PDF-Datei - Kirchentag 2005
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1. Wie es den Menschen – sei es als einzelnen, sei es als ganzen Völkern oder<br />
Weltreligionen – ergeht, das verdankt sich nicht dem bloßen Zufall. Vielmehr besteht<br />
zwischen dem Tun und dem Ergehen ein Wirkungszusammenhang. Zu allen Zeiten haben<br />
sich Menschen darum bemüht, diesem Zusammenhang genauer nachzuspüren, ihre<br />
Erkenntnis in Erfahrungssätzen festzuhalten und sie an andere, vor allem in der Erziehung,<br />
weiterzugeben. In der Bibel wird man in dieser Hinsicht vor allem in der weisheitlichen<br />
Literatur fündig, insbesondere im Buch der Sprüche und im Buch Jesus Sirach, zwei<br />
biblischen Büchern, die in ihrer lebenspraktischen Bedeutung weithin verkannt und zu<br />
Unrecht vernachlässigt werden:<br />
„Die Hand darauf: Der Böse bleibt nicht ungestraft;<br />
aber der Gerechten Geschlecht wird errettet werden“ (Sprüche 11,21).<br />
„Wer eine Grube macht, der wird hineinfallen;<br />
und wer einen Stein wälzt, auf den wird er zurückkommen“ (Sprüche 26,27).<br />
Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um,<br />
und ein starrköpfiger Mensch nimmt zuletzt ein schlimmes Ende“ (Jesus Sirach 3,27f).<br />
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk;<br />
aber die Sünde ist der Leute Verderben“ (Sprüche 14,34).<br />
Nicht wenige dieser Erfahrungssätze sind in das Sprichwortgut eingegangen. Wenn sie<br />
banal klingen, dann doch nur deswegen, weil wir uns längst an sie als eine<br />
Selbstverständlichkeit gewöhnt haben. Aber hinter dem falschen Schein der<br />
Selbstverständlichkeit steckt ein staunenswerter Tatbestand: Die Welt begegnet uns hier<br />
nicht mehr als blinder Zufall und unerklärliches Widerfahrnis; im Zusammenhang zwischen<br />
Tun und Ergehen sind wir der Ordnung der Welt auf der Spur; die Spruchweisheiten, von<br />
denen ich einige wenige zitiert habe, machen uns zugänglich, wie die Welt „tickt“. Wenn es<br />
richtig zugeht, also wenn die Welt nicht in Unordnung geraten ist, dann können wir uns<br />
darauf verlassen: „Die Hand darauf: Der Böse bleibt nicht ungestraft; aber der Gerechten<br />
Geschlecht wird errettet werden.“<br />
Man darf im übrigen nicht übersehen, daß eine Spruchweisheit wie diese eine geradezu<br />
seelsorgerliche Funktion ausübt. Denn sie kann Menschen aufrichten, die am Erfolg der<br />
Bösen irre zu werden drohen oder unter ihrer Herrschaft zu leiden haben, sie kann die<br />
Gewißheit stark machen: Auch diese Bäume werden nicht in den Himmel wachsen, der Böse<br />
bleibt nicht ungestraft.<br />
Der Kontext, in dem sowohl in der biblischen als auch in der außerbiblischen Literatur<br />
Spruchweisheiten auftauchen, läßt vermuten, daß sie gerade auch in der Erziehung, nicht<br />
zuletzt in der moralischen Erziehung, Verwendung fanden. Denn daran kann kein Zweifel<br />
sein: Spruchweisheiten über den verläßlichen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen<br />
wirken – Kant hin oder her – verhaltenssteuernd. Wer erwarten darf oder erwarten muß, daß<br />
Rechttun belohnt wird, Bosheit sich aber rächt, der wird in seinem Verhalten davon nicht<br />
unbeeinflußt bleiben. In den Evangelien wird an diesen Zusammenhang ganz unbefangen<br />
angeknüpft. Jesus sagt zum reichen Jüngling: „Geh hin, verkaufe, was du hast, und gib's den<br />
Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben“ (Matthäus 19,21; vgl. auch Lukas 12,33).<br />
Das hat aber nicht verhindert, daß in der evangelischen Theologie und Frömmigkeit –<br />
vermutlich unter dem Einfluß einerseits der reformatorischen Rechtfertigungslehre und<br />
andererseits der Kantschen Ethik – ein tiefsitzender Vorbehalt gegen dieses Handlungsmotiv<br />
entstanden ist. Im Maleachibuch werden die Dialogpartner des Propheten mit dem Satz<br />
zitiert: „Es ist sinnlos, für Gott zu arbeiten. Was bringt's, wenn wir uns daran halten, was Gott<br />
will?“ (3,14) Der typische Protestant – wenn es so etwas gibt – faßt diesen Satz mit spitzen<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.