1. Quartal 2011 - Breitwiesenhaus
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Zeitzeugen<br />
Wenn einer eine Reise tut, so kann er<br />
was erzählen. Eine Schwäbin reist<br />
nach Berlin!<br />
Mit geteilten Gefühlen<br />
entschloss ich mich als<br />
junge Frau, meine Studienfreundin<br />
in ihrer<br />
Heimatstadt zu besuchen,<br />
nachdem sie<br />
mich lange und oft genug<br />
darum gebeten<br />
hatte. Sie wohnte in<br />
Westberlin. Ich entschied<br />
mich für eine Flugreise, um nicht<br />
durch die damalige DDR reisen zu müssen.<br />
Ein Flugzeug hatte ich zuvor noch nie bestiegen,<br />
auch hatte ich mich während des vorausgegangenen<br />
Krieges, und während der<br />
erst leidlich überstandenen N achkriegszeit,<br />
niemals freiwillig so weit von meinem Elternhaus<br />
in Stuttgart fortgewagt. Entsprechend<br />
groß war jetzt meine Aufregung!<br />
Alles ging gut! Am frühen Vormittag nahm<br />
mich meine Freundin auf dem Flugplatz<br />
Tempelhof freudestrahlend in Empfang,<br />
schnappte sich mein Köfferlein und schleppte<br />
mich zur nächsten Omnibushaltestelle.<br />
Eine ausgiebige Stadtrundfahrt wurde unternommen!<br />
Ziemlich erschöpft nahm ich hinterher,<br />
bei meiner Gastgeberin in Wilmersdorf,<br />
das vorbereitete Mittagessen ein und<br />
bezog schließlich erleichtert mein gemütliches<br />
Gästezimmer, um ein wenig auszuruhn.<br />
Bald bat mich meine unternehmungslustige<br />
Freundin zu einer Tasse Kaffee und startete<br />
anschließend mit mir ins Deutsche Museum.<br />
Eva, versiert auf allen Gebieten, übernahm<br />
dort die Führung selbst, riss mich in ihrer<br />
Begeisterung mit, wir vergaßen die Zeit und<br />
Stunde! Dabei hatte sie doch für den Abend<br />
28 <strong>Breitwiesenhaus</strong> Aktuell 40 - <strong>1.</strong> <strong>Quartal</strong> <strong>2011</strong><br />
bereits Theaterkarten vorbestellt, zu einer<br />
Aufführung im Schillertheater auf dem Kurfürstendamm!<br />
N ach einem kurzen Abendessen steuerten<br />
wir also schleunigst aufs Schauspielhaus zu.<br />
Dort angekommen drückte meine Freundin<br />
mich gegen eine Säule – im Geist sehe ich<br />
mich heute noch dort stehen - und rief mir<br />
zu:“ N u bleib mal schön hier stehen und lauf<br />
mir ja nicht weg, ick muss schnell noch was<br />
besorgen!“, und weg war sie! Was sie denn<br />
eigentlich noch zu tun gehabt habe, wollte<br />
ich wissen, als sie zurückkam. „ Weißt Du,<br />
ick hab man an der Kasse die Eintrittskarten<br />
umgetauscht, mit denen war ich nicht einverstanden.“,<br />
bekam ich zu hören. N eugierig gemacht,<br />
forschte ich weiter, was sie denn<br />
j e t z t für Karten bekommen habe?<br />
„Erste Reihe Mitte“ antwortete meine waschechte<br />
Berlinerin lakonisch. Damit forderte<br />
sie die total sprachlose „sparsame“ Schwäbin<br />
natürlich sofort zur nächsten Frage heraus,<br />
auf welche Weise sie diesen Coup denn bloß<br />
gestartet habe?<br />
Mein ganzes Leben lang habe ich nie wieder<br />
vergessen, was ich jetzt zu hören bekam,<br />
denn dieser kühne Ausspruch meiner großzügigen<br />
Gastgeberin wurde bald zum geflügelten<br />
Wort in meiner ganzen Bekannt- und Verwandtschaft:<br />
„ N a, ick hab halt jesaacht: Wiss´n Se, ick<br />
hab da ne Freundin aus Schwaben da, die<br />
hört schlecht und sieht schlecht und war<br />
noch nie im Theater!“<br />
N ie wieder hatte ich bei meinen späteren<br />
Theaterbesuchen die Ehre, mich im „Orchestersessel“<br />
niederlassen zu dürfen, wie dazumal,<br />
während meines ersten Tages in der besucherfreundlichen<br />
Metropole unseres Landes!<br />
Hildegard Gerster