Dokubrief Indonesien 05/2005 - EMS
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Vielfalt in Einheit<br />
<strong>Indonesien</strong>s Ethnien im Wandel<br />
Dokumentationsbrief <strong>Indonesien</strong> 5/20<strong>05</strong><br />
<strong>Indonesien</strong>tagung des <strong>EMS</strong><br />
14.-16. Oktober 20<strong>05</strong> in Stuttgart
2<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
WWW.<strong>EMS</strong> -ONLINE.ORG
INHALT<br />
4 Vorwort<br />
5 Java: Kosmische Ordnung und Harmonie<br />
Prof. Dr. Kurt Tauchmann<br />
12 Dayak: Die Gemeinschaft des Langhauses<br />
Dr. Jani Kuhnt-Saptodewo<br />
17 Minahasa: Starke Frauen und streitbare Herrscher<br />
Dr. Gabriele Weichart<br />
23 Papua: Hoffnung eines bedrohten Volkes<br />
Uwe Hummel<br />
28 Einheit in Vielfalt: Mission impossible?<br />
Alex Flor<br />
3
VORWORT<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
„Vielfalt in Einheit - <strong>Indonesien</strong>s Ethnien im Wandel“<br />
lautete der Titel unserer diesjährigen Tagung, die im<br />
Telekomhotel Stuttgart von 14. bis 16. Oktober 20<strong>05</strong><br />
stattfand.<br />
Das Land mit dem Motto Bhinneka Tunggal Ika – „in<br />
Vielfalt eins sein“ – feiert in diesem Jahr seinen 60.<br />
Geburtstag als unabhängige Republik. Am 17. August<br />
1945, in der Zeitnische zwischen der japanischen Kapitulation<br />
und der Rückkehr der Niederländer in ihre alte<br />
Kolonie proklamierte Sukarno die Unabhängigkeit <strong>Indonesien</strong>s.<br />
Eine neue Republik, deren Vielfalt der<br />
Ethnien, der Sprachen, der Kulturen und der Religionen<br />
superlativen Charakter besitzt, war geboren.<br />
60 Jahre danach stellt sich die Frage: Wurden die vielen<br />
ethnischen Gruppen wirklich zu einer Nation? Wie<br />
leben sie heute, wie haben sie sich entwickelt? Fest<br />
steht, dass die ethnische Zugehörigkeit und die Adat,<br />
der traditionelle Kodex der Volksgruppen, weiterhin<br />
eine große Rolle im Leben der Menschen spielen. Die<br />
neue Regionalautonomie fördert sogar den Rückzug<br />
auf die eigene ethnische Gruppe. Politische Versuche<br />
der Vereinheitlichung wie die „Javanisierung“ des Landes<br />
oder das Transmigrationsprogramm Suhartos haben<br />
eher Konflikte erzeugt. Viele ethnische Gruppen<br />
sehen sich aber auch von den heutigen demokratisch<br />
gewählten Regierungen in Jakarta vernachlässigt und<br />
um ihr Land oder einen gerechten Anteil am Ertrag aus<br />
ihren Ressourcen betrogen.<br />
ihre Auseinandersetzung mit fremden Religionen wie<br />
dem Christentum, dem Islam oder auch dem Hinduismus<br />
eine große Rolle. Ein umfassender Beitrag zur<br />
Geschichte des nation building im indonesischen Staat<br />
und dem Umgang der wechselnden Regierungen mit<br />
der ethnischen Vielfalt des Landes rundete die Tagung<br />
ab.<br />
Wir dokumentieren in diesem Heft die Vorträge der<br />
Tagung. Auf unserer Website www.ems-online.org<br />
können Sie die Dokumentation mit allen Bildern und<br />
Graphiken auch in Farbe betrachten.<br />
Wir haben sehr positive Rückmeldungen zum zweigeteilten<br />
Format des letzten Informationsbriefs <strong>Indonesien</strong><br />
erhalten, in den wir neben einer Tagungsdokumentation<br />
auch Berichte aus unserer Arbeit aufgenommen<br />
hatten. Wir werden diese Form von Informationsbriefen<br />
im nächsten Jahr wieder aufnehmen und<br />
Ihnen im Mai 2006 ausführlich über verschiedene Veränderungen<br />
im <strong>EMS</strong> und in unserer Arbeit zu <strong>Indonesien</strong><br />
berichten, die zum Jahreswechsel anstehen.<br />
Wir wünschen Ihnen anregende Lektüre.<br />
Christine Grötzinger 9.11.<strong>05</strong><br />
David Tulaar<br />
Die Tagung warf einen Blick hinter die Kulissen der<br />
ethnischen Vielfalt <strong>Indonesien</strong>s. Vier Volksgruppen<br />
wurden unter die Lupe genommen: Die Dayak auf<br />
Kalimantan, die Minahasa auf Sulawesi, die Papua in<br />
Melanesien und die Javaner als die im Land dominierende<br />
Ethnie. In Vorträgen und Diskussionen wurden<br />
ihre Kultur und Geschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektiven<br />
beleuchtet. Dabei spielten die eigenen<br />
Glaubenssysteme der indigenen Gesellschaften und<br />
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DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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JAVA – KOSMISCHE ORDNUNG UND HARMONIE<br />
KULTUR UND GESCHICHTE JAVAS<br />
Prof. Dr. Kurt Tauchmann<br />
Dr. Kurt Tauchmann, Prof. a.D., lehrte von 1979 bis 2004 an den Instituten für Völkerkunde der Universitäten<br />
Göttingen, Heidelberg und Köln. Sein ethnologisches Fachgebiet umfasst unter anderem Maritimität und Kulturwandel<br />
in Südostasien.<br />
I. Geographischer Überblick<br />
Die Landmasse Javas umfasst ca. 134.000 km² und hat<br />
heute eine Bevölkerung von ungefähr 110 Millionen<br />
Menschen. Sie ist damit ungefähr so groß wie die<br />
Bundesrepublik Deutschland südlich des Mains. Das<br />
Land wird in West-Ost-Richtung von einer Bergkette<br />
mit zahlreichen Vulkanen durchzogen. Der Vulkanismus<br />
bedingt den hohen Anteil an fruchtbarem Boden,<br />
wodurch die Insel eine der höchsten Bevölkerungsdichten<br />
der Welt von über 1.200 Menschen pro km²<br />
aufweist. Die Insel beherbergt heute als politisches<br />
Zentrum den Sitz der nationalen Regierung und ihrer<br />
Institutionen. Sie wird in die drei Provinzen Jawa Barat,<br />
Jawah Tengah und Jawa Timur unterteilt, welche in<br />
kultureller Hinsicht Unterschiede aufweisen. Auf Java<br />
konzentrieren sich gegenwärtig die meisten urbanen<br />
Zentren, worunter die Hauptstadt Jakarta, Surabaya,<br />
Semarang, Bandung und Cirebon zu nennen sind.<br />
5
Die kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen<br />
Bevölkerungsgruppen markieren auch die Grenzen<br />
der verschiedenen ethnischen Gruppen, die sich<br />
als Sundanesen, Javaner, Maduresen, Malaien bzw.<br />
Badui, eine kulturelle Minderheit, welche noch die<br />
strukturellen Merkmale einer ehemaligen Brahmanenelite<br />
erkennen lässt, identifizieren. Auf Java werden im<br />
Inland die Dialekte Sundanesisch (West) und Maduresisch<br />
(Zentral und Ost) gesprochen, während an der<br />
Nordküste Malaiisch gesprochen wird. Malaiisch, Javanisch<br />
und Balinesisch gehören zusammen mit Chamisch<br />
(Vietnam/Kambodscha), Tagalog (Philippinen)<br />
und Malagasi (Madagaskar) zum west-malayopolynesischen<br />
Zweig der Malayo-Polynesischen<br />
Sprachgruppe, die zusammen mit Formosanisch (Taiwan)<br />
die austronesische Sprachfamilie bilden. Austronesisch<br />
ist eine der größten Sprachfamilien der Welt<br />
und ist auf der Südhalbkugel der Erde von Afrika bis<br />
vor die Küste von Südamerika verbreitet.<br />
Im Altjavanischen drückten sich Statusunterschiede in<br />
Klassensprachen aus, wobei die bhasa krama für die<br />
Elite galt und die bhasa ngoko für das Volk benutzt<br />
wurde. Die verschiedenen Sprachen Javas wurden auf<br />
verschiedenen Zeithorizonten in indischer, arabischer<br />
oder romanischer Schrift verfasst. Heute dominiert die<br />
romanische Schriftversion der Nationalsprache (Bahasa<br />
Indonesia), die auf der Basis der malaiischen Verkehrssprache<br />
und von Lehnwörtern aus indischen Sprachen,<br />
dem Persischen und Arabischen, dem Portugiesischen<br />
und Spanischen sowie dem Niederländischen entstanden<br />
ist. Seit Jahren bemühen sich Malaysia und <strong>Indonesien</strong><br />
um eine einheitliche Schreibweise ihres gemeinsamen<br />
Wortschatzes.<br />
II. Java und die Region des Malaiischen Archipels<br />
Java liegt am südlichen Rand des Malaiischen Archipels,<br />
der die gegenwärtigen Nationalstaaten <strong>Indonesien</strong>,<br />
Malaysia, Brunei, Philippinen und die Küstenbereiche<br />
von Thailand, Kambodscha und Vietnam einschließt.<br />
Der Archipel aus ca. 30.000 Inseln, wovon die<br />
kleineren zum großen Teil unbewohnt sind, weist eine<br />
ausgeprägte Verzahnung von Land und Meer und eine<br />
assoziierte maritime Orientierung der Menschen auf.<br />
Obwohl die Javasee durch Meeresstraßen mit dem<br />
Indischen Ozean verbunden ist, weist sie den Charakter<br />
eines Binnenmeeres auf. Dagegen prallt der Indische<br />
Ozean an die südliche Küste Javas, an der es keine<br />
natürlichen Häfen gibt. Hier beginnt das Reich der<br />
mythischen Meeresgöttin Ratu Kidul, die für den Tod<br />
zahlreicher Menschen an dieser Küste verantwortlich<br />
gemacht wird.<br />
Die frühen chinesischen Quellen bezeichneten das<br />
Chinesische Meer und den Malaiischen Archipel als<br />
Nan Hai und seine Bewohner als Yue oder Kun Lun,<br />
deren Kenntnisse in Schiffbau, Segeltechnik und maritimen<br />
Handel sie bewunderten und nutzten. Gleichzeitig<br />
blockierten diese Argonauten des südlichen Meeres<br />
die chinesische Expansion in den tropischen Gürtel.<br />
Die arabische Reiseliteratur nennt sie Waq oder Waq-<br />
Waq. Bei den Bewohnern des Archipels war diese Region<br />
dagegen als Nusantara bekannt, das aus einer<br />
europäischen geographischen Perspektive mit <strong>Indonesien</strong><br />
übersetzt wurde, womit seine vermittelnde Rolle<br />
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DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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als Brücke zwischen China und Indien betont werden<br />
sollte.<br />
In dem Dreieck zwischen der Malaiischen Halbinsel<br />
und den Inseln Sumatra und Ceylon formte sich an<br />
den Küsten eine Kultur heraus, die unter der Bevölkerung<br />
einen hohen Grad an räumlicher, maritimer Mobilität<br />
aufwies und deshalb Jawa genannt wurde. Als<br />
Chijs/Jaos werden sie noch in der frühen portugiesischen<br />
Reiseliteratur bis zum Golf von Aden und dem<br />
Roten Meer erwähnt. Dagegen wird die Bevölkerung<br />
im hügligen Hinterland der Küste als Malai (Hügel,<br />
Berg) bezeichnet und formt die Malaiische Welt (Malai<br />
alam) im Raum unterhalb der Winde (dibawah angin).<br />
III. Java und der Raum des Indischen Ozeans<br />
Die Monsune gestalten als besonders charakteristische<br />
Merkmale diesen Raum, der mit seinen konstanten<br />
und verlässlichen Faktoren das Portal bildete, durch<br />
welches die Menschen an den Küsten des Indischen<br />
Ozeans zueinander geführt wurden. Durch den Monsun<br />
wurden maritime Migrationen aus dem Malaiischen<br />
Archipel nach Westen geleitet, die ihre Spuren<br />
auf den Malediven, in Ceylon und Südindien, der Arabischen<br />
Halbinsel und von der ostafrikanischen Küste<br />
bis nach Westafrika hinterlassen haben. Diese Migranten<br />
gingen mit der lokalen Bevölkerung Heiratsallianzen<br />
ein, wodurch kulturelle und soziale Transformationen<br />
eingeleitet wurden. Der im stetig zunehmenden<br />
maritimen Fernhandel vollzogene Austausch von Gütern<br />
und Ideen trug ebenfalls dazu bei, dass sich eine<br />
transozeanische Kultur um die Ufer des Indischen Ozeans<br />
herausformte.<br />
Zu Beginn des ersten Millenniums sind die Konturen<br />
Südostasiens und seiner Bewohner in der westlichen<br />
Peripherie dieses Raumes noch sehr verschwommen.<br />
Die vagen Vorstellungen wurden aus dem näher liegenden<br />
indischen Subkontinent nach dem Westen<br />
vermittelt. Die Griechen nannten diese Region Iabadioi,<br />
was eine Übersetzung der Sanskritbezeichnung<br />
Jawa dvipa (Gerstenland) darstellte. Die Schiffe aus<br />
Ceylon, die in der Bucht von Aden vor Anker gingen,<br />
wurden Sangara genannt. Der wertvollste Teil der Ladung<br />
bestand aus Zimt und Sandelholz, die aus dem<br />
Malaiischen Archipel stammten und im Hafen von<br />
Galle in Ceylon als Stapelplatz zwischengelagert worden<br />
waren. Der malaiische Ursprung der Bezeichnung<br />
für Zimt wird durch das Lehnwort caisman (mal.: kayu<br />
manis) im Griechischen bestätigt.<br />
Schon seit dem Ende des 1. Jahrhunderts schickten<br />
Herrscher aus der südasiatischen Region Delegationen<br />
nach Rom, deren erste unter Augustus Octavianus<br />
belegt ist. Der vornehmste unter dieser Delegation<br />
wurde als raja bezeichnet und ihre Herkunft in der<br />
Region des mons Maleus an dem Fluss kali utara angesiedelt.<br />
Diese Region deckt sich mit der malaiischen<br />
Welt zwischen Ceylon und Sumatra und da mit ihnen<br />
das topoi vom „in die falsche Richtung fallenden<br />
Schatten“ verbunden wird, können wir eine Region<br />
südlich des Äquators annehmen. Der mit diesen maritimen<br />
Händlern verbundene Schiffstypus wurde später<br />
von den Arabern als Sumbuk/Sambuk bezeichnet,<br />
womit sich eine Anlehnung an die westaustronesische<br />
Bezeichnung Sambuko andeutet. Die Tatsache, dass<br />
das westaustronesische Lehnwort im spanischen zambuco<br />
heimisch wurde, zeigt einmal mehr, wie stark der<br />
maritime Wortschatz des Austronesischen in westliche<br />
Der Schiffstypus auf dem Relief am Borobudur-Tempel (9.Jhdt.)<br />
7
Sprachen Eingang gefunden hat.<br />
Während der frühen Phase des maritimen Fernhandels<br />
bis zum 8. Jahrhundert geht die Initiative bei der Anknüpfung<br />
von Handelskontakten nach dem Westen<br />
eindeutig von Südostasien aus. Da diese westaustronesischen<br />
Händler zunehmend auch chinesische Luxusgüter<br />
(Keramik und Seide) als Kontingente nach dem<br />
Westen transportierten und chinesische Münzen als<br />
Zahlungsmittel benutzten, führte deren archäologische<br />
Präsenz entlang der ostafrikanischen Küste zu<br />
dem Trugschluss, dass es sich bei diesen Händlern um<br />
Chinesen gehandelt habe.<br />
IV. Die kulturellen Transformationen in der Geschichte<br />
Javas<br />
Java hat seine jetzige Gestalt als Insel erst nach der<br />
letzten Eiszeit vor ca. 10.000 Jahren bekommen, während<br />
es vorher Teil einer südostasiatischen Landmasse<br />
war, welche die Region mit dem asiatischen Festland<br />
und Australien verband. Das in Wadjak auf Java gefundene<br />
Skelett wird dem Typus homo sapiens sapiens<br />
zugeordnet, der zwischen dem pekinensis und australopiticus<br />
eingeordnet wird. Die größte und einmalige<br />
Kulturleistung im Malaiischen Archipel bestand in der<br />
frühen Überwindung der Meere in dazu geeigneten<br />
Fahrzeugen, was noch heute durch die gewaltigen<br />
Verbreitung der austronesischen Sprachfamilie, die ein<br />
Drittel des Globus bedeckt, demonstriert wird. Im Gegensatz<br />
zum Westen hat die Phase sesshafter Lebensweise<br />
und assoziierten Landbaus in bewässerten Feldern<br />
erst vor ca. 3.000 Jahren durch die Einführung<br />
des Reis aus der Han-Region Chinas begonnen.<br />
1. Die Ausbreitung der Hindu-Buddha-Zivilisation<br />
auf der maritimen Seidenstrasse<br />
Abgesehen von einzelnen kürzeren Erkundungsreisen<br />
der Phöniker gelang es dem griechischen Kapitän Hippalos<br />
im 3.Jahrhundert unter Ausnutzung des Monsuns,<br />
durch die Strasse von Malaka bis an die Mündung<br />
des Mekong im heutigen Vietnam zu gelangen.<br />
Dagegen sind die Einflüsse aus frühen Kontakten mit<br />
Südindien und Ceylon von prägender Bedeutung für<br />
die kulturellen Transformationen im gesamten Malaiischen<br />
Archipel gewesen. Dabei begünstigten besonders<br />
die in westöstliche Richtung verlaufenden Winde<br />
in den Monaten Oktober bis Februar Seereisen in den<br />
Malaiischen Archipel. Die Monate September und<br />
März zwischen den komplementären Monsunwinden<br />
werden im Malaiischen Archipel als pancaroba bezeichnet.<br />
In dieser Zeit gibt es zahlreiche Turbulenzen,<br />
bis sich die Winde auf ihre neue Richtung eingestellt<br />
haben. Im übertragenen Sinn gelten diese Turbulenzen<br />
auch im personalen und gesellschaftlichen Bereich,<br />
wo sie Umbrüche charakterisieren.<br />
Das volksreligiöse System Javas (abangan) wird als die<br />
indigene Variante eines Bündels von Überzeugungen<br />
verstanden, die beginnend mit dem 4.Jahrhundert<br />
durch Ideen und Institutionen aus dem Hindu-<br />
Buddha-Kontext bereichert wurden. Die damit verbundenen<br />
Neuerungen bedeuteten jedoch keine abrupte<br />
Abkehr von den indigenen Überzeugungen,<br />
sondern verbreiteten sich im Volk nur sehr langsam.<br />
Dabei fand eine Verschmelzung bestimmter Ideen mit<br />
Elementen aus der indigenen Kultur statt, die in synkretistische<br />
Transformationen einmündete, wobei die<br />
einzelnen Elemente aus den verschiedenen Überzeugungssystemen<br />
nicht mehr isolierbar sind. Die Vorstellungen<br />
in Bezug auf die kosmische Ordnung und das<br />
Streben nach Harmonie dienten zwar den weltlichen<br />
Eliten der Einwanderer zur sakralen Legitimierung ihrer<br />
Macht, sind aber dennoch im Volksglauben tief verwurzelt<br />
worden. Die frühesten Hindukulte (Vaishnava)<br />
sind dem Brahmanismus zuzuordnen und wurden<br />
später durch Shivaismus (Shiva/Vishnu) und Tantrismus<br />
(Linga-Voni) ergänzt, während sich in Zentraljava<br />
(und Sumatra/Sri Vijaya) der Buddhismus durchsetzte,<br />
der schließlich vom Islam abgelöst wurde. Auf dem<br />
zeitlichen Horizont des 10. Jahrhunderts ist für Java ein<br />
Nebeneinander von Abangan, Vaishnava, Shivaismus,<br />
Tantrismus, Buddhismus und Islam sichtbar, deren<br />
Anhänger jedoch Überzeugungen (kepercayaan) jenseits<br />
theologischer Doktrin teilen.<br />
Die Konzepte von Harmonie (Ordnung) und Konflikt<br />
(Chaos) werden in der Umgangssprache Javas mit den<br />
Adjektiven aman und kajau benannt. Dabei besteht ein<br />
unmittelbarer Zusammenhang zwischen menschlichen<br />
Handlungen und kosmischer Ordnung. Menschliches<br />
Fehlverhalten ruft Naturkatastrophen und Epidemien<br />
hervor, die das kosmische Gleichgewicht stören. In der<br />
menschlichen Gesellschaft wie im Kosmos besteht als<br />
Garant der Ordnung eine Hierarchie der Wesen und<br />
Dinge, die den Platz des Einzelnen im Gesamtgefüge<br />
bestimmt. Dieser Platz wird durch Geburt, Rang, Geschlecht<br />
und Lebensalter festgelegt. Somit kennt in<br />
der Mikrosphäre der Familie jedes Individuum seinen<br />
ihm zugewiesenen Platz. Innerhalb der Sozialisation<br />
wird das Streben nach Harmonie idealtypisch bis an<br />
die Grenze der Selbstaufgabe verlangt, womit Konflikten<br />
vorgebeugt werden soll. Damit können Individuen<br />
oder Gruppen schließlich in eine ausweglose Situation<br />
gelangen, die besonders im Falle des Gesichtsverlustes<br />
durch amuk (Amok) gesühnt wird, wobei die gesamte<br />
Gemeinschaft eine Mitschuld an dem Unheil trägt.<br />
Diese Vorstellungen zur kosmischen Ordnung und das<br />
damit verbundene Streben nach Harmonie sind im<br />
Gebiet des inneren Hochlandes von Java mit seinen<br />
frühen hindu-buddhistischen Zentren noch am stärksten<br />
festzustellen und haben sich mit dem zurückge-<br />
8<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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henden Einfluss dieser Überzeugungen und dem Aufkommen<br />
neuer Formen des Zusammenlebens in den<br />
in der Moderne entstandenen urbanen Zentren relativiert.<br />
Mit der Idee der kosmischen Ordnung und der in<br />
ihr waltenden Balance wurden auch die Vorstellungen<br />
eines irdischen Paradieses verbunden, das in einem<br />
spezifischen Konzept von Landschaft eingebettet war,<br />
in der die einzelnen Elemente in idealer Proportion<br />
zueinander standen (sanskrit: sari, mal.: seri). Die<br />
wichtigsten der insgesamt 25 Elemente sind Wasser,<br />
Erde, Feuer. Luft und Raum. In neu erschlossenen Gebieten<br />
wurde deshalb das proportional gleiche Verhältnis<br />
von Wasser und Erde abgewogen und wenn<br />
dieses nicht adäquat war, ein anderes Siedlungsgebiet<br />
gesucht. In diesem Zusammenhang sollte jedoch auch<br />
eine in Ostasien weit verbreitete Humorale Pathologie<br />
erwähnt werden, die Gegenstände, individuelle Zustände<br />
und soziale Situationen in die Kategorien heiß<br />
und kalt einordnet. Dabei sind kalte Gegenstände und<br />
Zustände erstrebenswert, heiße dagegen als unheilvoll<br />
zu meiden. Von diesen Vorstellungen wird noch heute<br />
das Verhalten der Javaner im Alltag bestimmt.<br />
2. Die politische Geschichte der Hindu-Buddha-<br />
Phase<br />
Wir können davon ausgehen das die Insel Java vor<br />
dem 4. Jahrhundert eine Bevölkerung von maximal 5<br />
Millionen Menschen beherbergte, die in einer Reihe<br />
von tribalen Gesellschaften organisiert waren. In der<br />
Folgezeit soll ein legendäres Reich Taruma an der<br />
Nordküste von Java bestanden haben, dessen Existenz<br />
und Ausdehnung jedoch noch nicht archäologisch<br />
gesichert ist, weil bisher in den lokal begrenzten Herrschaften<br />
Hinweise der Bindung an ein Zentrum fehlen.<br />
Seit dem Ende des 3.Jahrhundert brachten Händler aus<br />
Südindien und Ceylon hindu-buddhistisches Gedankengut<br />
nach Sumatra und Java. Zu Beginn des<br />
8.Jahrhunderts sind Einwanderungen aus Tenassarim<br />
am Ostufer des Golfs von Bengalen belegt, deren Träger<br />
als Chin/Mon bzw. Thai identifiziert wurden. Zu<br />
diesem Zeitpunkt bestand auf dem Dieng Plateau in<br />
Zentraljava bereits das Reich Mataram unter einem<br />
Herrscher aus der Sanjaya Dynastie. Im Laufe des<br />
8.Jahrhunderts brachten die Einwanderer Zentraljava<br />
und einen Teil Westjavas unter ihre Kontrolle und ließen<br />
im Kedu Tal zu Beginn des 9. Jahrhunderts unter<br />
der Dynastie der Sailendras („Herren der Berge“) den<br />
buddhistischen Tempel von Borobudur und das Hindu-Heiligtum<br />
Prambanan errichten. Durch eine von<br />
den Sailendras und dem Herrscherhaus von Sri Vijaya<br />
eingefädelte dynastische Heirat stellten ihre Prinzen<br />
seit dem 9.Jahrhundert auch die Herrscher dieses maritimen<br />
Reiches im Malaiischen Archipel.<br />
Unter dem Herrscher Sindok (929-947) driftete das<br />
Zentrum der Macht des Mataram-Reiches aus bisher<br />
nicht geklärten Ursachen nach Ostjava, wobei der<br />
Hindu-Buddha- Kontext an Bedeutung verlor. Gleichzeitig<br />
gewannen die Einnahmen aus dem Fernhandel<br />
zunehmende Bedeutung, wodurch sich der Wettbewerb<br />
mit Sri Vijaya um die Kontrolle des Gewürzhandels<br />
aus den Molukken verschärfte und es zu kriegerischen<br />
Auseinandersetzungen kam. Über die folgenden<br />
Herrscher des Reiches Mataram ist wenig bekannt.<br />
Unter ihnen ist Air Langa hervorzuheben, der sich in<br />
der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts um die Kultur<br />
des Reiches und den Ausbau von Institutionen des<br />
Rechts und der staatlichen Verwaltung verdient gemacht<br />
hat. In jener Zeit blühte die in Kawi, einer aus<br />
dem Sanskrit abgeleiteten Schrift abgefasste Literatur.<br />
Mit dem Tode Air Langas zerfiel jedoch das Reich und<br />
der westliche Distrikt trat unter der Bezeichnung Kediri<br />
die Nachfolge an. Im 13. Jahrhundert etablierte sich<br />
das Reich Singosari, das im Jahre 1293 den Einfall eines<br />
mongolischen Expeditionsheeres abwehrte. Singosari<br />
wurde zu Beginn des 14. Jahrhunderts von Majapahit<br />
abgelöst. Dieses Reich wurde unter dem Herrscher<br />
Hayam Wuruk zu einem Imperium geformt und<br />
erstreckte sich über die meisten Inseln der gegenwärtigen<br />
Republik <strong>Indonesien</strong>. Es erlebte unter seinem<br />
ersten Minister Gadjah Mada einen gewaltigen kulturellen<br />
Aufschwung.<br />
3. Die Ausbreitung des Islam in Java<br />
Nach bisheriger Ansicht wird der Einfluss des Islam als<br />
eine weitere Bereicherung des kulturellen Synkretismus<br />
frühestens am Ende des 14. Jahrhunderts an der Nordküste<br />
Javas unter der Aristokratie spürbar. Gegenwärtig<br />
häufen sich allerdings die Hinweise, dass dieser Einfluss<br />
wesentlich früher anzusetzen ist und bereits im 10.<br />
Jahrhundert evident ist. Allerdings hat es weiterer 400<br />
Jahre bedurft, bevor die Bevölkerung des Inlandes von<br />
Java davon durchdrungen wurde. Die frühe Phase der<br />
Verbreitung des Islam ging von verschiedenen Bruderschaften<br />
des Sufi-Ordens aus, die ursprünglich aus<br />
dem persisch-arabischen Raum stammten, sich jedoch<br />
bereits seit dem 1o. Jahrhundert durch Zwischenheiraten<br />
mit Fischergruppen an der Westküste von Südindien<br />
(Mukkuvar/Tikar) vermischt hatten. Die von ihnen<br />
nach Südostasien getragenen Glaubensinhalte des<br />
Islam waren durch die vorangegangene Assimilation<br />
an andere kulturelle Systeme und die aus ihnen abgeleiteten<br />
Bedürfnisse geprägt.<br />
Die arabische Bezeichnung Adjam wurde seit dem<br />
Beginn der Islamischen Periode für alle Gebiete außerhalb<br />
der Arabischen Halbinsel benutzt. Dagegen wurde<br />
die Bezeichnung Kmr („Mond“) für alles Fremde<br />
und in einem engeren Sinn für „Mondleute“ verwendet.<br />
Es war eine Bezeichnung für Madagaskar und<br />
9
darauf geht auch die ethno-linguistische Kategorie<br />
Khmer zurück. Während der Anfangsphase des Eindringens<br />
wies der Islam im malaiischen Archipel noch<br />
starke Züge einer schiitischen Ausprägung auf, in welcher<br />
Elemente zoroastrischer Überzeugungen integriert<br />
waren, wie der Sonnenkult und das Ritual zum<br />
Neujahr (Newruz). Der Islam breitete sich zuerst in<br />
Mataram aus und erfasste schließlich die gesamte Insel<br />
Java. Mit der Konversion des Fürsten von Majapahit<br />
wurde dieser Prozess formal gebilligt, wobei sich ein<br />
Teil des Hofstaates abspaltete und nach Bali emigrierte.<br />
Durch das verstärkte Wirken jemenitischer Wachhabiten<br />
bekam der indonesische Islam seit dem 14.<br />
Jahrhundert eine eher sunnitische Ausprägung, die<br />
sich später auch auf die anderen Inseln übertrug und<br />
bis in die Gegenwart fortgesetzt hat. In dieser Zeit<br />
wurde <strong>Indonesien</strong> zur größten islamischen Nation<br />
außerhalb der Arabischen Halbinsel und fester Bestandteil<br />
des globalen Netzwerkes der Dar ul-Islam. Als<br />
die Portugiesen und Spanier im frühen 16. Jahrhundert<br />
in den Indischen Ozean vordrangen, trafen sie auf den<br />
koordinierten Widerstand der muslimischen Händler in<br />
den von diesen kontrollierten Stapelplätzen an allen<br />
Küsten des indio-asiatischen Raumes.<br />
4. Das Vordringen europäischer Handelskompanien<br />
Das Zeitalter der „Entdeckung“ Indiens stellte eine<br />
unfreiwillige Fortsetzung der Reconquista auf der Iberischen<br />
Halbinsel dar. Mit der Ausweitung des kapitalistischen<br />
Systems auf Südostasien trat ein weiteres globales<br />
Netzwerk hinzu, welches mit den bereits anwesenden<br />
in einen Wettbewerb um den Handel mit Gewürzen<br />
trat. Im Gegensatz zu den bereits anwesenden<br />
Arabern, Portugiesen und Spaniern strebte die VOC<br />
der Niederlande ein ausschließliches Monopol im Gewürzhandel<br />
an. Darüber hinaus wollte sie auch die<br />
Produktion unter ihre Kontrolle bringen und unterband<br />
alle Versuche der lokalen Bevölkerung, sich an<br />
dem Gewürzboom zu beteiligen. Auf diese Weise zerstörte<br />
die VOC die lokalen Handelsnetzwerke und<br />
nahm der lokalen Bevölkerung die Chance, Exportprodukte<br />
für den freien Markt anzubauen. Die Produktion<br />
von Gewürzen wurde aus Profitgier ins Unermessliche<br />
gesteigert, was zu einem Preisverfall in Europa führte<br />
und die VOC in den Konkurs trieb.<br />
5. Die Kronkolonie Niederländisch Indien<br />
Nach dem Konkurs der VOC wurde <strong>Indonesien</strong> eine<br />
Kronkolonie der Niederlande. Gravierende Maßnahmen<br />
betrafen die Enteignung großer Landflächen vor<br />
allem in Sumatra und Java, die zur Staatsdomäne erklärt<br />
wurden. Auf ihnen wurden künftig vor allem<br />
landwirtschaftliche Exportgüter wie Kaffee, Zucker und<br />
Tabak angebaut. Die javanische Bevölkerung wurde<br />
zusätzlich zu den zu leistenden Diensten für ihre Fürsten<br />
verpflichtet, unentgeltliche Dienste („Heeresdienste“)<br />
auf den staatlichen Domänen zu verrichten. Die<br />
Enteignung der wertvollsten Flächen ließ den javanischen<br />
Bauern nicht genügend Anbaufläche für ihre<br />
Eigenversorgung und führte zusammen mit dem Entzug<br />
von Arbeitskräften für die ihnen verbliebenen Felder<br />
zur Verarmung der bäuerlichen Bevölkerung und<br />
zu gewaltigen Hungersnöten, die zu Revolten und<br />
einem Aufstand unter dem Prinzen Diponegoro führten.<br />
Diese Missstände wurden von dem Assistant Resident<br />
Douwesdecker unter dem Pseudonym Multatuli<br />
im Parlament von Den Haag gebrandmarkt.<br />
6. Die Gründung der Republik <strong>Indonesien</strong><br />
Im Jahre 1942 wurde Niederländisch Indien von den<br />
Japanern besetzt und 1945 begann der Befreiungskampf<br />
der Indonesier auf Java unter der Führung von<br />
Sukarno und Hatta. Am 17. August 1945 wurde die<br />
Republik <strong>Indonesien</strong> proklamiert. Daraufhin versuchten<br />
die Niederlande ihre Kolonie durch ein Expeditionsheer<br />
zurück zu erobern. Unter dem Druck internationaler<br />
Organisationen kam jedoch 1949 ein Vertrag<br />
zustande und Sukarno trat das Amt des Staatspräsidenten<br />
an. Seine 20jährige Regierungszeit war durch<br />
das Bemühen geprägt, die gewonnene Unabhängigkeit<br />
durch eine Anlehnung an blockfreie Länder zu<br />
stärken und die gespaltene Nation zusammen zu führen.<br />
Diese Ziele versuchte er durch eine geschickte<br />
Heiratspolitik und direkte Einflussnahme auf die Formung<br />
der Nationalsprache Bahasa Indonesia zu erreichen.<br />
Im Jahre 1965 putschte Oberst Suharto, um einer angeblichen<br />
kommunistischen Machtübernahme vorzubeugen.<br />
Unter seiner Herrschaft gab es zwar einen<br />
gewissen ökonomischen Aufschwung, der jedoch von<br />
der Begünstigung der eigenen Familienmitglieder und<br />
einer Ausweitung der Vetternwirtschaft begleitet war.<br />
Auf dem Höhepunkt der ökonomischen Krise in Südostasien<br />
wurde Suharto 1998 nach einer 33 Jahre dauernden<br />
Herrschaft zum Rücktritt gezwungen und<br />
durch den Vizepräsidenten Habibi ersetzt. Dieser war<br />
um eine Liberalisierung zentralistischer Politik und<br />
Wirtschaft durch die Stärkung lokaler Autonomie bemüht.<br />
Mit seiner Zustimmung zu freien Wahlen ebnete<br />
er auch den Weg von Osttimor in dessen Unabhängigkeit.<br />
Durch den erbitterten Widerstand der nationalistischen<br />
Offiziere und die ihm nachgesagte Nähe zu<br />
Sukarno entmutigt, trat Habibi schließlich zurück.<br />
Nach der anschließend angesetzten Neuwahl wurde<br />
Wahid Abdul Rahman (Gusdur) vom Parlament zum<br />
Staatspräsidenten gewählt. Nach unbewiesenen Korruptionsvorwürfen<br />
wurde Gusdur abgesetzt und durch<br />
die Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri, eine Tochter<br />
Suhartos, ersetzt. Im Jahre 2004 gewann Susilo<br />
Bambang Yudhoyono die erste direkte Wahl zum<br />
10<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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Staatspräsidenten. Er handelte unter der Zusage einer<br />
Amnestie und einer erweiterten Autonomie mit der<br />
Befreiungsbewegung Acehs (GAM) einen Vertrag zur<br />
nationalen Konsolidierung aus.<br />
7. Auswirkungen der Globalisierung<br />
Aus Java als dem kulturellen, politischen und ökonomischen<br />
Zentrum der Republik werden die zaghaften<br />
Bemühungen um eine Demokratisierung auf der nationalen<br />
Ebene im Rahmen der Regionalautonomie gesteuert.<br />
Der nach wie vor in einer feudalen Struktur<br />
verharrende Agrarsektor hat hier bereits an Bedeutung<br />
verloren und in den urbanen Zentren wird der Sektor<br />
der Dienstleistungen stark ausgebaut. Die industrielle<br />
Entwicklung ist dagegen durch das Fehlen ausländischer<br />
Investitionen bescheiden. Besonders die weiterverarbeitende<br />
Holzindustrie leidet unter illegalem<br />
Holzeinschlag und hat gleichzeitig um faire Preise für<br />
ihre Fertigprodukte zu kämpfen Der stetig wachsende<br />
Bedarf an Nahrungsmitteln (vor allem Fisch und Meeresprodukte)<br />
in China, Taiwan und Japan hat innerhalb<br />
illegaler Aktivitäten zu einer Überbeanspruchung der<br />
Meeresressourcen geführt und zerstört durch Dynamitfischerei<br />
die Korallengebiete, welche für viele Sektoren<br />
der Wirtschaft von großer Bedeutung sind. Die<br />
aus der Suharto-Ära stammende gewaltige Staatsverschuldung<br />
<strong>Indonesien</strong>s hat zusammen mit dem gestiegenen<br />
Energiebedarf, für den keine adäquaten<br />
Investitionen getätigt wurden, eine neue ökonomische<br />
Krise eingeleitet. Seit dem letzten Jahr muss <strong>Indonesien</strong><br />
Erdöl importieren, das in US-Dollars bezahlt werden<br />
muss, während die Devisen unbedingt für die<br />
Reduzierung der Staatsschulden benötigt werden. Um<br />
weitere Kredite von der Weltbank zu erhalten, wurde<br />
<strong>Indonesien</strong> verpflichtet, seine Subventionierung des<br />
Benzins schrittweise abzubauen. Gleichzeitig sind damit<br />
notwendige Ausgleichszahlungen des Staates an<br />
Familien mit geringem Einkommen für die steigenden<br />
Transportkosten verbunden. Um seine Kreditwürdigkeit<br />
zu erhalten, lehnt <strong>Indonesien</strong> einen Schuldenerlass<br />
ab, was zu einer Verstärkung sozialer Spannungen<br />
beiträgt.<br />
11
DAYAK: DIE GEMEINSCHAFT DES LANGHAUSES<br />
KULTUR UND GESCHICHTE DER DAYAK<br />
Dr. Jani Kuhnt-Saptodewo<br />
Dr. Jani Kuhnt-Saptodewo ist Kuratorin für Insulares Südostasien am Museum für Völkerkunde Wien. Ihre Dissertation<br />
beruhte auf einer Feldforschung in Mittelkalimantan, ebenso wie ihr preisgekrönter Film „Fluss des geliehenen Lebens“<br />
über die Totenrituale der Ngaju-Dayak, den sie neben ihrem Vortrag auf der Tagung zeigte.<br />
Einleitung<br />
Die Dayak waren früher berühmt (bzw. berüchtigt) für<br />
ihre Kopfjagd und galten deswegen als ‘primitiv’. Die<br />
Bezeichnung dayak besitzt bisher dementsprechend<br />
allgemein die Konnotation, „primitiv zu sein“. Das<br />
Wort dayak bedeutet ursprünglich „Binnenländer“.<br />
Daher wollten viele Angehörige der indigenen Bevölkerung<br />
in Kalimantan sich selbst nicht als dayak bezeichnen.<br />
Die meisten Dayak-Ethnien sind Anhänger<br />
ihrer indigenen Religion oder Christen. Die indigene<br />
Religion - allgemein wird sie auch als Animismus bezeichnet<br />
– ist bis heute nicht offiziell als eigenständige<br />
Religion anerkannt.<br />
Die indigenen Religionen gelten als kepercayaan,<br />
'Glaube' und nicht als agama, 'Religion'. Nach der Unabhängigkeitserklärung<br />
<strong>Indonesien</strong>s gab es mehrere<br />
Versuche von Seiten der Ethnien, indigene Religionen<br />
als agama anerkennen zu lassen. Die Regierung stellt<br />
allerdings Bedingungen, um die indigenen Religionen<br />
anerkennen zu können. Die Bedingungen umfassen<br />
unter anderem das Vorhandensein von kitab suci, ‘hei-<br />
Das Dorf Tumbang Malahui am Beringai<br />
12<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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ligen Schriften’ bzw. den Nachweis eines kanonischen<br />
Schrifttums, das die Priestergesänge, Ritualanleitungen,<br />
religiöse Verhaltensregeln und Mythen umfasst;<br />
ein Gotteshaus bzw. einen Tempel; ein Gesangbuch,<br />
das kanonisierte Gesänge enthält und einen Gottesdienst<br />
bzw. ein gemeinsames Beten einmal in der Woche.<br />
Außer diesen Bedingungen müssen die Anhänger<br />
einer indigenen Religion auch nachweisen, dass sie an<br />
einen Gott glauben und sich formell einer der Weltreligionen<br />
unterordnen.<br />
Der Anschluss der indigenen Religionen an eine der<br />
Weltreligionen wird von der Regierung als Lösung<br />
dafür angesehen, sich verfassungskonform zu verhalten,<br />
da die Verfassung nur Weltreligionen als monotheistisch<br />
einstuft und die indigen Anschauungen damit<br />
formal als monotheistisch eingliedert. Darüber<br />
hinaus entspricht dies auch dem Staatsprinzip, das seit<br />
der Staatsgründung von der Regierung angestrebt<br />
wird: „Einheit in der Vielfalt“, wobei die Betonung<br />
mehr auf der Einheit liegt - sowohl auf der politischen<br />
als auch auf der sozialen Ebene.<br />
Alle indigenen Religionen <strong>Indonesien</strong>s, die von der<br />
Republik anerkannt wurden, haben sich dem Hinduismus<br />
zugeordnet. Sie erklären damit, dass ihre Religion<br />
und Kultur bereits seit dem vierten Jahrhundert. n.<br />
Chr. vom Hinduismus beeinflusst wurden. In der Tat<br />
sind sie jedoch wenig mit dem indischen Hinduismus<br />
verwandt. Im Jahr 1980 gab ihnen die Regierung die<br />
offizielle Anerkennung innerhalb der Hindu-Religion,<br />
sie heißen Agama Hindu-Kaharingan. Kaharingan<br />
heißt ‘von selbst wachsen’, bzw. ‘von alleine leben’.<br />
Seither versuchten die einheimischen Akteure auf Kalimantan,<br />
die verstreuten indigenen Gruppen dieses<br />
Glaubens unter dem Oberbegriff Dayak zu vereinen.<br />
Heutzutage gewinnen die Dayak dadurch immer mehr<br />
Selbstidentifikation und Selbstwertgefühl, so dass der<br />
Begriff dayak für sie fast wertfrei geworden ist.<br />
Das Alltagsleben im Langhaus der Ngaju-Dayak<br />
Die Ngaju leben an den Oberläufen der Flüsse Barito,<br />
Kahayan, Kapuas, Katingan und Mentaya. Die Ngaju<br />
sind eine der größten Dayak-Ethnien, ihre Bevölkerung<br />
umfasst ca. 1,2 Millionen Menschen.<br />
Die meisten Dorfbewohner in Mittelkalimantan sind<br />
Subsistenzbauern, die ihre Felder in der umliegenden<br />
Umgebung haben. Fast in jedem alten Dorf steht ein<br />
betang oder Langhaus, das ursprünglich als erstes in<br />
diesem Dorf gebaut wurde. In einem betang leben<br />
etwa 10 bis 15 Familien. Diese Familien haben jeweils<br />
ein Zimmer bzw. ein Appartement, bilik oder bilek<br />
genannt. Im bilik leben manchmal zwei oder drei Generationen<br />
einer Familie. Wenn die Familie zu groß<br />
wird, baut sie für sich ein anderes Haus in der Nähe<br />
des Langhauses, meistens am Flussufer.<br />
Auch wenn es so aussieht, als lebten die Menschen im<br />
Langhaus wie in einer Kommune, ist dieser Eindruck<br />
falsch. Die Familien im betang verbringen den Alltag<br />
sehr „individualistisch“, sie teilen nichts miteinander.<br />
In der gemeinsamen Küche wird darauf geachtet, dass<br />
jeder nur seinen eigenen Bedarf abdeckt. Jede Familie<br />
hat zum Beispiel ihr Holz zum Kochen und ihre eigenen<br />
Gewürze. Niemand benutzt etwas von anderen.<br />
Wenn Gäste kommen, dann wird eine Familie beauftragt,<br />
für die Gäste zu kochen. Gäste, die die Verhältnisse<br />
kennen, besorgen etwas für sich und benutzen<br />
die gemeinsame Küche zum Kochen.<br />
Die Ngaju verbringen die Tage selten im betang. Fast<br />
alle – außer alten Leuten – gehen nach Sonnenaufgang<br />
zu ihren Feldern, 5 bis 10 km vom Dorf entfernt.<br />
Oft übernachten sie auch dort, wo sie auf den Feldern<br />
eine Hütte gebaut haben. Zum Dorf kommen sie in<br />
Falle einer Zeremonie oder zu einer Dorfbesprechung<br />
zurück. Wenn sie nicht auf dem Feld übernachten,<br />
kommen sie allerdings vor Sonnenuntergang zurück<br />
und verbringen die Abende im betang. Dort gibt es<br />
eine Halle, wo sie abends sitzen, gemeinsam plaudern,<br />
musizieren oder tanzen.<br />
Die Religion<br />
In den traditionellen Gemeinschaften ist das soziale<br />
Leben eng mit der Religion verbunden. Die indigene<br />
Religion wird daher als gelebte Religion bezeichnet.<br />
Aufbau eines Langhauses<br />
13
Die Ngaju bildeten in den 70er Jahren einen Großen<br />
Rat und schlossen sich formell der Hindureligion an,<br />
die in ihrer balinesischen Ausprägung bereits anerkannt<br />
war. Dem Großen Rat des Hindu-Kaharingan-<br />
Glaubens, Majelis Besar Agama Hindu-Kaharingan, ist<br />
es nach mehreren Anläufen und unter großen Anstrengungen<br />
gelungen, 1980 die offizielle Anerkennung<br />
durch das Religionsministerium in Jakarta zu<br />
erhalten. Seither ist der Große Rat der Agama Hindu-<br />
Kaharingan dabei, die Rituale mit den dazugehörigen<br />
Priestergesängen sowie die Mythen in der Gemeinsprache<br />
und in der Sakralsprache der Ngaju niederzuschreiben,<br />
um so aus einer auf mündlicher Tradition<br />
beruhenden Lokalreligion eine regionale, dem Anspruch<br />
nach sogar überregionale Buchreligion zu entwickeln.<br />
Dies ist ein Prozess, der noch andauert.<br />
Das wichtigste Buch bei den Kaharingan, das auf diese<br />
Weise entstand, heißt Panaturan, das die Schöpfungsmythen<br />
von der Entstehung der Welt und der<br />
Menschen enthält. Sie werden während des Totenfestes<br />
vorgetragen. Diese Schöpfungsmythen gelten<br />
als heilig und genaue Kenntnis davon war bisher den<br />
Priestern vorbehalten. Durch die Forderung der Regierung<br />
nach kitab suci, ‘heiligen Schriften’, waren die<br />
Priester zum ersten Mal gewillt, ihr Wissen der Öffentlichkeit<br />
preiszugeben. Dies ist eine sehr interessante<br />
Entwicklung, denn das priesterliche Wissen war bis<br />
dahin geheim und seine Niederschrift verboten. Man<br />
war davon überzeugt, dies würde von den Oberweltwesen<br />
mit dem Tod bestraft werden. Durch das Niederschreiben<br />
sind die Mythen jetzt auch der Allgemeinheit<br />
zugänglich, wobei im Panaturan nur eine<br />
kurze Zusammenfassung der Schöpfungsmythen in<br />
Gemeinsprache wiedergegeben wird. Dies war ein<br />
Versuch der Priester, so ihre sakrale Stellung zu behalten.<br />
Anfang 1996 kam ein neues Panaturan, eine ‘heilige<br />
Schrift’ heraus, die von zwei jungen Priestern geschrieben<br />
wurde. Sie haben die Schöpfungsmythen<br />
von verschiedenen Priestern gesammelt, die einzelnen<br />
Versionen diskutiert und zu einer Übereinstimmung<br />
gebracht. Im Unterschied zu der älteren Version ist<br />
jetzt alles in der Sakralsprache geschrieben und die<br />
Schöpfungsmythen werden bis ins Detail beschrieben.<br />
Die Sakralsprache fungiert wie ein Mantra, ein Zauberspruch.<br />
Sie besteht aus formelhaften metaphorischen<br />
Ausdrücken, die die Priester während ihre Lehre lernen<br />
müssen. Die Kenntnis der Bedeutung dieser formelhaften<br />
Ausdrücke ist den Priestern vorbehalten. In der<br />
alten Version brachten die Priester in der Gemeinsprache<br />
nur eine kurze Zusammenfassung der Schöpfungsmythen<br />
heraus, der gesamte Verlauf der Zeremonien<br />
wurde nicht niedergeschrieben. In der neuen<br />
Version ist der Verlauf der Zeremonien Satz für Satz in<br />
der Sakralsprache mit den gesamten formelhaften<br />
Ausdrücken abgedruckt. Ein Laie könnte somit eine<br />
Zeremonie veranstalten, indem er den Text vorliest.<br />
Das heißt aber noch nicht, dass er die Bedeutung der<br />
formelhaften Ausdrücke auch kennt, das heißt ob der<br />
telische Aspekt des Rituals erreicht wird, ist eine andere<br />
Frage. Die Veröffentlichung des neuen Panaturan erzeugt<br />
bei den älteren Priestern Unmut, da sie befürchten,<br />
ihre Machtstellung zu verlieren. Andererseits<br />
könnte die Veröffentlichung zur Herausbildung einer<br />
Kaharingan-Theologie beitragen.<br />
Nach Informationen des Großen Rats des Hindu-<br />
Kaharingan-Glaubens haben sich mehrere Dayak-<br />
Ethnien der Lehre des neuen Panaturan angeschlossen<br />
und wollen zur Vereinheitlichung der indigenen Glaubensvorstellungen<br />
beitragen. Der Große Rat steht jetzt<br />
vor der Aufgabe, aus den lokalen und regionalen Varianten<br />
zu einer überregionalen verbindlichen Kanonisierung<br />
in Glaubensfragen zu gelangen.<br />
Nach der Anerkennung der Kaharingan-Religion wurde<br />
1986 ein Theologisches Institut (Sekolah Tinggi<br />
Agama Hindu Kaharingan Tampung Penyang) in der<br />
Provinzhauptstadt Mittelkalimantans Palangkaraya<br />
gegründet. Hier werden Leute ausgebildet, die später<br />
Priester oder Dozenten werden sollen. Sie bekommen<br />
Unterricht im Hinduismus indischer Version und balinesischer<br />
Ausprägung. Die Kaharingan-Version wird<br />
nur von einem Basir namens Tian Agan und dem Vorsitzenden<br />
des Großen Rates, Lewis, unterrichtet. Die<br />
anderen Dozenten sind Balinesen und Dayak, die in<br />
Denpasar (Bali) im Theologischen Institut Universitas<br />
Hindu Dharma Indonesia wiederum in der indischen<br />
und balinesischen Ausprägung des Hinduismus ausgebildet<br />
wurden. So bekommen die Dayak noch wenig<br />
Gelegenheit, ihre eigene Theologie zu studieren und<br />
zu reflektieren.<br />
In den Schulen in Kalimantan wird neuerdings auch<br />
die Hindu-Kaharingan-Religion unterrichtet, aber die<br />
Lehrer verfügen noch nicht über Lehrbücher. Als ich<br />
fragte, was sie denn konkret unterrichten, antworteten<br />
sie, die Hindu Dharma-Religion (die offizielle balinesische<br />
Ausprägung). Nur bei ganz unterschiedlichen<br />
Aspekten bringen sie ihre eigene Version mit hinein 1 .<br />
Das Leben mit anderen Religionen<br />
Die Geschicke des Dorfes werden bei den Ngaju-<br />
Dayak nach dem Adat-Recht, also dem traditionellen<br />
Brauch geregelt. Adat wird als Gewohnheitsrecht verstanden,<br />
wobei der Mikrokosmos als die Widerspiegelung<br />
der Ordnung des Makrokosmos angesehen wird.<br />
1 Zum Beispiel schreibt die Kaharingan-Religion die Sekundärbestattung<br />
vor, bei der die Knochen nach der Verwesung des Fleisches gewaschen<br />
und im Knochenhaus aufbewahrt werden. In der balinesischen Religion<br />
wird eine Leichenverbrennung veranstaltet.<br />
14<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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Die Adat-Überlieferungen stehen aber nicht immer in<br />
Übereinstimmung mit dem christlichen bzw. islamischen<br />
Glauben, so dass sich die Christen und Muslimen<br />
meist aus dem Dorfrecht ausschließen.<br />
Wenn ein Angehöriger dieser Kultur also zu einer anderen<br />
Religion übertritt, kann das Irritationen im sozialen<br />
Leben mit sich bringen. Solche Menschen beteiligen<br />
sich nicht mehr am Leben der Dorfgemeinschaft.<br />
Beim Übertritt zu einer anderen Religion – zum Beispiel<br />
zum Christentum - wird oft von ihnen verlangt,<br />
dass sie ihre pusaka (ihre Familienerbstücke) in den<br />
Fluss werfen, d.h. die Ausdrucksformen und Symbole<br />
einer alten Tradition aufgeben. Wenn sie zum Islam<br />
übertreten, können sie nicht mehr mit den Kaharingan-Leuten<br />
in einem Dorf zusammen wohnen, da<br />
diese ja Schweinezucht betreiben. So bilden sie ihre<br />
eigenen islamischen Dörfer.<br />
Auf der anderen Seite können sich die Anhänger anderer<br />
Religionen bei bestimmten rituellen Anlässen nicht<br />
aus der Gemeinschaft ausschließen, wie folgendes<br />
Beispiel zeigt: Das größte Fest im Dorf ist das Totenfest,<br />
um die Seelen der Verstorbenen in die Oberwelt<br />
zu geleiten. Dieses Fest wird in jedem Dorf etwa alle<br />
fünf Jahre veranstaltet und kostet die Teilnehmer viel<br />
Geld. Nicht selten stürzen sie sich in Schulden oder<br />
müssen dafür ihr Hab und Gut verkaufen. Die Kaharingan-Gläubigen<br />
müssen dieses Fest veranstalten, weil<br />
ein Toter, der nicht in die Oberwelt geleitet wird, in<br />
der Dorfgemeinschaft herumirrt, ziellos weiterlebt und<br />
zu keinem ewigen Leben gelangen kann. Es ist also die<br />
Pflicht der Betroffenen, für ihre Eltern und Verwandten<br />
dieses Fest zu veranstalten; das heißt der Übertritt zu<br />
einer anderen Religion alleine ist noch keine Lösung,<br />
es sei denn, man überredet die Eltern, sich auch zum<br />
Christentum zu bekennen. Ein Christ, der für seine<br />
Eltern das Totenfest mitveranstalten muss, muss am<br />
rituellen Dorfleben für eine Zeit von etwa vier Monaten<br />
teilhaben und die Taburegelungen beachten.<br />
Vor der Unabhängigkeit <strong>Indonesien</strong>s mussten die Ngaju<br />
entweder Christen oder Muslime sein, um eine<br />
Schule besuchen zu können. Nach der Unabhängigkeit<br />
<strong>Indonesien</strong>s konnten sie ungeachtet der religiösen<br />
Zugehörigkeit die Schule besuchen. Doch konnten sie<br />
sich nach wie vor nicht zu ihrer Religion bekennen, da<br />
diese offiziell ja nicht anerkannt war. Als 1965 im Gefolge<br />
des Putsches vom 30. September das Militär<br />
gegen die Kommunisten vorging, musste sich in der<br />
Folgezeit jeder zu irgendeiner Religion bekennen, ‘Atheismus’<br />
wurde nicht mehr geduldet.<br />
Ein Dayak-Abgeordneter sagte zu mir: „Kami memang<br />
sudah merdeka, tapi belum bebas“ (‘Wir sind in der<br />
Tat schon unabhängig, aber noch nicht frei’). Er spielte<br />
auf die Tatsache an, dass Gebildete, Politiker, Beamte<br />
immer noch keine Zukunft haben, wenn sie sich<br />
zum Kaharingan-Glauben bekennen. Hochschulabsolventen<br />
haben nur eine Chance auf die Anstellung als<br />
Beamte, wenn sie entweder Muslime oder Christen<br />
sind. So sind im Dorf nur diejenigen Kaharingan-<br />
Anhänger, die als Bauern, als Waldarbeiter oder als<br />
Priester arbeiten. Die anderen lassen sich taufen, sobald<br />
sie sich eine Anstellung in der Stadt erhoffen. Ihr<br />
Identitätsgefühl hat sich zwar mittlerweile verstärkt,<br />
aber sie sehen immer noch keine Perspektive, wenn sie<br />
sich zu ihrem indigenen Glauben bekennen. So gibt es<br />
bisher keine Kaharingan-Leute in einer Machtposition.<br />
Die traditionsbewusste Dayak-Elite, auch Gouverneure<br />
(wie Tjilik Riwut 2 ), die die Bestrebungen zur Anerkennung<br />
der angestammten Religion unterstützten, waren<br />
alle entweder Christen oder Muslime.<br />
Das Leben im nationalen Gefüge<br />
Auch in der Politik findet man selten Dayak in einer<br />
Schlüsselrolle. In der Suharto-Ära wurden Gouverneure<br />
von der Zentralregierung eingesetzt. In Westkalimantan<br />
wurde aber unter Suharto kein einziger Dayak<br />
Gouverneur, in Mittelkalimantan erst 1984. Aber auch<br />
auf der nationalen Ebene hat kein Dayak eine Position<br />
im Kabinett, beim Militär oder anderen großen Institutionen<br />
inne. Hier zeigt sich wiederum die Vetternwirtschaft<br />
und das schlechte Management der Regierung<br />
der Neuen Ordnung.<br />
Jacques Bertrand, ein Politikwissenschaftler der Universität<br />
Toronto, gibt in seinem 2004 herausgegebenen<br />
Buch „Nationalism and Ethnic Conflict in Indonesia“,<br />
den Ausschluss ethnischer Gruppen aus der politischen<br />
Sandung (Knochenhaus) in Tumbang Malahui<br />
2<br />
Tjilik Riwut war Gouverneur der Provinz Mittelkalimantan von 1957 bis<br />
1967.<br />
15
Repräsentation als wichtigsten Grund für ethnische<br />
Konflikte an. Während der Neuen Ordnung verteilte<br />
der Suharto- Clan Holzeinschlagskonzessionen und<br />
Konzessionen für Goldminen unter sich und den Generälen.<br />
Die Konzessionen reduzierten die den Dayak<br />
zur Verfügung stehenden Landressourcen deutlich,<br />
denn sie betrafen oft ihre Gebiete, die sie dann nicht<br />
mehr betreten konnten. 3<br />
es Hoffnung, dass sich die ethnischen und religiösen<br />
Konflikte immer besser lösen lassen.<br />
In der Neuen Ordnung Suhartos wurde der Begriff<br />
„national“ instrumentalisiert. Im Namen des „Nationalen“<br />
wurden die Rechte und die Existenz der indigenen<br />
Völker missachtet, politische Repression betrieben<br />
und die Religionen politisiert. Die Ignoranz gegenüber<br />
Gewohnheitsrechten und der Lebensweise der jeweiligen<br />
einheimischen Bevölkerung spiegelt ein generelles<br />
Zivilisationsverständnis wider, das „Zivilisation“ mit<br />
„technischem Fortschritt“ gleichsetzt. Die zentral gesteuerte<br />
regionale Entwicklungsplanung verfolgte entsprechend<br />
diesem Zivilisationsverständnis das Ziel, die<br />
verschiedenen indigenen Völker <strong>Indonesien</strong>s mit dem<br />
technologischen Fortschritt zu „beglücken“, ob sie<br />
dies nun wollten oder nicht. Diese negative Haltung<br />
der Regierung zur „Rückständigkeit“ der lokalen Bevölkerung<br />
wird auch von der Mehrheit der Zuwanderer<br />
in bevölkerungsschwache Regionen „importiert“.<br />
Die Einstellung erschwert verständlicherweise das Zusammenleben<br />
der ethnischen Gruppen, wie wir bei<br />
den ethnisch motivierten Ausschreitungen von Dayak<br />
gegen Maduresen zwischen 1996 und 2001 beobachten<br />
konnten. Denn die Zuwanderer, die sich überlegen<br />
fühlen, sehen keinen Grund, sich der lokalen Bevölkerung<br />
anzupassen. Dementsprechend stellen – um nur<br />
ein Beispiel zu nennen – die traditionellen Haustiere<br />
der Dayak wie Schweine und Hunde eine Konfliktursache<br />
dar, da diese Tiere bei den Muslimen als unrein<br />
(haram) gelten.<br />
Die heutige indonesische Regierung hat nun die<br />
Chance, den Begriff „national“ neu zu definieren und<br />
dadurch den demokratischen Prozess voranzutreiben.<br />
Die Interpretation des Mottos „Einheit in Vielfalt“ sollte<br />
mehr Wert auf die Vielfalt legen und nicht wie bisher<br />
auf die Einheit, das heißt die Schaffung einer homogenen<br />
Nation. Darunter ist bisher die Javanisierung<br />
verstanden worden, denn für Javaner sind die Völker<br />
der Außeninseln in der Entwicklung zurückgebliebene<br />
Kinder, ihre Kultur- und Lebensweise wird als primitiv<br />
und rückständig abqualifiziert.<br />
<strong>Indonesien</strong> muss sich zu seiner Multikulturalität und<br />
seinem Multiethnizimus bekennen. Nur wenn die verschiedenartigen<br />
Kulturen und Religionen <strong>Indonesien</strong>s<br />
mit Respekt und Anerkennung behandelt werden, gibt<br />
3<br />
Zum Beispiel gehört in Westkalimantan in Ketapang in der Nähe von<br />
Pontianak 94% des Waldes der Holzindustrie.<br />
16<br />
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MINAHASA: STARKE FRAUEN UND STREITBARE HERRSCHER<br />
KULTUR UND GESCHICHTE DER MINAHASA<br />
Dr. Gabriele Weichart<br />
Dr. Gabriele Weichart ist Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und betreibt ein Forschungsprojekt<br />
zum Thema „Nahrung und Identität in Minahasa/Nord-Sulawesi“. Nach ihrer Promotion in Völkerkunde an<br />
der Universität Wien war sie am Institut für Ethnologie der Universität Heidelberg als wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
tätig, bevor sie nach Wien zurückkehrte.<br />
Pingkan und Matindas: Eine Minahasa-Geschichte<br />
An der Nordwestspitze der Insel Celebes, dem heutigen<br />
Sulawesi, in einem kleinen Dorf bei Tanawankgo<br />
im Gebiet der Tombulu, das in der heute als Minahasa<br />
bezeichneten Region liegt, lebte vor langer Zeit ein<br />
Ehepaar namens Pingkan und Matindas. Sie waren<br />
zwar nicht wohlhabend, aber dennoch glücklich und<br />
zufrieden mit ihrem Dasein, da sie einander sehr liebten<br />
und wann immer möglich beisammen waren. So<br />
bemerkten die anderen Dorfbewohner mit Erstaunen<br />
und Bewunderung, dass Pingkan mit unermüdlichem<br />
Fleiß und Seite an Seite mit ihrem Mann die Gärten<br />
und Felder bestellte, anstatt tagsüber im Dorf zu bleiben,<br />
wie viele andere Frauen dies taten. Nur zum Fischen<br />
konnte Pingkan ihren Mann nicht begleiten, da<br />
diese Tätigkeit nach traditionellem Verständnis den<br />
Männern vorbehalten blieb. Um die manchmal mehrere<br />
Tage dauernde Trennung etwas zu erleichtern,<br />
schnitzte Matindas eine kleine Skulptur als Abbild seiner<br />
Frau, die er überallhin mitnehmen konnte.<br />
Eines Tages jedoch war das Meer besonders unruhig<br />
und die Wellen so hoch, dass das Fischerboot kenterte.<br />
Matindas und seine Freunde konnten sich zwar<br />
schwimmend an Land retten, aber die Holzstatue war<br />
verloren. Sie trieb mit der Strömung das Ufer entlang<br />
bis ins benachbarte Reich des Raja von Bolaang Mongondow,<br />
wo sie von einem Fischer aufgelesen wurde.<br />
Dieser war von ihrer Schönheit so beeindruckt, dass er<br />
sie zum Raja brachte, der sofort beschloss, das lebende<br />
Vorbild für die Skulptur zu suchen und zur Frau zu<br />
nehmen.<br />
Als das Vorhaben des Raja Pingkan u. Matindas zu<br />
Ohren kam, verließen sie ihr Dorf und suchten Zuflucht<br />
in dem an der Südostküste liegenden Bezirk von<br />
Kema, im Grenzgebiet der Tonsea und Tolour. Der<br />
Raja ließ jedoch nicht locker, und schließlich spürten<br />
seine Gefolgsleute die neu gewählte Unterkunft des<br />
Ehepaares auf. Während Matindas sich versteckte,<br />
empfing Pingkan den Raja, wobei sie sich eine List<br />
ausgedacht hatte.<br />
Der Raja wollte am liebsten gleich zur Sache kommen<br />
und bat Pingkan um ihre Hand. Diese wusste, dass sie<br />
den Wunsch des Raja nicht einfach ungestraft ablehnen<br />
konnte und gab vor, in ihn einzuwilligen – aber<br />
unter der Bedingung, dass sie zuerst nach dem lokalen<br />
Brauch gemeinsam Betel kauen würden. Die Zutaten<br />
dafür, Arecanüsse und Betelblätter, sollte der Raja eigenhändig<br />
vom Baum pflücken. Von der Schönheit<br />
und dem Charme Pingkans bezaubert, willigte er in<br />
dieses Unternehmen ein. Dafür sollte er auch das<br />
prächtige fürstliche Gewand ablegen und gegen Matindas’<br />
Hose und Hemd tauschen. Als der Raja den<br />
Baum erkletterte, trat Matindas, nun als Raja verkleidet,<br />
hervor. Pingkan befahl den Soldaten, den vermeintlichen<br />
Matindas auf dem Baum zu töten. Diese<br />
ließen sich täuschen und führten den Befehl aus. Der<br />
Betrug blieb jedoch nicht lange unentdeckt, und Pingkan<br />
und Matindas mussten wieder die Flucht ergreifen.<br />
Dieser Anlass war der Anfang eines lange andauernden<br />
Krieges gegen Bolaang-Mongondow. Schließlich<br />
schlossen sich die bis dahin aufgesplitterten benachbarten<br />
Ethnien Tontemboan, Tombulu, Tonsea<br />
und Tolour das erste Mal zu einem Bündnis zusammen,<br />
um gemeinsam den Feind zu besiegen.<br />
Kultur und Geschichte „schreiben“<br />
Pingkan und Matindas zählen wohl zu den populärsten<br />
„historischen“ Persönlichkeiten in Minhasa, deren<br />
Schicksal bei Alt und Jung bekannt ist. Während meiner<br />
Feldforschung im Bezirk Kema wurde mir wiederholt<br />
diese Geschichte erzählt, wobei je nach Erzähler<br />
und Situation das Schwergewicht auf unterschiedlichen<br />
Passagen oder Handlungselementen lag. Manches<br />
fehlte, dafür wurde anderes hinzu gefügt. Dies<br />
war nichts Außergewöhnliches und entsprach den<br />
allgemeinen Merkmalen oraler Traditionen, in denen<br />
der Person des Erzählers ein relativ großes Maß an<br />
Flexibilität zugestanden wird. Vor allem im ländlichen<br />
17
Raum werden diese und ähnliche Geschichten auch<br />
heute noch zumeist mündlich überliefert, obwohl<br />
mittlerweile auch schriftliche Versionen vorliegen. Ihre<br />
Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften<br />
machten die Erzählungen zwar einer breiteren Öffentlichkeit<br />
in und außerhalb der Region zugänglich, jedoch<br />
um den Preis ihrer Fixierung und Homogenisierung.<br />
Durch ihre Verschriftlichung wird meist eine<br />
offizielle und daher quasi-autoritäre Version einer Geschichte,<br />
meist als Synthese mehrerer Erzählvarianten,<br />
geschaffen und gelegentlich in einen breiteren historischen<br />
Kontext gestellt bzw. werden Details ausgeführt,<br />
die in mündlichen Erzählungen oft fehlen. So steht<br />
zwar in der von H.M. Taulu herausgegebenen und mit<br />
140 Seiten auch recht umfangreichen Publikation<br />
„Bintang Minahasa“ (1987) das persönliche Schicksal<br />
der Liebenden Pingkan und Matindas im Vordergrund,<br />
Beschreibungen der zeitgenössischen politischen Umstände<br />
und Entwicklungen gewinnen jedoch im Laufe<br />
des Textes zunehmend an Bedeutung.<br />
Dennoch werden Texte, denen mündlich überlieferte<br />
Legenden oder Mythen als Grundlage gedient haben,<br />
nur bedingt als Quellen für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung<br />
anerkannt und erhalten nicht die<br />
selbe Wertigkeit wie so genannte „seriösere“ Schriftstücke<br />
zur kulturellen Vergangenheit einer Region. In<br />
der christlich dominierten Minahasa-Region wurden<br />
daher meist die Berichte der Missionare, Kolonialbeamten,<br />
Reisenden und ForscherInnen herangezogen.<br />
Somit war die Kultur- und Geschichtsschreibung bis<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts fest in westlichen (zumeist<br />
europäischen) Händen. In der Folge, und besonders<br />
seit der Unabhängigkeit <strong>Indonesien</strong>s nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg, übernahmen zunehmend<br />
Indonesier – nicht zuletzt Minahasa selbst – diese Aufgabe.<br />
Die in wissenschaftlichen Diskursen noch immer<br />
beliebten Dichotomien wie „lokal“ versus „global“<br />
und „schriftlich“ versus „oral“ verlieren in diesem Zusammenhang<br />
schließlich ihre klaren Abgrenzungen<br />
und lösen sich zunehmend auf. Lokale orale Traditionen<br />
werden verschriftlicht, und lokale Eliten schreiben<br />
Geschichtsbücher nach westlichen Standards. Dennoch,<br />
oder vielleicht gerade deshalb, bleibt weiterhin<br />
folgende zentrale Frage bestehen: Wer „schreibt“ für<br />
wen welche Kultur/Geschichte?<br />
Kultur- und Geschichtsschreibungen stellen notwendigerweise<br />
immer nur eine Auswahl dessen dar, das beschrieben<br />
werden könnte. Vor diese Herausforderung<br />
wurde ich auch beim Verfassen des vorliegenden Aufsatzes<br />
gestellt. Ich möchte daher in den folgenden<br />
Kapiteln einige Beispiele der Repräsentation herausgreifen,<br />
die nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht sondern<br />
meines Wissens nach auch im Selbstverständnis<br />
der lokalen Bevölkerung Beachtung verdienen. Als<br />
wesentliche Bausteine der Minahasa Kultur und/oder<br />
Geschichte sind diese auch untrennbar mit der ethnischen<br />
und kulturellen Identität der Minahasa Bevölkerung<br />
verbunden.<br />
In meinen Ausführungen greife ich sowohl auf wissenschaftliche<br />
Texte zurück, die meist versuchen, ein<br />
möglichst „objektives“ Bild zu vermitteln, als auch auf<br />
populäre Überlieferungen, die die Frage nach der<br />
Selbstrepräsentation deutlich machen. Nicht zuletzt<br />
stütze ich mich auf meine eigenen Erfahrungen als<br />
lernende und forschende Ethnologin in der Minahasa<br />
Region.<br />
Vereint in Minahasa<br />
Die Region Minahasa, die heute aus drei Kabupaten<br />
sowie den drei Verwaltungsstädten Manado, Bitung<br />
und Tomohon besteht, dürfte bis vor ca. 300 Jahren<br />
sowohl in politischer als auch kultureller Hinsicht alles<br />
andere als ein homogenes und geeintes Gebiet gewesen<br />
sein. Diese Erfahrung machten auch die Kolonialmächte<br />
– zuerst die Portugiesen und Spanier und ab<br />
Mitte des 17. Jahrhunderts die Niederländer –, denen<br />
die Aufsplitterung der Region in kleine, häufig verfeindete<br />
Fürsten- bzw. Häuptlingstümer ein Dorn im Auge<br />
war. Derartige Strukturen, oder auch mangelnde<br />
Strukturen, stellten ein Risiko für die Sicherheit wie<br />
auch für die Regierbarkeit des Landes dar. Die so genannten<br />
„Befriedungsmaßnahmen“, die zum Beispiel<br />
lokale Fehden und Praktiken wie die Kopfjagd unterbinden<br />
sollten, aber manchmal selbst nicht besonders<br />
friedlich vor sich gingen, waren daher nicht nur im<br />
Interesse der Bevölkerung sondern mindestens ebenso<br />
im Interesse der Kolonialregierung. Der erste nachweisliche<br />
Akt eines Zusammenschlusses zu einer gemeinsamen<br />
politischen Handlung zwischen den Oberhäuptern<br />
der Dorfverbände (Walak) der als Landstreek<br />
van Manado 4 bezeichneten Region war 1679 eine Vertragsunterzeichnung.<br />
Dabei verpflichteten sich die<br />
lokalen Chiefs zur Loyalität gegenüber der VOC 5 , die<br />
als Gegenleistung den Schutz vor Übergriffen und<br />
Tributforderungen des Raja von Bolaang gewähren<br />
sollte. Die historische Bedeutung dieses Dokuments<br />
liegt vor allem darin, dass es den Niederlanden den<br />
Weg zur kolonialen Herrschaft über das Gebiet von<br />
Manado öffnete.<br />
Die Bezeichnung Minahasa, die „sich vereinigen“,<br />
„eins werden“ bedeutet, schien jedoch in niederländischen<br />
Aufzeichnungen erst 1789, also mehr als hundert<br />
Jahre später auf. Während sie sich anfänglich nur<br />
auf den als Vertretung gegenüber der Kolonialregie-<br />
4<br />
Als Landstreek van Manado wurde das Gebiet des gegenwärtigen<br />
Minahasa bezeichnet. Es wird angenommen, dass der Name Manado<br />
ursprünglich von der vorgelagerten Insel Manado Tua (= Altes Manado)<br />
stammt. Auch heute wird in der Alltagssprache Manado oft synonym<br />
für Minahasa verwendet.<br />
5<br />
Vereinigte Ostindische Kompanie<br />
18<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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ung gebildeten Landraad der Häuptlinge bezog,<br />
schloß sie einige Jahrzehnte später als geografischethnische<br />
Markierung die gesamte Region sowie deren<br />
Bevölkerung mit ein. Der politische Einigungsprozess<br />
spielte sich wohl in erster Linie zwischen den einzelnen<br />
Walak bzw. ihren Anführern ab, und ethnolinguistische<br />
Grenzen dürften dabei zumindest anfänglich<br />
nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben.<br />
Populärgeschichtliche Versionen beziehen sich jedoch<br />
gerade auf die Letztgenannten und vertreten dabei<br />
eine selbst in der ethnologischen Wissenschaft bis Mitte<br />
des 20. Jahrhunderts durchaus übliche Sichtweise<br />
der Gleichstellung linguistischer und politischer Einheiten.<br />
Demzufolge bezeichnet man oft auch heute noch<br />
die acht verschiedenen Sprachgruppen in Minahasa<br />
als Stämme, die ihren ursprünglich autonomen Status<br />
zu Gunsten eines größeren und nach außen hin stärkeren<br />
politischen Verbandes aufgegeben haben. Wie<br />
die lokale Geschichte von Pingkan und Matindas erzählt,<br />
so soll die militärische Bedrohung durch das<br />
benachbarte Fürstentum Bolaang-Mongondow bereits<br />
in vorkolonialer Zeit ausschlaggebend gewesen sein<br />
für das Bündnis zwischen vier benachbarten „Stämmen“.<br />
Die Statuen von Toar und Lumimuut auf dem Bukit Kasih<br />
Das Geschichtenrepertoire der Minahasa hat jedoch<br />
nicht nur Erklärungen für die geglückte Verbindung<br />
zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen zur<br />
Hand, sondern auch solche, die Aufschluss geben über<br />
ihre ursprüngliche Aufsplitterung und Trennung. Die<br />
wohl bekannteste und am meisten zitierte Geschichte<br />
in diesem Zusammenhang kann als die Schöpfungsmythe<br />
der Minahasa schlechthin gesehen werden. Die<br />
Hauptakteure darin sind das „Urelternpaar“ aller Minahasa,<br />
nämlich Lumimuut und Toar, die in grauer<br />
Vorzeit als erste Menschen in dieser Region gelebt<br />
haben sollen. Aus deren unwissentlich inzestuöser<br />
Mutter-Sohn-Beziehung gingen je nach Überlieferung<br />
drei bzw. vier Kinder hervor. Als diese erwachsen waren,<br />
wurde das umliegende Land, ausgerichtet nach<br />
den Himmelsrichtungen, unter ihnen aufgeteilt mit<br />
der Anweisung, dass sie und ihre Nachfahren in diesem<br />
Territorium leben sollten. Aufgrund der relativen<br />
Isolation hätten sich daraufhin unterschiedliche Sprachen<br />
und Kulturen ausgebildet (Tombulu, Tontemboan,<br />
Tonsea und ev. Tolour). Dennoch bestand ein gewisses<br />
Zusammengehörigkeitsgefühl, die Vorstellung<br />
einer gegenseitigen Komplementarität, die zum Beispiel<br />
in gemeinsamen Ritualen seinen Ausdruck fanden.<br />
Dieser Aspekt, vor allem aber die vermeintliche<br />
genealogische Nähe, lassen die spätere Wiedervereinigung<br />
als eine geradezu natürliche Entwicklung erscheinen,<br />
als eine Quasi-Rückkehr in einen früheren<br />
Zustand, zu den „Wurzeln“ sozusagen. Eine derartige<br />
Geschichtsdarstellung mit dem Fokus auf Abstammung<br />
rechtfertigt die Bezeichnung der Sprachgruppen<br />
als Stämme. Der Stein von Pinawetengan, der<br />
Schauplatz der territorialen Aufteilung zwischen Lumimuuts<br />
Nachkommen im Gebiet von Tontemboan,<br />
gilt noch heute als Heiligtum, dessen kulturelle und<br />
spirituelle Bedeutung selbst von überzeugten Christen<br />
nicht angezweifelt wird. Mittlerweile ist er auch zu<br />
einem touristischen Wahrzeichen avanciert, und ein<br />
Besuch dieses Ortes gehört zum Pflichtprogramm einer<br />
Minahasa-Reise.<br />
In den letzten Jahren hat der Bezirk noch eine weitere<br />
Attraktion dazu bekommen und zwar den so genannten<br />
Bukit Kasih. Dabei handelt es sich um einen nahe<br />
gelegenen Berg in der umliegenden Hügelkette, der<br />
zu einer Art „ökumenischen Pilgerstätte“ um- und<br />
ausgebaut worden ist. Es handelt sich dabei in erster<br />
Linie um eine Art „Tempelanlage“, da für jede in der<br />
Provinz offiziell vertretene und anerkannte Weltreligion<br />
(agama) ein entsprechender „Tempel“ 6 in Kleinformat<br />
errichtet worden ist. Der Besucher kann auf einem<br />
betonierten Pfad zwischen den einzelnen Stätten umherwandern<br />
bzw. den Hügel besteigen. Die Tatsache,<br />
dass dem Christentum – im Gegensatz zu den anderen<br />
Religionen – zwei Kirchen zugestanden worden sind<br />
und eine Differenzierung zwischen Katholiken und<br />
Protestanten als notwendig und wünschenswert erachtet<br />
worden ist, spiegelt zweifelsohne die lokalen und<br />
aktuellen gesellschaftspolitischen Prioritäten wider.<br />
Dennoch wird die offizielle Bedeutung darin gesehen,<br />
einen Ort der Begegnung und des Austausches zwischen<br />
Angehörigen verschiedenen Glaubens geschaffen<br />
zu haben, der das Verbindende über das Trennende<br />
stellen will. Die zugrunde liegende Einigkeit bzw.<br />
Einheit soll durch den Bezug auf die gemeinsamen<br />
Wurzeln aller Minahasa vermittelt werden: Überlebensgroße<br />
Statuen der Urahnen Toar und Lumimuut<br />
begrüßen die Besucher bei der Ankunft.<br />
Zwar können der Legende nach nur etwa die Hälfte<br />
der in Minahasa vertretenen Sprachgruppen ihre Ab-<br />
6<br />
Darunter befinden sich eine römisch-katholische und eine evangelische<br />
Kirche, eine Moschee sowie ein buddhistischer und ein hinduistischer<br />
Tempel.<br />
19
stammung auf ein gemeinsames Urelternpaar zurückführen,<br />
aber in der Praxis wird dies nicht so eng gesehen.<br />
Auch darin war die evangelische Kirche nicht<br />
unbeteiligt, die es verstand, sich lokaler Traditionen zu<br />
ihrem eigenen Vorteil zu bedienen. So wurden in den<br />
Missionsschulen Geschichten wie diejenige von Toar<br />
und Lumimuut als kulturelles Erbe aller Minahasa gelehrt<br />
und die Idee einer gemeinsamen, wenn auch<br />
fiktiven, Abstammung über die ursprünglichen<br />
„Stammesgrenzen“ hinaus getragen. Die Einheit Minahasas<br />
wird auch heute noch, in Zeiten zunehmender<br />
separatistischer Bewegungen, als wertvolles Gut<br />
hoch gehalten, und die Lesearten der Geschichte und<br />
Geschichten werden in diesem Sinne ausgewählt bzw.<br />
adaptiert. Bukit Kasih kann demnach nicht nur als<br />
Sinnbild für religiöse Toleranz und Gleichberechtigung<br />
verstanden werden, sondern auch – und vor allem in<br />
Verbindung mit dem nahe gelegenen Watu Pinawetengan<br />
- als Symbol für eine geeinte Minahasa Identität.<br />
Aksi und nasi<br />
Ein über die Grenzen Minahasas hinaus bekanntes<br />
Sprichwort lautet: „Biar kalah nasi asal jangan kalah<br />
aksi“, was sinngemäß wie folgt übersetzt werden<br />
kann: „Es ist nicht so schlimm, keinen Reis zu haben,<br />
wenn es nur genügend Action gibt!“ Dieser Satz wird<br />
häufig und gerne zitiert und zwar vor allem von Minahasa<br />
selbst, wenn es darum geht, das Charakteristische<br />
ihrer Gesellschaft auf den Punkt zu bringen. Demnach<br />
nimmt aksi eine zentrale Rolle ein. Unter diesem Begriff<br />
werden vor allem Feste, Feiern und andere aufwendige<br />
oder ereignisreiche soziale Veranstaltungen<br />
subsummiert, die man sich aus der Sicht vieler Minahasa<br />
nicht entgehen lassen sollte. Dabei geht es nicht<br />
zuletzt um sehen und gesehen werden, und viele Anwesende<br />
sind ein Zeichen für die Qualität und Bedeutung<br />
des Ereignisses. Diese Haltung gilt nicht nur für<br />
StadtbewohnerInnen, denn auch der ländliche Raum<br />
ist in dieser Hinsicht alles andere als „beschaulich“,<br />
und so mancher musste sich schon gute Ausreden<br />
einfallen lassen, um seinen sozialen Kalender auf ein<br />
erträgliches Maß einzuschränken. Schließlich will und<br />
darf man potentielle Gastgeber nicht beleidigen, denn<br />
wann immer es nur irgendwie möglich scheint, sollten<br />
Einladungen angenommen werden und der Gast zumindest<br />
für eine kurze Weile erscheinen. Dabei gilt es,<br />
im Gegensatz zu westlichen Gepflogenheiten, nicht als<br />
ausgesprochen unhöflich, nur kurze Zeit zu verweilen<br />
und sich im Anschluss an das Mittag- oder Abendessen<br />
sofort zu verabschieden.<br />
Womit wir schon beim zweiten wichtigen Wort hier<br />
wären und zwar bei nasi. Damit wird genau genommen<br />
der gekochte essfertige Reis bezeichnet. Da Reis<br />
mittlerweile quer durch alle Gesellschaftsschichten den<br />
ersten Platz unter den Grundnahrungsmitteln in Minahasa<br />
einnimmt 7 , wird der Begriff in der Umgangssprache<br />
oft synonym für Essen im Allgemeinen verwendet.<br />
Wenn zum Beispiel ein Gastgeber mit den<br />
Worten „Tambah nasi!“ („Nimm dir noch Reis!“) seinen<br />
Gast zum Zugreifen ermuntert, meint er tatsächlich<br />
sämtliche dargebotene Speisen. So ist auch das<br />
eingangs zitierte Sprichwort in einem weiteren Sinn zu<br />
verstehen. Nun darf man keineswegs glauben, dass in<br />
Minahasa Feiern und Essen zwei separate Bereiche<br />
wären, die nichts miteinander zu tun hätten, und dass<br />
letzterem geringe gesellschaftliche Bedeutung zuerkannt<br />
würde. Ganz im Gegenteil! Die Region ist nicht<br />
nur für seine lokalen Spezialitäten bekannt, sondern<br />
auch dafür, dass ihre Bewohner gerne und viel essen<br />
und dass die Idee der Gastfreundschaft untrennbar mit<br />
dem Anspruch einer dem jeweiligen Anlass und den<br />
Möglichkeiten entsprechenden großzügigen Bewirtung<br />
verbunden ist. Dies entspricht durchaus auch<br />
dem Selbstbild der Minahasa, die das Erstaunen –<br />
manchmal auch Entsetzen – der Touristen und anderer<br />
Besucher über Quantität und Qualität von Speisen oft<br />
amüsiert beobachten und eventuell mit einem Augenzwinkern<br />
„noch ein Schäuflein nachlegen“. 8<br />
Gilt es schon im Alltag als Qualitätskriterium, gut und<br />
reichlich zu essen, und eine leere Schüssel als Zeugnis<br />
von Armut oder extremer Nachlässigkeit, so wird dieses<br />
Ideal bei besonderen Anlässen zur unbedingten<br />
Forderung erhoben. Von der relativ kleinen Zusammenkunft<br />
im erweiterten Familienkreis bis zur hochoffiziellen<br />
öffentlichen Veranstaltung mit mehreren hundert<br />
Teilnehmern wird dem leiblichen Wohl der Gäste<br />
höchste Priorität zugewiesen. Entscheidende Faktoren<br />
bei der Bewirtung sind einerseits der Grad der sozialen<br />
Nähe bzw. Distanz zwischen Gastgeber und Gästen,<br />
andererseits der Status des Anlasses. Während „Fremde“<br />
selbst bei kurzen und unangemeldeten Besuchen<br />
das Gastrecht genießen, das eine möglichst prestigeträchtige<br />
Bewirtung einschließt (Bier, Coca Cola, Kekse<br />
oder sogar eine ganze Mahlzeit), ist ein formeller<br />
Rahmen erforderlich für ähnlich großzügige Darbietungen<br />
innerhalb der Familie und im engen Bekanntenkreis.<br />
Selbst private Anlässe wie zum Beispiel Geburtstage<br />
werden daher einem relativ strengen Zeremoniell<br />
unterworfen, das für Spontaneität wenig Raum<br />
lässt. Dabei stehen weniger die tatsächlichen Bedürfnisse<br />
der zu Feiernden (z.B. das „Geburtstagskind“)<br />
oder der einzelnen Gäste im Vordergrund als das mit<br />
„erfolgreichen“, d.h. auch investitionsträchtigen, Festen<br />
einhergehende Prestige. Daher darf neben und<br />
nach dem reichlichen Mahl die musikalische „Unter-<br />
7<br />
Noch vor 1-2 Generationen teilte sich Reis zumindest in quantitativer<br />
Hinsicht und unter der ländlichen sowie einkommensschwächeren<br />
Bevölkerung seine Vormachtstellung mit einer Reihe anderer stärkeha l-<br />
tiger Produkte, wie z.B. Sago, Maniok oder Kochbananen.<br />
8<br />
Besonders die Aussicht, Hunde- oder Rattenfleisch auf seinem Teller<br />
serviert zu bekommen, wirkt bei so manch Reisendem als Appetitzügler.<br />
20<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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malung“ auf keinen Fall fehlen. Dazu bedient man sich<br />
in erster Linie der sogenannten „Discos“, d.h. riesiger<br />
Verstärkeranlagen, die nicht nur die geladenen Gäste<br />
sondern letzten Endes das ganz Dorf mit vorwiegend<br />
indonesischer Pop- und Schlagermusik unterhalten<br />
sollen.<br />
Die heute wohl aufwendigsten Feste mit ausgeprägtem<br />
Ritualcharakter, bei denen Privates mit Öffentlichem<br />
vereint wird, sind Hochzeiten. Während in den<br />
Städten schon aufgrund räumlicher und organisatorischer<br />
Notwendigkeiten anstelle einer klassischen<br />
Hochzeitstafel meist auf eines der vielfältigen Angebote<br />
großer Restaurants und Hotels zurückgegriffen<br />
wird 9 , ist es für viele DorfbewohnerInnen nicht nur<br />
eine Frage des Geldes sondern auch der Ehre und Traditionsverbundenheit,<br />
für den Sohn oder die Tochter<br />
eine große Hochzeit im eigenen Haus zu veranstalten.<br />
Eine Gästeliste von 200 bis 300 Personen ist bei solchen<br />
Anlässen keine Seltenheit. Neben anderen Aufgaben<br />
stellen erwartungsgemäß die Vor- und Zubereitungen<br />
des Hochzeitsmahls große Anforderungen an<br />
die finanziellen und menschlichen Ressourcen und an<br />
die organisatorischen Fähigkeiten der Gastgeber.<br />
Schweinefleisch in verschiedenen Kochvarianten zählt<br />
nach wie vor zu den am meisten geschätzten Speisen,<br />
und die Anzahl der geschlachteten Schweine bzw.<br />
deren Gewicht ist ein entscheidender Maßstab für die<br />
Bewertung des Status des Gastgebers sowie seiner<br />
Bereitschaft zur Redistribution seines Vermögens anlässlich<br />
eines großen Festes.<br />
stellen. Die Beziehung zwischen groß angelegten Festen,<br />
einer an Verschwendung grenzenden Darstellung<br />
sowie dem Verbrauch von Reichtum und dem Status<br />
des Gastgebers gab es bereits in vorchristlicher Zeit.<br />
Die potlatch-artigen „Verdienstfeste“ (foso), bei denen<br />
wertvolle Objekte, wie z.B. Keramik, zerstört wurden,<br />
stellten eine ritualisierte Wiederholung einer von der<br />
Urgöttin Karema vollbrachten Opferhandlung zur Befestigung<br />
der Erde und Erlösung der Menschen dar.<br />
Für den Gastgeber war dies eine Möglichkeit des sozialen<br />
und spirituellen Aufstiegs, der sich bereits zu Lebzeiten<br />
in einer Akkumulation von Prestige und einer<br />
höheren Position in der lokalen Hierarchie bemerkbar<br />
machte und ihm nach seinem Tode den Rang eines<br />
vergöttlichten Ahnen sichern sollte.<br />
Ostentative Demonstrationen von Besitz und Ansehen<br />
mögen vielleicht nicht gerade einem christlichen Ideal<br />
von Bescheidenheit und selbstlosem Geben entsprechen,<br />
dennoch sind heutzutage die Kirchen und ihre<br />
Vertreter auch bei solchen Anlässen in den vorderen<br />
Reihen vertreten. Dies ist nicht weiter verwunderlich,<br />
da es kaum ein relevantes soziales Ereignis geben dürfte,<br />
bei dem nicht der kirchliche, oder zumindest christliche,<br />
Beistand gesucht wird. Die Vorliebe der Minahasa<br />
für eine Art gelenkter Geselligkeit kommt auch den<br />
Zielen der Kirchen entgegen, die in der Gemeindearbeit,<br />
in Gebetszirkeln, aber auch in ihrem Unterhaltungsprogramm<br />
den christlichen Glauben nachhaltig<br />
sozial verankern können. Bei den meisten dieser Veranstaltungen<br />
spielt auch das gemeinsame Mahl eine<br />
wichtige Rolle. Makan dan minum bersama (gemeinsam<br />
essen und trinken), die Botschaft der Gleichheit<br />
und Gemeinschaft, wird dabei als zentrales Motiv in<br />
den Vordergrund gestellt.<br />
Individualismus in der Gemeinschaft<br />
Ehrengäste beim Festmahl anlässlich einer Taufe in Waleo<br />
Schon alleine deshalb, neben anderen Spezifika, können<br />
wir bei Hochzeiten, Taufen oder anderen ausgiebig<br />
gefeierten Anlässen trotz ihrer westlich-christlichen<br />
Ausprägungen einen traditionellen Hintergrund fest-<br />
9<br />
Solche Hochzeitsfeiern, die vor allem in der Hauptstadt Manado ausgetragen<br />
werden, bestehen üblicherweise aus einem offiziellen und<br />
durch Reden und Gebete stark strukturierten Empfang mit anschließendem<br />
Buffet. In der Regel dauert die ganze Veranstaltung nicht viel<br />
länger als zwei Stunden, was in vor allem in bemerkenswertem Gegensatz<br />
zu den im ländlichen Raum sich über den ganzen Tag und in die<br />
Nacht hinein erstreckenden Feierlichkeiten steht.<br />
„Einheit“ und „Gemeinsamkeit“ sind wesentliche<br />
Themen in der Repräsentation von Geschichte und<br />
Kultur der Minahasa und folglich auch in meinen vorangegangenen<br />
Ausführungen. Wir finden dieses Ideal<br />
sowohl in Mythen und wissenschaftlichen Berichten als<br />
auch in Beschreibungen des Alltags und der Festtage,<br />
sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart,<br />
sowohl auf kollektiver als auch individueller Ebene<br />
wieder. Die Geschichten von Lumimuut und Toar<br />
sowie von Pingkan und Matindas weisen darauf hin,<br />
dass im Falle der verschiedenen Sprachgruppen in<br />
Minahasa eine Einheit zwar genetisch und historisch<br />
bedingt sein mag, aber erst durch die bewusste Zusammenarbeit<br />
realisiert werden kann. Für viele Minahasa<br />
ist diese Erkenntnis auch heute noch wesentlicher<br />
Bestandteil ihres Alltags. Die als Mapalus bezeichneten<br />
sozialen Netzwerke zur reziproken Unterstützung haben<br />
zwar in den letzten Jahrzehnten im Arbeitsumfeld<br />
etwas an Bedeutung verloren, aber bei der Organisati-<br />
21
on von Festen wird noch gerne und häufig von ihnen<br />
Gebrauch gemacht. So sind selbst relativ wohlhabende<br />
Minahasa im Falle einer „traditionellen“ Dorfhochzeit<br />
auf die tatkräftige bzw. materielle Unterstützung<br />
aus ihrem sozialen Umfeld angewiesen, und die meisten<br />
weniger finanzkräftigen Haushalte würden ohne<br />
Zugriffsmöglichkeiten auf das Mapalus-System schon<br />
durch soziale Verpflichtungen kleineren Ausmaßes an<br />
die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen.<br />
Dennoch wäre es falsch anzunehmen, dass die Bereitschaft<br />
zu Kooperation und kollektivem Handeln das<br />
Streben nach persönlichem Erfolg überschatten würde.<br />
Die Geschichte der Minahasa Gesellschaft zeigt<br />
gerade das Gegenteil auf. Die traditionellen egalitären<br />
Strukturen ließen einerseits ein relatives Gleichheit s-<br />
ideal zu, boten andererseits jedoch ehrgeizigen und<br />
fähigen Individuen die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs<br />
als primus inter pares. Einrichtungen der Kolonialzeit,<br />
wie der Verwaltungsapparat und das Schulsy s-<br />
tem, förderten derartige Entwicklungen. Westliche<br />
Bildung und Berufsfelder eröffneten neue Wege zu<br />
einer sozialen Anerkennung persönlicher Leistungen<br />
und somit zu einer erweiterten Differenzierung innerhalb<br />
der Gesellschaft.<br />
Tanzgruppe in Tomohon. Kabasaran bzw. Cakalele ist ein traditioneller<br />
Kriegstanz der Minahasa, der heute bei vielen Feierlichkeiten als Willkommensgruß<br />
für die Gäste aufgeführt wird.<br />
Auch in den Minahasa-Sagen und -Mythen stehen oft<br />
einzelne Personen im Mittelpunkt und bestimmen<br />
durch ihre Handlungen das Geschick ihres Dorfes oder<br />
Region, wie auch das Beispiel von Pingkan und Matindas<br />
zeigt. Dabei werden nicht nur „klassische“ Tugenden<br />
wie Liebe, Treue, Fleiß und Tapferkeit belohnt und<br />
von den Lesern oder Zuhörern bewundert, sondern so<br />
manchem Helden gelingt sein Vorhaben durch<br />
Schlauheit und List, wobei die Ehrlichkeit gelegentlich<br />
auf der Strecke bleibt. So erzählt man sich, dass ein<br />
Mann namens Tumileng die ersten Reiskörner von den<br />
Göttern im Himmel gestohlen und auf die Erde zu den<br />
Menschen geschmuggelt hätte. Auch Pingkan gelang<br />
es durch List und Täuschung, sich und ihren Ehemann<br />
vor dem Raja von Bolaang-Mongondow zu retten. Wie<br />
man sieht, sind derartige Fähigkeiten nicht nur Männern<br />
zugeschrieben worden, und auch im profanen<br />
Leben wird Frauen durchaus zugetraut, sich zu behaupten<br />
und im Alltag sowie in Krisensituationen „ihren<br />
Mann zu stellen“. Die schöne, treue und äußerst<br />
mutige Pingkan steht in der kollektiven Erinnerung der<br />
Minahasa im Beliebtheitsgrad vor Matindas, und ihr<br />
Name an erster Stelle im Titel ist vielleicht mehr als<br />
bloß stilistische Präferenz - eine starke Frau, die auch<br />
streitbaren Herrschern die Stirn bietet.<br />
Ausgewählte Literaturverweise<br />
HENLEY, D. 1996. Nationalism and Regionalism in a<br />
Colonial Context. Minahasa in the Dutch East Indies.<br />
Leiden: KITLV Press.<br />
KOSEL, S. 1998. „Die zu eins gemacht wurden.“<br />
Gruppenidentitäten bei den Minahasa Nordsulawesis<br />
(<strong>Indonesien</strong>). Magisterarbeit, Universität Frankfurt.<br />
LUNDSTRÖM-BURGHOORN, W. 1981. Minahasa Civilization.<br />
A Tradition of Change. Göteborg: Acta Universitatis<br />
Gothoburgensis.<br />
SCHEFOLD, R. (Hg.), 1995. Minahasa Past and Present.<br />
Tradition and Transition in an Outer Island Region<br />
of Indonesia, Leiden: Leiden University, Research<br />
School CNWS.<br />
SCHOUTEN, M. 1998. Leadership and Social Mobility<br />
in a Southeast Asian Society. Minahasa, 1677-1983.<br />
Leiden: KITLV Press.<br />
TAUCHMANN, K. 1968. Die Religion der Minahasa-<br />
Stämme (Nordost-Celebes/Sulawesi). Diss., Universität<br />
Köln.<br />
TAULU, 1987. Bintang Minahasa (Pingkan Mogodunoiy).<br />
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zum Doktor. Medizinethnologische Untersuchungen<br />
bei den Minahasa (Nord-Sulawesi, <strong>Indonesien</strong>). Basel:<br />
Ethnologisches Seminar der Universität u. Museum der<br />
Kulturen (Basler Beiträge zur Ethnologie, Bd. 41).<br />
WEICHART, G. 2004. Minahasa Identity: A Culinary<br />
Practice. Antropologi Indonesia, Special Volume, 55-<br />
74<br />
22<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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PAPUA: HOFFNUNG EINES BEDROHTEN VOLKES<br />
KULTUR UND GESCHICHTE WEST-PAPUAS<br />
Uwe Hummel<br />
Uwe Hummel studierte in Hamburg, Südafrika und Amsterdam Theologie. Für die Vereinigte Evangelische Mission<br />
(VEM) arbeitete er sieben Jahre lang auf Nias in <strong>Indonesien</strong>. Seit 2004 ist er Koordinator des West-Papua-Netzwerks<br />
mit Sitz in Wuppertal.<br />
“West Papua“ ist die international gängige Bezeichnung<br />
für die östlichste, an Papua Nugini grenzende<br />
Region <strong>Indonesien</strong>s, dem ehemaligen Nederlands Nieuw-Guinea.<br />
Nachdem dieses Gebiet 1963 der Republik<br />
<strong>Indonesien</strong> einverleibt wurde, hieß die neue Provinz<br />
zunächst Irian-Barat (West-Irian), später Irian Jaya und<br />
seit 2000 Papua.<br />
Gegenwärtig ist West Papua in zwei Provinzen aufgeteilt:<br />
die Provinz Papua mit Hauptstadt Jayapura und<br />
die Provinz „Irian Jaya Barat“ (West-Irian Jaya) mit<br />
Hauptstadt Manokwari. Diese im Jahre 2003 vollzogene,<br />
sehr umstrittene Teilung West Papuas wurde am<br />
11. November 2004 vom indonesischen Verfassungsgericht<br />
für rechtmäßig erklärt, entbehrt aber bis heute<br />
einer gesetzlichen Grundlage. Die Gründung einer<br />
dritten Provinz, „Irian Jaya Tengah“ (Mittel-Irian Jaya)<br />
mit Hauptstadt Timika konnte bislang von der Bevölkerung<br />
verhindert werden. Seit Anfang diesen Jahres<br />
gibt es aber immer wieder Stimmen von höchster Stelle<br />
in Jakarta, welche West Papua in bis zu fünf Provinzen<br />
aufteilen wollen. Der Vorwand ist effizientere Verwaltung;<br />
in Wirklichkeit geht es aber nicht um das<br />
Wohl der Papua, sondern um Ressourcen und Macht.<br />
Bei dieser „Teile-und-Herrsche-Politik“ Jakartas machen<br />
leider auch einige opportunistische indigene Papua<br />
mit.<br />
Bevölkerung<br />
Gegenwärtig leben 2,4 Millionen Menschen in West<br />
Papua, davon etwa 60% indigene Papua, die sich<br />
deutlich von anderen indonesischen Völkern unterscheiden.<br />
Sie sind dunkelhäutig und kraushaarig; ein<br />
melanesisches und kein asiatisches Volk. Hinzu kommen<br />
Siedler (pendatang) aus anderen Teilen <strong>Indonesien</strong>s.<br />
Im Jahre 1978 wurde das Gesetz zur sogenannten<br />
Transmigrasi erlassen, dass eine Umsiedlung von<br />
Menschen aus den überbevölkerten Regionen Javas<br />
und Maduras u. a. nach West Papua vorsah. In den<br />
folgenden 20 Jahren wurden über 300.000 Westindonesier<br />
nach West Papua umgesiedelt. Neben dieser<br />
organisierten Transmigrasi, die nach der Suharto-Ära<br />
stark abnahm und schließlich gestoppt wurde, ziehen<br />
immer noch Tausende auf eigene Initiative nach West<br />
Papua, hauptsächlich in die großen Städte. In Jayapura,<br />
Sorong, Manokwari, Merauke, Biak und wahrscheinlich<br />
auch in Timika sind Papua bereits in der<br />
Minderheit. Im Hochland ist das anders. Insgesamt<br />
liegt der Anteil der Siedler an der Bevölkerung wahrscheinlich<br />
bei 40%. Dies kann aber nicht belegt werden,<br />
weil <strong>Indonesien</strong> aus angeblich noblen Motiven<br />
keine rassenspezifischen Angaben in die Statistik aufnimmt.<br />
Nur aus den Angaben zur Religionsangehörigkeit<br />
lassen sich Rückschlüsse ziehen. 10<br />
Neuerdings kommen viele Transmigranten aus Sulawesi,<br />
vor allem Muslime aus Makassar, aber auch<br />
christliche Toraja. Insgesamt beherrschen die Siedler<br />
fast alle Wirtschaftsbereiche. Ich hörte auf meiner letzten<br />
Reise, dass sogar der Verkauf von Betelnuss (sirih<br />
dan pinang) am Straßenrand, bisher von den Mama<br />
Papua betrieben, von der Übernahme von Siedlern<br />
bedroht ist. Auch die Investitionen im Rahmen der<br />
Sonderautonomie kommen überwiegend den Siedlern<br />
und nicht den indigenen Papua zugute. Die Angst vor<br />
völliger Entmündigung, dem Verlust kultureller Identität,<br />
ja dem Aussterben ist bei indigenen Papua allgegenwärtig.<br />
Geschichte<br />
Die Papua haben, entgegen den gängigen nationalen<br />
Geschichtsdarstellungen, ein eigenes, kritisches Verständnis<br />
ihrer Geschichte. Wahrscheinlich ist gerade<br />
dies, was Jakarta am allermeisten fürchtet und bekämpft.<br />
Als der südafrikanische Erzbischof Desmond<br />
Tutu im Februar 2004 eine Überprüfung des Referendums<br />
von 1969 forderte, also des sogenannten Act of<br />
free Choice (die Papuas sagen: Act of no Choice), bei<br />
dem 1.022 Wahlmänner unter Zwang für den endgül-<br />
10<br />
Papua dalam Angka (Papua in Figures), 2002, Badan Pusat Statistik<br />
Provinsi Papua, Jayapura, 2003, S. 197.<br />
23
tigen Anschluss an <strong>Indonesien</strong> stimmten, war Jakarta<br />
sehr verstimmt. Regelrechte Panik entstand vor drei<br />
Monaten, als auch noch eine Gruppe USamerikanischer<br />
Parlamentarier den Review des Act of<br />
Free Choice verlangten. Gerüchte und Heilserwartungen<br />
überschlugen sich. Unter den Siedlern wuchs die<br />
Angst vor einer Vertreibung nach der „Befreiung Papuas“<br />
durch die USA, die UNO oder gar durch den<br />
christlichen Westen. Das Militär nutzte wie immer die<br />
Gelegenheit, seine Position in West Papua zu verstärken.<br />
Zu der bevorstehenden Erscheinung einer vom niederländischen<br />
Parlament in Auftrag gegebenen, 600 Seiten<br />
umfassenden historischen Studie zu West Papua<br />
von Professor Pieter Drooglever soll Stabschef General<br />
Sutarto gesagt haben: „Wenn dies Buch erscheint,<br />
wird West Papua unabhängig.“. Das ist natürlich völlig<br />
übertrieben und realitätsfremd, aber es zeigt, wie viel<br />
Angst die Eliten in Jakarta vor einer Aufarbeitung der<br />
Geschichte <strong>Indonesien</strong>s der 1960er Jahre, einschließlich<br />
der West Papuas haben.<br />
Durch die Geschichte der Papua zieht sich der hässliche<br />
Faden der Fremdbestimmung. Bis ans Ende des<br />
19. Jahrhunderts machte der Sultan von Tidore seinen<br />
Anspruch auf die Vogelkopfregion und Biak geltend.<br />
1885 machten die Kolonialmächte Großbritannien,<br />
Deutschland und die Niederlande einfach einen Strich<br />
auf der Landkarte Neuguineas. Die westliche Hälfte<br />
wurde eine niederländische Kolonie, die zunächst von<br />
der nordmolukkischen Insel Tidore aus verwaltet wurde.<br />
1897 gründeten die Holländer die Kolonien<br />
Noord-Nieuwguinea mit der Hauptstadt Manokwari<br />
und West-en-Zuid-Nieuwguinea mit der Hauptstadt<br />
Fakfak. Am 7. März 1910 hisste Kapitän F.J.P. Sachs in<br />
Hollandia an der Humboldbucht, im heutigen Jayapura,<br />
die Niederländische Trikolore.<br />
Als die Niederlande am 27. Dezember 1949 der indonesischen<br />
Regierung die volle Souveränität übertrugen,<br />
gehörte West Papua nicht zum neuen Staatsgebiet.<br />
Bald danach fing Holland zum Ärgernis Jakartas<br />
an, die Autonomie West Papuas als überseeisches<br />
Reichsgebiet der Niederlande vorzubereiten. 1961<br />
durften die Papua ein eigenes Parlament, den Nieuw-<br />
Guinea Raad wählen. Parteien entstanden, darunter<br />
die Papua-Partei Parna (Nationale Partei) von Frits Kirihio,<br />
welche die Souveränität West Papuas anstrebte.<br />
Am 5. April 1961 wurde der Nieuw-Guinea Raad feierlich<br />
eingesetzt. Neben der niederländischen Trikolore<br />
wehte die Morgensternflagge der Papua und durfte<br />
die Papua-Hymne, „Oh Papua, mein Land“, gesungen<br />
werden. Der Name Papua durfte gebraucht werden.<br />
Der Beamtenapparat sollte innerhalb von 10 Jahren<br />
„papoeaniseerd“ und West Papua auf die Unabhängigkeit<br />
vorbereitet werden.<br />
<strong>Indonesien</strong> erwiderte mit Säbelrasseln. Brigadegeneral<br />
Suharto, der spätere Diktator, bekam den Auftrag,<br />
West Papua zu erobern. Zu mehr als Infiltrationen und<br />
Scharmützeln kam es aber nicht. Dann mischte sich<br />
der 1961 gewählte US-Präsident John F. Kennedy ein.<br />
Im Rahmen des kalten Krieges musste <strong>Indonesien</strong>, das<br />
eine starke kommunistische Partei besaß, vor der Annäherung<br />
an den Ostblock bewahrt werden. Dafür<br />
musste Holland West Papua opfern.<br />
Am 15. August 1962 unterschrieben die Niederlande<br />
und <strong>Indonesien</strong> das New York Agreement, welches<br />
den Übertrag West Papuas an <strong>Indonesien</strong> regelte. Die<br />
UNO-Generalversammlung nahm diese Vereinbarung<br />
einen Monat später an. Am 1. Oktober 1962 kam<br />
West Papua unter die Verwaltung der Vereinten Nationen<br />
und am 1. Mai 1963 wurde es der Republik <strong>Indonesien</strong><br />
einverleibt. Die Entscheidung wurde ohne<br />
einen einzigen Papua getroffen. Allerdings gab es eine<br />
Auflage für <strong>Indonesien</strong>: Nach fünf Jahren sollten die<br />
Papua in einem Referendum bestimmen dürfen, ob sie<br />
zu <strong>Indonesien</strong> gehören oder unabhängig werden wollen.<br />
Dieser bereits erwähnte Act of free Choice, der in<br />
dem völkerrechtlich legitimierten, aber sehr umstrittenen<br />
endgültigen Anschluss West Papuas an <strong>Indonesien</strong><br />
mündete, fand 1969 statt.<br />
Kultur<br />
An dieser Stelle sei etwas zu der Kultur West Papuas<br />
gesagt: Traditionell gibt es in West Papua drei Kulturräume:<br />
die Küstenregionen, in denen die Menschen<br />
seit jeher vom Fischfang und den üppigen Wäldern,<br />
aber auch zum Teil vom Handel leben. Dann die stärker<br />
bevölkerten Hochlandregionen, wo man dem kargen<br />
Boden durch mühsamen Ackerbau Süßkartoffeln<br />
abgewinnt und Schweine züchtet. Und die dünnbesiedelten<br />
Sumpfregionen zwischen dem Hochland und<br />
den Küsten, wo es halbnomadische Jäger und Sammler<br />
gibt. 11<br />
Die geographischen und klimatischen Bedingungen<br />
haben unterschiedliche Charaktere ausgeprägt.<br />
Die Erschließung abgelegener Gebiete und die<br />
zunehmende Mobilität durch moderne Verkehrsmittel<br />
und die Medien konfrontiert die Papua jedoch aufs<br />
schärfste mit fremden Kultureinflüssen.<br />
Im Ringen um den Erhalt der eigenen Identität spielt<br />
die Kultur neben der Religion bei den Papua eine entscheidende<br />
Rolle. Auf dem II. Papua-Kongress, der<br />
vom 21. Mai bis zum 4. Juni 2000 in Jayapura abgehalten<br />
wurde, befasste sich eine Kommission (Komisi<br />
IV) besonders mit Kulturfragen. Betont wurde, dass<br />
11<br />
Siegfried Zöllner, in: Theodor Rathgeber (Hrsg.), Economic, Social<br />
and Cultural Rights in West-Papua, foedus-verlag, Wuppertal 20<strong>05</strong>, S.<br />
42ff.<br />
24<br />
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die uralten Papua-Sprachen, von denen es 253 gibt 12 ,<br />
neben der Lingua Franka, dem indonesischmalaiischen<br />
Dialekt, besonderer Pflege bedürfen. Papua-Kunst,<br />
wie etwa Holzschnitzereien, Malereien auf<br />
Baumbast, traditionelle Tänze und Musik, traditionelle<br />
Architektur, Kochkunst etc. müssen geschützt und<br />
gefördert werden. Auch die traditionellen Religionen<br />
bieten neben und in Verbindung mit dem Christentum<br />
und dem Islam wichtige Quellen der geistlichen<br />
Inspiration.<br />
Unter Suharto wurde die Papua-Kultur als primitiv und<br />
rückständig eingestuft und sollten die Papuas nach<br />
javanischer Art zivilisiert werden. Hierzu wurden die<br />
sogenannten Adat-Räte (lembaga musyawarah adat)<br />
instrumentalisiert. Der Höhepunkt der Kulturverachtung<br />
des Suharto-Regimes war die sogenannte Operasi<br />
Koteka, die am indonesischen Nationalfeiertag, den<br />
17. August 1971, vom damaligen Gouverneur Acub<br />
Zainal durchgeführt wurde. Innerhalb eines halben<br />
Jahres sollte die gesamte Bevölkerung des Hochlandes<br />
zum Tragen von Textilkleidung verpflichtet werden.<br />
An mehreren Orten wurden riesige Pakete mit Kleidung<br />
aus der Luft abgeworfen. Die Dani durften ihre<br />
Kreishauptstadt nicht mehr mit dem Penisköcher oder<br />
dem Netz bekleidet betreten. Da man Textilkleidung<br />
nicht kannte und sie folglich auch nicht wusch, erkrankten<br />
in kürzester Zeit sehr viele an Hautkrankheiten.<br />
Die „Operation Penisköcher“ scheiterte, wie so<br />
viele andere gut gemeinte, aber von kultureller Überheblichkeit<br />
und Unwissenheit geprägte Zivilisierungsversuche.<br />
In den 1980er Jahren lehnte sich der Papua-<br />
Anthropologe Arnold Clemens Ap gegen die kulturelle<br />
Überfremdung bzw. die von <strong>Indonesien</strong> betriebene<br />
Zerstörung der Kultur der Papua auf. Er dokumentierte<br />
die alten Papua-Sprachen und gründete Tanz- und<br />
Musikgruppen, die auf kreative und sehr selbstbewusste<br />
Weise alte Papua-Motive verarbeiteten und sozialkritisches<br />
Theater aufführten. Das war ein Dorn im Auge<br />
der Indonesier. Ende April 1984 wurde Arnold Ap von<br />
einer militärischen Sondereinheit kaltblütig erschossen.<br />
Den Geist von Mambesak, einer auf Ap zurückgehenden<br />
Musik- und Theatergruppe, konnte jedoch nicht<br />
getötet werden. Ähnlich wie im süd-afrikanischen<br />
Black Consciousness der 70er Jahre besann die Papua-<br />
Jugend sich darauf, dass ihre schwarze Haut und ihr<br />
krauses Haar besonders schön sind. Dr. Benny Giay<br />
schöpft seine Inspiration unter anderem aus der USamerikanischen<br />
und südafrikanischen Black Theology.<br />
12<br />
Dirk Vlasblom, Papoea: Een geschiedenis, Mets & Schilt Amsterdam,<br />
2004.<br />
Religionen<br />
Fast 90% der indigenen Einwohner West Papuas sind<br />
Christen. Die größte und älteste Kirche ist die GKI di<br />
Tanah Papua, die aus der 1855 begonnenen Arbeit<br />
von deutschen und niederländischen Missionaren erwachsen<br />
ist und heute unter einer indigenen Führung<br />
steht. Die zweitgrößte Religionsgemeinschaft ist die<br />
Römisch-Katholische Kirche, die fünf Bistümer in West<br />
Papua hat, davon ein Erzbistum in Merauke. Leider<br />
gibt es noch keinen Papua als Bischof. Überwiegend<br />
im Hochland gibt es zudem mehrere kleinere protestantische<br />
Kirchen, die seit den 1950er Jahren aus der<br />
Arbeit US-amerikanischer, niederländischer und australischer<br />
Missionen entstanden sind. Neuerdings gibt es<br />
auch zunehmend Pfingstkirchen und charismatische<br />
Gruppierungen, die oft von westindonesischen Siedlern<br />
geleitet und finanziert werden und im Gegensatz<br />
zu den etablierteren Kirchen, die in den letzten 10<br />
Jahren engagiert gegen die Schändung der Menschenrechte<br />
protestiert haben, ausgesprochen unpolitisch<br />
bzw. absolut jakartatreu zu sein pflegen.<br />
In einigen Küstenregionen wie etwa Fakfak, Bintuni<br />
und der Paradiesvogelbucht gibt es schon sehr lange<br />
Papua islamischen Glaubens. Durch die Transmigrasi<br />
ist in den letzten 30 Jahren die Zahl der Muslime in<br />
West Papua aber stark gestiegen. Jeder, der für das<br />
Transmigrasi-Programm in Anmerkung kommen wollte,<br />
musste sich als Muslim ausgeben, selbst dann,<br />
wenn er Christ war. Nach erfolgreicher Übersiedlung<br />
entpuppten sich dann doch einige als Christen. Die<br />
Siedler haben es schwer, sich ihren Glaubensgeschwistern<br />
anzupassen. Das gilt für Christen und Muslime.<br />
Die Solidarität zwischen Papua-Muslimen und Papua-<br />
Christen ist oftmals stärker als zwischen Indigenen und<br />
Siedlern desselben Glaubens. Zurecht fordern führende<br />
Papua-Theologen wie Hermann Saud, Socratez<br />
Yoman und Benny Giay, dass Siedler sich an die Papua-Kultur<br />
anpassen und sich in die Papua-Kirchen<br />
integrieren müssten, und nicht etwa umgekehrt. Völlig<br />
unakzeptabel ist es, dass Christen in den Streitkräften,<br />
die aus anderen Teilen <strong>Indonesien</strong>s stammen, nicht<br />
selten an brutalen Razzien in den Dörfern, an den Folterungen<br />
in den Gefängnissen und anderen Menschenrechtsverletzungen<br />
teilnehmen.<br />
Memoria Passionis Papua<br />
Der Franziskaner und Menschenrechtler Theo van der<br />
Broek, der fast 30 Jahre lang in der Diözese von Jayapura<br />
gearbeitet und das Sekretariat für Gerechtigkeit<br />
und Frieden geleitet hat, hat in den Jahren nach dem<br />
Abtritt Suhartos regelmäßig Berichte über die Menschenrechtssituation<br />
geschrieben und diese als „Memoria<br />
passionis di Papua“ herausgegeben. Aus diesen<br />
und anderen Quellen und vor allem aus den vielen<br />
25
Berichten indigener Papua, wird deutlich, dass die<br />
Demokratisierung der Reformasi-Ära nur kurzfristig<br />
und sehr bedingt zu einer Verbesserung der Lage der<br />
Papua geführt hat.<br />
Im Februar 1999 besuchten 100 Repräsentanten des<br />
Papua-Volkes unter Leitung von Tom Beanal Präsident<br />
B. J. Habibi im Präsidentenpalast in Jakarta zu einem<br />
Dialog über die Zukunft West Papuas. Die Gäste überraschten<br />
den Gastgeber mit der klaren Forderung nach<br />
Unabhängigkeit für West Papua. Der verblüffte Präsident<br />
bat seine Gäste, sich das noch einmal zu überlegen.<br />
Als das „Team 100“ nach Papua zurückkehrte,<br />
bekam es einen Heldenempfang. Dies löste eine gewaltige<br />
Dynamik in ganz Papua aus. In kürzester Zeit<br />
entstand eine Bürgerwehr, die Satgas Papua, und errichteten<br />
überwiegend junge Papua überall sogenannte<br />
poskos, ein Begriff der sowohl mit Kommandoposten<br />
als auch mit Koordinierungsposten übersetzt wird<br />
und in diesem Fall auch beides beinhaltete. Als die<br />
poskos verboten werden sollten, wurden sie kurzerhand<br />
als „Gebetsversammlungsstellen“ ausgegeben.<br />
Der nicht unumstrittene Ondofolo von Sentani, Theys<br />
Hiyo Eluay, ließ sich im November 1999 von seinen<br />
Anhängern zum großen Führer des Papua-Volkes ausrufen.<br />
Am 1. Dezember 1999 ließ er in Anwesenheit<br />
von 5.000 Anhängern die Morgensternflagge, seit<br />
1961 das Symbol für ein freies Papua, hissen und das<br />
Hai Tanahku Papua singen.<br />
In Jakarta war inzwischen der fortschrittliche Islamgelehrte<br />
Abdurrahman Wahid Präsident geworden. Ihn<br />
beeindruckte der Freiheitswille der Papua. Er besuchte<br />
West Papua Ende 1999 und erlaubte den Namen Papua<br />
(Bedeutung: kraushaarig) wieder anstelle des ungeliebten<br />
Namens Irian Jaya. Im Juni 2000 erlaubte<br />
Wahid auch die Tagung des „II. Papua-Kongresses“.<br />
Die Morgensternflagge durfte als Kultursymbol neben<br />
der indonesischen Nationalfahne wehen. All dies wurde<br />
von Wahids Nachfolgerin im Präsidentenamt, Megawati<br />
Sukarnoputri, wieder rückgängig gemacht. Die<br />
Morgensternflagge wurde verboten und friedliche<br />
Menschenrechtler kamen ins Gefängnis. Papua-Führer<br />
Theys Eluay wurde im November 2001 von einer Spezialeinheit<br />
des Militärs ermordet.<br />
Massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber der<br />
Zivilbevölkerung wurden von der Nationalen Menschenrechtskommission<br />
(Komnas HAM) untersucht<br />
und bestätigt. Einige Fälle kamen sogar vor Gericht,<br />
aber mit wenigen Ausnahmen genossen die Angehörigen<br />
der Sicherheitskräfte Straflosigkeit und wurde der<br />
Verdacht einer Systematik der Menschenrechtsverletzungen<br />
abgewiesen. Eine 2003 erschiene Studie der<br />
Juristenfakultät der US-amerikanischen Yale University<br />
konnte zwar zahlreiche Hinweise für schwere Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit nachweisen, einen<br />
Genozid am Volke der Papua aber nicht kategorisch<br />
belegen. 13 Zuletzt setzte der neu eingerichtete, ständige<br />
Menschenrechtsgerichtshof in Makassar zwei hohe<br />
Polizeioffiziere, die im Dezember 2000 einen Vergeltungsangriff<br />
auf durch indigene Papuas bewohnte<br />
Studentenheime in Abepura befahlen und willkürliche<br />
Festnahmen, systematische Folterungen und vorsätzliche<br />
Tötungen zu verantworten haben, auf freien Fuß,<br />
weil das Gericht sich nicht für diesen Fall zuständig<br />
sieht.<br />
Bei den Wahlen 2004 wählten die Papuas mehrheitlich<br />
Susilo Bambang Yudhoyono zum Präsidenten. Er versprach<br />
in seiner Antrittsrede vom 20. Oktober 2004<br />
eine neue Ära der Rechtsstaatlichkeit auch für West<br />
Papua. Er gab zu, dass die „Schwestern und Brüder“ in<br />
Aceh und Papua in Angst und Schrecken lebten. Jetzt<br />
werde seine Regierung die Konflikte auf demokratische<br />
Weise lösen. Das gleiche betonte er auch in seiner<br />
Rede vom 16. August 20<strong>05</strong> zum Nationalfeiertag. Der<br />
Kompromiss, auf den der Präsident setzt, ist das Gesetz<br />
zur Sonderautonomie für West Papua, das Megawati<br />
nicht umgesetzt hatte. 14 Allerdings scheint sogar<br />
der „kluge General“ nichts gegen das größte Problem<br />
West Papuas ausrichten zu können: Die Sicherheit s-<br />
kräfte.<br />
Militär<br />
Die schwerste Geißel der Papua sind die indonesischen<br />
Sicherheitskräfte. Das gilt vor allem für das Militär, das<br />
sich in Papua als Retterin der Einheit der Republik profilieren<br />
will und massiv in illegale Geschäfte verwickelt<br />
ist. In einer rezenten Studie der Londoner Environmental<br />
Investigation Agency 15 , wird die Beteiligung des<br />
Militärs am illegalen Handel mit dem wertvollen und<br />
unter Naturschutz stehenden Merbau-Tropenholz belegt.<br />
Regelmäßig unternehmen Sicherheitskräfte sogenannte<br />
penyisiran, wörtlich „Durchkämmungsaktionen“<br />
oder sweepings, wobei nach Separatisten gesucht<br />
wird. Dabei kommen Rassismus und Menschenverachtung<br />
gegenüber den Papua ans Tageslicht. Die<br />
Soldaten dringen in die Wohnhäuser ein, zerstören<br />
und brennen, stehlen die Süßkartoffeln und erschießen<br />
die Schweine, beleidigen, vertreiben und foltern<br />
die Menschen. Öfter werden sogenannte Separatisten<br />
einfach hingerichtet, wie zum Beispiel der Pfarrer Elisa<br />
Tabuni in Mulia Puncak Jaya im November vergangenen<br />
Jahres. Nach Angaben des Präses der Baptistenkir-<br />
13<br />
Indonesian Human Rights Abuses in West Papua: Application of the<br />
Law of Genocide to the History of Indonesian Control A paper prepared<br />
for the Indonesia Human Rights Network by the Allard K. Lowenstein<br />
International Human Rights Clinic Yale Law School, Elizabeth<br />
Brundige et al, Yale, April 2004.<br />
14<br />
siehe die Studie: Autonomy for Papua: Opportunity or Illusion? Papers<br />
presented at the conference “Autonomy for Papua – Opportunity<br />
or Illusion”, June 4 th and 5 th 2003, Berlin, Germany (Hrsg.: FES).<br />
15<br />
EIA / Telapak, The Last Frontier. Illegal logging in Papua and China’s<br />
Massive Timber Theft, 20<strong>05</strong>.<br />
26<br />
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che, Pfarrer Socratez Yoman, sollen die Militärs sich<br />
diese Aktionen sogar aus den Geldern für die Sonderautonomie<br />
bezahlen lassen.<br />
Das Militär verdient auch kräftig an den Schutzgeldern,<br />
die es für die Bewachung des internationalen<br />
Kupfer- und Gold-Bergbauunternehmens Freeport<br />
McMoRan in Freeport 16 kassiert. Etwa 5 Millionen Dollar,<br />
so musste die Geschäftsführung auf der Aktionärsversammlung<br />
2003 zugeben, zahle das Unternehmen<br />
jährlich direkt an das Militär. Und das, obwohl Freeport<br />
sowieso schon der größte Steuerzahler <strong>Indonesien</strong>s<br />
ist.<br />
Selbstverständlich versuchen die Sicherheitskräfte auch<br />
etwas von den zu erwartenden Gewinnen des Erdgasgeschäftes<br />
von BP in der Bintunibucht 17 abzuschöpfen.<br />
BP versucht das durch eine eigene Community Based<br />
Security zu vermeiden, arbeitet aber stark mit der Polizei<br />
zusammen. Vieles deutet darauf hin, dass BP spätestens<br />
ab 2007, wenn die Produktion anlaufen soll,<br />
ebenfalls in die klebrigen und undurchschaubaren<br />
Gewebe der Korruption verstrickt werden wird. Die<br />
größten Opfer werden aber wieder einmal die Papua<br />
sein.<br />
Zukunftsperspektiven<br />
bei der Entwicklung einer Kultur des Friedens in allen<br />
Lebensbereichen an.<br />
Vor gut zwei Wochen sprach ich mit einem hohen<br />
Beamten des Außenministeriums in Jakarta. Ich versuchte<br />
ihm zu erklären, warum die meisten Papua kein<br />
Vertrauen mehr in die Politik Jakartas haben. Sie sind<br />
einfach immer wieder enttäuscht worden. Er erwiderte,<br />
dass <strong>Indonesien</strong> noch nie soviel Geld in diese Region<br />
investiert habe wie in den letzten Jahren. Ich hielt<br />
dagegen, dass sich für die allermeisten Papuas nichts<br />
verbessert habe. Die Milliarden aus Jakarta fließen in<br />
die Taschen korrupter Landräte und Parlamentarier.<br />
Der Aufbau der Infrastruktur dient fast ausschließlich<br />
den Siedlern, westindonesischen Beamten und Militärs.<br />
Eine gefährliche Polarisierung zwischen Indigenen<br />
und Siedlern bahnt sich an 18 . Die Papua fühlen sich<br />
zurecht in ihrer Existenz als Volk bedroht.<br />
Was also würde ich der indonesischen Regierung empfehlen,<br />
fragte mich der hohe Regierungsbeamte. Meine<br />
kurze Antwort lautete: „Einen offenen Dialog mit<br />
den anerkannten Führern West Papuas, einschließlich<br />
des Dewan Adat Papua und des Papua-Präsidiums und<br />
möglichst unter internationaler Beobachtung.“ Das<br />
könnte, wie unlängst in Aceh, die Tür für eine gerechtere<br />
und friedlichere Zukunft West Papuas öffnen.<br />
Nicht wenige Papua sehen nur noch eine Möglichkeit,<br />
als Volk in Würde und Freiheit zu leben: die Unabhängigkeit<br />
von <strong>Indonesien</strong>. Einige wenige wie die Kämpfer<br />
der OPM sind sogar zur Gewaltanwendung bereit.<br />
Realistisch gesehen ist dies aber keine verantwortliche<br />
Option. Militärisch haben die zum großen Teil mit<br />
Pfeil und Bogen ausgerüsteten Papua-Krieger keine<br />
Chance gegen das indonesische Militär. Im Gegenteil,<br />
die liefern nur eine willkommene Rechtfertigung für<br />
die weitere Militarisierung West Papuas. Viel sinnvoller<br />
ist die seit über drei Jahren eingeschlagene Strategie<br />
der Religionen eines gewaltlosen Widerstandes gegen<br />
Willkür, Entmündigung und Ausbeutung. Diese Strategie,<br />
von evangelischen und katholischen Christen<br />
initiiert, heißt „Papua, Land des Friedens“ und setzt<br />
16<br />
1967 schlossen der damalige indonesische Präsident Suharto und das<br />
US-amerikanische Konzern Freeport McMoRan einen Vertrag zur Förderung<br />
von Kupfererz und Gold auf dem 4000 Meter hohen Grasberg in<br />
der Region Timika. Es werden jährlich etwa 1,5 Milliarden Pfund Kupfer<br />
und 2,6 Millionen Unzen Gold gefördert. Die Schattenseite: Pro Tag<br />
gelangen weit über 100.000 Tonnen Abraum in das Aghawaghon-<br />
Aijkwa-Flusssystem. Über 130 Quadratkilometer Bergland und trop i-<br />
scher Regenwald, die Heimat der indigenen Amungme und Kamoro,<br />
sind dadurch zerstört worden. Das indonesische Militär zeigt starke<br />
Präsenz, um die über 100 Kilometer lange Freeport-Anlage vor Terroranschlägen<br />
zu schützen.<br />
17<br />
Seit über drei Jahren bereitet BP als größter Anteilseigner am „Tangguh<br />
LNG Project“ in West Papua die Erschließung des größten Gasfe l-<br />
des <strong>Indonesien</strong>s vor. Ab 2007/2008 sollen in der Bintuni-Bucht, an der<br />
„Kehle des Vogelkopfes“, jährlich 7,6 Millionen Tonnen Flüssiggas<br />
gefördert und nach China, Südkorea, Mexiko und den USA exportiert<br />
werden. BP wäre dann nach Freeport der größte Steuerzahler der Republik<br />
<strong>Indonesien</strong>.<br />
18<br />
Seit dem Ende des Bürgerkrieges in den benachbarten Molukken, also<br />
seit etwa drei Jahren gibt es auch immer wieder Anzeichen dafür, dass<br />
islamistische Laskar Jihad in Papua eindringen, Hass predigen und<br />
Kämpfer ausbilden. Auch von christlicher Seite gibt es ve rgleichbares:<br />
Der ehemalige pro-indonesische Milizenführer Eurico Gutteres hat in<br />
Sorong und Timika bewiesenermaßen Männer rekrutiert, die bereit<br />
sind, gegen sogenannte Separatisten, die für die politische Unabhängigkeit<br />
West Papuas agieren, mit Waffengewalt vorzugehen. (Front<br />
Pembela Merah Putih / FPMP; Radar Timika, 12. November 2003).<br />
27
EINHEIT IN VIELFALT: MISSION IMPOSSIBLE?<br />
WIE WURDE DIE PANCASILA UMGESETZT, ABER AUCH MISSBRAUCHT?<br />
EIN BLICK AUF DIE KÄMPFE UND DAS ZUSAMMENWACHSEN DER VOLKSGRUPPEN IM INDONESISCHEN STAAT<br />
Alex Flor<br />
Alex Flor ist Mitgründer der Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia! mit Sitz in Berlin. Der Ingenieur für Umwelttechnik<br />
arbeitet nach wie vor bei Watch Indonesia! und befasst sich hauptsächlich mit nationaler Politik und Demokratieentwicklung<br />
in <strong>Indonesien</strong>.<br />
Der heutige Staat <strong>Indonesien</strong> umfasst die Gebiete<br />
Südostasiens, die früher unter niederländischer Kolonialherrschaft<br />
standen. Es handelt sich dabei um eine<br />
eher „zufällige“ Zusammenlegung von Gebieten, die<br />
über keine ethnischen, kulturellen, religiösen, sprachlichen<br />
oder gar nationalen Gemeinsamkeiten verfügten.<br />
Unter diesen Kriterien betrachtet wären Zusammenschlüsse<br />
von Sumatra mit West-Malaysia oder von<br />
Kalimantan mit Ost-Malaysia (Sabah und Sarawak)<br />
sicher näher liegender gewesen als ein Staatsgebilde,<br />
das nach Gemeinsamkeiten zwischen Aceh und Flores,<br />
zwischen Mentawai und Surabaya sucht.<br />
Die „Nationale Bewegung“ <strong>Indonesien</strong>s geht auf die<br />
20er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Damals<br />
formierte sich zum ersten Mal eine regional übergreifende<br />
Freiheitsbewegung gegen die holländischen<br />
Unterdrücker. Die „nationalen“ Ziele wurden dieser<br />
Bewegung aufgepflanzt, um den Zusammenhalt zu<br />
stärken.<br />
Ohne den Unabhängigkeitskampf und vor allem die<br />
großen Opfer, die dabei erbracht wurden, schmälern<br />
zu wollen, wage ich zu behaupten, dass der Erfolg<br />
dieses Kampf letztendlich wohl in engem Zusammenhang<br />
mit dem Ende des 2. Weltkrieges und der dadurch<br />
entstandenen völlig neuen Weltordnung gesehen<br />
werden muss. Eine Entwicklung, die <strong>Indonesien</strong><br />
mit zahlreichen anderen ehemaligen Kolonien in Asien<br />
und Afrika gemeinsam hat. Viele der hier vorgetragenen<br />
Gedanken mögen daher in der ein oder anderen<br />
Form auch auf eine ganze Reihe anderer Staaten auf<br />
den beiden genannten Kontinenten in ähnlicher Form<br />
zutreffen. Diese Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten<br />
und zu einer gemeinsamen politischen Kraft gegenüber<br />
den beiden Blockmächten zu formen, war übrigens<br />
ein Leitmotiv der Einberufung der Asien-Afrika<br />
Konferenz in Bandung, die 1955 stattfand.<br />
Die Entstehungsgeschichte dieser jungen unabhängigen<br />
Staaten ist völlig verschieden zu der über Jahrhunderte<br />
gewachsenen Genese der als „klassische<br />
Nationalstaaten“ angesehenen Staaten Mitteleuropas.<br />
In Südostasien erfüllen wohl bestenfalls Thailand, das<br />
frühere Königreich Siam, welches als einziges Land der<br />
Region vom Kolonialismus verschont blieb, und vielleicht<br />
mit einigen Einschränkungen das heutige Kambodscha<br />
als Nachfolgestaat des früheren Khmer-<br />
Reiches in Ansätzen die Charakteristika, die diesen<br />
„Nationalstaaten“ zugeschrieben werden.<br />
Insbesondere die Staaten Insel-Südostasiens mit ihrer<br />
extrem hohen Diversität von Ethnien und Kulturen<br />
erfüllten wohl kaum ein einziges der Kriterien, um sich<br />
innerhalb kürzester Zeit – in <strong>Indonesien</strong> lagen weniger<br />
als 10 Jahre zwischen Beginn des Pazifikkrieges bis<br />
zum endgültigen Abzug der Niederländer und der<br />
internationalen Anerkennung 1949 – zu einem Nationalstaat<br />
zu mausern. Einziges identitätsstiftendes Element<br />
<strong>Indonesien</strong>s in seiner Gesamtheit ist die ehemalige<br />
Kolonisierung durch die Niederlande. Es ist vielleicht<br />
psychologisch bedeutsam, dass dieser eine identitätsbestimmende<br />
Faktor keine eigene Errungenschaft,<br />
sondern Ergebnis von Jahrhunderte langer Fremdbestimmung<br />
war. Nicht einmal der Name „<strong>Indonesien</strong>“<br />
ist aus der eigenen Kultur, Sprache oder Geschichte<br />
gewachsen. Es war ein Brite, der Ethnologe J. Logan,<br />
der diesen Begriff 1850 prägte.<br />
Man war Opfer derselben Unterdrücker. Aber reicht<br />
das, um eine Nation so immenser geografischer Ausmaße<br />
wie <strong>Indonesien</strong> zu begründen? Selbst diese Gemeinsamkeit<br />
als Opfer desselben Kolonialsystems ist<br />
hinterfragbar, denn der Grad des Leidens unter den<br />
Holländern war in den verschiedenen Regionen recht<br />
unterschiedlich ausgeprägt – unter anderem in Abhängigkeit<br />
von der jeweiligen Intensität der Machtausübung,<br />
der unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedeutung<br />
der Gebiete und nicht zuletzt der Frage, ob<br />
sich die traditionellen Führer gegen die Kolonisatoren<br />
auflehnten oder mit diesen kollaborierten. Die Kolonialgeschichte<br />
West-Javas ist eine andere als die der Molukken.<br />
Aber worin liegt eigentlich die Bedeutung von nationaler<br />
Einheit und Identität? Besteht ein internationaler<br />
28<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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Druck dahingehend, dass nur Nationalstaaten als<br />
„richtige“ Staaten anerkannt werden? Oder gibt es<br />
möglicherweise einen Komplex seitens der unabhängig<br />
gewordenen Kolonien, der dazu führt, sich als<br />
Nationalstaat beweisen zu müssen? Den indonesischen<br />
Nationalismus von Sukarnos kämpferischen Slogans<br />
bis zu den andauernden Konflikten um Aceh und Papua<br />
alleine damit begründen zu wollen, griffe zu kurz.<br />
Denn es gibt durchaus ganz pragmatische Gründe, die<br />
ein gewisses Maß an innerer Einheit notwendig machen:<br />
- Zum einen die Frage der Regierbarkeit. Ohne ein<br />
Mindestmaß an gemeinsamen Werten, denen sich<br />
Beamte verpflichtet fühlen, ist das Funktionieren der<br />
staatlichen Verwaltung nicht zu gewährleisten. Der<br />
gemeinsamen Sprache kommt hier ein besonderer<br />
Stellenwert zu. Nur ein reiches Land wie die Schweiz<br />
mag sich den Luxus von drei Nationalsprachen leisten<br />
können. <strong>Indonesien</strong> wäre wohl zweifelsohne überfordert<br />
gewesen, alle ca. 250 im Archipel gesprochenen<br />
Sprachen gleichberechtigt zu National- und Verwaltungssprachen<br />
zu erheben. Ich komme darauf gleich<br />
noch einmal zurück.<br />
- Zu große Diversität macht den Staat verwundbar<br />
gegenüber Sezessionsbewegungen und Spaltungsversuchen<br />
seitens äußerer Mächte. <strong>Indonesien</strong> erlebte in<br />
den ersten Jahren der Republik gleich mehrere solcher<br />
Versuche. Nachdem es den Niederlanden nicht gelungen<br />
war, ihre Kolonie nach dem 2. Weltkrieg mit Waffengewalt<br />
zurück zu gewinnen, versuchten sie durch<br />
die Bildung der sog. Vereinigten Staaten von <strong>Indonesien</strong><br />
(Republik Indonesia Serikat - RIS) mehrere nur<br />
locker miteinander verbundene Entitäten zu schaffen,<br />
die leicht untereinander auszuspielen gewesen wären.<br />
Der Versuch wurde in <strong>Indonesien</strong> als „Teile- und Herrsche-Politik“<br />
gewertet, mit der Folge, dass der Begriff<br />
„Föderalismus“ bis heute als Unwort gilt.<br />
In den 50er Jahren leisteten sich auf Sumatra und Sulawesi<br />
militante islamische Bewegungen bewaffnete<br />
Konflikte mit der Republik. Wie spätestens mit dem<br />
Abschuss eines US-Militärflugzeuges als bewiesen galt,<br />
wurden diese Konflikte von der CIA unterstützt, um<br />
den linkspopulistischen Anti-Imperialisten Sukarno zu<br />
schwächen.<br />
Sukarnos kämpferische anti-imperialistische Slogans<br />
hatten daher durchaus ihre realen Hintergründe. Die<br />
jungen Habenichtse mussten sich gegen die reichen<br />
Staaten der ersten Welt behaupten. Ein Kampf von<br />
David gegen Goliath, der nur durch einen hohen Grad<br />
an Motivation und Einigkeit zu bestehen war. Obgleich<br />
das Ausland seine Interessen heute mit ganz<br />
anderen Mitteln als damals wahrnimmt, erzeugt doch<br />
jede noch so kleine Äußerung eines Ausländers zu den<br />
inneren Problemen <strong>Indonesien</strong>s noch immer Misstrauen<br />
und sofortige Abwehrhaltung.<br />
Wenn ich Slogans wie „Einig Vaterland von Sabang bis<br />
Merauke“ höre, stellt sich bei mir als Deutscher unweigerlich<br />
die Assoziation mit „von der Maas bis an<br />
die Memel“ ein. Nichts wäre jedoch Verständigung<br />
und Dialog abträglicher als wenn ich meinen diesbezüglichen<br />
Empfindungen freien Lauf ließe. Und, leise<br />
zähneknirschend, versuche ich zu akzeptieren, welchen<br />
ideologischen Stellenwert die Herrschaft <strong>Indonesien</strong>s<br />
über Merauke – und damit ganz Papua - hat.<br />
Der Staatsgründer und erste Präsident Sukarno, der bis<br />
heute hohe Popularität genießt, suchte nach meiner<br />
Interpretation die Gegensätze zu überwinden, indem<br />
er (Formel-) Kompromisse suchte. Offenkundig war es<br />
damals noch kein Sakrileg, den Mangel an nationaler<br />
Identität festzustellen. Denn Sukarno sah seine wesentliche<br />
Aufgabe nach der Unabhängigkeit im „nation<br />
building“, also dem Aufbau einer Nation. Streng genommen<br />
fallen etliche Maßnahmen Sukarnos, die<br />
seiner Politik des „nation building“ zugeschrieben<br />
werden, eigentlich unter den Begriff „state building“.<br />
Als politologischer Laie wage ich nicht zu beurteilen,<br />
ob Sukarno selbst ungenügend zwischen „Staat“ und<br />
„Nation“ unterschied oder ob diese Begriffsverwirrung<br />
einigen seiner Biographen zuzuschreiben ist.<br />
Wie Robert Cribb treffend bemerkte, begründete sich<br />
die Vereinigung der unterschiedlichen Regionen zu<br />
einer Nation nicht nur auf der Existenz eines gemeinsamen<br />
Gegners, sondern vor allem darauf, dass ein<br />
geeintes <strong>Indonesien</strong> Fortschritt und Entwicklung versprach<br />
(Robert Cribb, ‘Nation: Making Indonesia’, in<br />
Donald K. Emmerson (ed.), Indonesia Beyond Suharto:<br />
Polity, Economy, Society, Transition. Armonk, New<br />
York: M.E. Sharpe, 1999, pp.3-38). Daraus lässt sich<br />
ableiten, dass die Einheit nicht ein anzustrebender<br />
Endzustand, sondern vielmehr der Weg zu höheren<br />
Zielen wie Fortschritt und Entwicklung sein sollte.<br />
Erst später, spätestens nach der blutigen Machtergreifung<br />
Suhartos 1965, wurden der Aufbau und die Einheit<br />
der Nation (des Staates?) als abgeschlossen angesehen,<br />
und alle, die auf mangelnde Einheit des Staates<br />
(der Nation?) aufmerksam machten, galten seitdem als<br />
Feinde der Regierung, die mit Verfolgung rechnen<br />
mussten.<br />
Freilich beschränkten sich die Kompromisse Sukarnos<br />
mitunter auf wohlklingende Worthülsen. Es mag der<br />
Versuch gewesen sein, dialektisch aus These und Antithese<br />
eine Synthese zu schmieden. Doch wenn sich<br />
Gegensätze nicht miteinander verbinden ließen, wurden<br />
sie unter neuen Begrifflichkeiten kurzerhand zu<br />
einer Einheit zusammengeschmiedet, die in Wirklich-<br />
29
keit keine war. Der vielleicht waghalsigste Versuch,<br />
eine solche Einheit herzustellen, war der Begriff NASA-<br />
KOM. Er stand für Nationalismus, Glaube (Agama)<br />
und Kommunismus, die drei seinerzeit dominanten<br />
gesellschafts- und parteipolitischen Strömungen. Über<br />
alle ideologischen Gegensätze hinweg versuchte Sukarno<br />
diese drei Strömungen zu einem gemeinsamen<br />
Ganzen zu definieren. Ein politischer Balanceakt, der<br />
schließlich fatal scheitern sollte und in einem Blutbad<br />
endete. 1965 übernahm Suharto die Macht und Hunderttausende,<br />
wenn nicht Millionen tatsächliche und<br />
vermeintliche Anhänger der Kommunistischen Partei<br />
(PKI) wurden ermordet.<br />
Die Staatsphilosophie Pancasila<br />
Bhinekka Tunggal Ika – Einheit in der Vielfalt war sozusagen<br />
die Mutter all der genannten Kunstbegriffe und<br />
die Staatsphilosophie Pancasila ihre Durchführungsverordnung.<br />
1945 ursprünglich von Präsident Sukarno formuliert,<br />
sollte die Pancasila (sanskrit: die fünf Säulen) als gemeinsame<br />
Vision die äußerst unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen<br />
<strong>Indonesien</strong>s zusammenbinden. Unter<br />
Suharto ist sie später zu einem Instrument der Gleichschaltung<br />
geworden, dem alle gesellschaftlichen<br />
Gruppen und Organisationen gesetzlich verpflichtet<br />
waren. Die Pancasila steht für die integralistische<br />
Staatsidee, nach der die indonesische Gesellschaft ein<br />
Kollektiv bildet, in dem das Individuum der Gemeinschaft<br />
untergeordnet ist. Gesellschaftliche Harmonie<br />
soll die politische Kultur <strong>Indonesien</strong>s bestimmen, wobei<br />
reale Interessenskonflikte geleugnet und dem<br />
„westlich-liberalen“ Individualismus zugerechnet werden.<br />
Die fünf Säulen der Pancasila sind:<br />
1. der Glaube an einen allmächtigen Gott,<br />
2. Humanität,<br />
3. nationale Einheit,<br />
4. auf Konsens basierende Demokratie und<br />
5. soziale Gerechtigkeit.<br />
Da ich hier vor einem evangelischen Forum spreche,<br />
möchte ich mich exemplarisch auf die erste Säule –<br />
der Glaube an einen Gott – beschränken.<br />
Sukarno hatte sich massiv dem Bestreben islamischer<br />
Kräfte widersetzt, die sog. Jakarta-Charter (Piagam<br />
Jakarta) in die Verfassung aufzunehmen, die den Islam<br />
für alle Muslime zur verbindlichen Rechtsgrundlage<br />
gemacht hätte. Sukarno wollte nach meiner Interpretation<br />
die Gleichberechtigung aller Religionen, ganz<br />
im Sinne von Bhinekka Tunggal Ika. Der Glaube an<br />
einen Gott sollte ein verbindendes Element sein. <strong>Indonesien</strong><br />
sollte keine Staatsreligion haben, aber ausdrücklich<br />
auch kein säkularer Staat werden, wie es im<br />
Westen oft fälschlich ausgelegt wird.<br />
Fünf vorhandene Religionen wurden gleichberechtigt<br />
anerkannt: Islam, protestantisches Christentum<br />
(Kristen), Katholizismus (Katolik), Buddhismus und<br />
Hinduismus. Animistische Religionen von Ureinwohnern<br />
und nicht oder nur in marginalem Umfang in<br />
<strong>Indonesien</strong> vorhandene Religionen wie Orthodoxes<br />
Christentum, Judaismus, Zeugen Jehovas u.v.a. wurden<br />
schlicht „vergessen“. Obgleich in der chinesischstämmigen<br />
Minderheit weit verbreitet, wurde auch<br />
der Konfuzianismus nicht als Religion anerkannt. Möglicherweise,<br />
weil man den Konfuzianismus eher als<br />
eine philosophische Überzeugung statt als Religion<br />
interpretierte (ich weiß es nicht und bin für jeden<br />
Hinweis dankbar, AF). Auch zwischen den großen islamischen<br />
Strömungen des sunnitischen und schiitischen<br />
Glaubens wurde nicht unterschieden, obwohl<br />
diese – ich bin kein Theologe – nach meiner Auffassung<br />
mindestens so eigenständige Glaubensrichtungen<br />
sind wie evangelisches und katholisches Christentum.<br />
Aber Schiiten gab es in <strong>Indonesien</strong> nicht.<br />
Sind die Bahai’i eine islamische Sekte oder eine eigenständige<br />
Religion? Unter Suharto waren sie verboten,<br />
jetzt werden sie still schweigend geduldet. Um die<br />
Ahmadiyah brennt gerade ein heftiger Streit mit tätlichen<br />
Übergriffen, Fatwas (religiösen Urteilen/Weisungen)<br />
usw., weil die Frage ungelöst ist, ob es<br />
sich um eine eigene Religion oder um eine islamische<br />
Sekte handelt, die gegen die konventionelle Interpretation<br />
des Islam verstößt, da sie einen nach Mohammed<br />
geborenen Propheten verehrt. Solche erst 60<br />
Jahre später aufbrechenden Konflikte sind Anzeichen<br />
dafür, dass die erste Säule der Pancasila nur ein pragmatischer<br />
Formelkompromiss war, dessen religionstheoretischer<br />
Tiefgang eher zu Wünschen übrig ließ.<br />
Unter Suharto erfuhr diese Säule der Pancasila eine<br />
weit reichende Neuinterpretation: der „Glaube an<br />
EINEN Gott“ wurde zur Verpflichtung eines jeden<br />
Staatsbürgers. Dies zielte insbesondere auf die chinesische<br />
Minderheit, die zu größeren Teilen Konfuzianisten<br />
waren, und die Kommunisten, die fälschlicherweise<br />
oft als „gottlose“ Atheisten dargestellt wurden.<br />
Die ursprünglich integralistische erste Säule der Pancasila<br />
wurde so zu einer Waffe umgeschmiedet, mit der<br />
bestimmte Gruppen von der Gesellschaft ausgeschlossen<br />
werden konnten. Neben Indonesiern chinesischer<br />
Abstammung und vermeintlichen PKI-Anhängern,<br />
hatten spätestens mit dieser Definition auch die indigenen<br />
Völker ein Problem am Hals, die bislang Animisten<br />
waren. Frau Kuhnt-Saptodewo hat in diesem<br />
Zusammenhang sehr interessante Studien gemacht,<br />
30<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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die beschreiben, wie und warum ein Dayak-Volk auf<br />
Kalimantan den Hinduismus annahm.<br />
Bahasa Indonesia – ein Volk, eine Sprache<br />
Ein sehr wichtiger Schritt zur Verwirklichung von Einheit<br />
in der Vielfalt und nation building auf säkularer<br />
Ebene war die Einführung von Bahasa Indonesia als<br />
Nationalsprache. Der Begriff „Bahasa Indonesia“ wurde<br />
auf dem 2. Jugendkongress von 1928 geprägt. Der<br />
Leitspruch war „Satu nusa, satu bangsa, satu bahasa!“<br />
(Ein Land, ein Volk, eine Sprache!). Eine einzige Verkehrssprache,<br />
die in sämtlichen Schulen gelehrt wird,<br />
in der Gesetze und Verordnungen geschrieben werden<br />
und die von nahezu sämtlichen Medien (Presse, Rundfunk,<br />
Fernsehen) verwendet wird.<br />
Die Hunderten von lokalen Sprachen sind deswegen<br />
weder verboten noch in ihrer Existenz gefährdet. Fast<br />
überall im familiären Umfeld werden diese Lokalsprachen<br />
nach wie vor gesprochen, z.T. auch in den ersten<br />
Schuljahren verwendet. Und zumindest die großen<br />
Sprachen wie Javanisch, Sundaisch, Balinesisch, Minangkabau,<br />
Batak oder Acehnesisch – um hier nur<br />
einige zu nennen - spielen nach wie vor auch im kulturellen<br />
Leben eine tragende Rolle. Wayang-<br />
Vorführungen in Yogyakarta werden selbstverständlich<br />
auf Javanisch abgehalten, während ein Dalang auf Bali<br />
das Mahabharata-Epos ebenso selbstverständlich auf<br />
Balinesisch inszeniert.<br />
Die Wahl von Bahasa Indonesia als Nationalsprache<br />
war ein Glücksgriff. Eigentlich dem Malaiischen entlehnt,<br />
wurde diese Sprache von praktisch keinem der<br />
indonesischen Völker als Muttersprache gesprochen,<br />
aber als weit verbreitete Verkehrs- und Handelssprache<br />
von sehr vielen verstanden. Die Einführung der größten<br />
einheimischen Sprache – Javanisch – hätte die ohnehin<br />
von vielen kleineren Völkern misstrauisch beäugte<br />
Dominanz der Javaner zu deutlich betont und die<br />
junge Republik damit vor eine Zerreißprobe gestellt.<br />
Und Niederländisch, die ebenfalls weit verbreitete<br />
Sprache der Kolonialherren, kam wohl aus ideologischen<br />
Gründen nicht in Betracht.<br />
Die Einheit in der Vielfalt der Rechtssysteme<br />
Der Vielfalt der Kulturen und Religionen sollte auch im<br />
Rechtssystem Rechnung getragen werden. Formal gilt<br />
in <strong>Indonesien</strong> neben dem staatlichen Recht auch religiöses<br />
und traditionelles (Adat-) Recht. Kleinere Streitigkeiten<br />
im Dorf müssen nicht vor einem Amtsgericht<br />
ausgetragen werden, sondern können nach lokalem<br />
Brauch von Adat-Führern gerichtet oder geschlichtet<br />
werden. Die durch die Existenz der drei Rechtssysteme<br />
zum Ausdruck kommende Achtung vor Religion und<br />
Kultur führt freilich nicht immer zu mehr Gerechtigkeit.<br />
Bei Scheidungsangelegenheiten wird ein muslimischer<br />
Mann sehr wahrscheinlich das Religionsgericht<br />
anrufen, während die Frau sich ein bisschen bessere<br />
Chancen vor einem zivilen Gericht erhoffen könnte.<br />
Die größte Ungleichheit in der vorgeblichen Gleichwertigkeit<br />
ist jedoch das Manko der meisten traditionellen<br />
Rechtssysteme, dass sie nicht über kodifiziertes<br />
Recht, also geschriebene Gesetze und vor allem Urkunden<br />
u.dgl. verfügen. Bei der in <strong>Indonesien</strong> wohl<br />
häufigsten und elementarsten Form von Rechtsstreitigkeiten,<br />
dem Konflikt um Landrechte, sind traditionelle<br />
Gemeinschaften und insbesondere indigene Völker<br />
daher den Mühlen der staatlichen Justiz meist hilflos<br />
ausgesetzt.<br />
Der Einflussbereich von Majapahit<br />
31
nekka Tunggal Ika wurde auf dem Feld erschossen.<br />
Verordnete Einheit - das Ende der Vielfalt<br />
Während Sukarno versuchte, Unterschiede zu überwinden<br />
und Gemeinsamkeiten herzustellen, sah das<br />
Suharto-Regime diese Entwicklung offenbar als abgeschlossen<br />
an. Nation building war kein Thema mehr.<br />
Suharto versuchte eher den Eindruck zu vermitteln, die<br />
indonesische Nation habe es schon immer gegeben.<br />
Gewagte historische Verweise begründeten die territoriale<br />
Ausdehnung <strong>Indonesien</strong>s nun mit der Ausdehnung<br />
des Majapahit-Reiches im 14. Jahrhundert oder<br />
im Falle von Papua mit der Ausdehnung des Sultanates<br />
von Tidore (siehe Karten). Zunehmend wurde der Begriff<br />
der nationalen Einheit auf die territoriale Einheit<br />
reduziert, während an Stelle der Einheit des Volkes die<br />
Vereinheitlichung des Volkes trat.<br />
Wertet man Äußerungen von Politikern und Militärs in<br />
der indonesischen Presse aus, stellt sich der Eindruck<br />
ein, bei dem Konflikt um Aceh ginge es nur um die<br />
Beherrschung des Territoriums und der darauf zu findenden<br />
natürlichen Ressourcen. Auf das Schicksal der<br />
Menschen in Aceh, die ja insbesondere nach indonesischer<br />
Lesart indonesische Staatsbürger sind, wird nur<br />
selten verwiesen. Abertausende wurden zu Opfern von<br />
Repression und militärischen Auseinandersetzungen.<br />
Der Gedanke, wie man den Konflikt entschärfen könnte,<br />
indem man den Menschen in Aceh das Gefühl<br />
vermittelt, sie seien in ihrer Andersartigkeit gleichberechtigte<br />
Staatsbürger, kam nur den wenigsten. Bhi-<br />
Vereinheitlichung wurde unter Suharto systematisch in<br />
praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens<br />
vollzogen. Die Vielfalt der politischen Parteien wurde<br />
auf eine Einheitspartei und zwei zwangsvereinigte<br />
Blockflötenparteien (PDI als Zusammenschluss nationaler<br />
und christlicher Parteien und PPP als Vereinigung<br />
der islamischen Parteien) „vereinfacht“, wie es so<br />
schön hieß. Es gab eine Einheitsgewerkschaft, einen<br />
Einheitsjournalistenverband usw. usf. – ein System,<br />
welches dem angeblich so verhassten real existierende<br />
Sozialismus in vieler Hinsicht nicht unähnlich war. Wer<br />
sich außerhalb dieser Einheitsorgane zu betätigen versuchte,<br />
geriet schnell unter Druck. Es drohten Gefängnis<br />
und deutlich Schlimmeres.<br />
Chancengleichheit, gerechte ökonomische Verteilung<br />
usw. wurde als gegeben angesehen. Die strukturelle<br />
Benachteiligung bestimmter Gruppen, ja ganzer Völker,<br />
wollte Suharto nicht sehen. Kritische Stimmen gab<br />
es nur wenige. Nicht nur aus Angst. Denn ein Spezifikum<br />
marginalisierter Gruppen ist ja unter anderem,<br />
dass sie Schwierigkeiten haben, sich öffentlich zu artikulieren.<br />
Und die wenigen Privilegierten unter ihnen,<br />
die ausreichend Zugang zu Bildung haben, werden<br />
von ihren eigenen Leuten nicht unbedingt als authentisch<br />
oder repräsentativ angesehen, da sie der Elite zu<br />
nahe stehen. Tatsächlich wurden einige von ihnen<br />
begierig von der Elite aufgesogen und dienten fortan<br />
als Alibifiguren. So wenig man von einer ostdeutschen<br />
Kanzlerin auf die Berufschancen für Jugendliche in den<br />
Der Einflussbereich des Sultanates von Tidore<br />
32<br />
DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
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neuen Bundesländern schließen kann, so wenig konnte<br />
man von einem prominenten Nachrichtensprecher<br />
aus Papua auf die Bildungschancen in Wamena schließen.<br />
Der inoffizielle Maßstab, an dem sich alle zu messen<br />
hatten, waren die Verhältnisse auf Java. Aber leider<br />
sind es die Bewohner Javas (Javaner, Sundanesen<br />
usw.), die sich dessen am wenigsten bewusst sind. Sie<br />
reagieren mit völligem Unverständnis, wenn ihnen<br />
Ignoranz oder diskriminierende Ansichten vorgeworfen<br />
werden, so wie ein unaufgeklärter Mann abstreiten<br />
wird, er bevormunde seine Ehefrau. Diese Unaufgeklärtheit<br />
macht einen Interessenausgleich nicht einfacher.<br />
Umgekehrt sind natürlich auch die Bewohner der abgelegenen<br />
Regionen nicht immer Meister der differenzierenden<br />
Analyse. In Papua hegen viele indigene Einwohner<br />
Vorbehalte bis hin zu offenem Hass auf die<br />
„Javaner“, die sich dort breit machen. Dabei handelt<br />
es sich um Migranten, die teils im Rahmen von Regierungsprogrammen,<br />
teils auf eigene Faust nach Papua<br />
umgesiedelt sind. Nicht wenige dieser „Javaner“<br />
stammen von den Molukken oder aus Sulawesi. Ähnlich<br />
in Aceh: über diverse Listen im Internet erhalte ich<br />
von dort in einiger Regelmäßigkeit Pamphlete mit<br />
Hasstiraden auf die „Indonesisch/Javanischen Neokolonialisten“.<br />
Diese behandeln dann des öfteren einen<br />
aktuellen Zwischenfall, an dem ein Militärkommandant<br />
beteiligt war, dessen Name ihn eindeutig als Batak<br />
ausweist.<br />
Festzuhalten bleibt, dass unter Suharto der innere Zusammenhalt<br />
<strong>Indonesien</strong>s nicht gestärkt, sondern geschwächt<br />
wurde. Zahlreiche Konflikte wurden gesät,<br />
die aber erst später, nach Überwindung des repressiven<br />
Systems zum Ausbruch kommen sollten.<br />
Sie boten neue Identifikationsmuster an, die z.T. auf<br />
ethnischen, z.T. auf religiösen und anderen Zugehörigkeiten<br />
basierten. Sie alle funktionierten nach dem<br />
einfachen Prinzip der Ausgrenzung: Wir gegen die<br />
anderen. Diese destruktive Identitätsfindung dürfte<br />
eine wesentliche Ursache der blutigen Auseinadersetzungen<br />
auf den Molukken (Christen gegen Muslime),<br />
in Zentralsulawesi (dito) und in West-Kalimantan<br />
(Dayak gegen Maduresen) gewesen sein. Sie spielten<br />
eine Rolle bei den anti-chinesischen Pogromen in Jakarta<br />
und Solo 1998, ebenso wie sie ihren Beitrag zum<br />
Erstarken radikaler religiös orientierter Gruppen (nicht<br />
nur Muslime!) und krimineller Banden (preman) leisteten.<br />
Nicht zuletzt spielten und spielen sie eine Rolle in<br />
den Separationskonflikten um Aceh und West-Papua.<br />
(Auf die besonderen Umstände des Konfliktes in Osttimor<br />
möchte ich hier bewusst nicht eingehen, da dies<br />
den Rahmen sprengen würde).<br />
Der drohende Verlust von Teilen des Staatsgebietes<br />
beschleunigte die Dynamik, und der nahe liegende<br />
Verweis von politischen Beobachtern auf vergleichbare<br />
Entwicklungen nach dem Zerfall Jugoslawiens – Droht<br />
<strong>Indonesien</strong> die Balkanisierung? (mea culpa! Auch ich<br />
habe so getitelt) – taten ihr übriges. Die Nationalisten<br />
reagierten mit Durchhalteparolen und erlagen der<br />
Versuchung, die Konflikte mit harter Hand lösen zu<br />
wollen, was den Unabhängigkeitsbestrebungen natürlich<br />
nur neuen Auftrieb gab. Ein schwer zu durchbrechender<br />
Teufelskreis.<br />
Eine im Januar veröffentlichte Studie kommt zu dem<br />
Ergebnis, dass sich nur 39% der Bevölkerung in erster<br />
Linie als Indonesier identifizieren. 49% identifizieren<br />
sich in erster Linie mit ihrer lokalen, ethnischen oder<br />
religiösen Gemeinschaft (siehe Tabelle).<br />
Mit seinem Verzicht auf die Fortsetzung des nation<br />
building versäumte es Suharto neue identitätsschaffende<br />
Werte zu schaffen. Eine Zeit lang gelang es ihm<br />
durch eine scheinbar erfolgreiche Wirtschafts- und<br />
Entwicklungspolitik diesen Mangel zu übertünchen.<br />
Aber spätestens nachdem „sein“ Wirtschaftswunder<br />
1997/1998 wie eine leere Seifenblase zerplatzte, sieht<br />
sich <strong>Indonesien</strong> einer Identitätskrise ausgesetzt. „Auf<br />
was sollen wir als Indonesier stolz sein?“, lautet die<br />
unausgesprochene Frage.<br />
Auf der Suche nach der verlorenen Einheit – die Ära<br />
nach Suharto<br />
Bestimmte dubiose Gestalten wussten das Machtvakuum<br />
und die allgemeine Orientierungslosigkeit nach<br />
Suhartos Rücktritt schnell für ihre Zwecke zu nutzen.<br />
33<br />
Karte: Der Einflussbereich des Sultanates von Tidore
Type of identity<br />
1 st priority<br />
1 st + 2 nd priority<br />
1 st priority in Aceh<br />
and Papua<br />
1. As Indonesian citizens 39% 24% 19%<br />
2.<br />
As citizens of province/district<br />
15% 23% 18%<br />
3. As part of local community/ desa 11% 11% 14%<br />
4. As part of ethnic community 20% 20% 40%<br />
5. As part of religious community 12% 18% 10%<br />
from: DEMOS, Executive report, January 20, 20<strong>05</strong>, TOWARDS AN AGENDA FOR MEANINGFUL HUMAN RIGHTS-BASED DEMOCRACY<br />
Die Identifikation mit anderen Ethnien und deren<br />
Problemen fällt schwer, wenn man sie nicht kennt. Es<br />
wird oft als Ignoranz gewertet, dass viele Menschen<br />
auf Java nicht stärker um die Nöte ihrer Landsleute in<br />
anderen Teilen des Archipels besorgt sind. Es erscheint<br />
unfassbar, dass der anzügliche Tanzstil des javanischen<br />
Dangdut Stars Inul eher die Gemüter erregte als der<br />
gleichzeitige Kriegszustand in Aceh oder dass Jakarta<br />
mindestens drei Tage brauchte, um endlich zu begreifen,<br />
dass der Tsunami vom 26.12.2004 mehr war als<br />
nur eine weitere lokale Naturkatastrophe.<br />
Was die gesellschaftliche und politische Elite anbelangt,<br />
ist diese Kritik aus meiner Sicht berechtigt. Angehörige<br />
dieser Schicht sind äußerst mobil und man<br />
sollte erwarten dürfen, dass sie zu den Gegenden, die<br />
sie bereisen, ein bestimmtes Verhältnis aufbauen konnten.<br />
Für die große Masse der Menschen ist jedoch<br />
jeder andere Teil <strong>Indonesien</strong>s so weit weg wie Europa<br />
oder Afrika. Für einen Bauern auf Sumatra war der<br />
Krieg auf den Molukken nicht näher als der im Irak.<br />
Und nach bestimmten Regionen befragt, kommt<br />
schnell Unsicherheit auf, ob diese zu <strong>Indonesien</strong> gehören<br />
oder nicht. „Wieso braucht man nach Singapur<br />
einen Pass? Das ist doch noch <strong>Indonesien</strong>“, „Ja, ob<br />
Ternate zu <strong>Indonesien</strong> gehört oder zu den Philippinen<br />
..., wenn du mich so fragst ..., ich bin mir nicht sicher“,<br />
„Makassar, das ist in Malaysia. Da verdienen die<br />
Leute gut.“ Alles Zitate, die ich selbst gehört habe.<br />
Notwendigkeiten für eine bessere Zukunft <strong>Indonesien</strong>s.<br />
Mission impossible? I don’t think so. Die schiere<br />
Fülle der Probleme und die gewaltigen Dimensionen<br />
des Landes sind – vorsichtig ausgedrückt – große Herausforderungen.<br />
Es gilt jedoch die positiven Aspekte<br />
zu erkennen und zu nutzen. Die trotz allem Gesagten<br />
enorme Unvoreingenommenheit und Wissbegier, die<br />
beneidenswerte Gabe, fremde und neue Einflüsse in<br />
altbewährte Traditionen einfließen zu lassen und viele<br />
andere positive Eigenschaften der Menschen in <strong>Indonesien</strong><br />
sind ein nicht zu unterschätzendes Potenzial,<br />
das es nach Kräften zu fördern gilt.<br />
Einfache Lösungen liegen sicher nicht auf der Hand.<br />
Die Suche danach war auch nicht Anliegen dieses Vortrages.<br />
Denn bevor man nach Lösungen sucht, bedarf<br />
es einer eingehenden Problemanalyse. Vielleicht konnte<br />
ich hierzu einen kleinen Beitrag leisten.<br />
Mission impossible?<br />
Ein Mehr an Bildung, ein Mehr an finanziellem Spielraum<br />
für die Mehrheit der Bevölkerung, ein Mehr an<br />
Dialog und Austausch mit Landsleuten wie mit Ausländern<br />
und viele Mehrs mehr sind sicher dringende<br />
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DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />
WWW.<strong>EMS</strong> -ONLINE.ORG
Impressum<br />
<strong>EMS</strong>-Dokumentationsbrief Nr. 5/20<strong>05</strong>: Vielfalt in Einheit. <strong>Indonesien</strong>s Ethnien im Wandel<br />
<strong>Indonesien</strong>tagung des <strong>EMS</strong> 14.-16.10.20<strong>05</strong> in Stuttgart<br />
Herausgegeben vom Evangelischen Missionswerk in Südwest deutschland e.V.<br />
Redaktion: Christine Grötzinger, David Tulaar<br />
Vogelsangstr. 62, 70197 Stuttgart, Deutschland<br />
Tel: 0711/ 636 78 -0; Fax: 0711/ 636 78 -45<br />
Mail: info@ems-online.org<br />
Internet: www.ems-online.org<br />
Bankverbindung: Ev. Kreditgenossenschaft Stuttgart, Konto-Nr. 124 (BLZ 600 606 06)<br />
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