Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik - Materialsatz

Das rapportartige System von Klängen hat zweifellos musikalische Qualität. Es bracuht
wenig Fantasie, die verwobene Struktur aus drei- und vierteiligen Elementen als die
dauernde Bewegung des Spinnrades zu begreifen, eine Bewegung auf der Stelle, die
scheinbar endlos gleichförmig sich fortsetzt. Tatsächlich ist auch in dem Gedicht keine
inhaltlich Bewegung erkennbar, kein Fortschritt in irgend eine Richtung. Man könnte ganze
Strophen austauschen und es änderte sich praktisch nichts am Sinn. Die Spinnerin beklagt
den Verlust des Geliebten „vor langen Jahren“ (V. 1). Die a-Strophen beschwören das Du
und das Wir der vergangenen Zeit der Liebe, in den ei-Strophen erklingt die Klage der
Einsamen im Jetzt. Die Spinnerin ruft das Bild der Nachtigall herauf, „[...] die uns seit dem
Mittelalter als Liebesbotin bekannt ist.“ 51 Wartend und sehnend bringt sie ihre Zeit hin, in
der letzten Strophe Gott anrufend, doch ohne erkennbare Hoffnung. Richard Alewyn zieht
in seiner Interpretation des Brentano-Gedichts die Summe:
„Gleichmäßiger Wechsel und endlose Wiederkehr, Stillstand und Verrinnen der Zeit, nichts
anderes ist das Thema des Gedichts [...].
Müssen wir noch hinzufügen, daß es in der deutschen Sprache kein traurigeres Gedicht
gibt?“ 52
Wie sehr aber die Musikalität, das Gedicht als Klangereignis, im Vordergrund steht,
beweist Adelheid Petruschke anhand folgender Beobachtung: das Hendiadyoin „klar und
rein“ kommt gleich drei Mal in diesem Gedicht vor:
Åù Den Faden klar und rein (V. 7)
Åû Mein Herz ist klar und rein (V. 15)
Åü Der Mond scheint klar und rein (V. 23)
Petruschke führt über diese Beobachtung zur Qualität des lyrischen Bildes in diesem
Gedicht. Sie findet:
„[...] drei völlig unterschiedliche Dinge der Welt und des Ich, kombiniert mit den gleichen
Adjektiven. Die Bilder selbst sind von der denkbar einfachsten Art. Sie benennen den
Gegenstand und rufen ihn so wach für das Ohr des Hörers. Da die Bilder jedoch auf diese Art
einander gleichgesetzt sind, können sie keine reale Entsprechung im Bereich der Anschauung
mehr besitzen. [...] Sie sind um des Liedes willen da, als Ton- und Gefühlsträger. Brentano
braucht keine konkreten Naturerlebnisse mehr, um seine Bilder zu finden. Sie stammen nicht
aus der nahen Welt der Dinge, sondern aus seinem Innern.“ 53
Damit wird deutlich, in welcher Weise die perfekte Harmonie des klassischen lyrischen
Bildes den von Walther Killy metaphorisch angeführten Zentrifugalkräften erliegt: der Anteil
der realen Anschauung, für Goethe der Ausgangspunkt, tritt deutlich zurück. Die
emotionale Komponente wiegt nun schwerer, steht ganz im Vordergrund. Mehr noch: sie
wird primär konstituierend. Reinhard Lindenhahn drückt es so aus:
Romantische Gedichte unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht etwa von der Lyrik der Weimarer
Klassik. Sie sind häufig nur assoziativ erfassbar, d. h., sie wollen in erster Linie Gefühle,
Stimmungen vermitteln, wollen die Leser teilhaben lassen an dem Prozess des eigenen
Poetisierens. Damit ist oft auch eine starke Musikalität verbunden. Romantische Lyrik will
mehr sein als Sprache. Sie will über das Geflecht von Worten, Lauten und Betonungen hinaus
in den Bereich der Musik vorstoßen, denn Musik war für die Romantiker die höchste, weil
vergänglichste aller Künste. 54
In ihrem Bemühen um Abgrenzung gegen klassische und realistische Richtungen in der
Literatur setzen Romantiker die Poesie absolut und Novalis formuliert in den „Neuen
Fragmenten“:
"Der Poet versteht die Natur besser wie der wissenschaftliche Kopf. [...] Die Poesie ist das
echt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Philosophie. Je poetischer, je wahrer."
51 Petruschke 2004, S. 56
52 Zit. nach van Rinsum, a.a.O., S.117
53 Petruschke 2004, S. 56f
54 Lindenhahn: Romantik, S. 19
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