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BETEILIGUNGEN GESUCHT! - Mabuse Verlag

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54<br />

Buchbesprechungen<br />

Birgitt Morgenbrod,<br />

Stephanie Merkenich<br />

Das Deutsche Rote Kreuz<br />

unter der NS-Diktatur<br />

1933–1945<br />

Nachdem seit Mitte der 1990er Jahre<br />

das Deutsche Rote Kreuz (DRK) mit seinem<br />

humanitären Versagen im Dritten<br />

Reich konfrontiert worden war, initiierte<br />

der damalige DRK-Präsident Knut<br />

Ipsen die nun vorgelegte Studie. Erst 63<br />

Jahre nach Ende des Zweiten Welt krie -<br />

ges und im Zwei-Generati onenabstand<br />

wurde sie möglich. Eine zu lange Zeit<br />

für eine humanitäre Groß organisation.<br />

Die Autorinnen investierten vier Jah -<br />

re in das Projekt, eine lange Zeit spanne,<br />

die belegt, wie schwierig eine derartig<br />

komplex strukturierte Organisation mit<br />

ihren vielfältigen politischen, wohl fahrts -<br />

pflegerischen und militäri schen Ein- und<br />

Verbindungen umfas send historisch zu<br />

erforschen ist. Viel leicht galt es aber auch<br />

heute noch, innerorgani sa torische Rück -<br />

sichten mit den Ergebnissen der histo ri -<br />

schen For schung auszutarieren. Heraus -<br />

gekommen ist ein facettenreiches Buch,<br />

das bereits vorhandenes Wissen erweitert,<br />

und zwar auf Grundlage einer verbreiterten<br />

Quellenlage durch Hinzu -<br />

ziehung von Archiven aus den neuen<br />

Bundes ländern. In der historischen Analyse<br />

offenbaren die Autorinnen aller -<br />

dings interpretatorische Unschärfen und<br />

fallen in einigen wichtigen Punkten hinter<br />

die Ergebnisse der bisherigen wissen -<br />

schaftlichen Diskussion zurück.<br />

Die Kernfragen lauten,<br />

— ob – neben dem unstrittigen humanitären<br />

Engage ment der Mitglieder im<br />

Zweiten Welt krieg – sich das DRK als<br />

Organisation in der Weimarer Republik<br />

dem Nationalsozialismus annäherte;<br />

— ob es sich im Dritten Reich zu einer<br />

nationalsozialistischen (Vorfeld-)Orga ni -<br />

sation transfor mieren ließ;<br />

— ob es sich wissentlich an der Vorberei -<br />

tung und Durchführung des verbre -<br />

cherischen Angriffskrieges betei ligt hat;<br />

— ob es in Völkerrechtsverletzungen<br />

und Verbrechen direkt oder indirekt ein -<br />

gebunden war;<br />

— wie es sich zu seinen eigenen normativen<br />

Idealen verhalten hat;<br />

— ob die Organisationsstruktur der immanenten<br />

Staatsnähe in einer Diktatur<br />

nicht die Korrumpierung för dert und<br />

— wie das DRK bisher mit seiner NS-<br />

Vergangenheit umgegangen ist.<br />

Fragen, die in dem Buch zwar aufgegriffen<br />

werden, deren Beantwortung<br />

aber trotz hinreichender Quellenlage<br />

häufig ne bulös bleibt.<br />

Als erstes fällt der Buchtitel mit einer<br />

strahlenden DRK-Schwester ins Auge,<br />

die unter dem NS-DRK-Symbol einem<br />

verwundeten deutschen Soldaten aufmunternd<br />

die Hand schüttelt. Titel und<br />

Bild suggerieren eine humanitäre Ausrichtung<br />

des DRK bei passiver Einordnung<br />

ins NS-System. Gleiches gilt für<br />

die zahlreichen Fotos im Buch. Weitere<br />

Beispiele seien angeführt: Der Entwicklung<br />

des DRK in der Weimarer Republik<br />

wird zu wenig Raum eingeräumt. So<br />

bleibt die bereits in der Endphase der<br />

Republik eingeleitete Annäherung der<br />

national-konservativen Führungseliten<br />

des DRK an die NSDAP weitgehend unberücksichtigt.<br />

Die circa 200.000 Mann starken DRK-<br />

Sanitätskolonnen und die DRK-Ärzte<br />

wurden seit 1933 vom DRK für den direkten<br />

Kriegssanitätsdienst intensiv ge -<br />

schult. Mit Kriegsbeginn wurden sie der<br />

Wehrmacht als ausgebildete Sa ni täts -<br />

soldaten überstellt. Die Auto rinnen versuchen<br />

aber den Eindruck zu erwecken,<br />

dass das DRK mit der sanitäts taktischen<br />

Kriegsvorbereitung wenig zu tun ge -<br />

habt habe, da diese Personen nicht als<br />

DRK-Mitglieder, sondern als Wehr -<br />

machtsangehörige aktiv am Krieg teil -<br />

ge nom men haben. Die Funktion der zi vi -<br />

len Kriegsvorbereitungen durch das DRK<br />

und seine freiwillige Einbindung in den<br />

zivilmilitärischen Komplex werden nicht<br />

ausreichend ausgeleuchtet.<br />

Die Nationalsozialisten hatten nach<br />

eigenen Worten die Lektion des Ersten<br />

Weltkrieges gelernt. Ein effizientes Sa ni -<br />

tätswesen sollte eigene Verluste redu -<br />

zieren, die Wiedereinsatzfähigkeit verwundeter<br />

Sol daten steigern und so die<br />

Kampfkraft der Wehrmacht anheben.<br />

Außerdem sollten „Kollateralschäden“<br />

auf deutschem Reichsgebiet minimiert<br />

werden. Hierzu war das DRK als mitgliederstarke,<br />

staatsnahe Organisation<br />

mit einer internationalen Reputation ge -<br />

eignet. Damit setzte der bekannte Transformationsprozess<br />

ein, der zur nationalsozialistischen<br />

„Überformung“ und zur<br />

para- und militärischen Monofunktionalisierung<br />

des DRK führte. Das DRK feier -<br />

te dies als Befreiung von Versailler Fesseln<br />

und als ersehnte Rückführung zu<br />

seiner Ursprungsaufgabe. Es verwundert<br />

nicht, dass die Autorinnen nur in<br />

wenigen Zeilen die sehr hohen Zahlen<br />

(bis zu 90 Prozent) von NSDAP-, SS- und<br />

SA-Mitgliedern auf allen Führungsebenen<br />

des DRK darstellen, wie sie die zent -<br />

rale „Dienstaltersliste des DRK“ von 1939<br />

belegt. Interessant wäre noch ein Abgleich<br />

mit der Dienstaltersliste des DRK<br />

von 1942 gewesen.<br />

Ausführlicher wird der Einfluss der<br />

SS innerhalb des DRK vorgestellt, mit<br />

dem Ergebnis, dass führenden Repräsentanten<br />

des NS-Regimes eine Doppelbindung<br />

an NS-Staat und DRK attestiert<br />

wird, die für das DRK einen politischen<br />

Spielraum eröffnet hat; so dem ge -<br />

schäftsführenden DRK-Präsidenten Ernst<br />

Grawitz, Reichsarzt der SS, oder dem<br />

DRK-Generalhauptführer Oswald Pohl,<br />

Chef des SS-Wirtschafts- und Verwaltungs<br />

hauptamtes, oder dem DRK-Generalführer<br />

Karl Gebhardt, Leibarzt<br />

Heinrich Himmlers und vieler anderer<br />

höchs ter NS-Vertreter. Unberücksichtigt<br />

bleibt dabei, dass dies im polykratischen<br />

NS-System angelegt und nichts Außer -<br />

gewöhnliches war. Wenn allerdings<br />

Prinzipien der NS-Ideologie tangiert wurden,<br />

hatten die Vorgaben von Staat und<br />

Partei auch beim DRK höchste Priorität.<br />

Die Funktion des DRK beziehungsweise<br />

des Internationa len Komitees vom<br />

Roten Kreuz (IKRK) bei den mehrfachen<br />

Irreführungen der nationalen und<br />

internationalen Öffentlichkeit bezüglich<br />

der NS-Konzentrationslager und des Völ -<br />

kermordes an Juden, Homosexuellen,<br />

Sinti und Roma, ausländischen Kriegsgefangenen<br />

und anderen hätte tiefer<br />

diskutiert werden können und müssen,<br />

auch wenn dieses beschämende und in<br />

meinen Augen zentrale Versagen bereits<br />

von anderen Autoren ausführlich<br />

be leuch tet wurde.<br />

Ganz unberücksichtigt bleiben die<br />

Nachkriegszeit und die über 60 Jahre<br />

andauernde Vertuschung und Verharmlosung<br />

der eigenen Vereinsgeschichte<br />

durch das DRK. Zu oft und zu tief waren<br />

einflussreiche Mitglieder in die Machenschaften<br />

des Dritten Reiches verstrickt,<br />

als dass zuvor die Kraft zur reflektierenden<br />

Aufarbeitung aufgebracht worden<br />

wäre. An der „Humanität im Stahlge-<br />

Dr. med. <strong>Mabuse</strong> 179 · Mai /Juni 2009


witter von Stalingrad“ und anderswo<br />

durfte nicht gezweifelt werden. Im Vor -<br />

dergrund standen daher Erzählungen<br />

über humanitäres Engagement einzelner<br />

Mitglieder im Krieg und die unbestreitbaren<br />

Verdienste beim Aufspüren<br />

von Gefallenen und bei der Zusammenführung<br />

von Familien in der Nach -<br />

kriegszeit. So konnte vom Versagen der<br />

Gesamt organisation ablenkt werden.<br />

Wen interessierte da noch, wie sich das<br />

DRK im Dritten Reich verhalten hatte<br />

oder dass NS-Chargen in der Nach kriegs -<br />

phase mit Rotkreuzhilfe ins Ausland flie -<br />

hen konnten?<br />

Das DRK und auch das IKRK werden<br />

durch ihr unrühmliches Verhalten in der<br />

NS-Zeit belastet. Seit langem ist es überfällig,<br />

dass das DRK seine Last anerkennt<br />

und aus ihr die Lehren zieht. Ein erster<br />

Schritt in die richtige Richtung wurde<br />

vom DRK-Präsidium mit diesem Buch<br />

unternommen. Man darf gespannt sein,<br />

welche Wirkung es ver einsintern und<br />

wissenschaftlich entfaltet. Bleibt es bei einer<br />

bloßen Besichtigung der Vergangenheit<br />

oder wird eine breite vereinsinterne<br />

Aufarbeitung eingeleitet, die zu einer<br />

glaubwürdigen Entschul digung führt?<br />

Es ist der Rot kreuzbewegung zu wünschen,<br />

dass sie endlich die Kraft dazu<br />

aufbringt.<br />

Dr. med. Horst Seithe,<br />

Historiker, Facharzt für Kinder- und<br />

Jugendmedizin, Oberarzt am Zentrum<br />

für Neugeborene, Kinder<br />

und Jugendliche am Klinikum<br />

Nürnberg Süd<br />

Dr. med. <strong>Mabuse</strong> 179 · Mai /Juni 2009<br />

Schöningh <strong>Verlag</strong>,<br />

Paderborn 2008,<br />

483 Seiten,<br />

39,90 Euro<br />

Hartmut Reiners<br />

Mythen der<br />

Gesundheitspolitik<br />

Bereits auf den ersten Seiten entlarvt<br />

Harmut Reiners, dass es sich bei Behauptungen<br />

über ein angeblich kran kes,<br />

nicht mehr zu bezahlendes und von<br />

kollektiver Verantwortungslosig keit ge -<br />

prägtes Gesundheitswesen um ein gera -<br />

dezu rituelles Wiederkäuen suggestiver<br />

Bilder und griffiger Parolen handelt.<br />

Dabei ahnen die Phrasendre scher meist<br />

gar nicht, dass sich hinter den Phrasen<br />

handfeste ökonomische Interessen verbergen.<br />

Etwas lautstark zum Thema machen,<br />

viel Aufregung mit einer Nachricht er -<br />

zeugen: Dafür kennt das Deutsche eine<br />

Redensart, die Hartmut Reiners im Zuge<br />

seiner langjährigen Beobachtungen ein<br />

wenig abwandelt: „Eigentlich hatte ich<br />

gedacht, in dieser Hinsicht al les erlebt<br />

zu haben und jedes der Bors tentiere zu<br />

kennen, die in regelmäßigen Abständen<br />

mit neuem Anstrich durchs gesundheits<br />

politische Dorf getrieben wer den.“<br />

Doch die Diskrepanz zwischen den fachlichen<br />

Aspekten der Einfüh rung des<br />

Gesundheitsfonds und dem Duktus der<br />

darüber geführten öffentlichen Debatte<br />

hielt selbst für ihn, den „alten Fahrensmann“,<br />

noch Überraschungen bereit.<br />

Aufgrund seiner Fähigkeiten, das mit<br />

den Reformen im Gesundheitswesen<br />

verbundene „öffentliche Theater“ und<br />

dessen komplexe politisch-ökonomi sche<br />

Hintergründe zu erklären, wurde Hartmut<br />

Reiners aufgefordert – und seiner<br />

Darstellung nach „von langjährigen Weg -<br />

gefährten aus dem Gesundheitswesen<br />

und der Gesundheitswissenschaft ge -<br />

drängelt“ –, seine Erklärungen einmal<br />

umfassend zu Papier zu bringen. Er hat<br />

die „Top Ten“ der My then in der Gesundheitspolitik<br />

herausgegriffen und<br />

durchleuchtet sie jeweils in eigenstän -<br />

dig lesbaren Kapiteln.<br />

„Kostenexplosion“ (Mythos eins), die<br />

„Lohnnebenkosten – Gefahr für den<br />

Standort Deutschland“ (Mythos zwei),<br />

die „Überforderung des Solidarsystems<br />

durch die alternde Gesellschaft“ (My -<br />

thos drei) oder Mythos zehn, die „Kran -<br />

kenversicherungs-Reform aus einem<br />

Guss“, gehören dazu. In der Einleitung


56<br />

Buchbesprechungen<br />

werden den Mythen jeweils Gegenthesen<br />

entgegengesetzt, so zum Beispiel dass<br />

die mit der demografischen Ent wick lung<br />

einhergehenden Probleme des Systems<br />

der Gesetzlichen Krankenversicherung<br />

ohne übermäßige Belastung der erwerbs -<br />

tätigen Generation bewältigt werden<br />

könnten, vorausgesetzt normale Alte -<br />

rungs prozesse würden nicht in behandlungsbedürftige<br />

Krank heiten um de fi -<br />

niert beziehungsweise medikalisiert und<br />

vorausgesetzt es gäbe eine solidarische<br />

Umlagenfinanzierung auf brei terer Basis.<br />

Solche Gegenthesen werden beim ein -<br />

gehenden Zurechtrü cken der My then<br />

überzeugend mit Material belegt.<br />

Wären diese Mythen offene Lügen,<br />

wären sie sehr schnell und einfach mit<br />

Fakten zu widerlegen. Es sind jedoch<br />

Halbwahrheiten, die beim Einsatz der –<br />

in der Ge sundheitspolitik in besonde -<br />

rem Maß gepflegten – „hohen Kunst des<br />

Werfens ideologischer Nebelkerzen und<br />

des Täuschens mit Hilfe von scheinbaren<br />

Fakten“ formuliert werden. Oder es han -<br />

delt sich eben um „Bullshit“: Der ame -<br />

rikanische Philosoph Harry G. Frank furt<br />

hat diesen so umschrieben: „Obwohl der<br />

Bullshit ohne Rücksicht auf die Wahr -<br />

heit produziert wird, muss er durch aus<br />

nicht unwahr sein. Der Bullshiter fälscht<br />

Dinge. Aber das heißt nicht, dass sie<br />

zwangsläufig falsch sind.“<br />

Also macht sich Hartmut Reiners da -<br />

r an, die Dinge vom Kopf auf die Füße<br />

zu stellen. Er macht dies mit großer ge -<br />

sund heitspolitischer Sachkenntnis, her -<br />

vorragendem politischen Einschät zungs -<br />

vermögen (das auch aus Werkstattkennt -<br />

nissen der Gesundheitspolitik stammt;<br />

hauptamtlich ist der Autor Re fe rats lei ter<br />

im Brandenburger Gesundheitsministe -<br />

rium), fundierter ökono mischer Theorie<br />

sowie einer großen Lust an präzisen und<br />

scharfen, manchmal auch ironisch-sarkastischen<br />

Formulierungen. (Für die es<br />

Vorbilder gibt: „Auch mit Unwirt schaft -<br />

lichkeit kann man quantitatives wirtschaftliches<br />

Wachstum fördern, wenn<br />

man es zum Selbstzweck macht, wie<br />

wir spätestens seit Keynes’ ironischem<br />

Hinweis auf den Pyramidenbau als Jobmaschine<br />

wis sen.“) Zu Höchstform läuft<br />

der Autor immer dann auf, wenn er die -<br />

se Elemen te zu Ideologiekritik (vor al lem<br />

an den „Wettbewerbstheologen“) bündelt.<br />

Daher legt man das Buch nach dem<br />

Aufschlagen nur ungern wieder aus der<br />

Hand. Dass verwendete Texte und Studien<br />

(entgegen deutschen Lesegewohnheiten)<br />

weitgehendst abgesondert in<br />

einem Literaturverzeichnis zitiert werden,<br />

kommt der Lesbarkeit zugute. Den<br />

Lesern sei versichert, dass die Lektüre<br />

nicht nur Fakten und Lesegenuss, sondern<br />

auch Einsichten vermittelt in die<br />

Mechanismen eines „von großen Inte -<br />

ressengegensätzen und widersprüchlich -<br />

en Kompromissen geprägten Politikfel -<br />

des, bei dem sich aus jeder abge schlos -<br />

se nen Reform bereits die Kontu ren der<br />

nächsten abzeichnen“.<br />

Thomas Elkeles,<br />

Professor für Sozialmedizin<br />

und Public Health an der<br />

Hochschule Neubrandenburg<br />

Katrin Rohnstock (Hrsg.)<br />

Hans Huber <strong>Verlag</strong>,<br />

Bern 2009, 263 Seiten,<br />

19,95 Euro<br />

Am Ende meines Lebens<br />

Menschen über 80 erzählen<br />

Anfangs sind die Lebenserinnerungen<br />

scheinbar nichts Besonderes. Wie alle<br />

anderen wurden die Erzählenden geboren,<br />

haben gelebt und werden sterben.<br />

Aber dann sind da die berührenden Sät -<br />

ze von Richard Platz, Jahrgang 1919,<br />

über sich und seine Frau Eva: „Die Anlage<br />

ist sehr hübsch gestaltet. Dort sollen<br />

unsere beiden Urnen neben einander<br />

stehen.“ Ergreifend ist dieser Wunsch<br />

deshalb, weil er zeigt, dass er sich um die<br />

Zweisamkeit auch nach dem Tod kümmert.<br />

Jede/r einzelne der neun Männer und<br />

sechs Frauen erzählt über das all täglich<br />

Banale hinaus ein ganz eigenes, blei ben -<br />

des Ich, das reif und verantwortungsvoll<br />

mit dem Thema Sterben und Tod umgeht.<br />

Hin- und hergerissen zwi schen<br />

Dr. med. <strong>Mabuse</strong> 179 · Mai /Juni 2009


Ratgeber im <strong>Mabuse</strong>-<strong>Verlag</strong><br />

Jürgen Zulley, Barbara Knab<br />

Unsere Innere Uhr<br />

Natürliche Rhythmen nutzen und der<br />

Non-Stop-Belastung entgehen<br />

Der Mensch verfügt über eine<br />

Innere Uhr, die nie unbeteiligt bleibt,<br />

wenn wir unser Leben umorganisieren.<br />

Ändern sich äußere Rhythmen,<br />

so irritiert es sie nur für kurze Zeit.<br />

Langfristig passt sie sich an, sobald<br />

die äußeren Bedingungen wieder<br />

stabil sind. Wenn wir uns jedoch immer<br />

wieder über sie hinwegsetzen,<br />

dann können wir krank werden. Das<br />

Buch zeigt, wie wir Chronobiologie<br />

nutzen und gesund bleiben können.<br />

223 Seiten, 12,90 Euro<br />

ISBN 978-3-940529-32-9<br />

Jürgen Zulley, Barbara Knab<br />

Wach und fit<br />

Mehr Energie, Leistungsfähigkeit<br />

und Ausgeglichenheit<br />

Die Tageszeit, die Tätigkeit in der<br />

Zeit zuvor, die Schlafqualität der vorangegangenen<br />

Nacht oder diverse<br />

Wirkstoffe beeinflussen, wie wach<br />

und fit wir zu einem bestimmten<br />

Zeitpunkt sind. Das bewährte AutorInnenduo<br />

gibt Rat, wie man tagsüber<br />

wacher und aktiver sein kann.<br />

157 Seiten, 12,90 Euro<br />

ISBN 978-3-940529-33-6<br />

<strong>Mabuse</strong>-<strong>Verlag</strong><br />

Postfach 90 06 47<br />

60446 Frankfurt am Main<br />

Tel.: 069-70 79 96-16<br />

Fax: 069-70 41 52<br />

www.mabuse-verlag.de<br />

Dr. med. <strong>Mabuse</strong> 179 · Mai /Juni 2009<br />

Bleibenwollen und Ge henmüs sen, zwi -<br />

schen Festhalten und Loslassen schil -<br />

dern die alten Menschen authentisch<br />

ihre Abschiedsvorbereitungen und wie<br />

es ihnen gelingt, mit dem Wissen um<br />

den unabänderlichen Tod jeden Tag vol -<br />

ler Dankbarkeit zu genießen.<br />

Manche Wünsche und Gedanken<br />

der Befragten treiben einem in ihrer<br />

Schlichtheit die Tränen in die Augen.<br />

Etwa, wenn Gerhard Birkenfeld darüber<br />

sinniert, ob sein Leichnam verbrannt und<br />

in seinem Garten unter seinem Lieb -<br />

lings baum verstreut werden soll. „Dort<br />

steht eine fünfzehn Meter hohe Birke,<br />

die ich 1989 selbst gepflanzt habe. Ich<br />

umarme sie jeden Tag.“ Und Antoinette<br />

Kratzer, Jahrgang 1915: „Ich habe noch<br />

einen Wunsch. Ich möchte gern noch<br />

mal in der Ostsee waten.“ Oder auch<br />

Walter Marschik, Jahrgang 1923, der be -<br />

kennt: „Wünsche gibt es immer, so alt<br />

man auch ist. Ich würde gern noch einmal<br />

eine Frau lieben.“<br />

Wie unterschiedlich die Lebenswege<br />

der Alten auch gewesen sein mögen –<br />

ob er während des Krieges als Mitglied<br />

der Waffen-SS Schuld auf sich geladen<br />

hat, als Häftling Auschwitz überlebte, sie<br />

von russischen Soldaten vergewaltigt<br />

wurde oder als Opernsängerin 1956 aus<br />

der DDR in den Westen floh – ihnen<br />

allen ist eines gemeinsam: Sie wollen in<br />

Frieden und Würde sterben.<br />

Das Buch bezeugt eindrücklich, dass<br />

vor dem Tod alle gleich sind, niemand<br />

weiß, was ihn zum Schluss erwartet. Jeder<br />

findet andere Strategien, diesen Tat -<br />

sachen zu begegnen. Die einen arbei ten<br />

noch tüchtig im Garten oder suchen<br />

sich aufreibende gesellschaft li che Aufgaben,<br />

die anderen sprechen vor dem<br />

Einschlafen mit den Verstorbenen, die<br />

nächsten entwickeln philoso phische The -<br />

orien oder wenden sich hingebungsvoll<br />

den Enkelkindern zu. Es sind einzelne<br />

Sätze, die lange in Erinnerung bleiben.<br />

Wie der von Johanna Biesel, Jahrgang<br />

1916: „Der Sinn des Lebens ist wohl das<br />

Leben selbst!“ oder jener: „Ohne Liebe<br />

nimmt jeder Tag mehr, als er gibt.“ von<br />

Magda Egressy, Jahrgang 1920. Es mag<br />

trivial klingen, aber es sind wohl diese<br />

Einsichten und Lebensweisheiten, die<br />

nach über 80 Jahren bleiben. Die Alten<br />

sagen ihre Wahrheit, so wie sie Wahr -<br />

heit in diesem Moment empfinden. Man<br />

bekommt während des Lesens „die<br />

Möglichkeit, den eigenen Tod zu be-<br />

Buchbesprechungen 57<br />

denken, ja einzuüben“, wie Gerhard<br />

Wilm, Jahr gang 1913, meint.<br />

Der Versuch, den Tod ins Auge zu<br />

fassen, die damit verbundenen Ängste<br />

anderen mitzuteilen und ihnen da durch<br />

zu helfen, sich mit dem Gedanken vertraut<br />

zu machen, das ist das Verdienst<br />

dieser erzählenden, alten Menschen.<br />

Ulrike Hempel,<br />

Journalistin in Berlin<br />

Barbara Budrich <strong>Verlag</strong>,<br />

Leverkusen 2008,<br />

242 Seiten, 17,90 Euro<br />

Landesarchiv Baden-Württemberg,<br />

Staatsarchiv Ludwigsburg (Hrsg.)<br />

Das schöne Bild<br />

vom Wahn<br />

Weinsberger Patientenfotografien<br />

aus dem frühen 20. Jahrhundert<br />

Der Titel wirkt zunächst als Provokation.<br />

Denn wer vermag, in den Anfang<br />

des 20. Jahrhunderts in Lehrbüchern,<br />

Zeitschriften oder Akten veröffentlichten<br />

Fotografien psychiatrischer Patienten<br />

„schöne Bilder“ zu entdecken? Die<br />

An stalts fotografie erfüllte ihren hauptsächlichen<br />

Zweck in dem Versuch der<br />

Sichtbarmachung und Klassifizierung der<br />

Geisteskrankheiten. Das Kranke, Absto -<br />

ßende, Hässliche prägte die Bild archive<br />

der Psychiatrie, die sich wenige Jahre<br />

später in den Dienst der Rassenlehren<br />

und der nationalsozialistischen „Eutha -<br />

nasie“ stellten.<br />

Dieser Nutzung der Fotografie in der<br />

Psychiatrie fügt der Katalog eine neue,<br />

faszinierende Facette hinzu. Die Quelle<br />

dieser Publikation bildet eine Sammlung<br />

mit Fotografien aus der Heilanstalt<br />

Weins berg bei Heilbronn. Die Sammlung<br />

umfasst mehr als eintausend Negativ-<br />

Glasplatten und Abzüge, die zwi schen


58<br />

Buchbesprechungen<br />

1904 und 1918 in Weinsberg entstanden<br />

sind. Überliefert sind Porträts – hauptsächlich<br />

von Patienten, aber auch vom<br />

Personal.<br />

Die Königliche Heilanstalt Weinsberg<br />

war 1903 als erster Anstaltsneubau in<br />

Württemberg eröffnet worden und orientierte<br />

sich sowohl hinsichtlich ihrer<br />

baulichen und materiellen Ausstattung<br />

als auch des therapeutischen Konzeptes<br />

an den seinerzeit modernen Konzepten<br />

in der Psychiatrie. Ihr Gründungsdirektor<br />

Paul Kemmler ließ eine Kamera anschaffen,<br />

„verwendbar für Visite, Standund<br />

Brustbilder“. Dieser Aktenvermerk<br />

verweist auf den Zweck der um die Jahr -<br />

hundert wende in vielen psychi atri schen<br />

Anstalten eingesetzten Fotografie: Sie<br />

sollte der Dokumentation in den Patien -<br />

tenakten dienen und der Wissenschaft<br />

zur Verfügung stehen. Denn die Physio<br />

gnomie, die Mimik und das Gesicht galten<br />

als Ausdruck der Pathologie der Patienten.<br />

Paul Kemmler hat selbst den Groß -<br />

teil der Fotografien angefertigt und da -<br />

bei eine erstaunliche Qualität erreicht.<br />

Bernd Stumpfhaus, der für den Katalog<br />

verantwortlich zeichnet, beschreibt in<br />

seinem Beitrag Kemmlers Oeuvre, das<br />

sich in handwerklicher wie ästhetischer<br />

Hinsicht von der herkömmlichen An -<br />

staltsfotografie unterscheidet. Zwar hat<br />

auch Kemmler Patienten für die Kran -<br />

kendokumentation fotografiert und teilweise<br />

Vergrößerungen angefertigt, die<br />

wahrscheinlich für Lehrzwecke genutzt<br />

wurden. Doch in dem überlieferten Bestand<br />

finden sich auch Bildserien, die<br />

an eine klassische Fotosession erinnern.<br />

Ausführlich beschreibt Stumpfhaus un -<br />

ter anderem die Porträts der Patientin<br />

Wilhelmine J. Durch die Komposition<br />

der Fotos und die Vari ation der Posen<br />

der Porträtierten werden unterschied -<br />

liche Charaktermerkmale des Modells<br />

hervorgehoben. Bei anderen Porträts ar -<br />

beitet Kemmler mit Raum oder Hintergrund.<br />

Häufig setzt er Patienten bei der<br />

Arbeit oder einer Beschäftigung in Sze -<br />

ne. Alltagskleidung betont Normalität.<br />

Kemmler versuchte, so schlussfolgert<br />

Stumpfhaus, durch die jeweilige In -<br />

szenierung das Modell ästhetisch zu<br />

cha rakterisieren. Dem Psychiater und<br />

Foto grafen sei es um eine ganzheitliche<br />

Ausdrucksweise gegangen. Damit habe<br />

er die ganze Persönlichkeit des Menschen<br />

zu erfassen versucht.<br />

Die Weinsberger Patientenfoto gra fien<br />

verleihen den Porträtierten Anmut und<br />

Würde. Mit seinem einfühlsamen Blick<br />

entfernte sich Kemmler von der zeitge -<br />

nös sischen Anstaltsfotografie, bei der der<br />

Patient das Objekt und die Projektionsfläche<br />

des foto grafierenden Arztes war<br />

und das ästhe tische und charakterliche<br />

Gegenbild zum gesellschaftlichen Wertekanon<br />

bil dete. Paul Kemmler strebte<br />

nach dem „schönen Bild“, schön im Sin -<br />

ne der Charakterwahrheit des Originals.<br />

Thomas R. Müller,<br />

Leiter des Sächsischen Psychiatriemuseums<br />

in Leipzig<br />

Kohlhammer-<strong>Verlag</strong>,<br />

Stuttgart 2008,<br />

178 Seiten, 18 Euro<br />

Kati Mozygemba, Sarah Mümken,<br />

Ulla Krause u. a. (Hrsg.)<br />

Nutzerorientierung –<br />

ein Fremdwort<br />

in der Gesundheitssicherung?<br />

Das Buch ist im Rahmen eines von<br />

der Hans Böckler Stiftung an der Universität<br />

Bremen geförderten Promoti ons -<br />

kol legs entstanden. Es trägt im Titel das<br />

Wort „Nutzerorientierung“, aber erst re -<br />

la tiv spät, nämlich auf Seite 67 wird die<br />

allgegenwärtige und immer wieder erwähnte<br />

Definition von „Nutzer“ zitiert,<br />

wie sie der Sachverständigenrat Ge sundheit<br />

in seinem Gutachten 2000/ 2001<br />

formuliert hat. Danach ist der Nutzer<br />

jeder, „der Zugang zum ge sund heit li -<br />

chen Versorgungssystem hat, un ge ach tet<br />

dessen, ob dieser Zugang aktuell ge -<br />

nutzt wird oder nur fakultativ besteht.“<br />

Es kann sicherlich mit Recht gefragt<br />

werden, ob in dieser Definition der Begriff<br />

Nutzerin beziehungsweise Nutzer<br />

ausreichend differenziert ist, um den<br />

Dr. med. <strong>Mabuse</strong> 179 · Mai /Juni 2009


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verschiedenen Rollen gerecht zu werden,<br />

die ein Mensch in unserem Gesund heits -<br />

system einnehmen kann. PatientIn nen<br />

verhalten sich in den meisten Fäl len anders<br />

als Versicherte, die nicht von<br />

Krankheit belastet sind: Die einen wünschen<br />

sich nichts mehr als Hilfe und<br />

verlieren daher zu einem gewissen Teil<br />

ihre sonst erkennbare Autonomie und<br />

Souveränität, die ande ren haben das<br />

Privileg, sich unbelastet mit den Strukturen<br />

und Angeboten unseres Gesundheitssystems<br />

auseinander zusetzen. Es ist<br />

sicherlich von Wert, diese unterschied -<br />

li chen Rollen herauszuarbeiten und unter<br />

diesem Blickwinkel zu prüfen, ob<br />

„Nutzerorientierung“ wirklich ein Fremd -<br />

wort in der Gesundheitssicherung ist.<br />

Zutreffend ist daher ohne Zweifel das<br />

Zitat aus einer Publikation aus dem Jahr<br />

2003 („Patienten, Versicherte, Bürger –<br />

die Nutzer des Gesundheitswesens“ von<br />

Marie-Luise Dierks und Friedrich-Wilhelm<br />

Schwartz; S. 68 des vorlie genden<br />

Buches): „Die Rollen von Nut zern im Gesundheitswesen<br />

bewegen sich im Spannungsfeld<br />

zwischen Paternalismus und<br />

Autonomie, zwischen Sozialstaat und<br />

freiem Markt, zwischen Ausschluss und<br />

Partizipation, zwischen Passivität und<br />

En gagement, zwischen Nicht-Wissen<br />

und Expertenschaft, zwi schen Verschlei -<br />

erung und Trans parenz und nicht zuletzt<br />

zwischen Ignoranz und Unterstützung.“<br />

Dieses Spannungsfeld hätte das Thema<br />

des Buches sein können und sollen, es<br />

wird aber nur bedingt aufgenommen.<br />

Der Diskurs bleibt in vielen der Beiträge<br />

ausgesprochen theoretisch und ich ha -<br />

be mich in manchen Beiträgen gefragt,<br />

ob die eher selbstreferenzielle Darstellung<br />

wirklich etwas mit einer „belastbaren<br />

Empirie“, auch mit Blick auf die<br />

NutzerInnen, zu tun hat. So zum Beispiel<br />

in dem Bei trag von Werner Vogd,<br />

in dem zwar die Konsequenzen der<br />

DRGs im Krankenhaus nicht falsch,<br />

wenn auch öko nomisch und organi sa -<br />

torisch ver engt beschrie ben werden, in<br />

dem jedoch jegliche Hinweise auf Kapa -<br />

zitäten in der Krankenhausversor gung<br />

und die aus meiner Sicht sinn vollen<br />

neuen Informations- und Feh ler kul tur -<br />

systeme ausgeblendet werden, die den<br />

NutzerInnen eine Hilfe sein können.<br />

Das Buch bleibt in vielen Bereichen<br />

unverständlich empirielos. Dabei gäbe<br />

es viele Beispiele aus der medizinischen<br />

Versorgung, die für den Nachholbedarf<br />

Buchbesprechungen 59<br />

der Nutzerorientierung herangezogen<br />

werden könnten und auch Hinweise für<br />

einen gewissen Fortschritt bieten, mit<br />

Blick auf die neuen Versorgungsstrukturen<br />

in unserem System – angefangen<br />

von integrierter Versorgung („Gesundes<br />

Kinzigtal“) bis hin zu Medizinischen<br />

Versorgungszentren (Polikum in Ber lin).<br />

An einer Bewertung solch neuer Versorgungsstrukturen,<br />

die zumindest in dem<br />

einleitenden Beitrag von Tho mas Gerlinger<br />

vorgestellt werden, hätte aus meiner<br />

Sicht mit sehr viel Differenziertheit eine<br />

Nutzerorientierung unseres Systems ge -<br />

zeigt werden können, um die Frage zu<br />

beantworten, ob wir in einem eher anbieter-<br />

oder nutzerorientierten Gesund -<br />

heitssystem leben. Dies gelingt sehr gut in<br />

den Beiträgen von Christoph Kra nich,<br />

Gerd Glöckenjahn oder im ge sam ten<br />

Kapitel „Frauen und Gesundheit“ mit<br />

Bei trägen von den Kolleginnen Petra<br />

Ko lip, Regina Stol zenberg und Birgit<br />

Babitsch.<br />

Zudem hätte ich mir einen Beitrag mit<br />

Pro und Contra zur Patientenuniversität<br />

gewünscht, die von Marie-Luise Dierks<br />

in Hannover etabliert wurde. Um es ein -<br />

mal überspitzt zu sagen: Sind „Diplom-<br />

Patienten“ wirklich in der La ge, unser<br />

System, wo nötig, in Richtung Nutzer -<br />

orientierung zu verändern? Oder hilft<br />

da nur der zutreffende Titel eine Buches<br />

von Hans-Ulrich Deppe, auch Autor eines<br />

Beitrags im vorliegenden Buch, „Ge -<br />

sundheit ist ohne Politik nicht machbar“?<br />

Hilft vielleicht ein so wohl als auch?<br />

Gesundheit ist auch oh ne Bildung<br />

nicht machbar. Die muss sich aber vor<br />

allem darauf konzentrie ren, die benachteiligten<br />

Gruppen in unserer Ge sell schaft<br />

zu erreichen. Die Mitnahmeeffek te der<br />

Mittel- und Oberschicht werden bemerkenswert<br />

selten erwähnt, obwohl diese<br />

sich noch immer Vorteile verschaffen<br />

konnten und auch Angebo te etwa im<br />

Bereich der Prävention in Anspruch<br />

nehmen, die sie gut und gerne selber finanzieren<br />

könnten und die für die unteren<br />

sozialen Schichten sehr viel not -<br />

wendiger wären. Dafür geht es häufig<br />

um Kunden und Dienst leis tungs märkte<br />

mit Blick auf die euro päische Ebene,<br />

zum Beispiel bei der Kostenerstat tung<br />

ambulanter oder stationärer Auslandsbehandlungen<br />

(etwa in dem Bei trag von<br />

Rolf Schmucker). Auch hier hätte ich<br />

mir mehr Empirie für die bundesdeut -<br />

sche Situation ge wünscht.


60<br />

Buchbesprechungen<br />

Seltsam unberücksichtigt bleiben übri -<br />

gens die neuen Gutachten des Sach ver -<br />

ständigenrates, der doch in den Gut ach -<br />

ten 2003, 2005 und 2007 ausgesprochen<br />

viele „fortgeschriebene“ Bei spiele für die<br />

von ihm geforderte Nutzer orientierung<br />

vorstellt – sowohl positive wie negative.<br />

Solche Beispiele, wie Qualitäts- und Patientensicherheitsin<br />

dikatoren (siehe Gut -<br />

achten 2007) hätten dem Buch im Sinne<br />

einer weiterführenden Diskussion gut<br />

getan.<br />

In der Palliativmedizin (Beitrag von<br />

Glöckenjahn, S. 121) und in der betrieb -<br />

lichen Gesundheitsförderung (Beitrag<br />

von Wieland und Hammes, S. 177) wird<br />

der ursprünglich aufgeworfenen Frage<br />

„Nutzerorientierung – ein Fremdwort?“<br />

am dezidiertesten nachgegangen. Das<br />

Fazit: In diesem Bereich ist die Nutzer -<br />

orientierung kein Fremdwort. Nach dem<br />

Lesen vieler anderer Beiträge bleibt man<br />

dagegen fragend, manchmal enttäuscht<br />

zurück, weil die Standpunkte, wenn<br />

auch auf hohem intellektuellen Niveau,<br />

oftmals allerdings in einer „verquasten“<br />

Semantik, unklar bleiben und wenig<br />

strukturiert sind. Hinzu kommt eine in<br />

manchen Teilen erkennbar mangelhafte<br />

re daktionelle Betreuung: So wird in<br />

man chen Beiträgen (vor allem ab S. 65)<br />

das große „I“ etwa bei NutzerIn konsequent<br />

ausgelassen, obwohl es sich kei -<br />

nes wegs nur um Frauen handelt, die dort<br />

angesprochen werden, und beim abschließenden<br />

Beitrag von Kieselbach<br />

wird in der Kopfzeile nicht, wie üblich,<br />

auf den Titel des Beitrags hinge wiesen,<br />

sondern auf die Zusammenstellung der<br />

Heraus geberInnen.<br />

Das Buch bietet also eine Reihe sehr<br />

le senswerter und anspruchs voller Bei -<br />

träge, dieser Eindruck ist jedoch leider<br />

nicht durchgängig. Wer sich aber die<br />

„richtigen“ Beiträge heraussucht, wird<br />

sicherlich von den Definitionen der unterschiedlichen<br />

Rol len von NutzerInnen<br />

in der Gesundheits sicherung sowie von<br />

der Darstellung der Risi ken und Vorteile<br />

einer starken Nutzer orientierung, der<br />

aktuellen Dis kussion dazu und einiger<br />

Projekte in diesem Umfeld profitieren<br />

können.<br />

Gerd Glaeske, Arzneimittelexperte,<br />

Professor am Zentrum für Sozialpolitik<br />

(ZeS) der Universität Bremen<br />

Hans Huber <strong>Verlag</strong>,<br />

Bern 2008, 224 Seiten,<br />

24,95 Euro<br />

Dr. med. <strong>Mabuse</strong> 179 · Mai /Juni 2009

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