Hunderttausend.de | Dienstag, 22.05.2012 "Tattoo ... - Theater Trier
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<strong>Hun<strong>de</strong>rttausend</strong>.<strong>de</strong> | <strong>Dienstag</strong>, <strong>22.05.2012</strong><br />
"<strong>Tattoo</strong>"<br />
Die Leere von Gut und Böse<br />
Etwas so Durchgeknalltes dürfte das <strong>Theater</strong> <strong>Trier</strong> bisher selten auf seinen Spielplan<br />
gehievt haben. Igor Bauersimas "<strong>Tattoo</strong>", das am vergangenen Mittwoch, <strong>de</strong>n<br />
16.05.2012, im Studio am Augustinerhof Premiere feierte, parodiert als temporeiche<br />
Kunstbetriebssatire <strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>utschen Bühnen meist allzu plump dargebotenen<br />
Gegensatz von Gut und Böse. Regisseur Michael Gubenko und seinem<br />
stu<strong>de</strong>ntischen Ensemble von bühne 1 ist eine originelle Inszenierung gelungen, die<br />
zu Recht tosen<strong>de</strong>n Beifall erntete.<br />
<strong>Trier</strong>. In einer Welt, die nur noch ganz wenige wirkliche Tabus aufzubieten hat, ist es<br />
insbeson<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>r Kunst schwer gewor<strong>de</strong>n, inhaltlich wahrgenommen zu wer<strong>de</strong>n,<br />
geschweige <strong>de</strong>nn veritablen Wirbel auszulösen. Igor Bauersima merkt man das nicht<br />
an. Dem Schweizer Dramatiker, <strong>de</strong>r vor allem durch sein Stück "norway.today"<br />
bekannt gewor<strong>de</strong>n ist, gelingt es, ein gesellschaftskritisches Stück nach <strong>de</strong>m<br />
an<strong>de</strong>ren aus seiner Fe<strong>de</strong>r zu zaubern, das mit feiner Satire die großen und kleinen<br />
Mängel <strong>de</strong>s menschlichen Daseins als kapitalistischem Subjekt zu sezieren. Eines<br />
seiner in dieser Hinsicht komplexesten Werke ist das gemeinsam mit Réjane<br />
Desvignes verfasste "<strong>Tattoo</strong>", mit <strong>de</strong>m sich Michael Gubenko und sein Team an ein<br />
ambitioniertes Projekt herantrauten.<br />
Lea (Kim Henningsen) und Fred (Christoph Übelacker) sind vom konsum- und<br />
marktkritischen I<strong>de</strong>alismus in materiellem Entbehrungsreichtum gehaltene Künstler.<br />
Inmitten ihrer zwar konsequenten, aber eigentlich gänzlich unaufrichtigen Askese<br />
besucht sie Tiger (Ansgar Depping), ein alter Freund Leas, seines Zeichens ebenfalls<br />
Künstler - nur aufgrund seines entspannteren Verhältnisses zu Besitz und Geld<br />
wesentlich höher dotiert. Seinen Körper zieren zahlreiche <strong>Tattoo</strong>s, auf die er so viel<br />
Wert legt wie Dagobert Duck auf je<strong>de</strong>s seiner Geldstücke. Im Überschwang <strong>de</strong>r<br />
alkoholisierten Wie<strong>de</strong>rsehensfreu<strong>de</strong> verspricht Lea ihrem Compagnon, im Falle von<br />
<strong>de</strong>ssen Ableben seinen leblosen Körper plastiniert zu hegen und zu pflegen. Es<br />
kommt, wie es kommen muss: Tiger stirbt bei einem Unfall und wird tags darauf von<br />
einem Bekannten an <strong>de</strong>r Türschwelle abgestellt.<br />
Gelungene Einfälle und Konzentration auf <strong>de</strong>n Inhalt<br />
Das Stück vermittelt durchaus eine Haltung, doch schlägt sich die <strong>Trier</strong>er<br />
Inszenierung an keiner Stelle ein<strong>de</strong>utig auf eine <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Seiten. Und genau darin<br />
liegt die große Stärke dieses Abends. Wäre die Textvorlage in reinster Regietheater-<br />
Manier inhaltlich verstümmelt wor<strong>de</strong>n, wür<strong>de</strong> sie ihres kritischen Impetus' beraubt.<br />
Die vielen gelungenen Einfälle sind behutsam eingearbeitet. Beispielsweise lässt erst<br />
die Tatsache, dass Tiger nach seinem Tod als "Gespenst" weiterhin am Bühnenrand<br />
das Geschehen gestisch und mimisch kommentiert, die später sich entwickeln<strong>de</strong><br />
Reihe von Überraschungen nachvollziehbar und vor allem verständlich erscheinen, in<br />
welcher sich zeigt, wie sehr alle Beteiligten nichts weiter als gesteuerte Figuren auf<br />
einem Schachbrett sind, bei <strong>de</strong>nen Aufrichtigkeit und Heuchelei nahe beieinan<strong>de</strong>r<br />
liegen.<br />
Tiger ist als einziger Protagonist völlig überzeichnet, und das hat seinen guten<br />
Grund. Stellt er doch <strong>de</strong>n Dreh- und Angelpunkt dar in diesem Vexierspiel, bei <strong>de</strong>m
sich <strong>de</strong>r Aufrechte als Arschloch erweisen und <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rling sich als Wohltäter<br />
enthüllen kann. Dem Bühnenbild hingegen ließe sich durchaus eine gewisse<br />
Einfallslosigkeit vorwerfen, <strong>de</strong>nn hier sind keine innovativen Elemente auszumachen.<br />
Ganz abgesehen davon, dass die von <strong>de</strong>r Universität <strong>Trier</strong> (das <strong>Theater</strong> <strong>Trier</strong> stiftete<br />
keinen Cent) bereitgestellten finanziellen Mittel für "bühne 1" bei weitem nicht auf<br />
<strong>de</strong>m Niveau üblicher Studioproduktionen angesie<strong>de</strong>lt sind und die Kritik am<br />
Bühnenbild daher ohnehin relativiert wer<strong>de</strong>n muss, eröffnet diese Zurückhaltung die<br />
Bühne aber auch als erquicklichen Raum für allerlei Imaginationen.<br />
Denn glücklicherweise ist es nicht die szenische Äußerlichkeit, auf welcher <strong>de</strong>r<br />
Schwerpunkt dieser Darbietung liegt. Mit <strong>de</strong>m Verzicht auf postmo<strong>de</strong>rne<br />
Effekthascherei, auf pseudoprovokantes Penisfechten und inhaltsentleerte<br />
Vi<strong>de</strong>oinstallationen, ja auf all die vermeintlich avantgardistisch-tabubrechen<strong>de</strong>n<br />
Elemente, auf die stu<strong>de</strong>ntische <strong>Theater</strong>gruppen sonst so gern zurückgreifen, ist <strong>de</strong>n<br />
mit Ausnahme Deppings noch reichlich unerfahrenen Darstellern viel Raum für die<br />
tiefgründige Interpretation ihrer vielschichtig konstruierten Charaktere gegeben.<br />
Gesellschaftskritik ohne Moral<br />
Da zeigt sich etwa, wie problematisch es für eine doch angeblich so liebeswürdige<br />
Person wie Lea ist, ein Versprechen einzuhalten. Auch Fred relativiert unfreiwillig<br />
sein vermeintlich gutes Gemüt, in<strong>de</strong>m er sich auch über Tigers Tod hinaus aufgrund<br />
von Leas Bewun<strong>de</strong>rung für <strong>de</strong>n erfolgreichen Künstler als von Eifersucht zerfressen<br />
zeigt. Tigers Galeristin und Geliebte Naomi (Stefanie Blasi) wie<strong>de</strong>rum entwickelt in<br />
ihrer scheinbar unendlichen Trauer ob <strong>de</strong>s Ablebens ihres Herzbuben einen<br />
befremdlichen Hang zur Nekrophilie, <strong>de</strong>r sich später als etwas ganz an<strong>de</strong>res<br />
offenbart: pure Geldgeilheit. So stiehlt sie <strong>de</strong>n toten Körper und versucht, die Leiche<br />
zu verkaufen. Doch hat sie die Rechnung ohne Lea und Fred gemacht, die ihrerseits<br />
Naomi zu stoppen versuchen.<br />
Was sich anschließend im letzten Teil <strong>de</strong>s Stückes abspielt, ist ein ständiger<br />
Perspektivwechsel und eine Weigerung zur klaren Rollenverteilung von Hel<strong>de</strong>n und<br />
Schurken, die die Beständigkeit <strong>de</strong>s Unbeständigen in <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Gleichzeitigkeit <strong>de</strong>s Ungleichzeitigen mustergültig entlarven und die Kunst zur<br />
Metapher avancieren lassen: Nichts ist so, wie es scheint in einer Gesellschaft, die<br />
einerseits technisch auf <strong>de</strong>m höchsten Stand ihrer Geschichte ist, an<strong>de</strong>rerseits<br />
jedoch die Ur-Instinkte <strong>de</strong>r Verfolgung <strong>de</strong>s je eigenen Interesses gegen die<br />
Interessen aller an<strong>de</strong>ren niemals wird abstellen können - und das, so vermittelt es<br />
das Stück dankenswerterweise, ist auch gut so (jf).