen<br />

unterschiedlichen Familien (Ländern) viel Freundschaft<br />

und Liebe sein.<br />

Ach ja, und nach so viel pathetischen Worten: Ich freue<br />

mich darauf, die schöne russische Sprache wieder hören zu<br />

dürfen. Zu Poetischem wie ROMEO UND JULIA passt<br />

sie sicher ganz wunderbar.<br />

Das Projekt ist eine Kooperation zwischen dem Internationalen Forum<br />

Burg Liebenzell e.V. (Deutschland) und der Jugendorganisation Doroga<br />

(Russland). Gertrud Gandenberger und Denis Rogatkin sind für die Organisation,<br />

Gesamtleitung und die Durchführung des Kooperationsprojektes<br />

verantwortlich. Das Theaterprojekt KALTE HERZEN wurde von unserem<br />

Theaterpädagogen Volker Schubert entwickelt und einstudiert, Svetlana<br />

Nachinova und Vasily Serebrov waren die Theaterpädagogen der Partnerorganisation<br />

Doroga.<br />

Gefördert wurde das Projekt von der Stiftung Deutsch-Russischer<br />

Jugendaustausch, dem Kulturamt der Stadt Tübingen, dem Kultusministerium,<br />

dem Verein Europa Morgen, der Gedat-Stiftung und der Stiftungen<br />

Landesbank Baden-Württemberg.<br />

Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>


unesco<br />

interkultur weltweit<br />

Vor ziemlich genau fünf Jahren, im Oktober 2005, verabschiedete die Generalkonferenz der Organisation<br />

der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) in Paris die »Convention<br />

on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions«.<br />

Übereinkommen über den Schutz und die Förderung<br />

der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen<br />

Die Ziele dieses Übereinkommens sind:<br />

a // die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu schützen<br />

und zu fördern;<br />

b // die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kulturen<br />

sich entfalten und frei in einer für alle Seiten bereichernden<br />

Weise interagieren können;<br />

c // den Dialog zwischen den Kulturen anzuregen, um<br />

weltweit einen breiteren und ausgewogeneren kulturellen<br />

Austausch zur Förderung der gegenseitigen Achtung der<br />

Kulturen und einer Kultur des Friedens zu gewährleisten;<br />

d // die Interkulturalität zu fördern, um die kulturelle Interaktion<br />

im Geist des Brückenbaus zwischen den Völkern<br />

weiterzuentwickeln;<br />

e // die Achtung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen<br />

zu fördern und das Bewusstsein für den Wert dieser Vielfalt<br />

auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene zu<br />

schärfen;<br />

f // die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Kultur<br />

und Entwicklung für alle Länder, insbesondere für die<br />

Entwicklungsländer, zu bekräftigen und die Maßnahmen<br />

zu unterstützen, die auf nationaler und internationaler<br />

Ebene ergriffen werden, um die Anerkennung des wahren<br />

Wertes dieses Zusammenhangs sicherzustellen;<br />

g // die besondere Natur von kulturellen Aktivitäten, Gütern<br />

und Dienstleistungen als Träger von Identität, Werten<br />

und Sinn anzuerkennen;<br />

h // das souveräne Recht der Staaten zu bekräftigen, die<br />

Politik und die Maßnahmen beizubehalten, zu beschließen<br />

und umzusetzen, die sie für den Schutz und die Förderung<br />

der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen in ihrem<br />

Hoheitsgebiet für angemessen erachten;<br />

i // die internationale Zusammenarbeit und Solidarität in<br />

einem Geist der Partnerschaft zu stärken, um insbesondere<br />

die Fähigkeiten der Entwicklungsländer zum Schutz und<br />

zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu<br />

erhöhen.<br />

КОНВЕНЦИЯ ОБ ОХРАНЕ И ПООЩРЕНИИ РАЗНООБРАЗИЯ<br />

ФОРМ КУЛЬТУРНОГО САМОВЫРАЖЕНИЯ<br />

Целями настоящей Конвенции являются:<br />

a // охрана и поощрение разнообразия форм культурного<br />

самовыражения;<br />

b // создание условий для расцвета и свободного<br />

взаимодействия различных культур<br />

на взаимовыгодной основе;<br />

c // поощрение диалога между культурами в целях<br />

обеспечения более широких и<br />

сбалансированных культурных обменов во всем мире в<br />

интересах взаимоуважения культур и культуры мира;<br />

d // поощрение межкультурного взаимодействия в целях<br />

развития взаимопроник-новения культур в духе наведения<br />

мостов между народами;<br />

e // поощрение уважения к разнообразию форм<br />

культурного самовыражения и повышение осознания<br />

ценности этого разнообразия на местном, национальном<br />

и международном уровнях;<br />

f // подтверждение важности взаимосвязи между<br />

культурой и развитием для всех стран, в особенности<br />

развивающихся, и поддержка действий, предпринимаемых<br />

на национальном и международном уровнях с целью<br />

обеспечить признание подлинной ценности этой<br />

взаимосвязи;<br />

g // признание особого характера культурной<br />

деятельности и культурных товаров и услуг как<br />

носителей самобытности, ценностей и смысла;<br />

h // подтверждение суверенного права государств на<br />

поддержку, принятие и осуществление политики<br />

и мер, которые они считают надлежащими для<br />

охраны и поощрения разнообразия форм культурного<br />

самовыражения на своей территории;<br />

i // укрепление международного сотрудничества и<br />

солидарности в духе партнерства, в частности для<br />

расширения возможностей развивающихся стран<br />

в области охраны и поощрения многообразия форм<br />

культурного самовыражения.<br />

31<br />

www.unesco.de<br />

Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>


DER BLAUE EURO<br />

Seit 1. September 2008 bezieht das LTT Bluegreen Ökostrom.<br />

Als Unterstützer der Klimaschutzinitiative »Tübingen<br />

macht blau« und als Bekenntnis zu seiner ökologischen<br />

Verantwortung, ist die Entscheidung der Theaterleitung leicht<br />

gefallen. »Denn das LTT ist nicht nur Lieferant von Kreativenergie,<br />

sondern auch ein groSSer Energieverbraucher,« so Intendantin Simone<br />

Sterr. Allerdings ist diese Entscheidung auch mit Mehrkosten für das<br />

LTT verbunden.<br />

Mit der freiwilligen Zahlung von einem Euro mehr pro Theaterkarte<br />

unterstützt das Publikum einen Kulturbetrieb, der nicht nur kulturell<br />

nachhaltig, sondern auch ökologisch nachhaltig agieren möchte.<br />

Der BLAUE EURO, ab sofort an der Theaterkasse!<br />

173_AZ_Kultur_195x140 13.09.2007 17:53 Uhr Seite 1<br />

Sprühen Sie mit uns<br />

vor Energie<br />

– für Kultur und Theater!<br />

Die Stadtwerke Tübingen bieten Ihnen eine sichere<br />

und einfache Stromversorgung. Unser TüStrom ist<br />

die Tübinger Antwort auf umweltbewusste Energieversorgung.<br />

Bis zu 40 Prozent des Tübinger Strombedarfs können<br />

wir selbst produzieren – emissionsarm aus Erdgas,<br />

mit Wasserkraft und Sonnenenergie.<br />

Stadtwerke Tübingen GmbH<br />

Eisenhutstraße 6 | 72072 Tübingen<br />

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