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Sein Leib ist wie reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt

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Wenn im Bauch nicht Wut, sondern Erbarmen sitzt<br />

Hohelied 5,14; Lukas 15,17-24<br />

2.Juli 2006 / B.Joss<br />

<strong>Sein</strong> <strong>Leib</strong> <strong>ist</strong> <strong>wie</strong> <strong>reines</strong> <strong>Elfenbein</strong>, <strong>mit</strong> <strong>Saphiren</strong> <strong>geschmückt</strong>.<br />

Hohelied 5,14<br />

Da ging der Sohn in sich und sprach:<br />

Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben,<br />

und ich verderbe hier im Hunger!<br />

Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen:<br />

Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.<br />

Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heisse;<br />

mache mich zu einem deiner Tagelöhner.<br />

Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater.<br />

Als er aber noch weit entfern war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn;<br />

und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.<br />

Der Sohn aber sprach zu ihm:<br />

Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir;<br />

Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heisse.<br />

Aber der Vater sprach zu seinen Knechten:<br />

Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an<br />

und gebt ihm einen Ring an seine Hand<br />

und Schuhe an seine Füsse<br />

und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein!<br />

Denn dieser mein Sohn war tot und <strong>ist</strong> <strong>wie</strong>der lebendig geworden;<br />

er war verloren und <strong>ist</strong> gefunden worden.<br />

Und sie fingen an, fröhlich zu sein.<br />

Lukas 15,17-24<br />

„Mutti, in meinem Bauch <strong>ist</strong> n’e Panne!“<br />

sagte der 5-jährige Chr<strong>ist</strong>oph, als er sich eines Tages nicht recht wohl fühlte.<br />

(aus: Elisabeth Mittelstädt, Hrsg., Ein Schmunzeln für jeden Tag)<br />

In unserem Bauch spielt sich so manches ab – auch wenn wir in der Regel nicht davon<br />

sprechen. Da gibt es nicht nur Bauchschmerzen, die von Blähungen herrühren, sondern<br />

auch solche, die durch Sorgen und Kummer verursacht werden.<br />

Auch Angst macht sich bei vielen Menschen zu allererst im Bauch bemerkbar.<br />

Und Wut! „Ich hab so ne Wut im Bauch!“, sagen wir -und das <strong>ist</strong> dann so ziemlich die<br />

schlimmste Panne, die uns passieren kann. Wut im Bauch – und keine Möglichkeit, <strong>wie</strong> wir<br />

sie loswerden können: das kann schon mal zu Magengeschwüren führen.<br />

Wenn wir sagen müssten, wo Gefühle sitzen, dann denken wir normalerweise zuerst an das<br />

Herz. Für hebräisch sprechende und empfindende Menschen <strong>ist</strong> das anders. Nicht nur<br />

unterschwellige Gefühle <strong>wie</strong> Neid, Ärger, Groll, Eifersucht sitzen für ihr Empfinden im Bauch.<br />

Der Bauch <strong>ist</strong> für sie auch Sitz des Mitleids, des Erbarmens – eines Erbarmens, das von<br />

unglaublicher Intensität, Zärtlichkeit, Kraft <strong>ist</strong>.<br />

Wenn wir sagen würden: „Es dreht mir das Herz im <strong>Leib</strong> um!“ dann würden hebräisch<br />

sprechende Menschen sagen: „Es dreht sich mir der ganze Bauch um.“<br />

Wenn die Braut im Hohelied über ihren Bräutigam sagt: „<strong>Sein</strong> <strong>Leib</strong> <strong>ist</strong> <strong>wie</strong> <strong>reines</strong><br />

<strong>Elfenbein</strong>, <strong>mit</strong> <strong>Saphiren</strong> <strong>geschmückt</strong>“, dann bewundert sie da<strong>mit</strong> ohne Zweifel die<br />

Schönheit seines Körpers. Aber nicht nur. Ich habe euch letztes Mal daran erinnert, dass das<br />

Hohelied vom Heiligen Ge<strong>ist</strong> inspiriert wurde. Dass da also wunderschöne dichterische


2<br />

Sprache zusammenfliesst <strong>mit</strong> einer von Gott eingegeben Bedeutung. Dass der Bräutigam für<br />

Jesus steht – und die Braut für die Gemeinde all jener, die Jesus von ganzem Herzen lieben.<br />

Wenn die Braut sagt: „<strong>Sein</strong> <strong>Leib</strong> <strong>ist</strong> <strong>wie</strong> <strong>reines</strong> <strong>Elfenbein</strong>, <strong>mit</strong> <strong>Saphiren</strong> <strong>geschmückt</strong>“ -<br />

über alles kostbar – dann erinnert mich das daran, dass es keinen gibt, in dessen Bauch<br />

tieferes Erbarmen sitzt, als bei Jesus. Nirgends sonst finden wir ein Erbarmen, das so<br />

intensiv, so leidenschaftlich, so kostbar, so herrlich <strong>ist</strong>, <strong>wie</strong> das Erbarmen von Jesus.<br />

Ich weiss, dass die me<strong>ist</strong>en von euch die Geschichte vom verlorenen Sohn in- und<br />

auswendig kennen. Ich werde sie euch trotzdem heute noch mal vor Augen führen.<br />

In einer Art, <strong>wie</strong> ich sie selber erst kürzlich zu verstehen gelernt habe.<br />

Kenneth E. Bailey lebte jahrzehntelang im Nahen Osten. In dieser Zeit wurde er vertraut <strong>mit</strong><br />

der Kultur und Denkweise der Menschen dort. Sie hat sich in den 2000 Jahren seit Chr<strong>ist</strong>us<br />

in vielen wesentlichen Punkten nicht verändert.<br />

Bailey lernte Arabisch und Syrisch und bekam dadurch Zugang zu vielen Bibelauslegungen<br />

aus sehr früher Zeit. Das <strong>ist</strong> uns ja oft gar nicht bewusst: Zu den ersten Chr<strong>ist</strong>en gehörten<br />

nicht nur Juden und Griechen, sondern auch Menschen aus dem arabischen Kulturkreis –<br />

Menschen aus Ländern, die heute vor<strong>wie</strong>gend islamisch geprägt sind. Menschen, die der<br />

Lebens- und Denkweise von Jesus sehr nahe standen, und die darum die Berichte der Bibel<br />

viel direkter, un<strong>mit</strong>telbarer verstanden als wir.<br />

Bailey studierte die frühen arabischen und syrischen Bibelkommentare; verglich das, was in<br />

der Bibel stand <strong>mit</strong> dem, was er in den Dörfern und Städtchen des Nahen Ostens erlebte –<br />

und bekam dadurch eine andere Sicht für die Geschichten, die Jesus erzählte. Sie versuche<br />

ich euch heute weiter zu geben.<br />

Bevor wir nun aber nochmals in die alt vertraute Geschichte vom Vater und seinen beiden<br />

Söhnen eintauchen, habe ich ein paar Fragen an euch:<br />

Was <strong>ist</strong> eigentlich so schlimm daran, wenn ein Sohn vom Vater das Erbe fordert, das ihm<br />

doch zusteht? Der Sohn sagt ja ausdrücklich: „Gib mir meinen Anteil am Erbe.“ Er will nicht<br />

mehr – nur seinen Anteil. Ist das denn ein solches Verbrechen?<br />

Was hatte der Sohn von der Dorfbevölkerung zu erwarten, sollte es ihm einfallen, je <strong>wie</strong>der<br />

in sein Dorf zurückzukehren? – In unserer Kultur wäre das gar keine Frage. Das Dorf hätte<br />

zu dieser Angelegenheit offiziell nichts zu sagen. Ganz anders in der Zeit und Kultur von<br />

Jesus!<br />

Wo kommt in dieser Geschichte eigentlich das Evangelium vor: Jesus – und sein Opfer, das<br />

er an unserer Stelle gebracht hat, um uns <strong>mit</strong> Gott zu versöhnen?<br />

Wenn ihr die Geschichte vom verlorenen Sohn nämlich <strong>mit</strong> einem Moslem anschaut, dann <strong>ist</strong><br />

es gut möglich, dass er euch sagt: „Siehst du: Dank eines schlauen Schachzuges konnte der<br />

Sohn sich <strong>mit</strong> dem Vater aussöhnen. Also sagt Jesus <strong>mit</strong> dieser Geschichte selber: Wenn ihr<br />

es nur richtig anstellt, nimmt Gott euch gnädig auf!“ - Was sagen wir dann?<br />

Und was spielt der ältere Sohn für eine Rolle in dieser Familie? Könnte es sein, dass sein<br />

Verhalten ein Hauptgrund dafür <strong>ist</strong>, dass der Jüngere auszieht?<br />

Bei dieser Frage dürfen wir nicht vergessen, in welchem Zusammenhang Jesus diese<br />

Geschichte erzählte. Die Frommen, die, die sich für untadelig hielten, machten Jesus<br />

Vorwürfe, weil er sich <strong>mit</strong> Sündern einliess. Und das in einer Art und Weise, die tiefe<br />

Gemeinschaft <strong>mit</strong> diesem Gesindel ausdrückte: Jesus ass <strong>mit</strong> ihnen! Unerhört!<br />

Als Antwort auf die empörten Vorwürfe dieser Gottesmänner erzählte Jesus vom Vater und<br />

seinen beiden Söhnen. Es braucht nicht viel Phantasie um zu begreifen, dass er <strong>mit</strong> dem<br />

jüngern Sohn die Sünder meint, <strong>mit</strong> dem Vater Gott – und <strong>mit</strong> dem älteren Sohn die<br />

Frommen.


3<br />

Könnte es sein, das das Verhalten der selbstgerechten Frommen andere vom Vater<br />

wegtreibt? Könnte es sein, dass ihr liebloses, gesetzliches, gnadenloses Verhalten andere<br />

regelrecht in ein gottloses Leben hinein stösst? Könnte es sein, dass Fromme andere dazu<br />

veranlassen, Gott den Rücken zu kehren?<br />

Und schliesslich: Zu wessen Ehren und aus welchem Grund wird im Haus des Vaters am<br />

Ende ein Fest gefeiert? Wird der Sohn da<strong>mit</strong> geehrt und das Fest gefeiert, weil er<br />

wohlbehalten <strong>wie</strong>der zuhause <strong>ist</strong>? Oder <strong>ist</strong> der Grund ein anderer?<br />

So, und nun machen wir uns auf den Weg in ein jüdisches Dorf zur Zeit von Jesus.<br />

Die Lehmhäuser stehen dicht beieinander.<br />

In den schmalen Gässchen laufen Ziegen und Schafe frei herum. Zwischen ihnen spielende<br />

Kinder – Jungen in erster Linie. Sie machen sich ein Spiel daraus, <strong>mit</strong> Steinen den Stamm<br />

eines Maulbeerfeigenbaumes zu treffen.<br />

Frauen sind daran, <strong>mit</strong> kurzen Handbesen den Sand aus dem Haus und von der Türschwelle<br />

weg zu wischen. Obschon es noch früher Morgen <strong>ist</strong>, spürt man bereits: es gibt <strong>wie</strong>der einen<br />

heissen Tag heute.<br />

In diesem Dorf kennt jeder jeden.<br />

Viele Familien sind <strong>mit</strong>einander verwandt.<br />

Die Türen zu den Häusern und die schmalen Fensterluken stehen den ganzen Tag über<br />

offen. Das macht es fast unmöglich, eine private Unterhaltung zu führen. Die Nachbarn<br />

rechts und links können problemlos <strong>mit</strong>hören, was im Haus gesprochen wird – und nicht<br />

selten mischt sich einer von der Strasse sogar ins Gespräch ein.<br />

Weil kaum je etwas Aufregendes geschieht, wird jedes Tagesereignis im Dorf sofort<br />

weitererzählt und ausführlich besprochen:<br />

Wenn irgendwo Verwandte zu Besuch kommen.<br />

Wenn sich ein Bursche für ein Mädchen interessiert.<br />

Wenn jemand krank <strong>ist</strong> oder stirbt.<br />

Wenn eine Familie ein gutes Geschäft machen kann.<br />

Und wenn jemand eine Reise unternimmt – und sei es nur in die nächste Stadt - dann<br />

versammelt sich fast das ganze Dorf, um ausgiebig und tränenreich und <strong>mit</strong> vielen<br />

Segenswünschen Abschied zu nehmen.<br />

Was sich auch abspielt im Dorf: Immer wissen sofort alle Bescheid, reden <strong>mit</strong>, nehmen<br />

Anteil, geben ihre Meinung zum Besten, tratschen. Kurz: So etwas <strong>wie</strong> eine Sache, die nur<br />

den Einzelnen angeht, gibt es nicht.<br />

Sind wir bei uns im Emmental so viel anders?<br />

Das Wichtigste im Dorf <strong>ist</strong> „die Ehre“. Sie <strong>ist</strong> noch wichtiger als das Leben. Könnt ihr euch<br />

das vorstellen? Es <strong>ist</strong> weniger schlimm, wenn jemand in einer Familie stirbt, als wenn die<br />

Ehre der Familie verletzt wird. Das <strong>ist</strong> übrigens noch heute so in vielen Kulturen des Nahen<br />

und Mittleren Ostens. Wenn jemand Schande über seine Familie bringt, dann muss er aus<br />

der Familie ausgestossen oder sogar getötet werden, da<strong>mit</strong> die Ehre der Familie <strong>wie</strong>der<br />

hergestellt wird.<br />

Es <strong>ist</strong> auch viel weniger schlimm, wenn ein erwachsener Sohn seinem Vater nicht gehorcht,<br />

als wenn er es am nötigen Respekt dem Vater gegenüber fehlen lassen würde. Solange er<br />

den Vater ehrt, kann er daneben tun und lassen, was ihm gefällt. Deswegen macht sich<br />

niemand Gedanken. Aber wehe, der Sohn ehr seinen Vater nicht! Wenn das geschieht, gibt’s<br />

Aufruhr im ganzen Dorf. Es <strong>ist</strong> nichts Schlimmeres denkbar, als dass jemand seiner Familie<br />

Schande bereitet.<br />

Und genau das passiert in dem Dorf, von dem ich euch erzähle.<br />

Jeder im Dorf spricht darüber:


4<br />

„Unglaublich! Unerhört!“ „Hast du’s schon gehört? Was sagst du dazu?“ „und das<br />

ausgrechnet im Haus von Abu-Adam!“ „Ich hatte schon immer ein ungutes Gefühl bei diesem<br />

Obed!“<br />

„Wovon redet ihr? Ich habe noch nichts gehört.“<br />

„Was, du weißt noch nicht, was Obed getan hat? Stell dir vor – nein, das kannst du dir gar<br />

nicht vorstellen! Heute Morgen hat Obed von seinem Vater verlangt, dass er ihm den Anteil<br />

seines Erbes aushändigt.“<br />

„Das <strong>ist</strong> nicht wahr. Das wäre ja, als ob er - als ob er seinem Vater <strong>mit</strong>ten ins Gesicht sagen<br />

würde: Wenn du doch endlich tot wärst! Das kann doch nicht sein! Sag, dass das nicht wahr<br />

<strong>ist</strong>!“<br />

Aber so war es – genau so.<br />

Obed, der jüngere von Abu-Adams Söhnen, hatte vom Vater verlangt, was ihm erst nach<br />

dessen Tod zustand. Hatte ihm praktisch den Tod ins Gesicht gewünscht - und da<strong>mit</strong> die<br />

Ehre seines Vaters in den Dreck gezogen. Hatte ihn vor dem ganzen Dorf gedemütigt. Er<br />

hatte da<strong>mit</strong> die wichtigste Regel gebrochen: „Bring nie Schande über deine Familie!“ – und<br />

sich über den Wert hinweggesetzt, welcher der Dorgemeinschaft heilig war.<br />

Da<strong>mit</strong> hatte er die Beziehung zu seinem Vater offiziell aufgekündigt – die Gemeinschaft <strong>mit</strong><br />

ihm abgebrochen. Und – ob es ihm bewusst war oder nicht: Er hatte dem Vater da<strong>mit</strong> das<br />

Herz gebrochen.<br />

Am Abend dieses Tages, an dem das ganze Dorf aufgewühlt worden war, sagte Samuel –<br />

ein Nachbarsjunge von Abu-adam, vor dem Einschlafen zu seinem Vater:<br />

„Abba, wenn Obed Heimweh kriegt, dann kommt er ja vielleicht bald <strong>wie</strong>der nach Hause,<br />

nicht wahr?“<br />

Samuels Vater schüttelt den Kopf und seufzt tief.<br />

„Weiss du, Samuel, das kann er nicht. Bei uns gibt es einenBrauch, den Obed ganz genau<br />

kennt. Sollte er je ins Dorf zurückkommen, weil er all sein Geld verbraucht hat und auf Hilfe<br />

ange<strong>wie</strong>sen <strong>ist</strong>, dann würden wir uns alle <strong>mit</strong> ihm auf dem Dorfplatz versammeln. Dann<br />

würden wir einen grossen Tonkrug vor Obed zerschmettern und dazu rufen: „Obed <strong>ist</strong> von<br />

seinem Volk abgeschnitten. Obed <strong>ist</strong> von seinem Volk abgeschniten!“ Wir nennen das die<br />

Kezazah-Zeremonie. Ihr Jungs würdet hinter Obed herrennen, ihn <strong>mit</strong> Schmutz bewerfen<br />

und verspotten. Keiner im Dorf würde ihm etwas zu essen geben. Und niemand würde ihm<br />

einen Platz zum Schlafen anbieten. Nein, Samuel, Obed wird es nicht wagen, zurückzukommen.“<br />

„Aber Vater, warum hat dann sein älterer Bruder Adam nicht versucht, Obed<br />

zurückzuhalten? Er hätte doch versuchen müssen, Abu-Adam und Obed <strong>wie</strong>der zusammen<br />

zu bringen, nicht? Warum hat er es nicht getan?“<br />

Wieder seufzte der Vater tief: „Ja, er hätte es tun müssen, du hast Recht. Warum er es nicht<br />

getan hat – ich verstehe es auch nicht.“ Was er sonst noch dazu dachte, behielt Samuel’s<br />

Vater für sich.<br />

Wochen, Monate vergehen.<br />

Im Dorf spricht niemand mehr von Obed. Es <strong>ist</strong>, als ob er gestorben wäre. Nein, schlimmer.<br />

Den Toten kann man ein ehrendes Andenken bewahren. Obed nicht.<br />

Dass im Haus von Abu-Adam ein Platz am Tisch leer bleibt, dass der Vater jeden Abend<br />

einen ungebrochenen Brotfladen zur Seite legt, dass er da<strong>mit</strong> offen seine Trauer über die<br />

abgebrochene Gemeinschaft <strong>mit</strong> seinen Söhnen – seinen beiden Söhnen – ausdrückt:<br />

darüber schweigt man im Dorf.<br />

Bis zu dem Tag, an dem ein paar Knaben, die sich in einer der Dorfgassen die Zeit<br />

vertreiben, eine Gestalt entdecken, die auf’s Dorf zukommt. Es sieht aus, als ob sie sich nur<br />

mühsam vorwärts schleppen könnte. Ist es ein Bettler? Ein Aussätziger? Ein Fremder, der<br />

Arbeit sucht?


5<br />

„Das <strong>ist</strong> doch – das <strong>ist</strong> Obed!“ Die Knaben machen grosse Augen. Dann bücken sie sich <strong>wie</strong><br />

auf Kommando, kratzen den Strassenstaub zusammen, mischen ihn <strong>mit</strong> Wasser aus der<br />

Abwasserrinne und formen Wurfgeschosse daraus.<br />

Während sie noch eifrig <strong>mit</strong> der Herstellung ihrer Munition beschäftigt sind, hören sie<br />

schnelle Schritte. Als sie aufschauen, bleibt ihnen der Mund offen stehen:<br />

Abu-Adam kommt die Strasse hinunter gerannt. Er schreitet nicht, langsam und würdig, <strong>wie</strong><br />

sich für einen Mann seines Alters gehört – nein, er rennt! So etwas hat das Dorf noch nie<br />

erlebt. Jeder Mann über 25, der rennt, macht sich lächerlich. Kein Mann in diesem Alter, dem<br />

seine Ehre wichtig <strong>ist</strong>, würde je rennen.<br />

„Sieh mal, sieh! Man sieht seine Beine!“ Die Buben lachen und feixen und ahmen Abu-Adam<br />

nach, welcher sein langes Kleid vorne zusammengerafft und hochgehoben hat, da<strong>mit</strong> es ihn<br />

beim Rennen nicht behindert. „Man sieht seine Beine! Man sieht seine Beine!“<br />

Für Obed geht die Geschichte völlig anders aus, als er sie sich in der Fremde zurechtgelegt<br />

hat. Dort, als er vor Hunger beinahe umkam, hatte er Rat <strong>mit</strong> sich gehalten. Wenn er nicht<br />

elend zugrunde gehen wollte, dann musste er einen Weg finden, seinen Vater gnädig zu<br />

stimmen. Aber <strong>wie</strong>?<br />

Auf einmal kam ihm die Erleuchtung:<br />

Er könnte Reue zeigen, so, <strong>wie</strong> seinerzeit der Pharao Reue gezeigt hatte, als Plage um<br />

Plage über sein Reich hereinbrach. Na ja, zu mindest scheinbar Reue.<br />

Und dann könnte er dem Vater anbieten, als Tagelöhner bei ihm zu arbeite und so allmählich<br />

das Erbe <strong>wie</strong>der zurück zu zahlen. Das würde er natürlich im hundert Jahren nicht schaffen,<br />

aber vielleicht würde der Vater seinen guten Willen anerkennen und da<strong>mit</strong> zufrieden sein.<br />

Als Tagelöhner brauchte er ausserdem nicht im selben Haus <strong>mit</strong> seinem Bruder zu leben,<br />

sondern konnte sich eine Unterkunft in einem Nachbarsdorf suchen.<br />

In arabischer Schönschrift, dieser bis heute hochgeschätzten Kunstrichtung, kann man<br />

seinen Plan so darstellen: Ein Gesicht, das sich zu angestrengtem Nachdenken verzieht –<br />

scheinbare Reue zeigt und am Ende ironisch lächelt.<br />

Wie sehr gleicht Obeds Plan einem weit verbreiteten Missverständnis auch bei uns: Der<br />

irrigen Meinung, wir könnten dem Vater zurückerstatten, was wir ihm schuldig sind. So, als<br />

ob es bei Sünde um irgendeinen Betrag ginge, den wir begleichen können, wenn wir uns nur<br />

genügend anstrengen. In Wirklichkeit geht es darum, dass wir dem Vater das Herz<br />

gebrochen haben.<br />

Und dann kommt alles ganz anders.<br />

In unbegreiflicher Liebe demütigt sich der Vater vor dem ganzen Dorf – nimmt eine unerhörte<br />

Schande auf sich, indem er Obed entgegenrennt und dabei sogar seine Beine entblösst –<br />

und erspart da<strong>mit</strong> seinem Sohn, dass er von der Dorfgemeinschaft <strong>mit</strong> Schimpf und Schande<br />

empfangen wird. Denn nachdem der Vater seinem Sohn entgegen gerannt , ihn umarmt und<br />

geküsst und als Sohn zuhause willkommengeheissen hat, wird niemand mehr es wagen,<br />

Obed zu verachten.<br />

Der Vater hat Schalom gestiftet – Versöhnung geschaffen. <strong>Sein</strong> Bauch war voller Erbarmen<br />

für seinen Sohn – für den jüngern und – <strong>wie</strong> ihr wisst, auch für den älteren. Kein Wunder,<br />

dass an diesem Tag ein fröhliches Fest beginnt im Haus von Abu-Adam!<br />

Und nun schaut euch das an!<br />

Die Worte „Oh mein Vater – ich habe gesündigt!“ bilden ein Kreuz. Das geschieht immer,<br />

wenn die Worte „Oh mein Vater“ und „ich habe gesündigt“ zusammenkommen, sagt Kenneth<br />

Bailey.<br />

Und auf einmal steht es glasklar vor uns:<br />

Jesus – das <strong>ist</strong> der Vater, der es nicht aushält, unberührt von unsrem Elend in seinem<br />

„Haus“ sitzen zu bleiben.


6<br />

Jesus – das <strong>ist</strong> der Vater, der uns entgegenrennt, der an unserer Stelle den Spott, die<br />

Entblössung, die Schande, das Ausgestossenwerden auf sich nimmt.<br />

Jesus – das <strong>ist</strong> der Vater, der uns umarmt, küsst, aufnimmt und Schalom möglich macht.<br />

Jesus – das <strong>ist</strong> dieser kostbare <strong>Leib</strong> voller Erbarmen, den die Braut im Hohelied beschreibt.<br />

Kein Wunder, dass der Himmel Feste feiert, jedes Mal, wenn ein Obed in den Armen dieses<br />

Mensch gewordenen Gott-Vaters zusammenbricht und den Schalom annimmt: So sage ich<br />

euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Busse tut.<br />

Lk 15,10<br />

An diesem Abend können der Vater und der Sohn endlich <strong>wie</strong>der das Brot zusammen<br />

brechen. Obed hat Ja gesagt zum Geschenk seines Vaters, hat zurückgefunden in die<br />

Gemeinschaft <strong>mit</strong> ihm – in sein Zuhause.<br />

Ob das beim ältern Sohn, bei Adam auch der Fall sein wird?<br />

Die Geschichte lässt die Frage offen.<br />

Wir wissen, dass es seither viele Adams gab, die an ihrer Selbstgerechtigkeit festhielten.<br />

Die es nie über die Lippen brachten zu sagen: „Oh mein Vater - ich habe gesündigt.“ Die es<br />

nicht einmal merkten, <strong>wie</strong> sehr auch sie <strong>mit</strong> ihrer Hartherzigkeit Schande über den Vater<br />

gebracht und sein Herz gebrochen haben. Die nie eingesehen haben, <strong>wie</strong> sehr sich der<br />

Vater danach sehnt, auch <strong>mit</strong> ihnen das Brot zu brechen und sie zu sich zurück zu lieben.<br />

Aber da <strong>ist</strong> dieser Vater. Dieser überraschende, so ganz andere Vater als all die Väter, die<br />

uns vertraut sind. Da <strong>ist</strong> dieser Vater, gefüllt <strong>mit</strong> Erbarmen, das alles Begreifen übersteigt.<br />

So, <strong>wie</strong> es in dem Leid von Johann Rothe heisst, das vor mehr als 300 Jahren entstanden<br />

<strong>ist</strong>:<br />

„Es <strong>ist</strong> das ewige Erbarmen, das alles Denken übersteigt,<br />

des, der <strong>mit</strong> offnen Liebesarmen sich zu uns armen Sündern neigt,<br />

aus dessen Herz (oder Bauch!) Erbarmen bricht, wir kommen oder kommen nicht.“<br />

KGB 262<br />

A m e n

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