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Deutschland und der Völkermord an den Armeniern

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<strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong><br />

Ein Interview mit Margaret Lavinia An<strong>der</strong>son, Professorin für Geschichte, University of<br />

California, Berkeley, USA<br />

Von Khatchig Mouradi<strong>an</strong><br />

ZNet, 14. November 2006<br />

In <strong>den</strong> verg<strong>an</strong>genen Jahrzehnten hat eine Reihe von Wissenschaftlern die Frage <strong>der</strong> deutschen Ver<strong>an</strong>twortung für<br />

<strong>den</strong> <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> erforscht. Das Osm<strong>an</strong>ische Reich war während des Ersten Weltkriegs mit<br />

<strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> verbündet, als etwa <strong>an</strong><strong>der</strong>thalb Millionen Armenier aus dem Reich vertrieben wur<strong>den</strong> <strong>und</strong> in einer<br />

staatlich gelenkten Massenvernichtungskampagne umkamen. Margaret An<strong>der</strong>son hat <strong>an</strong> <strong>der</strong> Brown University<br />

promoviert <strong>und</strong> ist Professorin für Geschichte <strong>an</strong> <strong>der</strong> University of California in Berkeley. Sie hat über Wahlen<br />

<strong>und</strong> politische Kultur in <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> aus einer vergleichen<strong>den</strong> europäischen Perspektive gearbeitet, über<br />

Demokratie <strong>und</strong> demokratische Institutionen, Religion <strong>und</strong> Politik <strong>und</strong> Religion <strong>und</strong> Gesellschaft – beson<strong>der</strong>s <strong>den</strong><br />

Katholizismus im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Sie ist die Autorin von „Windthorst, Zentrumspolitiker <strong>und</strong> Gegenspieler<br />

Bismarcks.“ (Düsseldorf 1988) <strong>und</strong> „Lehrjahre <strong>der</strong> Demokratie, Wahlen <strong>und</strong> politische Kultur im Deutschen<br />

Kaiserreich.“ (Stuttgart 2009) In letzter Zeit hat sie über <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> <strong>und</strong> das Osm<strong>an</strong>ische Reich zur Zeit des<br />

<strong>Völkermord</strong>s <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> gearbeitet.<br />

Khatchig Mouradi<strong>an</strong>: W<strong>an</strong>n <strong>und</strong> warum haben sie sich für <strong>den</strong> <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong><br />

interessiert?<br />

Margaret An<strong>der</strong>son: Das kam g<strong>an</strong>z zufällig. Als ich mein letztes Buch beendet hatte, brauchte<br />

ich eine neue Aufgabe, um nicht einzurosten. Ein Kollege von mir, <strong>der</strong> über italienische<br />

Geschichte in <strong>der</strong>selben Zeit arbeitete, sagte: „Du solltest über die Armenier arbeiten.“ Ich sagte<br />

ihm, ich k<strong>an</strong>n nicht über die Armenier arbeiten, weil ich nicht Armenisch <strong>und</strong> nicht Türkisch<br />

spreche. Und er sagte: „Ja, aber du k<strong>an</strong>nst Deutsch, <strong>und</strong> m<strong>an</strong> muss dabei eine Menge über<br />

<strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> arbeiten.“ Er hatte Recht. Unter <strong>den</strong> Akten des deutschen Auswärtigen Amts gibt es<br />

56 Bände über die Verfolgungen <strong>der</strong> Armenier sowie noch viel mehr unter <strong>an</strong><strong>der</strong>en Titeln – wie<br />

die Botschaft in Konst<strong>an</strong>tinopel –, die für diese entsetzliche Geschichte sehr wichtig sind. Ich<br />

habe einen Kollegen, Steph<strong>an</strong> Astouri<strong>an</strong>, ein Spezialist für armenische Geschichte, ohne <strong>den</strong> ich<br />

diese Sache niemals hätte beginnen können.<br />

K.M.: Wie gründlich sind diese Quellen erforscht wor<strong>den</strong>?<br />

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M.A.: Vahakn N. Dadri<strong>an</strong> hat sie am vielen Stellen benutzt, <strong>und</strong> auch davor haben das schon<br />

einige <strong>an</strong><strong>der</strong>e Leute get<strong>an</strong>. Ulrich Trumpener hat in seinem Buch „Germ<strong>an</strong>y <strong>an</strong>d the Ottom<strong>an</strong><br />

Empire 1914-1918“ von 1968 ein ausgezeichnetes Kapitel geschrieben. In jüngerer Zeit haben<br />

Rolf Hosfeld in „Operation Nemesis: Die Türkei, <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong><br />

<strong>Armeniern</strong>“ (Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005); Isabel V. Hull in „Absolute Destruction:<br />

Military Culture <strong>an</strong>d the Practices of War in Imperial Germ<strong>an</strong>y“ (Cornell, Ithaca. 2005) <strong>und</strong><br />

Donald Bloxham in „The Great Game of Genocide: Imperialism, Nationalism, <strong>an</strong>d the<br />

Destruction of the Armeni<strong>an</strong>s“ (Oxford UP, 2005) diese Dokumente mit guten Ergebnissen<br />

verarbeitet. Soweit ich weiß, haben Wissenschaftler in <strong>der</strong> Türkei nichts auf Gr<strong>und</strong>lage dieser<br />

Materialien veröffentlicht; doch als ich im deutschen Auswärtigen Amt war, wurde mir klar, dass<br />

einige türkische Wissenschaftler sie gesehen hatten. Wenn m<strong>an</strong> in deutschen Archiven arbeitet,<br />

muss m<strong>an</strong> auf einem Blatt unterschreiben, dass m<strong>an</strong> diese Dokumente benutzt hat. Also k<strong>an</strong>n<br />

m<strong>an</strong> m<strong>an</strong>chmal sehen, wer sie vor einem eingesehen hat. Nun sind die Dokumente aus dem<br />

deutschen Auswärtigen Amt, die Joh<strong>an</strong>nes Lepsius 1919 veröffentlichte (unter dem Titel<br />

„<strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> <strong>und</strong> Armenien), zusammen mit <strong>den</strong> Teilen, die seine Ausgabe ausgelassen hat (die<br />

nicht so bedeutend sind, wie m<strong>an</strong>che Wissenschaftler gedacht haben) online verfügbar,<br />

herausgegeben von Wolfg<strong>an</strong>g Gust. Gust hat diese Teile kursiv eingefügt, die Lepsius in<br />

„<strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> <strong>und</strong> Armenien“ weggelassen hat. Gust konnte das tun, indem er Lepsius’<br />

Sammlung mit <strong>den</strong> Originaldokumenten verglich. Diese sind online verfügbar unter<br />

www.armenocide.de.<br />

K.M: Gust behauptet, dass Lepsius einige Teile absichtlich weggelassen hat.<br />

M.A.: Ich meine, dass Gust jetzt etwas gelassener darüber <strong>den</strong>kt. Die meisten Sätze <strong>und</strong><br />

Passagen, die weggelassen wur<strong>den</strong>, sind für die Be<strong>an</strong>twortung <strong>der</strong> Frage „Gab es einen<br />

<strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> <strong>und</strong> wer war dar<strong>an</strong> beteiligt?“ völlig unbedeutend. Sie tragen nicht<br />

wesentlich zur Aufklärung des Charakters des <strong>Völkermord</strong>s bei. In m<strong>an</strong>chen Fällen hat Lepsius –<br />

falls es Lepsius war, <strong>der</strong> für diese Auslassungen ver<strong>an</strong>twortlich ist – vielleicht deutsche L<strong>an</strong>dsleute<br />

<strong>und</strong> <strong>den</strong> Ruf <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong>s geschützt, doch in <strong>den</strong> meisten Fällen, so scheint mir, schützte er die<br />

Armenier. Das heißt – <strong>und</strong> die nationale Schule türkischer Historiker wird sich schnell darauf<br />

stürzen –, er mil<strong>der</strong>te o<strong>der</strong> unterschlug Fälle von armenischer revolutionärer Gewalt. Lepsius<br />

vermittelt ein Bild von <strong>Armeniern</strong> als komplette Opfer, eines Volks, das sich nicht wehren<br />

konnte. Nun, wir wissen, dass das nicht wahr ist; die Armenier schlugen zurück, wenn sie<br />

konnten. Aber Lepsius war ein M<strong>an</strong>n <strong>der</strong> Kirche <strong>und</strong> lehnte daher Gewalt ab. Und außerdem<br />

versuchte er die Armenier davor zu schützen, was er seit l<strong>an</strong>gem als falschen Vorwurf <strong>der</strong><br />

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deutschen Turkophilen k<strong>an</strong>nte: dass die Armenier Terroristen waren, dass die „Deportationen“<br />

eine Sicherheitsmaßnahme gegen Verräter waren <strong>und</strong> dass das Komitee für Einheit <strong>und</strong><br />

Fortschritt nur <strong>den</strong> osm<strong>an</strong>ischen Staat schützte.<br />

K.M.: Können Sie uns die deutsch-osm<strong>an</strong>ischen Beziehungen vor dem Krieg schil<strong>der</strong>n, bevor<br />

wir über <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> <strong>und</strong> das Osm<strong>an</strong>ische Reich während des Ersten Weltkriegs sprechen?<br />

M.A: Zw<strong>an</strong>zig Jahre vor dem Krieg <strong>und</strong> sogar kurz vor Ausbruch des Krieges war <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong><br />

nicht so stark am Osm<strong>an</strong>ischen Reich interessiert wie zum Beispiel die Fr<strong>an</strong>zosen o<strong>der</strong> sogar die<br />

Österreicher. Es verfügte über geringere ökonomische Investitionen <strong>und</strong> weniger kulturelle<br />

Institutionen, aber es hoffte sicherlich, dort eine Zukunft zu haben. Bis zum zweiten Balk<strong>an</strong>krieg<br />

(1912-13) bemühte sich <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> sehr, das Osm<strong>an</strong>ische Reich stabil zu halten, weil es, wie<br />

viele <strong>der</strong> übrigen Großmächte, befürchtete, dass eine <strong>an</strong><strong>der</strong>e europäische Macht – wahrscheinlich<br />

Russl<strong>an</strong>d <strong>und</strong> vielleicht sogar Engl<strong>an</strong>d o<strong>der</strong> Fr<strong>an</strong>kreich – ein zerfallendes Osm<strong>an</strong>isches Reich in<br />

die Hände bekommen würde. M<strong>an</strong> machte sich Sorgen, dass jedes L<strong>an</strong>d, das das Osm<strong>an</strong>ische<br />

Reich <strong>an</strong>nektieren würde, o<strong>der</strong> Teile davon, zu mächtig wer<strong>den</strong> <strong>und</strong> damit das europäische<br />

Gleichgewicht gefähr<strong>den</strong> könnte. <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> würde beson<strong>der</strong>s betroffen sein, weil es im<br />

Unterschied zu <strong>den</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>en nicht im Mittelmeer ver<strong>an</strong>kert war. Deswegen wollten die Deutschen<br />

nicht, dass das Osm<strong>an</strong>ische Reich ausein<strong>an</strong><strong>der</strong> fiel.<br />

Nach 1912 sah es so aus, als ob das Osm<strong>an</strong>ische Reich in jedem Fall zerfallen würde, g<strong>an</strong>z<br />

gleich, was die Deutschen o<strong>der</strong> die <strong>an</strong><strong>der</strong>en europäischen Mächte taten. Dieses Gefühl, dass die<br />

„Insolvenz“ sich <strong>an</strong>kündigte, wie es das deutsche Auswärtige Amt n<strong>an</strong>nte, ver<strong>an</strong>lasste<br />

<strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong>, die Armenier 1913-14 plötzlich in einer Weise zu unterstützen, wie es das vorher<br />

nicht get<strong>an</strong> hatte. <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> unterstützte in <strong>der</strong> Tat das Reformprojekt in Ost<strong>an</strong>atolien <strong>der</strong>art,<br />

dass die Großmächte schließlich die Osm<strong>an</strong>en zw<strong>an</strong>gen, <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> im Februar 1914 in<br />

Ost<strong>an</strong>atolien in öffentlichen Ämtern eine gewisse Parität mit <strong>der</strong> dortigen muslimischen<br />

Bevölkerung zu gewähren, mithin eine Art regionaler Autonomie. <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> war in <strong>der</strong><br />

Verg<strong>an</strong>genheit nicht beson<strong>der</strong>s für Reformen eingetreten <strong>und</strong> hatte sie <strong>an</strong> <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong><br />

osm<strong>an</strong>ischen Regierung abgelehnt. Aber 1913 <strong>und</strong> in <strong>der</strong> ersten Hälfte von 1914, als die<br />

Auflösung des Reichs nah gekommen schien, wollte es in <strong>den</strong> Teilen, die übrig blieben, Fre<strong>und</strong>e<br />

haben. Diese Fre<strong>und</strong>e, so hoffte m<strong>an</strong>, wür<strong>den</strong> die Armenier sein.<br />

K.M: Aber daraus entst<strong>an</strong>d überhaupt nichts Positives für die Armenier, nicht wahr? Hilmar<br />

Kaiser zufolge gab es von 1915-16 keine einheitliche Haltung zu <strong>den</strong> osm<strong>an</strong>ischen <strong>Armeniern</strong>.<br />

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M.A.: Nun, ja. Aber 1915-16 bef<strong>an</strong>d sich <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> inmitten eines Weltkriegs, was jede<br />

Berechnung unmöglich machte. Und be<strong>den</strong>ken Sie, dass die deutsche Regierung in vielen<br />

brennen<strong>den</strong> Fragen keine einheitliche Position hatte: über die Zukunft <strong>der</strong> Ukraine, die die<br />

Deutschen 1915 besetzten, <strong>und</strong> die Zukunft Belgiens, das sie seit August 1914 besetzt hatten. Es<br />

gab keine einheitliche deutsche Haltung zu irgendeiner <strong>der</strong> zentralen Fragen über die<br />

Nachkriegsordnung. Vielmehr herrschten gewaltige Konflikte innerhalb <strong>der</strong> deutschen Regierung<br />

selbst während des Ersten Weltkriegs, als die Konservativen (ein Großteil des Militärs) <strong>und</strong> die<br />

Gemäßigten (vor allem <strong>der</strong> K<strong>an</strong>zler, Bethm<strong>an</strong>n Hollweg, <strong>und</strong> das Auswärtige Amt) um die<br />

Kontrolle <strong>der</strong> zukünftigen Politik r<strong>an</strong>gen. Also konnte das Fehlen einer einheitlichen Haltung zu<br />

<strong>den</strong> osm<strong>an</strong>ischen <strong>Armeniern</strong> nicht überraschen. Gleichwohl halte ich es auch für richtig zu sagen,<br />

dass die entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> politischen Kräfte in <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> <strong>der</strong> Überzeugung waren, dass sie<br />

einen Verbündeten hatten – die osm<strong>an</strong>ische Regierung – <strong>und</strong> dass sie nichts tun wür<strong>den</strong>, was<br />

dieses Bündnis gefähr<strong>den</strong> konnte. Auch wenn es viele Deutsche im osm<strong>an</strong>ischen Reich gab –<br />

Geschäftsleute, B<strong>an</strong>kiers, Ingenieure, Diplomaten –, die gegen die osm<strong>an</strong>ische Politik<br />

protestierten, war die Position des K<strong>an</strong>zlers zu <strong>der</strong> Zeit, als das Problem in Berlin bek<strong>an</strong>nt wurde,<br />

eindeutig: Was immer die Türken tun mögen, sie sind unsere Verbündeten <strong>und</strong> nicht die<br />

Armenier.<br />

K.M: Können wir d<strong>an</strong>n sagen, dass es in <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> eine politische Linie gab, die Ausrottung<br />

<strong>der</strong> Armenier zu leugnen?<br />

M.A.: Ja <strong>und</strong> nein. Ja, es wurde öffentlich zum Großteil geleugnet. Das war eine Politik, <strong>an</strong> <strong>der</strong><br />

sich <strong>an</strong><strong>der</strong>e Teile <strong>der</strong> Gesellschaft beteiligten. Ich habe mich in meiner Arbeit mit <strong>der</strong><br />

öffentlichen Meinung in <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> beschäftigt <strong>und</strong> festgestellt, dass die Eliten genau wussten,<br />

was sich abspielte. Bek<strong>an</strong>nte Orientalisten; einige Journalisten; wenigstens sechs<br />

Superinten<strong>den</strong>ten <strong>der</strong> protest<strong>an</strong>tischen Kirche; sicherlich die führen<strong>den</strong> Laien unter deutschen<br />

Katholiken (wie <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Zentrumspartei im Parlament, Matthias Erzberger, <strong>der</strong> von<br />

rechten Schlägern nach dem Krieg ermordet wurde); <strong>der</strong> Papst; <strong>der</strong> Chef <strong>der</strong> Deutschen B<strong>an</strong>k<br />

(wie Hilmar Kaiser <strong>und</strong> Gerald D. Felm<strong>an</strong> gezeigt haben); <strong>und</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>e wichtige Mitglie<strong>der</strong> des<br />

Reichstags, wie <strong>der</strong> spätere Träger des Frie<strong>den</strong>snobelpreises, <strong>der</strong> Liberale Gustav Stresem<strong>an</strong>n –<br />

sie alle wussten es. Stresem<strong>an</strong>n beschloss zu schweigen. Eine in Armenien geborene graduierte<br />

Stu<strong>den</strong>tin in Berlin, Elizabeth Khoriki<strong>an</strong>, arbeitete über die im Jahr 1915 meistverbreitete<br />

(linksliberale) Zeitung in Berlin , das Berliner Tageblatt. Diese Zeitung gab m<strong>an</strong>chmal drei o<strong>der</strong><br />

vier verschie<strong>den</strong>e Ausgaben am Tag heraus, weil sie jedes Mal, wenn es neue Kriegsnachrichten<br />

gab, eine <strong>an</strong><strong>der</strong>e Ausgabe publizierte. Und sie sah sich jede einzelne <strong>an</strong>. In allen dieser Ausgaben<br />

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f<strong>an</strong>d sie in <strong>der</strong> g<strong>an</strong>zen Zeit nur fünf Hinweise auf die Armenier. Drei f<strong>an</strong><strong>den</strong> sich in Interviews<br />

mit Talaat Pascha, Enver Pascha <strong>und</strong> Halil Pascha, <strong>und</strong> zwei waren Übernahmen türkischer<br />

Pressemitteilungen. Das war es schon. Die Zeitungen wussten sehr genau, was vor sich ging.<br />

Sowohl die sozialdemokratische als auch die christliche Presse wussten es. Christliche<br />

Zeitschriften schrieben am meisten darüber, wenn auch vorsichtig <strong>und</strong> behutsam ausgedrückt.<br />

Lepsius gab am 5. Oktober 1915 einer Gruppe Presseleuten in Berlin ein Interview <strong>und</strong><br />

berichtete, was er auf seiner jüngsten Reise nach Konst<strong>an</strong>tinopel/Ist<strong>an</strong>bul von Ende Juli bis<br />

Anf<strong>an</strong>g August erfahren hatte. Ein Redakteur einer sozialistischen Zeitung schrieb: „Wollte m<strong>an</strong><br />

europäische Vorstellungen von Moral <strong>und</strong> Politik auf türkische Verhältnisse <strong>an</strong>wen<strong>den</strong>, käme<br />

m<strong>an</strong> zu einem völlig verzerrten Urteil.“ Im Allgemeinen folgten die Zeitungen <strong>der</strong> Linie, dass<br />

m<strong>an</strong> sich in einem Krieg befinde <strong>und</strong> die Regierung dieses Bündnis für so wichtig so hält, dass<br />

m<strong>an</strong> es auf keinen Fall aufkündigen werde.<br />

K.M.: Wollen Sie damit sagen, dass es keine direkte Zensur gab?<br />

M.A.: Es gab auch direkte Zensur. Als Lepsius 20.500 Exemplare seiner Dokumente druckte,<br />

wur<strong>den</strong> viele davon von <strong>der</strong> Berliner Zensurbehörde beschlagnahmt, noch bevor die Türken<br />

überhaupt protestiert hatten. Doch ich <strong>den</strong>ke, die Presse hätte die Geschichte veröffentlichen<br />

können, wenn sie gewollt hätte. Es gab so viel Selbstzensur, dass die Regierung nicht eingreifen<br />

musste. Wir wer<strong>den</strong> nie wissen, was geschehen wäre, wenn die Presse versucht hätte, Lepsius’<br />

Material zu verbreiten; doch sie versuchte es nicht, weil sie es für wichtiger hielt, die Türken auf<br />

ihrer Seite zu haben. Die Invasion <strong>der</strong> Alliierten auf Gallipoli beg<strong>an</strong>n im März 1915. Die<br />

Verteidigung von Gallipoli, so glaubte m<strong>an</strong>, war für einen deutschen Sieg von absoluter<br />

Wichtigkeit, was die Deutschen mit ihrem Überleben gleichsetzten. Und m<strong>an</strong> be<strong>den</strong>ke: 1.303<br />

deutsche Soldaten starben im Durchschnitt je<strong>den</strong> Tag zwischen August 1914 <strong>und</strong> dem<br />

Waffenstillst<strong>an</strong>d im November 1918. Es k<strong>an</strong>n kaum verw<strong>und</strong>ern, dass die Deutschen mit dem,<br />

was in Belgien, Fr<strong>an</strong>kreich, Galizien <strong>und</strong> <strong>an</strong> <strong>der</strong> Ostfront geschah, beschäftigt waren. Sie dachten<br />

nicht so viel über die Türkei nach. Für mich ist das ein weiterer Gr<strong>und</strong>, um Lepsius bei all seinen<br />

Mängeln als einen Hel<strong>den</strong> zu betrachten. Er achtete nicht nur darauf, was das Beste für<br />

<strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> war. Fünf Tage nach dem Tod seines Sohns <strong>an</strong> <strong>der</strong> Ostfront kam er in<br />

Konst<strong>an</strong>tinopel <strong>an</strong> <strong>und</strong> interviewte nach eigenen Angaben nicht nur Enver Pascha, son<strong>der</strong>n auch<br />

Talaat. Meiner Ansicht nach hat niem<strong>an</strong>d das echte Geheimnis hinter Lepsius’ Reise nach<br />

Konst<strong>an</strong>tinopel/Ist<strong>an</strong>bul genügend untersucht: Warum hat das deutsche Auswärtige Amt ihm<br />

erlaubt zu gehen? Wie konnte er ein Interview mit Enver bekommen, <strong>und</strong>, wenn er die Wahrheit<br />

gesagt hat, ebenfalls mit Talaat? Ein normaler Fre<strong>und</strong> <strong>der</strong> Armenier <strong>und</strong> ein gewöhnlicher<br />

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Schriftsteller <strong>und</strong> Journalist (er war kein Pastor mehr, seit m<strong>an</strong> ihn gezwungen hatte, sein Amt<br />

aufzugeben, als er sich 1896 weigerte, mit <strong>der</strong> Agitation für die Armenier aufzuhören) hätte in<br />

Kriegszeiten sicherlich nicht mit dem Kriegsminister o<strong>der</strong> dem Innenminister seines eigenen<br />

L<strong>an</strong>des <strong>und</strong> noch weniger eines frem<strong>den</strong> sprechen können. Ich glaube, dass ihm das nur gelingen<br />

konnte, weil das deutsche Auswärtige Amt Druck auf die Türken ausübt hat, ihn zu empf<strong>an</strong>gen.<br />

Warum glauben Sie, dass sie das get<strong>an</strong> haben? Es lohnt sich doch wirklich, dieser Frage<br />

nachzugehen.<br />

K.M.: Warum glauben Sie <strong>den</strong>n, dass sie das get<strong>an</strong> haben?<br />

M.A.: Meiner Meinung nach haben sie es get<strong>an</strong>, weil Lepsius zu dieser Zeit das deutsche<br />

Auswärtige Amt glauben machte, dass die Armenier tatsächlich von militärischer Bedeutung<br />

waren. Lepsius spielte ein sehr gefährliches Spiel. Er versuchte, die militärische Bedeutung <strong>der</strong><br />

Armenier auf <strong>der</strong> russischen Seite <strong>der</strong> Grenze hochzuspielen, <strong>und</strong> behauptete, dass m<strong>an</strong> sie auf<br />

die Seite <strong>der</strong> Mittelmächte (<strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> <strong>und</strong> Österreich) ziehen könne <strong>und</strong> dass sie, wenn das<br />

nicht gelänge, logischerweise <strong>den</strong> Deutschen <strong>und</strong> <strong>den</strong> Türken im Krieg erheblich scha<strong>den</strong><br />

könnten. Das ist natürlich genau die Argumentation, die die türkische Regierung benutzt, um das<br />

Geschehene zu rechtfertigen. Aber ich <strong>den</strong>ke, dass Lepsius versucht hat, die militärische Gefahr<br />

<strong>der</strong> armenischen revolutionären Bewegung zu übertreiben, um <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> dazu zu bringen, die<br />

Türken unter Druck zu setzen, die Deportationen <strong>und</strong> Massaker zu stoppen. Doch um die Zeit,<br />

als er nach Konst<strong>an</strong>tinopel kam, Ende Juli o<strong>der</strong> Anf<strong>an</strong>g August 1915, waren die meisten<br />

Armenier schon deportiert wor<strong>den</strong>, <strong>und</strong> <strong>der</strong> deutschen Regierung war klar, dass sie <strong>den</strong><br />

Deutschen nichts <strong>an</strong>zubieten hatten <strong>und</strong> für die Türken keine militärische Bedrohung darstellten.<br />

K.M.: Gibt es darüber irgendwelche Belege?<br />

M.A.: Ende Mai 1915 nahm Lepsius Kontakte mit dem Auswärtigen Amt in Zusammenh<strong>an</strong>g mit<br />

<strong>den</strong> Massakern von V<strong>an</strong> auf <strong>und</strong> bot sich selbst als Vermittler zwischen <strong>den</strong> Türken <strong>und</strong><br />

<strong>Armeniern</strong> <strong>an</strong>. Er versuchte dem Auswärtigen Amt eindrucksvoll zu vermitteln, wie wichtig die<br />

Armenier für <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> sein könnten. „M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n eine Nation von vier Millionen nicht als<br />

Größe betrachten, die m<strong>an</strong> nicht beachten muss“, sagte er. Er beschrieb die Armenier als ein<br />

Seil, das sich von <strong>der</strong> Türkei bis nach Russl<strong>an</strong>d erstrecke, die eine Hälfte davon in Russl<strong>an</strong>d <strong>und</strong><br />

die <strong>an</strong><strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Türkei. „Es k<strong>an</strong>n nicht zu unserem Vorteil sein, wenn die eine Hälfte, die<br />

russische Hälfte, ständig umworben <strong>und</strong> umschmeichelt wird, während die <strong>an</strong><strong>der</strong>e, die türkische<br />

Hälfte, nur Unterdrückung erfährt.“ Wie beim Tauziehen gewinnen diejenigen, die das Seil auf<br />

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ihre Seite rüberziehen können. „Es ist unmöglich, das Seil zu zerschnei<strong>den</strong>. Sprache, Literatur,<br />

Religion, Sitten bil<strong>den</strong> ein unzerreißbares B<strong>an</strong>d. Die Vernichtungspolitik von Abdul Hamid hat<br />

das Seil nur noch fester geknüpft.“ Anf<strong>an</strong>g Juni 1915 dachte <strong>der</strong> Unterstaatssekretär im<br />

deutschen Auswärtigen Amt, Arthur Zimmerm<strong>an</strong>n, es könnte wahr sein, <strong>und</strong> bat <strong>den</strong> deutschen<br />

Botschafter in Konst<strong>an</strong>tinopel, H<strong>an</strong>s von W<strong>an</strong>genheim, ein Interview zu arr<strong>an</strong>gieren.<br />

W<strong>an</strong>genheim sagte, die Türken wollten Lepsius nicht sehen, <strong>und</strong> riet von jedem Besuch ab. Doch<br />

das Auswärtige Amt best<strong>an</strong>d darauf, nicht aus hum<strong>an</strong>itären Motiven, meine ich, son<strong>der</strong>n weil es<br />

Lepsius gelungen war, es zu überzeugen, dass die Armenier ihnen nützlich sein könnten.<br />

Natürlich wusste Lepsius, dass sie gerade zu Opfern wur<strong>den</strong>. Wenn Lepsius in <strong>der</strong> Lage gewesen<br />

wäre, sofort nach Konst<strong>an</strong>tinopel zu kommen, vielleicht Anf<strong>an</strong>g Juni, hätte er das Komitee für<br />

Einheit <strong>und</strong> Fortschritt nicht überzeugen können. Doch mit dem Auswärtigen Amt im Rücken<br />

wäre es ihm vielleicht gelungen, stärkeren deutschen Einfluss auf die türkische Politik<br />

auszuüben.<br />

Nicht nur heute versucht die Türkei das, was geschehen ist, zu leugnen. Selbst damals bemühte<br />

sich das Komitee für Einheit <strong>und</strong> Fortschritt, alles absolut geheim zu halten, um je<strong>der</strong>zeit<br />

bestreiten zu können, was vor sich ging. Meiner Ansicht nach war die wichtigste Waffe gegen das,<br />

was geschah, die Öffentlichkeit, <strong>und</strong> das ist es, was die türkische Regierung <strong>und</strong> später Lepsius<br />

verst<strong>an</strong><strong>den</strong>. Aber nicht je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> die Armenier unterstützte, hat es verst<strong>an</strong><strong>den</strong>. Am 16. Juli 1915<br />

schrieb <strong>der</strong> Botschafter <strong>der</strong> USA in Konst<strong>an</strong>tinopel, Henry Morgenthau, <strong>an</strong> das amerik<strong>an</strong>ische<br />

Außenministerium, dass „ein rassistischer Vernichtungsfeldzug im G<strong>an</strong>ge sei“, doch er empfahl,<br />

sich je<strong>den</strong> Protests zu enthalten, weil dadurch alles nur noch schlimmer wer<strong>den</strong> könne.<br />

Morgenthau ist für die armenischen Amerik<strong>an</strong>er ein Held (vergleiche beispielsweise Peter<br />

Balaki<strong>an</strong>s Buch „Die H<strong>und</strong>e vom Ararat“), nicht nur wegen seiner Bemühungen zugunsten <strong>der</strong><br />

Armenier, während er in <strong>der</strong> Türkei war, son<strong>der</strong>n, vermutlich auch, weil er am Ende des Krieges<br />

Erinnerungen schrieb, die ihn selbst als gut <strong>und</strong> tapfer darstellen <strong>und</strong> das deutsche diplomatische<br />

Personal als überaus schlecht. Ich bestreite nicht, dass Morgenthau <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> geholfen hat<br />

<strong>und</strong> dass er Lepsius Informationen gab, um sie zu veröffentlichen. Doch er war auch zuallererst<br />

ein Angestellter <strong>der</strong> amerik<strong>an</strong>ischen Regierung (so wie die deutschen Diplomaten in <strong>der</strong> Türkei<br />

zuallererst Angestellte ihrer Regierungen waren). Nachdem er im Spätwinter 1916<br />

Konst<strong>an</strong>tinopel verlassen hatte, zeigte sich Morgenthau sogar mehrmals öffentlich mit dem<br />

türkischen Botschafter in <strong>den</strong> USA. Das erzürnte eine armenische Zeitschrift, die in <strong>den</strong> USA<br />

erschien. Fre<strong>und</strong>e <strong>der</strong> Armenier in Amerika konnten nicht verstehen, wie Morgenthau sich<br />

herablassen konnte, mit einem Repräsent<strong>an</strong>ten <strong>der</strong> mör<strong>der</strong>ischen türkischen Regierung auf<br />

demselben Podium zu erscheinen. Sie konnten nicht verstehen, warum er so etwas tun konnte.<br />

Er tat es, weil jener ein Botschafter in <strong>den</strong> USA <strong>und</strong> die USA eine neutrale Macht war, die <strong>an</strong><br />

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guten Beziehungen mit <strong>den</strong> Türken interessiert war. Im Sommer 1915 unterrichtete er die<br />

amerik<strong>an</strong>ische Regierung über alles, <strong>und</strong> privat tat er sein Bestes, um <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> zu helfen<br />

(wie auch die deutschen Konsuln am Ort). Doch er beriet auch seine Regierung dahingehend,<br />

dass Proteste alles nur noch verschlimmern könnten, <strong>und</strong> schlug vor, dass sie die Missionare in<br />

diesem Sinn informierte.<br />

K.M: Warum hat er das get<strong>an</strong>?<br />

M.A: Nun, vergessen wir nicht, dass Abdul Hamid 1896, als <strong>der</strong> diplomatische Druck auf ihn<br />

zunahm, mit einem Massaker <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> in Ist<strong>an</strong>bul/Konst<strong>an</strong>tinopel ge<strong>an</strong>twortet hat.<br />

Menschen wie Morgenthau glaubten nicht, dass die Türken zivilisierte Leute waren, <strong>und</strong> das aus<br />

gutem Gr<strong>und</strong>. Ich will damit nicht sagen, dass es keine zivilisierten Türken im Osm<strong>an</strong>ischen<br />

Reich gab, doch Türken <strong>und</strong> Kur<strong>den</strong> hatten sich bereits in <strong>den</strong> 1890ern so entsetzlich verhalten,<br />

dass m<strong>an</strong>che Leute nicht glaubten, dass die osm<strong>an</strong>ische Regierung auf so etwas wie <strong>den</strong> Druck<br />

<strong>der</strong> europäischen <strong>und</strong> amerik<strong>an</strong>ischen Öffentlichkeit positiv reagieren würde. Morgenthau<br />

je<strong>den</strong>falls glaubte das nicht. Berücksichtigt m<strong>an</strong>, dass sogar Männer wie Morgenthau so dachten,<br />

gewinnt m<strong>an</strong>, <strong>den</strong>ke ich, auch für <strong>an</strong><strong>der</strong>e Menschen – wie <strong>den</strong> Papst – ein wenig Verständnis, die,<br />

wenn auch irrtümlicherweise, glaubten, m<strong>an</strong> könne für die Armenier mehr erreichen, wenn m<strong>an</strong><br />

hinter <strong>den</strong> Kulissen arbeitete, um die Türken zu überzeugen, dies o<strong>der</strong> das zu tun.<br />

K.M.: Konnte die deutsche Regierung nicht irgendwie eingreifen, um <strong>den</strong> <strong>Völkermord</strong> <strong>und</strong> die<br />

Deportationen zu been<strong>den</strong>?<br />

M.A.: Deutsche Soldaten im Osm<strong>an</strong>ischen Reich waren kein Teil <strong>der</strong> deutschen Armee, son<strong>der</strong>n<br />

st<strong>an</strong><strong>den</strong> alle unter osm<strong>an</strong>ischem Komm<strong>an</strong>do – dazu gehörte auch <strong>der</strong> Schlimmste von ihnen,<br />

Friedrich Bronsart von Schellendorf, Chef des Generalstabs <strong>der</strong> türkischen Armee. Es gab<br />

praktisch keinen legalen Weg, wie die deutsche Regierung ihnen hätte befehlen können zu<br />

intervenieren. Was die deutsche Regierung hätte tun können, wäre, ihnen zu befehlen sich aus<br />

dem osm<strong>an</strong>ischen Dienst zurückzuziehen <strong>und</strong> nach Hause zu gehen. M<strong>an</strong>chmal wird auch<br />

gefragt: „Warum hat die deutsche Regierung nicht gedroht, ihren Nachschub <strong>an</strong> die Osm<strong>an</strong>en<br />

einzustellen?“ Das ist eine gute Frage. Ich habe sie mir selbst gestellt, bevor ich die Interviews<br />

mit Zimmerm<strong>an</strong>n im Jahr 1915 gelesen habe – Interviews, die übrigens nichts mit <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong><br />

zu tun hatten –, die verrieten, dass er sich ständig sorgte, weil <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> unfähig war,<br />

Nachschub <strong>an</strong> die Osm<strong>an</strong>en zu liefern. Es war nicht vor Mitte J<strong>an</strong>uar 1916, nachdem Serbien<br />

erobert war, dass deutsche Züge Ist<strong>an</strong>bul erreichen konnten. Davor konnten m<strong>an</strong> keinen<br />

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Nachschub <strong>an</strong> die Türkei mit dem Schiff tr<strong>an</strong>sportieren (außer Geld, was nutzlos war), sodass es<br />

keinen Nachschub gab, <strong>den</strong> m<strong>an</strong> 1915 abschnei<strong>den</strong> konnte. So sagte zumindest Zimmerm<strong>an</strong>n.<br />

K.M.: Was können Sie über die Bagdadbahn sagen?<br />

M.A.: Ich habe mir Dokumente aus dem Gesellschaftsarchiv <strong>an</strong>gesehen, die zeigen, dass die<br />

Gesellschaft wusste, was vor sich ging. Repräsent<strong>an</strong>ten <strong>an</strong> Ort <strong>und</strong> Stelle versuchten tatsächlich,<br />

wie Hilmar Kaiser schrieb, Armenier zu verstecken <strong>und</strong> zu schützen; sie protestierten auch <strong>und</strong><br />

informierten ihre heimatlichen Büros. Dennoch setzte sich ein deutscher Offizier, Oberstleutn<strong>an</strong>t<br />

Böttrich, <strong>der</strong> als Verbindungsm<strong>an</strong>n zwischen <strong>der</strong> deutschen Armee <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bagdadbahn<br />

fungierte, über das (<strong>an</strong>atolische) Bahnpersonal hinweg <strong>und</strong> unterschrieb eigenhändig einen<br />

Deportationsbefehl für einige seiner armenischen Arbeiter. Ich behaupte hier nicht, dass es nicht<br />

bestimmte Deutsche in <strong>der</strong> Türkei gegeben hat, die eindeutig die Position des Komitees für<br />

Einheit <strong>und</strong> Fortschritt übernommen haben.<br />

K.M.: Aus <strong>der</strong> Literatur habe ich nicht <strong>den</strong> Eindruck gewonnen, dass es eine gemeinsam gepl<strong>an</strong>te<br />

Politik gab, was erklären würde, warum sich einige Leute <strong>an</strong><strong>der</strong>s verhielten.<br />

M.A.: Ich habe nicht so intensiv über das Verhalten des deutschen Militärs geforscht, wie ich<br />

gern tun würde; <strong>und</strong> die meisten <strong>der</strong> Militärarchive <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong>s wur<strong>den</strong> durch Bomben im<br />

Zweiten Weltkrieg zerstört, sodass wir nie die Art von Sicherheit haben wer<strong>den</strong> wie bei <strong>den</strong><br />

diplomatischen Akten. Aber es gab zumindest zwei deutsche Offiziere, die sich <strong>an</strong><strong>der</strong>s verhielten.<br />

Feldmarschall Lim<strong>an</strong> von S<strong>an</strong><strong>der</strong>s rettete die Armenier in Edirne <strong>und</strong> Izmir. Sicher, es gab nicht<br />

viele Armenier in diesen zwei Städten, sodass sie weniger wichtig für das Komitee waren als die<br />

Armenier in V<strong>an</strong> o<strong>der</strong> Urfa. Somit stieß Lim<strong>an</strong> wahrscheinlich auf weniger Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>d von<br />

Seiten <strong>der</strong> osm<strong>an</strong>ischen Behör<strong>den</strong>, als wenn er etwas Ähnliches in Ost<strong>an</strong>atolien versucht hätte.<br />

Doch er traf auf Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>d <strong>und</strong> weigerte sich strikt, zuzulassen, dass m<strong>an</strong> sie deportierte. Lim<strong>an</strong><br />

besaß allerdings eine Persönlichkeit, die niem<strong>an</strong>d mochte, <strong>und</strong> er mochte auch niem<strong>an</strong><strong>den</strong>, sodass<br />

m<strong>an</strong> fast voraussagen konnte, dass er das Gegenteil von dem tun würde, was <strong>an</strong><strong>der</strong>e Leute von<br />

ihm wollten. Hätte sich je<strong>der</strong> deutsche Offizier <strong>und</strong> Diplomat so wie Lim<strong>an</strong> verhalten, wäre das<br />

Resultat für die osm<strong>an</strong>isch-deutschen Beziehungen vermutlich verheerend gewesen. Auf <strong>der</strong><br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>en Seite war das Osm<strong>an</strong>ische Reich inzwischen so stark am Krieg beteiligt <strong>und</strong> hatte so viele<br />

Feinde bei <strong>den</strong> Entente-Mächten, die bereits dabei waren, auf seine Kosten Territorium zu<br />

verteilen, dass wir fragen müssen: Hätten die Türken wirklich das deutsch-österreichische<br />

Bündnis verlassen? Wahrscheinlich nicht. Doch wenn sie einen Separatfrie<strong>den</strong> mit <strong>der</strong> Entente<br />

9


geschlossen hätten, hätte es ihnen noch mehr Freiheiten mit <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> verschafft. Der<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>e deutsche Offizier, <strong>der</strong> sich <strong>an</strong><strong>der</strong>s verhielt, war Oberst (später General) Kress von<br />

Kressenstein, Generalstabschef von Djemal Pascha. Er überzeugte Djemal offenbar, 400<br />

armenische Waisen nicht zu deportieren.<br />

Im von <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> besetzten Gebiet des russischen Reichs verhütete die deutsche Armee<br />

Pogrome gegen die Ju<strong>den</strong> durch die heimische Bevölkerung (zum Beispiel Ukrainer <strong>und</strong> Russen),<br />

die von <strong>den</strong> zurückweichen<strong>den</strong> zaristischen Truppen <strong>an</strong>gestiftet wur<strong>den</strong>. Eine vergleichbare<br />

Hysterie gegen ethnische Minoritäten gab es während des Ersten Weltkriegs überall in Europa,<br />

beson<strong>der</strong>s Osteuropa, wo sie von <strong>der</strong> zaristischen Armee <strong>an</strong>geheizt wurde. In m<strong>an</strong>chen Fällen<br />

wurde die deutsche Minorität zum Ziel; in <strong>an</strong><strong>der</strong>en waren es die Ukrainer o<strong>der</strong> Polen o<strong>der</strong><br />

baltische Volksgruppen. Doch die Ziele schlossen fast immer die Ju<strong>den</strong> ein. Wo immer sie<br />

hinzog, schützte die deutsche Armee die Ju<strong>den</strong>. Der Befehl dazu kam aus Berlin. Und sie hatten<br />

das Gebiet, das sie erobert hatten, besetzt. Berlin konnte deutschen Offizieren, die in <strong>der</strong><br />

osm<strong>an</strong>ischen Armee dienten, keine Befehle geben.<br />

K.M.: Dadri<strong>an</strong> erwähnt, dass diese deutschen Offiziere durch türkische Untergebene falsch<br />

informiert wur<strong>den</strong>. Ist das häufiger vorgekommen?<br />

M.A.: In m<strong>an</strong>chen Fällen mag das <strong>der</strong> Fall gewesen sein. Interess<strong>an</strong>t ist, dass m<strong>an</strong> Wolffskeel von<br />

Reichenberg, einem Major in Marasch, berichtete, dass die Armenier Türken abschlachten<br />

wür<strong>den</strong>. Er war dort, sah, dass die Geschichte erf<strong>und</strong>en war, <strong>und</strong> erstickte sie im Keim. Später<br />

allerdings, unter dem Komm<strong>an</strong>do von Fakhri Pascha, unterdrückte er Zeitun <strong>und</strong> die Armenier<br />

in Urfa <strong>und</strong> war auf dem Musa Dagh. Also <strong>den</strong>ke ich nicht, dass die beste Erklärung für ihr<br />

Verhalten ist, dass m<strong>an</strong> <strong>den</strong> deutschen Offizieren falsche Informationen lieferte, o<strong>der</strong> dass sie<br />

allmählich die Sichtweise <strong>der</strong> Menschen, für die sie arbeiteten, übernahmen <strong>und</strong> die Dinge aus<br />

ihrer Perspektive sahen.<br />

K.M.: Ist das Wort „Komplizenschaft“ ihrer Meinung nach geeignet, um die deutsche<br />

Beteiligung am Genozid <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> zu beschreiben?<br />

M.A.: Meiner Ansicht nach vermittelt es einen falschen Eindruck. Ich <strong>den</strong>ke, dass die deutschen<br />

Historiker die Deutschen am strengsten beurteilen (obwohl Dadri<strong>an</strong> auch ein hartes Urteil<br />

abgibt), beson<strong>der</strong>s Tessa Hoffm<strong>an</strong> <strong>und</strong> Wolfg<strong>an</strong>g Gust sowie <strong>der</strong> Schweizer Historiker Christoph<br />

Dinkel. Sie neigen dazu, diese Deutschen wie frühe Nazis aussehen zu lassen. Das mag für einige<br />

wenige dieser Offiziere gelten, doch ich glaube, dass die Deutschen gemeinhin h<strong>an</strong>delten, wie die<br />

10


Menschen in allen Län<strong>der</strong>n meistens h<strong>an</strong>deln, das heißt, sie wollen das Beste für ihr eigenes L<strong>an</strong>d<br />

bewirken.<br />

Beispielsweise waren die Ju<strong>den</strong> in Engl<strong>an</strong>d über die Beh<strong>an</strong>dlung <strong>der</strong> Ju<strong>den</strong> in Russl<strong>an</strong>d entsetzt.<br />

Sie waren, genau wie die Fre<strong>und</strong>e <strong>der</strong> Armenier in <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> mit Bezug auf die Türkei<br />

dagegen, dass Engl<strong>an</strong>d ein Bündnis mit Russl<strong>an</strong>d einging.<br />

Sie waren wirklich wütend, als die Entente mit Russl<strong>an</strong>d 1907 errichtet wurde. D<strong>an</strong>n kam <strong>der</strong><br />

Krieg, <strong>und</strong> Engl<strong>an</strong>d verbündete sich mit Russl<strong>an</strong>d, obgleich die russische Armee drei Millionen<br />

Ju<strong>den</strong> „evakuierte“. (M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n es auch Deportation nennen.) Sie brachten sie normalerweise<br />

nicht um, son<strong>der</strong>n evakuierten sie zw<strong>an</strong>gsweise als eine „Sicherheitsmaßnahme“ <strong>und</strong> als Strafe<br />

für die <strong>an</strong>gebliche Kollaboration mit <strong>den</strong> Deutschen. In diesen Fällen verloren die Evakuierten<br />

alles, was sie besaßen: Häuser, Möbel, Geschäfte, alles. Und die zaristischen Armeen beteiligten<br />

sich <strong>an</strong> <strong>den</strong> Pogromen, die m<strong>an</strong>chmal folgten. Die Ju<strong>den</strong> in Engl<strong>an</strong>d protestierten, <strong>und</strong> m<strong>an</strong><br />

erlaubte ihnen zu protestieren. Das ist ein Unterschied. Aber beeinflussten ihre Proteste gegen<br />

die russische Beh<strong>an</strong>dlung <strong>der</strong> Ju<strong>den</strong> die Politik <strong>der</strong> britischen Regierung? Nein. Der britische<br />

Botschafter in Petersburg, Sir George Buch<strong>an</strong><strong>an</strong>, schrieb doch tatsächlich seiner Regierung: „Es<br />

gibt nicht <strong>den</strong> geringsten Zweifel, dass ein sehr großer Anteil <strong>der</strong> Ju<strong>den</strong> in deutschem Sold<br />

während <strong>der</strong> Kampagnen in Polen spionierte.“ Das heißt, er glaubte <strong>und</strong> vermittelte all diese<br />

Lügen, die die russische Armee über die Ju<strong>den</strong> erzählte. Nun, ich muss schon sagen, dass die<br />

deutschen Diplomaten im Osm<strong>an</strong>ischen Reich objektiver <strong>und</strong> ehrlicher waren. Sie sahen sich die<br />

Vorwürfe, die das Komitee gegen die Armenier erhob, genau <strong>an</strong>. Sie waren überzeugt, dass die<br />

Mehrheit <strong>der</strong> Armenier unschuldig war, dass die Masse des armenischen Volkes keine Verräter<br />

waren. Und sie erzählten ihrer eigenen Regierung von <strong>der</strong> Wahrheit. Ich glaube, <strong>der</strong> Begriff<br />

„Komplizenschaft“ erweckt einen falschen Eindruck vom Verhalten <strong>der</strong> deutschen Beamten. Ich<br />

will damit nicht sagen, dass die Deutschen „gut“ waren, aber sie verhielten sich so, wie es die<br />

Repräsent<strong>an</strong>ten <strong>der</strong> meisten Län<strong>der</strong> tun wür<strong>den</strong>.<br />

K.M.: Was halten Sie von <strong>der</strong> Ansicht, dass <strong>der</strong> <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> ein Vorläufer des<br />

Holocausts war <strong>und</strong> dass einige Offiziere, die in <strong>der</strong> osm<strong>an</strong>ischen Armee dienten, später<br />

hochr<strong>an</strong>gige Nazis wur<strong>den</strong>?<br />

M.A.: Es gibt bestimmt einige Kontinuitäten, obwohl die Tatsache, dass Männer, die später <strong>den</strong><br />

Nazis dienten, auch Zeit in <strong>der</strong> Türkei verbrachten, nicht überraschend ist, wenn m<strong>an</strong> <strong>den</strong> Krieg<br />

be<strong>den</strong>kt <strong>und</strong> die Bedeutung des St<strong>an</strong>dorts Konst<strong>an</strong>tinopel <strong>und</strong> des Osm<strong>an</strong>ischen Reichs im<br />

Allgemeinen. Viele <strong>der</strong>selben Leute verbrachten auch Zeit in Belgien <strong>und</strong> Fr<strong>an</strong>kreich. Einer <strong>der</strong><br />

schlimmsten Deutschen, was die Unwilligkeit <strong>an</strong>geht, <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> zu helfen, war Konst<strong>an</strong>tin<br />

11


von Neurath. Er war Botschaftsrat in <strong>der</strong> deutschen Botschaft in Konst<strong>an</strong>tinopel <strong>und</strong> wurde<br />

später unter Hitler <strong>der</strong> erste Außenminister, obgleich er nicht Mitglied <strong>der</strong> Nazi-Partei war. Er<br />

schrieb im Herbst 1915 nach Berlin, dass er hoffte, die Fre<strong>und</strong>e <strong>der</strong> Armenier in <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong><br />

[die Deutsch-Armenische Gesellschaft, von Lepsius gegründet] könnten ruhig gehalten wer<strong>den</strong>,<br />

obwohl er zugab, dass die deutsche Regierung die Gesellschaft nicht einfach verbieten konnte. Er<br />

meinte, dass das Geld, das sie für die Armenienhilfe sammelten, besser für Hilfe <strong>an</strong> Deutsche<br />

verwendet wer<strong>den</strong> könnte. Also war er eindeutig ein herzloser Typ.<br />

Allerdings sollte ich auch eine <strong>der</strong> echten Ironien <strong>der</strong> Geschichte erwähnen. Max Erwin von<br />

Scheubner-Richter war <strong>der</strong> Vizekonsul von Erzurum <strong>und</strong> ein Offizier <strong>der</strong> bayrischen Armee. Er<br />

war nach Ost<strong>an</strong>atolien ges<strong>an</strong>dt wor<strong>den</strong>, um die muslimische Guerilla hinter <strong>den</strong> russischen Linien<br />

zu org<strong>an</strong>isieren, so in <strong>der</strong> Art, wie die Russen nach Auffassung m<strong>an</strong>cher Leute die Armenier<br />

org<strong>an</strong>isierten. Doch als er dort <strong>an</strong>kam, war <strong>der</strong> Konsul von Erzurum gerade von <strong>den</strong> Russen<br />

gef<strong>an</strong>gen genommen wor<strong>den</strong>, <strong>und</strong> so wurde nahm Scheubner-Richter als Vizekonsul seine Stelle<br />

ein. Dieser M<strong>an</strong>n beschwerte sich bei seiner Regierung über die Beh<strong>an</strong>dlung <strong>der</strong> Armenier. Er<br />

war auch extrem mutig, wenn es darum ging, bei <strong>der</strong> osm<strong>an</strong>ischen Regierung zu protestieren. Er<br />

wurde von seiner eigenen Regierung getadelt, weil er sich zu <strong>und</strong>iplomatisch gegenüber <strong>den</strong><br />

Türken verhielt. Er versorgte einige armenische Flüchtlinge, die durch Erzurum kamen, aus<br />

eigener Tasche mit Lebensmitteln. Zu diesem Zeitpunkt war er ein wahrer Held. Nach dem<br />

Krieg wurde er zum Nazi <strong>und</strong> 1923 in München erschossen, als er neben Hitler nach seinem<br />

Bierhallen-Putsch zur Feldherrenhalle marschierte. Zu dieser Zeit war er Hitlers rechte H<strong>an</strong>d für<br />

die Fin<strong>an</strong>zen <strong>der</strong> Partei. Hitler bezieht sich auf ihn in Briefen aus <strong>der</strong> Zeit als „mein Vertreter“.<br />

Er diente als Verbindungsm<strong>an</strong>n zwischen <strong>der</strong> frühen Nazi-Bewegung, dem Militär <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Wirtschaft.<br />

Die übelste Person in <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong>, soweit es die Armenier betraf, war Ernst Jäckh, ein Journalist,<br />

<strong>der</strong> auch einige akademische Wür<strong>den</strong> besaß. Er gründete in <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> eine wichtige<br />

protürkische Lobby, die deutsch-türkische Gesellschaft, <strong>und</strong> rühmte sich, Enver Pascha nahe zu<br />

stehen. Seine Aktivitäten im Krieg beschränkten sich hauptsächlich auf Propag<strong>an</strong>da, <strong>und</strong> er<br />

sorgte dafür, dass unter <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung unaufhörlich protürkische Nachrichten<br />

verbreitet wur<strong>den</strong>. Er war praktisch ein Angestellter <strong>der</strong> türkischen Regierung, jem<strong>an</strong>d, <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

deutsch-armenischen Gesellschaft beitrat, um sie auszuspionieren. Er spionierte auch Lepsius aus<br />

<strong>und</strong> berichtete seiner Regierung über dessen Aktivitäten, <strong>und</strong> er bemühte sich immer,<br />

Nachrichten in eine protürkische Richtung zu verdrehen. Nach dem Krieg engagierte er sich<br />

führend für <strong>den</strong> Beitritt <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong>s in <strong>den</strong> Völkerb<strong>und</strong>. 1933 verließ er <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> <strong>und</strong> ging<br />

nach New York, wo er Professor <strong>an</strong> <strong>der</strong> Columbia University wurde <strong>und</strong> ein Spitzendemokrat<br />

<strong>und</strong> Liberaler. Tatsächlich war er immer ein Liberaler gewesen. Also k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> meiner Meinung<br />

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nach keine gerade Linie ziehen zwischen <strong>den</strong> Tätern im Ersten Weltkrieg <strong>und</strong> jenen unter dem<br />

Nazi-Regime.<br />

K.M.: Und welche Linie können wir zwischen dem <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Armeniern</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

deutschen Ver<strong>an</strong>twortlichkeit ziehen?<br />

M.A: In dieser Hinsicht ist die Verbindung meiner Ansicht nach „ethnische Säuberung“. Das<br />

Komitee war stark beeinflusst von integralem Nationalismus <strong>und</strong> – wie M. Sükrü H<strong>an</strong>ioglu<br />

gezeigt hat – von Sozialdarwinismus <strong>und</strong> europäischem rassistischem Ged<strong>an</strong>kengut als Basis<br />

eines mächtigen Nationalstaats. Deutsche Intellektuelle trugen viel zu diesen Strömungen bei,<br />

<strong>und</strong> deutsche Erfolge schienen die Richtigkeit <strong>der</strong> Argumentation zu belegen: homogene Nation,<br />

mächtiger Staat.<br />

K.M: Marschall Colmar von <strong>der</strong> Goltz soll etwas wie ethnische Säuberung vorgeschlagen haben.<br />

M.A: So sagen m<strong>an</strong>che Leute, doch ich habe noch keinen Beweis dafür gef<strong>und</strong>en. Sie sagen das<br />

auch über <strong>den</strong> Publizisten Paul Rohrbach, was ich stark bezweifle, zumindest in diesem Sinne.<br />

Rohrbach war sicherlich ein deutscher Nationalist <strong>und</strong> ein Imperialist – wie die meisten Männer<br />

aus <strong>den</strong> gebildeten Schichten zu jener Zeit – wenn er auch für einen „friedlichen Imperialismus“<br />

eintrat, <strong>der</strong> deutsche Kultur <strong>und</strong> „Ideen“ durch Entwicklungshilfe, Schulen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Austausch verbreiten sollte. Er war wirklich ein Fre<strong>und</strong> <strong>der</strong> Armenier <strong>und</strong> saß im Vorst<strong>an</strong>d von<br />

Lepsius’ deutsch-armenischer Gesellschaft. Es heißt, Rohrbach habe es für eine gute Idee<br />

gehalten, die Armenier entl<strong>an</strong>g <strong>der</strong> Strecke <strong>der</strong> gepl<strong>an</strong>ten Berlin-Bagdad-Eisenbahn zu entfernen<br />

<strong>und</strong> dort Deutsche <strong>an</strong>zusiedeln, doch ich k<strong>an</strong>n mir nicht das nicht vorstellen. Als Rohrbach das<br />

mit <strong>den</strong> Deportationen herausf<strong>an</strong>d, war er am Bo<strong>den</strong> zerstört <strong>und</strong> trat aus Jäckhs deutschtürkischer<br />

Gesellschaft aus. Über von <strong>der</strong> Goltz würde ich gern einen stichhaltigen Beweis sehen.<br />

Die Kontinuität zwischen <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Regimen – dem Komitee für Einheit <strong>und</strong> Fortschritt <strong>und</strong><br />

<strong>den</strong> Nazis – liegt in dem gemeinsamen Wunsch, einen ethnisch homogenen Staat zu schaffen.<br />

Die Jungtürken haben diese Idee aus Europa übernommen, doch die Nazis waren das erste<br />

europäische Regime, das sich sehr bemühte, es konsistent <strong>und</strong> in rigoroser Weise umzusetzen.<br />

Ich <strong>den</strong>ke, das Komitee war so etwas wie die Nazis, aber nicht deswegen, weil es Deutsche gab,<br />

die im Ersten Weltkrieg mit <strong>den</strong> Türken verbündet waren <strong>und</strong> es d<strong>an</strong>n als Deutsche das zweite<br />

Mal ver<strong>an</strong>stalteten. M. Sükrü H<strong>an</strong>ioglu von <strong>der</strong> Princeton University hat in seinen zwei Büchern<br />

über das Komitee nachgewiesen, dass sie sogar vor 1908 sozialdarwinistische Ideen übernommen<br />

hatten. Beide Bewegungen tr<strong>an</strong>ken aus demselben Brunnen des integralen Nationalismus. Ich<br />

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glaube, das Komitee war die türkische Version dessen, was später „Faschismus“ gen<strong>an</strong>nt wer<strong>den</strong><br />

würde.<br />

Einer meiner Kollegen, <strong>der</strong> in <strong>den</strong> Vereinigten Staaten türkische Geschichte lehrt (wir wollen<br />

seinen Namen nicht nennen, weil er d<strong>an</strong>n, wie ich vermute, seine Familie in <strong>der</strong> Türkei nicht<br />

mehr besuchen könnte), erzählte mir, dass er keinen Zweifel dar<strong>an</strong> habe, dass dort ein<br />

<strong>Völkermord</strong> stattgef<strong>und</strong>en hat. Ihm stellt sich nur die Frage, wie weit die Ver<strong>an</strong>twortung im<br />

Komitee reicht. Wie viele Leute waren <strong>an</strong> <strong>der</strong> Entscheidung beteiligt? Weil es eine Diktatur war.<br />

Ein interess<strong>an</strong>ter Unterschied zwischen dem <strong>Völkermord</strong> des Komitees <strong>und</strong> dem <strong>der</strong> Nazis ist,<br />

dass es im Dritten Reich niemals irgendwelche Proteste von Seiten <strong>der</strong> Amtsträger gab, als die<br />

Ju<strong>den</strong> umgebracht wur<strong>den</strong>! In <strong>der</strong> Türkei protestierten mehrere Walis (Gouverneure) <strong>und</strong><br />

niedrige osm<strong>an</strong>ische Beamte. Und bezahlten dafür. In <strong>der</strong> Türkei kritisierten m<strong>an</strong>che Kur<strong>den</strong>,<br />

Araber <strong>und</strong> sogar einige türkische Muslime diese Politik <strong>und</strong> retteten in aller Öffentlichkeit<br />

Armenier. In <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> taten es die wenigen Deutschen, die Ju<strong>den</strong> retteten, in aller<br />

Heimlichkeit. Bis auf <strong>den</strong> Aufst<strong>an</strong>d <strong>der</strong> christlichen Frauen in <strong>der</strong> Berliner Rosenstraße gegen die<br />

Deportation ihrer jüdischen Ehemänner. Und das war einzigartig. Vielleicht gibt es diesen<br />

Unterschied zur Türkei, weil <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> so ein „org<strong>an</strong>isiertes“ L<strong>an</strong>d <strong>und</strong> es viel schwerer war,<br />

mit einem Verhalten gegen die offizielle Politik davon zu kommen (zumindest haben das die<br />

Menschen vielleicht gedacht), als das in <strong>der</strong> Türkei <strong>der</strong> Fall war.<br />

K.M: Was ist mit <strong>Deutschl<strong>an</strong>d</strong> heute? Hat es die moralische Ver<strong>an</strong>twortung, <strong>den</strong> <strong>Völkermord</strong><br />

zuzuerkennen?<br />

M.A.: Unbedingt! Wie auch die Türkei. Allerdings sind die Türken mit einer bestimmten<br />

Sichtweise <strong>der</strong> Geschichte aufgewachsen. Wenn ihnen Auslän<strong>der</strong> sagen, dass sie ihr<br />

Geschichtsbild än<strong>der</strong>n müssen, stimmen sie am Ende vielleicht sogar zu – beispielsweise wenn<br />

das <strong>der</strong> Preis ist, <strong>der</strong> EU beizutreten –, aber das wird sie nicht dar<strong>an</strong> glauben lassen. Meine<br />

Hoffnung rührt daher, dass es heute in <strong>der</strong> Türkei türkische Historiker gibt, die die Wahrheit<br />

wirklich kennen. Sie trauen sich nicht immer, sie zu sagen. Doch das än<strong>der</strong>t sich. Da die Türkei<br />

immer demokratischer wird <strong>und</strong> die Armee zunehmend in Verruf gerät, wird es in <strong>der</strong> Türkei<br />

mehr Meinungsfreiheit geben. Und ich glaube, dass sich d<strong>an</strong>n die Historiker, die außerhalb <strong>der</strong><br />

Türkei glaubwürdig sein wollen, das Beweismaterial genauso <strong>an</strong>sehen wer<strong>den</strong> müssen, wie wir es<br />

tun.<br />

Aus dem Englischen von Elke Hosfeld<br />

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