Essay2_snt 1 - Theater Osnabrück

Impulsreferat anlässlich des 1. Streitraums am Theater Osnabrück zu "Ein
Sommernachtstraum" von William Shakespeare in der Inszenierung von Anne
Lenk.
Verfasst wurde das Impulsreferat von dem Produktionsdramaturgen Hilko Eilts
Sehr geehrte Damen und Herren,
wie Ralf Waldschmidt in seiner Einleitung deutlich gemacht hat: Anne Lenks Inszenierung
von "Ein Sommernachtstraum" spaltet das Osnabrücker Publikum. Die Reaktionen
reichen von heller Begeisterung über mäßige Amüsiertheit bis hin und zu heftiger
Empörung und schroffer Ablehnung. Die einen loben die Frische dieser Inszenierung,
den unkonventionellen Zugriff, die Leistung der Darsteller, die anderen
schimpfen über Geistlosigkeit, beschweren sich über Ferkeleien, Nacktheit, Softpornografie
auf der Bühne, die unglückliche Übersetzung von Rebecca Kricheldorf. Vom
Missbrauch großer Namen und öffentlicher Gelder ist die Rede, von Jugendgefährdung
und Gewalt, die man den Darstellern antue, die so etwas spielen müssten. Mit
bisweilen fast unerbittlicher Leidenschaftlichkeit werden Pro und Contra diskutiert.
Fast scheint es, als hätte der große Shakespeare hellseherische Fähigkeiten gehabt,
als hätte er geahnt, dass dieser Sommernachtstraum Skandalpotential hat, denn er
selber lässt am Ende dieser Komödie Puck, auch bekannt als Robin Goodfellow,
dem Hofnarren Oberons folgenden Epilog sprechen, der in der Osnabrücker Fassung
gestrichen ist:
PUCK (ans Publikum)
Wenn wir Schatten Euch beleidigt,
Ist der Fehler schnell beseitigt:
Denkt, dass Euch der Schlaf befiel
Während unserm Schemenspiel.
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Diesen ganzen Firlefanz, der kaum
Mehr Gehalt hat als ein Traum,
Tadelt nicht über Gebühr.
Seid ihr gnädig, lernen wir.
Und verschont ihr uns dazu
Mit dem wohlverdienten „Buh“,
Gibt’s hier bald ein bessres Stück -
Adernfalls das Geld zurück.
Ich heiß Puck und halte Wort.
Nun gut Nacht, ihr alle dort.
Und wenn ihr mich jetzt freundschaftlich
Beklatscht, lässt Puck Euch nie im Stich.
Ja, Shakespeare war und Shakespeare ist immer wieder für einen Skandal gut. Erinnert
sei an die Othello-Inszenierung von Luc Perceval an den Münchener Kammerspielen.
Der Dramatiker Feridun Zaimoglu hatte eigens für diese Inszenierung eine
neue Fassung geschrieben, die der soldatischen Rohheit der Akteure drastisch Ausdruck
verlieh. In Kombination mit dem Percevalschen Inszenierungsansatz war das
offenbar zu viel. Das Münchener Publikum tobte und verließ bei der Premiere zuhauf
den Saal. "Darf Theater das?" war die Frage, die die Gegner dieser Inszenierung
öffentlich stellten. Darf man so mit Shakespeare umgehen?
Erinnert sei auch an in die Macbeth-Inszenierung von Jürgen Gosch am Düsseldorfer
Schauspielhaus. Das shakespearsche Diktum, dass der Mensch das schlimmst aller
Wesen sei, illustrierte Gosch gleich zu Anfang des Theaterabends, den für "Der
Spiegel" der einstige Popliterat Joachim Lottmann folgendermaßen beschrieb:
Macbeth, nackt. Es ist Ekeltheater von Anfang an. Die minderjährigen Lämmer
haben sich noch nicht richtig hingesetzt, als ihnen schon meterhoch der Dreck
entgegenspritzt. Was mag in ihnen nur vorgehen? Der Lehrer hat etwas anderes
versprochen. Auch die Mädchen hatten eigentlich Shakespeare erwartet.
Nun sehen sie Blut und Schlimmeres. Aber sie kotzen nicht, das tun ja schon
die Schauspieler.
Von der ersten Sekunde an stehen alle nackt auf der Bühne. Nur der König trägt
etwas, eine verrutschte Papierkrone auf dem Kopf, damit man ihn erkennen
kann. Der Zuschauerraum ist hell ausgeleuchtet, damit niemand unbemerkt fliehen
kann. Die Pause fällt aus, aus demselben Grund. Gäbe es eine, wäre anschließend
das Haus leer - bestimmt hat man das schon oft ausprobiert.
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Die Empörung insbesondere des Premierenpublikums, aber auch eines Teils der
Rezensenten, konnte den langfristig immensen Erfolg beider Inszenierungen nicht
verhindern. Beide Produktionen wurden mit Theaterpreisen bedacht, auf internationale
Theaterfestivals eingeladen und füllten die Häuser.
Was bei aller Unterschiedlichkeit vielen Shakespeare-Inszenierungen der letzten
Jahre gemeinsam ist, scheint die Entdeckung oder Wiederentdeckung des
volkstheatralen Shakespeares, des derben, vulgären, Possen reißenden, über die
Maßen brutalen Shakespeares. Dieser Shakespeare ist wahrlich keine Erfindung von
profilneurotischen Regisseuren, die den Skandal bewusst und wohlkalkuliert provozieren
wollen. Wer sich wirklich die Mühe macht, Shakespeare im Original zu lesen,
der wird erstaunliche Entdeckungen machen. "Titus Andronicus" beispielsweise: eine
einzige Orgie der Grausamkeit. Vergewaltigung, Verstümmelung, die Verarbeitung
menschlichen Fleisches zur Bestreitung eines Festmahles - vor keiner noch so entsetzlichen
Brutalität schreckte Shakespeare zurück. Als Botho Strauss vor einigen
Jahren eine Bearbeitung dieses shakespearschen Stückes wagte, die diese Grausamkeiten
nicht aussparte und die Luc Bondy in Paris zur Uraufführung brachte, war
der Furor erneut groß und wieder stand die Frage im Raum: Darf Theater das?
Neben "Titus Andronicus" ist auch der Shakespearsche "Macbeth" nicht ohne. Heimtückisch
ermordet Macbeth seinen König Duncan, der sich in Macbeth' Burg sicher
und geborgen glaubte. Mit bluttriefenden Händen tritt der von Duncan frisch beförderte
Macbeth aus dem Schlafgemach des Königs und hält Zwiesprache mit Lady Macbeht,
als es plötzlich am Burgtor pocht. Der schlaftrunkene Torwächter öffnet den
nächtlichen Störenfrieden und rechtfertig seine Zögerlichkeit mit dem übermäßigen
Genuss von Alkohol, der ein rechtes Laster sei. Ich zitiere Shakespeare (in der Übersetzung
von Frank Günther):
Das Saufen ist ein großer Anreger für dreierlei: Nasenröte, Schlafen und Wasserlassen.
Die Wollust regt es an und regt es ab: stachelt das Wollen an, aber
verhindert die Ausübung der Lust. Drum könnt man sagen, Saufen ist der jesuitische
Zweideutler bei der Wollust: es schafft sie und erschlafft sei, es lockt sie
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und lähmt sie; kitzelt auf und würgt dann ab; ermuntert sie erst und entmutig
dann; lässt erst strammstehn und dann hängen.
Ja, das shakespearsche Theater war nachweislich ein Volkstheater, das die Bedürfnisse
aller Bevölkerungsschichten des elisabethanischen Englands bediente. Der
Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Tomaso di Lampedusa (1896 - 1957) beschreibt
das in seinem Shakespeare-Buch (sicher nicht frei von Übertreibungen)
recht plastisch:
Wir wissen alle, dass es keine Theatersäle im eigentlichen Sinne gab, sondern
dass die Aufführungen ohne Vorhang und fast ohne Kulissen im Hof der Wirtshäuser
stattfanden. Erst unter Jakob I., dem Nachfolger Elisabeths, wurden eigens
dafür Säle gebaut. Diese Theater-Wirtshäuser befanden sich am rechten
Ufer der Themse, das damals noch gänzlich ländlich war, zwei Schritte vom Hafen
entfernt. Und das Publikum bestand zum großen Teil aus Seeleuten und
Hafenarbeitern, aus Schankwirten und Dirnen. Der Direktor eines Theaters war
damals so etwas wie eine Mischung aus Bordellbesitzer und Mafiaboss. Die
Seeleute waren alle Piraten, oder waren es zumindest gewesen. Es waren die
Männer, die Cadiz geplündert hatten, die die vom Sturm an Irlands Küsten
geworfenen Spanier der Armada abgeschlachtet hatten, die wenige Monate vor
jeder Vorstellung die unsäglichsten Greueltaten in den spanischen Kolonien Mittelamerikas
verübten. Prächtige Abenteurertypen: ohne den Schatten eines
Vorurteils, ohne eine Vorstellung von Erziehung, ohne einen Anflug von Furcht
zogen sie auch schon bei der geringsten Provokation das Messer. Im Jahr
1597, in dem Jahr eben, in dem Heinrich V. und Julius Caesar aufgeführt wurden,
gab es in den beiden Theatern Londons neun Tote bei Schlägereien. Fast
jeder Aufführung ging die Tötung eines Kalbs auf der Bühne voraus, die ein
Schauspieler besorgte, denn auf Blutszenen war das Publikum besonders
versessen. Die sexuelle Enthemmung kannte keine Grenzen, und die Kopulationen
fanden mitten im Parkett statt. Wenn ein Künstler oder ein Drama nicht gefiel,
begnügte man sich nicht damit, das Missfallen lauthals mit der Stimme
kundzutun, sondern warf Hunde- und Katzenkadaver oder tote Ratten (die
schönen großen Ratten des Londoner Hafens) auf die Bühne, oder, als Ausdruck
des Wohlwollens, faule Eier und verfaultes Obst. Die Gentlemen und andere
wohlerzogene Personen besuchten die Theater zwar, aber mit der gleichen
Haltung, mit der sie ins Bordell gingen; und nur in Begleitung bewaffneter
Diener. Wenn die Königin oder die Lords tatsächlich ein Drama sehen wollten,
ließen sie es im Palast aufführen. Es war weniger Volks- als vielmehr Plebstheater;
und weniger Plebs- als vielmehr Verbrechertheater. Dies darf man nicht
vergessen, denn es wird helfen, die Zügellosigkeiten und Greuel vieler elisabethanischer
Dramen, die Rohheit auch vieler Shakespeare-Szenen, die vulgären
Späße fast aller Clowns zu rechtfertigen. Die Mischung aus brutalster Komik
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und höchstem Drama war eine soziale und ökonomische Notwendigkeit des
englischen (und spanischen) Theaters jener Zeit.
Dass die shakespearsche Bühne, das Globe, seinerzeit nicht in London sondern vor
den Toren Londons errichtet war, hatte gute Gründe, denn den Stadtvätern Londons
war dieses Theater ein Greuel. Es wurde von den damals sehr einflussreichen Puritanern
als "Kapelle des Satans" gebrandmarkt. Aber da sich das Globe vor den Toren
der Stadt befand, hatten die Stadtväter keine Handhabe. Nach der Revolution
unter Cromwell 1642 war es dann jedoch aus mit den Theatern der elisabethanischen
Zeit. Sie wurden geschlossen, abgerissen, niedergebrannt, denn dass das
Theater all das, was auch Shakespeare in ihm geschehen ließ, nicht durfte, darüber
waren sich die zur Herrschaft gekommenen Puritaner einig.
Auch in Deutschland war man sich lange Zeit einig in Sachen Shakespeare. Dem
ersten deutschen Dramatiker und Theaterreformer Gottsched war Shakespeare das
reinste Greuel. Das Maß aller Dinge war ihm die französische Klassik - Racine und
Corneille. Eine Generation später übersetzte zwar Christoph Martin Wieland viele der
shakespearschen Dramen, allerdings zensierte er sie gründlich und enthielt sich
auch nicht vieler abwertender Kommentierungen, beispielsweise bei "Was ihr wollt",
wo er über die komischen Figuren Rülps und Bleichenwang schreibt:
Der Charakter des Sir Tobias und seines Freundes gehört in die unterste Tiefe
des Niedrigen Comischen; ein paar müßige, lüderliche, rauschichte Schlingels,
deren platte Scherze, Wortspiele und tolle Einfälle nirgends als auf einem
Engländischen Theater, und auch da nur die Freunde des Ostadischen Geschmacks
und den Pöbel belustigen können. Wir lassen also diese Zwischen-
Scenen um so mehr weg, als wir der häuffigen Wortspiele wegen, öfters Lüken
machen müßten. Alles, was in diesen beiden Scenen einigen Zusammenhang
mit unserm Stück hat, ist dieses, daß Sir Tobias seinen Zechbruder, Sir Andreas,
als einen Liebhaber der schönen Olivia ins Haus einführt und ganz ernsthaft
der Meynung ist, daß sie ein recht artiges wohlzusammengegattetes Paar ausmachen
würden; und daß Jungfer Maria den würdigen Oheim ihrer Dame höflich
ersucht, um seiner Gesundheit willen sich weniger zu besauffen; und um
der Ehre des Hauses willen, seine Bacchanalien nicht so tief in die Nacht hinein
zu verlängern.
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Die Ablehnung Shakespeares in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (erst 1762
gab es erstmals eine deutsche Shakespeareaufführung) wandelte sich dann allmählich
in Annäherung bei Lessing, in teilweise Bewunderung bei Goethe und Schiller
und schließlich fast abgöttische Bewundert durch die Romantik, in der man sich
erstmals auch den Komödien Shakespeares zuwendete, die Lessing und Goethe
noch verschlossen geblieben waren. Goethe etwa schrieb, Shakespeare habe seinem
Publikum zuliebe viele disharmonische Allotria in seine Werke hineingemischt,
Konzentration sei vonnöten. Goethe streicht selbst in "Romeo und Julia" den "possenhaften
Intermezzisten“ Mercutio. Auch Schiller zensiert ohne Hemmung, als er
den "Macbeth" für das Weimarer Hoftheater einrichtet. Die eben zitierte Rede des
Pförtners ersetzt er durch ein frommes Lied:
Pförtner (kommt singend)
Lob sei dem Herrn und Dank gebracht,
Der über diesem Haus gewacht,
Mit seinen heiligen Schaaren
Uns gnädig wollte bewahren.
Wohl mancher schloss die Augen schwer
Und öffnet sie dem Licht nicht mehr;
Drum freue sich, wer neu belebt,
den frischen Blick zur Sonn’ erhebt.
Die Schlegel-Tiecksche Übersetzung kommt Shakespeare schon viel näher. Diese
Übersetzung setzt neue Maßstäbe, auch weil sie die Komödien mit einschließt. Aber
die Verklärung und Stilisierung Shakespeares zum unerreichten Dichtergenie schlug
sich auch sprachlich nieder. Shakespeare wurde auch bei Schlegel-Tieck den sittlichen
Bedürfnissen eines deutschen, bürgerlichen Publikums angeglichen. Und eben
diese Übersetzung prägt noch heute das allgemeine Shakespearebild über die Maßen
und führt zwischen Publikum, das sich dem schlegel-tieckschen Shakespeare
verbunden fühlt und den Theatern und seinen Regisseuren zur Frontenbildung. Wobei
der Terminus der Frontenbildung in der Friedensstadt Osnabrück vielleicht etwas
deplaziert ist. Apropos Frieden, dieses Stichwort soll an dieser Stelle nicht fehlen:
Shakespeare könnte man getrost auch einen Dichter des Friedens nennen. Warum?
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Das Zentralmotiv in allen shakespearschen Stücken ist das der Täuschung des Menschen.
Der Mensch wird getäuscht durch die Scheinhaftigkeit allen Seins: der Natur,
der Sprache, des Begehrens, der Liebe, des menschlichen Verhaltens. Kein Mensch
entkommt der Täuschung, jeder wird fortwährend gefoppt und genarrt. Die Narren
bei Shakespeare haben diese Erkenntnis internalisiert, sie haben sie quasi zu ihrem
Lebensprinzip gemacht, sie sind Reiter auf den Wogen von Täuschung und Wahn,
die über den Menschen und selbst über den Narren immer wieder hereinbrechen.
Nicht umsonst lässt Shakespeare ihnen in seinen Komödien häufig das letzte Wort.
Und so spricht aus Shakespeares Werk auch die Warnung davor, die Dinge und sich
selber allzu ernst zu nehmen. „O Klugheit, wenns Dein Wille ist, beschere mir ein
gescheites Maß an Narrheit. Die da meinen, sie hätten die Vernunft mit Löffeln gefressen,
stehn meist als die größten Narren da.“ Sagt der Narr in "Was Ihr wollt". Und
den Narr Jaques in "Wie es Euch gefällt" lässt Shakespeare sagen:
Die ganze Welt ist Bühne,
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und treten wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rolle,
Durch sieben Akte hin.
Und so lassen Sie auch uns in dieser ersten Streitbar bei aller Leidenschaftlichkeit in
der Auseinandersetzung über Anne Lenks Inszenierung nicht vergessen, dass alles
nur Theater und die ganze Welt eine Bühne, dies alles nur ein Spiel ist.
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