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Neuroleptika für Demenzkranke - Mabuse Verlag

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<strong>Neuroleptika</strong> <strong>für</strong> <strong>Demenzkranke</strong><br />

Risiken und zulassungsüberschreitende Anwendung<br />

Dirk K. Wolter<br />

<strong>Neuroleptika</strong> werden üblicherweise bei der Behandlung von schizophrenen Erkrankungen<br />

oder Psychosen eingesetzt. Seit langem werden diese Medikamente aber auch verordnet,<br />

um Unruhe, Aggressivität, Angst oder Schlafstörungen bei <strong>Demenzkranke</strong>n<br />

günstig zu beeinflussen – nicht ohne Gefahr <strong>für</strong> die PatientInnen.<br />

Wird ein Patient aus dem Krankenhaus entlassen, kommt es immer wieder zu Konflikten um<br />

die weitere medikamentöse Behandlung. Krankenhausärzte neigen dazu, neue teure Arzneimittel<br />

zu verordnen. Ein Grund hier<strong>für</strong> ist die fehlende Kenntnis der Behandlungskosten im<br />

ambulanten Bereich. Meist wissen die KlinikärztInnen nicht einmal über die anfallenden Kosten<br />

in ihrem eigenen Krankenhaus bescheid – und selbst wenn sie es wüssten, ergäbe sich ein<br />

schiefes Bild, weil die Arzneimittelhersteller durch hohe Rabatte dort <strong>für</strong> eine völlig andere<br />

Preissituation sorgen als im ambulanten Bereich.<br />

Der niedergelassene Arzt hingegen sieht sich aufgrund seiner Budgetbegrenzungen<br />

veranlasst, auf die Preise zu achten. Das führt häufig dazu, dass niedergelassene ÄrztInnen die<br />

Entlassungsmedikation des Krankenhauses verändern, teure Medikamente entweder ganz<br />

weglassen (wie etwa Antidementiva) oder aber neue teure Präparate durch alte billige ersetzen<br />

(zum Beispiel Seroquel ® durch Haloperidol).<br />

Off-label-use<br />

Allerdings spielt nicht nur der Preis eine Rolle, sondern auch die Frage, <strong>für</strong> welche Situation<br />

ein Medikament behördlich zugelassen ist („zugelassene Indikation“). Unter off-label-use<br />

versteht man die Verordnung eines zugelassenen Fertigarzneimittels außerhalb des von den<br />

nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Gebrauchs, beispielsweise<br />

hinsichtlich der Anwendungsgebiete (Indikationen), der Dosierung oder der Behandlungsdauer.<br />

Im Deutschen spricht man vom zulassungsüberschreitenden Einsatz oder der zulassungsüberschreitenden<br />

Anwendung von Arzneimitteln.<br />

Die Pharmaunternehmen entscheiden selbst über den Umfang ihrer Zulassungsanträge.<br />

Aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus sind diese oft sehr eng gefasst und Anträge auf<br />

Erweiterung bestehender Zulassungen selten. Ein wichtiger Grund liegt in den hohen Kosten<br />

<strong>für</strong> die geforderten klinischen Prüfungen. Für viele seltene Indikationen ist überhaupt kein<br />

zugelassenes Medikament verfügbar, und in Fachgebieten mit rasch voranschreitender Forschung<br />

hinkt der Zulassungsstatus der Präparate den Therapiestandards weit hinterher. Andererseits<br />

sind die Zulassungen <strong>für</strong> ältere Medikamente aus heutiger Sicht häufig sehr weit und<br />

1


vage formuliert und halten sich nicht – wie heute üblich – an die Einteilung des verbindlichen<br />

Diagnosenkatalogs International Classification of Diseases (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation<br />

(siehe Beispiele in Tabelle 2, Seite 5).<br />

Zum off-label-Einsatz kommt es im Rahmen eines so genannten Heilversuchs, wenn<br />

zugelassene Medikamente unwirksam waren oder nicht vertragen wurden. Auf vielen medizinischen<br />

Gebieten, vor allem in der Kinderheilkunde und in der Onkologie, wird ein Großteil<br />

der Medikamente off-label angewendet. Die behandelnden Ärzte haften in diesem Fall <strong>für</strong> die<br />

medizinische Richtigkeit beziehungsweise <strong>für</strong> eventuelle Nebenwirkungen, während das Haftungsrisiko<br />

des Herstellers vermindert ist. An die Aufklärung der Patienten werden ebenfalls<br />

zusätzlich erhöhte Anforderungen gestellt.<br />

Finanzielle Konsequenzen<br />

Bis hierher gilt die beschriebene Problematik <strong>für</strong> KrankenhausärztInnen und Niedergelassene<br />

gleichermaßen. Ein bedeutsamer Unterschied besteht jedoch in wirtschaftlicher Hinsicht:<br />

Während der off-label-Einsatz im Krankenhaus keine finanziellen Konsequenzen hat, wirkt<br />

sich im ambulanten Bereich aus, dass die Krankenkassen <strong>für</strong> off-label eingesetzte Medikamente<br />

nicht aufkommen müssen. Wenn ein niedergelassener Arzt ein Medikament off-label<br />

verordnet, können ihm die Kosten von seinem Honorar abgezogen werden.<br />

Diese Regelung besteht im Prinzip schon seit langem, allerdings wurde der off-label-<br />

Einsatz in der Vergangenheit häufig toleriert oder schlicht gar nicht nachgeprüft. Krankenkassen<br />

und Kassenärztliche Vereinigungen erhöhen jedoch den Druck: So hat die Kassenärztliche<br />

Vereinigung Bayerns ihre Mitglieder Anfang des Jahres 2008 darauf hingewiesen, dass das<br />

Regressverfahren verschärft und die Beweislast umgekehrt wurde. In der Konsequenz hat der<br />

niedergelassene Arzt nun keine Chance mehr, den Regress in der Erörterung vorher abzuwenden,<br />

sondern er kann nur gegen den bereits durchgeführten Regress klagen und hoffen, dass er<br />

sein Geld nach einem langwierigen und ungewissen Verfahren zurück bekommt 1 . Es liegt auf<br />

der Hand, dass die Bereitschaft, off-label-Verordnungen zu riskieren, dadurch verringert wird.<br />

Die Erstattungsfähigkeit von off-label verordneten Medikamenten durch die Krankenkassen<br />

hat immer wieder auch die Gerichte beschäftigt, bis hin zum Bundessozialgericht<br />

(2002 und 2006) und Bundesverfassungsgericht (2005). Ein wichtiger Gesichtspunkt war dabei<br />

<strong>für</strong> die Gerichte, ob unabhängig von der amtlichen Zulassung Aussicht auf einen Behandlungserfolg<br />

besteht, der wissenschaftlich dokumentiert sein sollte (in der Regel durch wissenschaftliche<br />

Studien), wobei jeder Fall individuell betrachtet werden muss. Die Ärzte Zeitung<br />

hat am 6.9.2006 die Lage in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung folgendermaßen<br />

zusammengefasst:<br />

2


Tabelle 1<br />

Stufen des off-label-use bei fehlender<br />

therapeutischer Alternative<br />

Spürbare positive Einwirkung auf den Krankeitsverlauf<br />

muss absehbar sein<br />

Stufe Schwere<br />

der Erkrankung<br />

1 keine schwerwiegende<br />

Erkrankung<br />

2 schwerwiegende<br />

Erkrankung<br />

3 lebensbedrohende<br />

Erkrankung<br />

off-label-use<br />

kein off-label-use<br />

off-label-use bei begründeter<br />

Erfolgsaussicht<br />

off-label-use auch bei<br />

geringerer Erfolgsaussicht<br />

Quelle: Prof. Christian Dierks, Tabelle: Ärzte Zeitung, 6.9.2006<br />

Wirksamkeit kaum nachweisbar<br />

Off-label-Einsatz von Psychopharmaka findet bei <strong>Demenzkranke</strong>n häufig statt, wenn es um<br />

die Behandlung von „nichtkognitiven Symptomen“ oder „Verhaltensstörungen“ geht (die aktuelle<br />

politisch korrekte Bezeichnung lautet „herausforderndes Verhalten“). Dies soll am Beispiel<br />

von <strong>Neuroleptika</strong> verdeutlicht werden.<br />

Zu dieser Medikamentengruppe gehören klassische konventionelle Präparate wie Haldol<br />

® , Dipiperon ® , Eunerpan ® , Dominal ® oder Ciatyl-Z ® , aber auch neue wie Risperdal ® ,<br />

Zyprexa ® , Seroquel ® , Solian ® oder Abilify ® . Die neuen Substanzen werden häufig als „atypische<br />

<strong>Neuroleptika</strong>“ oder kurz „Atypika“ bezeichnet, im englischen Sprachraum auch als „second<br />

generation antipsychotics“. <strong>Neuroleptika</strong> haben ihren Platz typischerweise in der Behandlung<br />

schizophrener Erkrankungen, aber auch bei Psychosen anderer Art – daher die synonyme<br />

Bezeichnung Antipsychotika.<br />

Diese Medikamente werden seit langem auch eingesetzt, um zum Beispiel Halluzinationen<br />

und Wahn, Unruhe und Aggressivität oder Angst und Schlafstörungen bei <strong>Demenzkranke</strong>n<br />

günstig zu beeinflussen. Die wissenschaftliche Evidenz hier<strong>für</strong> ist gering. Es liegen<br />

nur wenige wissenschaftliche Studien vor, die den heutigen Anforderungen gerecht werden,<br />

besonders <strong>für</strong> einige ältere Substanzen. Wo eine Wirksamkeit nachgewiesen wurde, war sie<br />

gruppenstatistisch nur gering, das gilt <strong>für</strong> die alten und die neuen Substanzen gleichermaßen;<br />

es profitieren offenbar nur Patienten mit sehr ausgeprägter Symptomatik 2 .<br />

3


Gefährliche Nebenwirkungen<br />

Bemerkenswert ist die Situation in Hinblick auf die Sicherheit und Verträglichkeit: Seit 2003<br />

gab es Diskussionen um ein erhöhtes Risiko „zerebrovaskulärer Ereignisse“ wie Schlaganfall<br />

und verwandter Krankheitsbilder. 2004/2005 sorgten entsprechende Warnhinweise der amerikanischen<br />

Food and Drugs Administration (FDA) <strong>für</strong> Verunsicherung. Daneben schickten die<br />

Hersteller von Risperdal ® und Zyprexa ® persönliche, so genannte Rote-Hand-Briefe an ÄrztInnen,<br />

in denen sie auf das erhöhte Risiko von Schlaganfallereignissen speziell bei <strong>Demenzkranke</strong>n<br />

hinwiesen. Für andere der neuen Substanzen brachen Produzenten daraufhin entsprechende<br />

Studien ab oder führten sie erst gar nicht durch.<br />

Es handelt sich offenbar nicht um ein spezielles Problem der neuen teuren Antipsychotika,<br />

sondern es betrifft alle <strong>Neuroleptika</strong>: Ihr Einsatz ist mit Nebenwirkungen und einer erhöhten<br />

Mortalität verbunden 3 , kardiovaskuläre Todesursachen machen etwa die Hälfte der<br />

Todesfälle aus 4 . Eine wesentliche Rolle spielt offenbar die unspezifische Sedierung, die sich<br />

über Aktivitäts- und Mobilitätsreduzierung sowie verminderte Reaktionsfähigkeit auf vielfältige<br />

Weise indirekt auswirken kann (Thrombose, hypostatische Pneumonie, Hypotonie mit<br />

Kollapsneigung oder hämodynamischen Hirninfarkten, Kraftverlust, Sturzgefährdung usw.).<br />

Es werden aber auch Beeinflussungen der Thrombozytenfunktion, anticholinerge Effekte<br />

und Dyskinesien der Atemmuskulatur diskutiert 5 . Mehrere Studien kamen zu dem Ergebnis,<br />

dass die Risiken der alten Antipsychotika mindestens ebenso so groß sind wie die der<br />

neuen, eher noch größer 6 . Deshalb warnte die FDA im Juni 2008 gleichermaßen vor dem Einsatz<br />

von alten wie neuen Antipsychotika bei <strong>Demenzkranke</strong>n 7 . Eine britische Untersuchung<br />

findet jedoch ein deutlich erhöhtes Schlaganfallrisiko bei neuen Antipsychotika im Vergleich<br />

zu den konventionellen bei <strong>Demenzkranke</strong>n 8 , eine aktuelle große Studie zum plötzlichen<br />

Herztod sieht ebenfalls keinen Vorteil bei den neuen Substanzen 9 .<br />

Problematisch an den meisten Studien ist, dass sowohl bei den konventionellen wie<br />

bei den neuen Antipsychotika chemisch sehr verschiedenartige Medikamente zusammengefasst<br />

werden, dass über die zuletzt auf den Markt gekommenen neuen Antipsychotika (fast)<br />

keine Daten vorliegen und dass umgekehrt die internationalen Studien die in Deutschland<br />

häufig verwendeten Substanzen Pipamperon und Melperon überhaupt nicht berücksichtigen 10 .<br />

Verordnungspraxis – alt gegen neu<br />

Die erwähnten Rote-Hand-Briefe lieferten manch niedergelassenem Arzt neben den hohen<br />

Kosten der neuen Antipsychotika eine zusätzliche Begründung da<strong>für</strong>, doch lieber die alten<br />

Substanzen zu verordnen. Schließlich stellt die unterschiedliche Zulassungssituation ein weiteres<br />

Argument <strong>für</strong> dieses Verordnungsverhalten dar. In Tabelle 2 sind einige Antipsychotika<br />

4


mit ihren zugelassenen Indikationen aufgeführt, oben ältere und unten neue Substanzen. (Es<br />

gibt daneben zahlreiche weitere Antipsychotika in Deutschland auf dem Markt, die jedoch <strong>für</strong><br />

unser Thema der Demenzbehandlung nicht so bedeutsam sind.)<br />

Tabelle 2<br />

konventionelle Handelspräparate<br />

(Substanz)<br />

zugelassene Indikationen<br />

Ciatyl-Z ® (Zuclopenthixol) Psychomotorische Erregungszustände und aggressive<br />

Verhaltensweisen bei Demenz<br />

Schizophrenie, Manie, Erregungszustände bei geistiger<br />

Behinderung<br />

Dipiperon ® (Pipamperon) Schlafstörungen, besonders bei geriatrischen Patienten,<br />

Erregungszustände<br />

Dominal ® (Prothipendyl) Unruhe-/Erregungszustände im Rahmen psychiatrischer<br />

Grunderkrankungen<br />

Eunerpan ® (Melperon) Schlafstörungen, Verwirrtheitszustände,<br />

psychomotorische Unruhe, Erregungszustände bei<br />

Oligophrenie, Demenz, Alkoholkrankheit,<br />

besonders im Alter<br />

Haldol ® (Haloperidol) Akute und chronische schizophrene Syndrome, organisch<br />

bedingte Psychosen, akute manische Syndrome, akute<br />

psychomotorische Erregungszustände, Tic-Erkrankungen<br />

neue Handelspräparate<br />

(Substanz)<br />

zugelassene Indikationen<br />

Abilify ® (Aripiprazol) Schizophrenie, Manie<br />

Risperdal ® (Risperidon) Schizophrenie, Manie, Kurzzeitbehandlung – bis zu sechs<br />

Wochen – von anhaltender Aggression bei Patienten mit<br />

mäßiger bis schwerer Alzheimer-Demenz, die auf nichtpharmakologische<br />

Methoden nicht ansprechen und wenn<br />

ein Risiko von Eigen- und Fremdgefährdung besteht.<br />

Seroquel ® (Quetiapin) Schizophrenie,<br />

Manie, Depression bei bipolarer Erkrankung<br />

Solian ® (Amisulprid) Schizophrenie<br />

Zyprexa ® (Olanzapin) Schizophrenie,<br />

(mäßig) schwere Manie, Phasenprophylaxe bipolar, wenn<br />

manische Phase angesprochen hat<br />

Alte und neue <strong>Neuroleptika</strong> und ihre Indikationen<br />

Die hier beispielhaft aufgeführten älteren <strong>Neuroleptika</strong> dürfen also zur Behandlung<br />

von „herausforderndem Verhalten bei Demenz“ eingesetzt werden. Die neuen Antipsychotika<br />

sind hingegen <strong>für</strong> diese Indikation nicht zugelassen. Die einzige (relative) Ausnahme stellt<br />

Risperdal ® dar, zugelassen aber nur bei „anhaltender Aggression“ und in Dosierungen bis zu<br />

5


zwei Milligramm täglich und <strong>für</strong> maximal sechs Wochen. Die Zulassung besteht außerdem<br />

nicht <strong>für</strong> die meisten Risperidon-Generika. Ein niedergelassener Arzt muss also keine Honorarkürzung<br />

be<strong>für</strong>chten, wenn er Haldol ® oder Ciatyl-Z ® verordnet, wohl aber bei der off-label-<br />

Verschreibung von Zyprexa ® oder Seroquel ® .<br />

Dabei werden die neuen teuren Antipsychotika in der Klinik meist mit gutem Grund<br />

verwendet, weil sie nämlich häufig besser verträglich sind, vor allem im Hinblick auf so genannte<br />

extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen („EPS“ oder „EPMS“ – zum Beispiel<br />

Parkinson-Syndrom), aber auch im Hinblick auf Sedierung oder Kreislaufnebenwirkungen.<br />

Dennoch ist generell Vorsicht geboten: wo Wirkung, da auch Nebenwirkung. Mitunter treten<br />

auch unter den neuen Antipsychotika nicht tolerierbare Nebenwirkungen 11 auf und umgekehrt<br />

können auch alte Menschen herkömmliche <strong>Neuroleptika</strong> gut vertragen. Es gilt stets, die Entscheidung<br />

im Einzelfall zu treffen, wobei häufig die Dosierung eine entscheidende Rolle<br />

spielt. Insbesondere aber ist eine sorgfältige und strenge Risikoabwägung unerlässlich: Welche<br />

Gefahren entstehen, wenn die Symptome nicht behandelt werden (Wahn, Angst, Unruhe,<br />

Aggressivität usw.), im Vergleich zum Risiko von Nebenwirkungen, die auftreten können,<br />

aber nicht zwangsläufig auftreten müssen? Selbstverständlich müssen zuvor nichtmedikamentöse<br />

Maßnahmen ausgeschöpft worden sein!<br />

Fazit: Einsatz sorgfältig abwägen<br />

– Antipsychotika können bei „nichtkognitiven Störungen bei Demenz“ hilfreich sein, sie bewirken<br />

aber keine Wunder. Die neuen teuren Antipsychotika („atypische <strong>Neuroleptika</strong>“) sind<br />

wahrscheinlich nicht wirksamer als die älteren.<br />

– Der Einsatz von Antipsychotika bei <strong>Demenzkranke</strong>n kann mit zum Teil schwerwiegenden<br />

Nebenwirkungen verbunden sein. Einige neue Antipsychotika sind höchstwahrscheinlich besser<br />

verträglich, aber es ist nicht sicher, ob dies <strong>für</strong> alle neuen Substanzen gilt. Sie sind vor<br />

allem nicht automatisch „besser“, nur weil sie neu sind.<br />

– Einige ältere Antipsychotika sind <strong>für</strong> die Behandlung von Verhaltensstörungen bei <strong>Demenzkranke</strong>n<br />

zugelassen.<br />

– Neue teure Antipsychotika sind (mit einer relativen Ausnahme) <strong>für</strong> die Behandlung von<br />

herausforderndem Verhalten bei <strong>Demenzkranke</strong>n nicht zugelassen. Sie können nur off-label<br />

eingesetzt werden.<br />

– Diese off-label-Behandlung von schweren Verhaltensstörungen bei <strong>Demenzkranke</strong>n, die<br />

sich anders nicht günstig beeinflussen lassen, erfüllt die Kriterien der Rechtsprechung, weil es<br />

sich um eine schwerwiegende Erkrankung handelt und weil Aussicht auf Erfolg besteht. Voraussetzung<br />

ist aber, dass konventionelle Antipsychotika mit Zulassung aufgrund von Kontra-<br />

6


indikationen von vornherein nicht in Betracht kommen (zum Beispiel Haloperidol bei Parkinson-Syndrom)<br />

beziehungsweise dass sie nicht eingesetzt werden können, weil vorangegangene<br />

Behandlungsversuche wegen intolerabler Nebenwirkungen oder fehlender Wirkung erfolglos<br />

waren.<br />

Die Warnungen vor den Gefahren des Antipsychotikatikaeinsatzes bei <strong>Demenzkranke</strong>n dürfen<br />

keinesfalls dazu führen, pauschal darauf zu verzichten. Allerdings erinnern sie uns daran, dass<br />

diese Medikamente nur gezielt nach individueller Risikoabwägung bei schwerwiegenden<br />

Symptomen verordnet werden dürfen, dass zuvor Ursachen des herausfordernden Verhaltens<br />

angegangen und nichtmedikamentöse Interventionen ausgeschöpft sein müssen. Medikamentöse<br />

Alternativen sollten in Erwägung gezogen werden. Die Anwendung muss zeitlich begrenzt<br />

erfolgen (Absetzversuche), die Therapie muss sorgfältig überwacht werden (zum Beispiel<br />

EKG-Kontrollen). Die Anwendung sollte erfahrenen ÄrztInnen vorbehalten sein!<br />

Anmerkungen<br />

1 Persönliche Mitteilung von in Bayern niedergelassenen Nervenärzten.<br />

Dirk K. Wolter<br />

geb. 1956, ist Chefarzt des Fachbereichs<br />

Gerontopsychiatrie am Inn-Salzach-Klinikum<br />

in Wasserburg am Inn.<br />

dirk.wolter@iskl.de<br />

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7


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http://www.fda.gov/CDER/drug/InfoSheets/HCP/antipsychotics_conventional.htm<br />

(Zugriff 25.1.2009).<br />

Deutsches Ärzteblatt 17.6.2008, e-pub.<br />

8 Douglas I.J., Smeeth L.: Exposure to antipsychotics and risk of stroke: self controlled case<br />

series study. British Medical Journal. 2008 Aug 28; 337: a1227. doi: 10.1136/bmj.a1227.<br />

9 Ray W.A., Chung C.P., Murray K.T., Hall K., Stein C.M. (2009): Atypical antipsychotic drugs<br />

and the risk of sudden cardiac death. The New England Journal of Medicine. 2009 Jan 15;<br />

360(3): 225-35.<br />

10 Ausführliche Darstellung: Wolter D.K. (2009): Risiken von Antipsychotika im Alter, speziell<br />

bei Demenzen. Eine Übersicht. Zeitschrift <strong>für</strong> Gerontopsychologie & -psychiatrie 22(1), 2009,<br />

17-56. Der Artikel steht außerdem unter www.dggpp.de als pdf zum Download zur Verfügung.<br />

11 Die Diskussion um das andersartige Nebenwirkungsspektrum der neuen teuren Antipsychotika<br />

und die damit verbundene Frage, ob in einer Zusammenschau aller positiven und negativen<br />

Aspekte der Fortschritt wirklich so groß ist, wie die Hersteller die Psychiatrie glauben machen<br />

wollen, muss hier ausgespart bleiben. Vgl. z. B. Finzen A.: Der Zeitgeist ist nicht doppelblind.<br />

Über die wechselhafte Bewertung von Psychopharmakawirkungen in fünf Jahrzehnten. Sozialpsychiatrische<br />

Informationen 2/2008, 2-7.<br />

9

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