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Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik - Materialsatz

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He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e (1797 – 1856)<br />

Friedrike (1823)<br />

1<br />

2<br />

Verlaß Berl<strong>in</strong>, mit se<strong>in</strong>em dicken Sande<br />

Und dünnen Tee und überwitz'gen Leuten,<br />

Die Gott und Welt, und was sie selbst bedeuten,<br />

Begriffen längst mit Hegelschem Verstande.<br />

15<br />

Der Ganges rauscht, mit klugen Augen schauen<br />

Die Antilopen aus dem Laub, sie spr<strong>in</strong>gen<br />

Herbei mutwillig, ihre bunten Schw<strong>in</strong>gen<br />

Entfaltend, wandeln stolzgespreizte Pfauen.<br />

5<br />

Komm mit nach Indien, nach dem Sonnenlande,<br />

Wo Ambrablüten ihren Duft verbreiten,<br />

Die Pilgerscharen nach dem Ganges schreiten,<br />

Andächtig und im weißen Festgewande.<br />

20<br />

Tief aus dem Herzen <strong>der</strong> bestrahlten Auen<br />

Blumengeschlechter, viele neue, dr<strong>in</strong>gen,<br />

Sehnsuchtberauscht ertönt Kokilas S<strong>in</strong>gen –<br />

Ja, du bist schön, du schönste aller Frauen!<br />

10<br />

Dort, wo die Palmen wehn, die Wellen bl<strong>in</strong>ken,<br />

Am heil'gen Ufer Lotosblumen ragen<br />

Empor zu Indras Burg, <strong>der</strong> ewig blauen;<br />

25<br />

Gott Kama lauscht aus allen de<strong>in</strong>en Zügen,<br />

Er wohnt <strong>in</strong> de<strong>in</strong>es Busens weißen Zelten,<br />

Und haucht aus dir die lieblichsten Gesänge;<br />

Dort will ich gläubig vor dir nie<strong>der</strong>s<strong>in</strong>ken,<br />

Und de<strong>in</strong>e Füße drücken, und dir sagen:<br />

»Madame! Sie s<strong>in</strong>d die schönste aller Frauen!«<br />

Ich sah Wassant auf de<strong>in</strong>en Lippen liegen,<br />

In de<strong>in</strong>em Aug' entdeck ich neue Welten,<br />

Und <strong>in</strong> <strong>der</strong> eignen Welt wird's mir zu enge.<br />

3<br />

30<br />

35<br />

Der Ganges rauscht, <strong>der</strong> große Ganges schwillt,<br />

Der Himalaja strahlt im Abendsche<strong>in</strong>e,<br />

Und aus <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Banianenha<strong>in</strong>e<br />

Die Elefantenherde stürzt und brüllt –<br />

E<strong>in</strong> Bild! E<strong>in</strong> Bild! Me<strong>in</strong> Pferd für'n gutes Bild!<br />

Womit ich dich vergleiche, Schöne, Fe<strong>in</strong>e,<br />

Dich Unvergleichliche, dich Gute, Re<strong>in</strong>e,<br />

Die mir das Herz mit heitrer Lust erfüllt!<br />

Vergebens siehst du mich nach Bil<strong>der</strong>n schweifen,<br />

Und siehst mich mit Gefühl und Reimen r<strong>in</strong>gen –<br />

Und, ach! du lächelst gar ob me<strong>in</strong>er Qual!<br />

40<br />

Doch lächle nur! Denn wenn du lächelst, greifen<br />

Gandarven nach <strong>der</strong> Zither, und sie s<strong>in</strong>gen<br />

Dort oben <strong>in</strong> dem goldnen Sonnensaal.<br />

Hier wie da wird das Land <strong>der</strong> Sehnsucht durch vielfältige Attribute charakterisiert, Bil<strong>der</strong>,<br />

die den Leser ästhetisch ansprechen sollen. Bei Goethe steht die Auffor<strong>der</strong>ung am Ende<br />

je<strong>der</strong> <strong>der</strong> drei Strophen und sie drückt die Absicht <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Ich aus. He<strong>in</strong>e verfährt<br />

an<strong>der</strong>s. Das Traumgebilde <strong>des</strong> fernen Lan<strong>des</strong> enthält, ungeachtet <strong>der</strong> Exotik, e<strong>in</strong>e Reihe<br />

romantischer Bildmotive: Andacht, Rauschen <strong>des</strong> Flusses, Flora, Fauna, Auen, Blumen,<br />

Abend; man könnte glauben, He<strong>in</strong>e wolle die Romantiker durch Masse übertreffen, doch<br />

ne<strong>in</strong>, die Fülle ist nur Ausdruck <strong>der</strong> verzweifelten – und erfolglosen – Suche (V. 33, V. 37),<br />

ke<strong>in</strong> Feuerwerk, nur e<strong>in</strong> Strohfeuer. Und wozu die Mühe? „Womit ich Dich vergleiche,<br />

Schöne, Fe<strong>in</strong>e“ (V. 36). He<strong>in</strong>es großes lyrisches Thema, die Klage <strong>des</strong> vergebens<br />

werbenden Liebenden - im »Buch <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong>« wird es zur vollen Entfaltung kommen –<br />

kl<strong>in</strong>gt hier schon an. Was noch fehlt, ist die spöttische Abweisung durch die Angesungene,<br />

die <strong>in</strong> diesem Gedicht nur e<strong>in</strong>mal tröstlich lächeln darf, ansonsten Objekt bleibt.<br />

Und Gott und Religion? Was für e<strong>in</strong>e Art Glaube ist es, von dem beseelt <strong>der</strong> Liebende <strong>in</strong><br />

Vers 12 vor <strong>der</strong> Frau nie<strong>der</strong>s<strong>in</strong>kt? Bestimmt nicht <strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> Romantik. Hier bef<strong>in</strong>det sich<br />

<strong>der</strong> poetische Geist <strong>in</strong> heidnischen Gefilden: „Pilgerscharen“ (V. 7), „Am heil’gen Ufer“ <strong>des</strong><br />

Ganges (V. 10), „Andächtig und im weißen Festgewande“ (V. 8), „Gott Kama“ (V. 23).<br />

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