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Dokubrief Indonesien 05/2005 - EMS

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Vielfalt in Einheit<br />

<strong>Indonesien</strong>s Ethnien im Wandel<br />

Dokumentationsbrief <strong>Indonesien</strong> 5/20<strong>05</strong><br />

<strong>Indonesien</strong>tagung des <strong>EMS</strong><br />

14.-16. Oktober 20<strong>05</strong> in Stuttgart


2<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

WWW.<strong>EMS</strong> -ONLINE.ORG


INHALT<br />

4 Vorwort<br />

5 Java: Kosmische Ordnung und Harmonie<br />

Prof. Dr. Kurt Tauchmann<br />

12 Dayak: Die Gemeinschaft des Langhauses<br />

Dr. Jani Kuhnt-Saptodewo<br />

17 Minahasa: Starke Frauen und streitbare Herrscher<br />

Dr. Gabriele Weichart<br />

23 Papua: Hoffnung eines bedrohten Volkes<br />

Uwe Hummel<br />

28 Einheit in Vielfalt: Mission impossible?<br />

Alex Flor<br />

3


VORWORT<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

„Vielfalt in Einheit - <strong>Indonesien</strong>s Ethnien im Wandel“<br />

lautete der Titel unserer diesjährigen Tagung, die im<br />

Telekomhotel Stuttgart von 14. bis 16. Oktober 20<strong>05</strong><br />

stattfand.<br />

Das Land mit dem Motto Bhinneka Tunggal Ika – „in<br />

Vielfalt eins sein“ – feiert in diesem Jahr seinen 60.<br />

Geburtstag als unabhängige Republik. Am 17. August<br />

1945, in der Zeitnische zwischen der japanischen Kapitulation<br />

und der Rückkehr der Niederländer in ihre alte<br />

Kolonie proklamierte Sukarno die Unabhängigkeit <strong>Indonesien</strong>s.<br />

Eine neue Republik, deren Vielfalt der<br />

Ethnien, der Sprachen, der Kulturen und der Religionen<br />

superlativen Charakter besitzt, war geboren.<br />

60 Jahre danach stellt sich die Frage: Wurden die vielen<br />

ethnischen Gruppen wirklich zu einer Nation? Wie<br />

leben sie heute, wie haben sie sich entwickelt? Fest<br />

steht, dass die ethnische Zugehörigkeit und die Adat,<br />

der traditionelle Kodex der Volksgruppen, weiterhin<br />

eine große Rolle im Leben der Menschen spielen. Die<br />

neue Regionalautonomie fördert sogar den Rückzug<br />

auf die eigene ethnische Gruppe. Politische Versuche<br />

der Vereinheitlichung wie die „Javanisierung“ des Landes<br />

oder das Transmigrationsprogramm Suhartos haben<br />

eher Konflikte erzeugt. Viele ethnische Gruppen<br />

sehen sich aber auch von den heutigen demokratisch<br />

gewählten Regierungen in Jakarta vernachlässigt und<br />

um ihr Land oder einen gerechten Anteil am Ertrag aus<br />

ihren Ressourcen betrogen.<br />

ihre Auseinandersetzung mit fremden Religionen wie<br />

dem Christentum, dem Islam oder auch dem Hinduismus<br />

eine große Rolle. Ein umfassender Beitrag zur<br />

Geschichte des nation building im indonesischen Staat<br />

und dem Umgang der wechselnden Regierungen mit<br />

der ethnischen Vielfalt des Landes rundete die Tagung<br />

ab.<br />

Wir dokumentieren in diesem Heft die Vorträge der<br />

Tagung. Auf unserer Website www.ems-online.org<br />

können Sie die Dokumentation mit allen Bildern und<br />

Graphiken auch in Farbe betrachten.<br />

Wir haben sehr positive Rückmeldungen zum zweigeteilten<br />

Format des letzten Informationsbriefs <strong>Indonesien</strong><br />

erhalten, in den wir neben einer Tagungsdokumentation<br />

auch Berichte aus unserer Arbeit aufgenommen<br />

hatten. Wir werden diese Form von Informationsbriefen<br />

im nächsten Jahr wieder aufnehmen und<br />

Ihnen im Mai 2006 ausführlich über verschiedene Veränderungen<br />

im <strong>EMS</strong> und in unserer Arbeit zu <strong>Indonesien</strong><br />

berichten, die zum Jahreswechsel anstehen.<br />

Wir wünschen Ihnen anregende Lektüre.<br />

Christine Grötzinger 9.11.<strong>05</strong><br />

David Tulaar<br />

Die Tagung warf einen Blick hinter die Kulissen der<br />

ethnischen Vielfalt <strong>Indonesien</strong>s. Vier Volksgruppen<br />

wurden unter die Lupe genommen: Die Dayak auf<br />

Kalimantan, die Minahasa auf Sulawesi, die Papua in<br />

Melanesien und die Javaner als die im Land dominierende<br />

Ethnie. In Vorträgen und Diskussionen wurden<br />

ihre Kultur und Geschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektiven<br />

beleuchtet. Dabei spielten die eigenen<br />

Glaubenssysteme der indigenen Gesellschaften und<br />

4<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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JAVA – KOSMISCHE ORDNUNG UND HARMONIE<br />

KULTUR UND GESCHICHTE JAVAS<br />

Prof. Dr. Kurt Tauchmann<br />

Dr. Kurt Tauchmann, Prof. a.D., lehrte von 1979 bis 2004 an den Instituten für Völkerkunde der Universitäten<br />

Göttingen, Heidelberg und Köln. Sein ethnologisches Fachgebiet umfasst unter anderem Maritimität und Kulturwandel<br />

in Südostasien.<br />

I. Geographischer Überblick<br />

Die Landmasse Javas umfasst ca. 134.000 km² und hat<br />

heute eine Bevölkerung von ungefähr 110 Millionen<br />

Menschen. Sie ist damit ungefähr so groß wie die<br />

Bundesrepublik Deutschland südlich des Mains. Das<br />

Land wird in West-Ost-Richtung von einer Bergkette<br />

mit zahlreichen Vulkanen durchzogen. Der Vulkanismus<br />

bedingt den hohen Anteil an fruchtbarem Boden,<br />

wodurch die Insel eine der höchsten Bevölkerungsdichten<br />

der Welt von über 1.200 Menschen pro km²<br />

aufweist. Die Insel beherbergt heute als politisches<br />

Zentrum den Sitz der nationalen Regierung und ihrer<br />

Institutionen. Sie wird in die drei Provinzen Jawa Barat,<br />

Jawah Tengah und Jawa Timur unterteilt, welche in<br />

kultureller Hinsicht Unterschiede aufweisen. Auf Java<br />

konzentrieren sich gegenwärtig die meisten urbanen<br />

Zentren, worunter die Hauptstadt Jakarta, Surabaya,<br />

Semarang, Bandung und Cirebon zu nennen sind.<br />

5


Die kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen<br />

Bevölkerungsgruppen markieren auch die Grenzen<br />

der verschiedenen ethnischen Gruppen, die sich<br />

als Sundanesen, Javaner, Maduresen, Malaien bzw.<br />

Badui, eine kulturelle Minderheit, welche noch die<br />

strukturellen Merkmale einer ehemaligen Brahmanenelite<br />

erkennen lässt, identifizieren. Auf Java werden im<br />

Inland die Dialekte Sundanesisch (West) und Maduresisch<br />

(Zentral und Ost) gesprochen, während an der<br />

Nordküste Malaiisch gesprochen wird. Malaiisch, Javanisch<br />

und Balinesisch gehören zusammen mit Chamisch<br />

(Vietnam/Kambodscha), Tagalog (Philippinen)<br />

und Malagasi (Madagaskar) zum west-malayopolynesischen<br />

Zweig der Malayo-Polynesischen<br />

Sprachgruppe, die zusammen mit Formosanisch (Taiwan)<br />

die austronesische Sprachfamilie bilden. Austronesisch<br />

ist eine der größten Sprachfamilien der Welt<br />

und ist auf der Südhalbkugel der Erde von Afrika bis<br />

vor die Küste von Südamerika verbreitet.<br />

Im Altjavanischen drückten sich Statusunterschiede in<br />

Klassensprachen aus, wobei die bhasa krama für die<br />

Elite galt und die bhasa ngoko für das Volk benutzt<br />

wurde. Die verschiedenen Sprachen Javas wurden auf<br />

verschiedenen Zeithorizonten in indischer, arabischer<br />

oder romanischer Schrift verfasst. Heute dominiert die<br />

romanische Schriftversion der Nationalsprache (Bahasa<br />

Indonesia), die auf der Basis der malaiischen Verkehrssprache<br />

und von Lehnwörtern aus indischen Sprachen,<br />

dem Persischen und Arabischen, dem Portugiesischen<br />

und Spanischen sowie dem Niederländischen entstanden<br />

ist. Seit Jahren bemühen sich Malaysia und <strong>Indonesien</strong><br />

um eine einheitliche Schreibweise ihres gemeinsamen<br />

Wortschatzes.<br />

II. Java und die Region des Malaiischen Archipels<br />

Java liegt am südlichen Rand des Malaiischen Archipels,<br />

der die gegenwärtigen Nationalstaaten <strong>Indonesien</strong>,<br />

Malaysia, Brunei, Philippinen und die Küstenbereiche<br />

von Thailand, Kambodscha und Vietnam einschließt.<br />

Der Archipel aus ca. 30.000 Inseln, wovon die<br />

kleineren zum großen Teil unbewohnt sind, weist eine<br />

ausgeprägte Verzahnung von Land und Meer und eine<br />

assoziierte maritime Orientierung der Menschen auf.<br />

Obwohl die Javasee durch Meeresstraßen mit dem<br />

Indischen Ozean verbunden ist, weist sie den Charakter<br />

eines Binnenmeeres auf. Dagegen prallt der Indische<br />

Ozean an die südliche Küste Javas, an der es keine<br />

natürlichen Häfen gibt. Hier beginnt das Reich der<br />

mythischen Meeresgöttin Ratu Kidul, die für den Tod<br />

zahlreicher Menschen an dieser Küste verantwortlich<br />

gemacht wird.<br />

Die frühen chinesischen Quellen bezeichneten das<br />

Chinesische Meer und den Malaiischen Archipel als<br />

Nan Hai und seine Bewohner als Yue oder Kun Lun,<br />

deren Kenntnisse in Schiffbau, Segeltechnik und maritimen<br />

Handel sie bewunderten und nutzten. Gleichzeitig<br />

blockierten diese Argonauten des südlichen Meeres<br />

die chinesische Expansion in den tropischen Gürtel.<br />

Die arabische Reiseliteratur nennt sie Waq oder Waq-<br />

Waq. Bei den Bewohnern des Archipels war diese Region<br />

dagegen als Nusantara bekannt, das aus einer<br />

europäischen geographischen Perspektive mit <strong>Indonesien</strong><br />

übersetzt wurde, womit seine vermittelnde Rolle<br />

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DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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als Brücke zwischen China und Indien betont werden<br />

sollte.<br />

In dem Dreieck zwischen der Malaiischen Halbinsel<br />

und den Inseln Sumatra und Ceylon formte sich an<br />

den Küsten eine Kultur heraus, die unter der Bevölkerung<br />

einen hohen Grad an räumlicher, maritimer Mobilität<br />

aufwies und deshalb Jawa genannt wurde. Als<br />

Chijs/Jaos werden sie noch in der frühen portugiesischen<br />

Reiseliteratur bis zum Golf von Aden und dem<br />

Roten Meer erwähnt. Dagegen wird die Bevölkerung<br />

im hügligen Hinterland der Küste als Malai (Hügel,<br />

Berg) bezeichnet und formt die Malaiische Welt (Malai<br />

alam) im Raum unterhalb der Winde (dibawah angin).<br />

III. Java und der Raum des Indischen Ozeans<br />

Die Monsune gestalten als besonders charakteristische<br />

Merkmale diesen Raum, der mit seinen konstanten<br />

und verlässlichen Faktoren das Portal bildete, durch<br />

welches die Menschen an den Küsten des Indischen<br />

Ozeans zueinander geführt wurden. Durch den Monsun<br />

wurden maritime Migrationen aus dem Malaiischen<br />

Archipel nach Westen geleitet, die ihre Spuren<br />

auf den Malediven, in Ceylon und Südindien, der Arabischen<br />

Halbinsel und von der ostafrikanischen Küste<br />

bis nach Westafrika hinterlassen haben. Diese Migranten<br />

gingen mit der lokalen Bevölkerung Heiratsallianzen<br />

ein, wodurch kulturelle und soziale Transformationen<br />

eingeleitet wurden. Der im stetig zunehmenden<br />

maritimen Fernhandel vollzogene Austausch von Gütern<br />

und Ideen trug ebenfalls dazu bei, dass sich eine<br />

transozeanische Kultur um die Ufer des Indischen Ozeans<br />

herausformte.<br />

Zu Beginn des ersten Millenniums sind die Konturen<br />

Südostasiens und seiner Bewohner in der westlichen<br />

Peripherie dieses Raumes noch sehr verschwommen.<br />

Die vagen Vorstellungen wurden aus dem näher liegenden<br />

indischen Subkontinent nach dem Westen<br />

vermittelt. Die Griechen nannten diese Region Iabadioi,<br />

was eine Übersetzung der Sanskritbezeichnung<br />

Jawa dvipa (Gerstenland) darstellte. Die Schiffe aus<br />

Ceylon, die in der Bucht von Aden vor Anker gingen,<br />

wurden Sangara genannt. Der wertvollste Teil der Ladung<br />

bestand aus Zimt und Sandelholz, die aus dem<br />

Malaiischen Archipel stammten und im Hafen von<br />

Galle in Ceylon als Stapelplatz zwischengelagert worden<br />

waren. Der malaiische Ursprung der Bezeichnung<br />

für Zimt wird durch das Lehnwort caisman (mal.: kayu<br />

manis) im Griechischen bestätigt.<br />

Schon seit dem Ende des 1. Jahrhunderts schickten<br />

Herrscher aus der südasiatischen Region Delegationen<br />

nach Rom, deren erste unter Augustus Octavianus<br />

belegt ist. Der vornehmste unter dieser Delegation<br />

wurde als raja bezeichnet und ihre Herkunft in der<br />

Region des mons Maleus an dem Fluss kali utara angesiedelt.<br />

Diese Region deckt sich mit der malaiischen<br />

Welt zwischen Ceylon und Sumatra und da mit ihnen<br />

das topoi vom „in die falsche Richtung fallenden<br />

Schatten“ verbunden wird, können wir eine Region<br />

südlich des Äquators annehmen. Der mit diesen maritimen<br />

Händlern verbundene Schiffstypus wurde später<br />

von den Arabern als Sumbuk/Sambuk bezeichnet,<br />

womit sich eine Anlehnung an die westaustronesische<br />

Bezeichnung Sambuko andeutet. Die Tatsache, dass<br />

das westaustronesische Lehnwort im spanischen zambuco<br />

heimisch wurde, zeigt einmal mehr, wie stark der<br />

maritime Wortschatz des Austronesischen in westliche<br />

Der Schiffstypus auf dem Relief am Borobudur-Tempel (9.Jhdt.)<br />

7


Sprachen Eingang gefunden hat.<br />

Während der frühen Phase des maritimen Fernhandels<br />

bis zum 8. Jahrhundert geht die Initiative bei der Anknüpfung<br />

von Handelskontakten nach dem Westen<br />

eindeutig von Südostasien aus. Da diese westaustronesischen<br />

Händler zunehmend auch chinesische Luxusgüter<br />

(Keramik und Seide) als Kontingente nach dem<br />

Westen transportierten und chinesische Münzen als<br />

Zahlungsmittel benutzten, führte deren archäologische<br />

Präsenz entlang der ostafrikanischen Küste zu<br />

dem Trugschluss, dass es sich bei diesen Händlern um<br />

Chinesen gehandelt habe.<br />

IV. Die kulturellen Transformationen in der Geschichte<br />

Javas<br />

Java hat seine jetzige Gestalt als Insel erst nach der<br />

letzten Eiszeit vor ca. 10.000 Jahren bekommen, während<br />

es vorher Teil einer südostasiatischen Landmasse<br />

war, welche die Region mit dem asiatischen Festland<br />

und Australien verband. Das in Wadjak auf Java gefundene<br />

Skelett wird dem Typus homo sapiens sapiens<br />

zugeordnet, der zwischen dem pekinensis und australopiticus<br />

eingeordnet wird. Die größte und einmalige<br />

Kulturleistung im Malaiischen Archipel bestand in der<br />

frühen Überwindung der Meere in dazu geeigneten<br />

Fahrzeugen, was noch heute durch die gewaltigen<br />

Verbreitung der austronesischen Sprachfamilie, die ein<br />

Drittel des Globus bedeckt, demonstriert wird. Im Gegensatz<br />

zum Westen hat die Phase sesshafter Lebensweise<br />

und assoziierten Landbaus in bewässerten Feldern<br />

erst vor ca. 3.000 Jahren durch die Einführung<br />

des Reis aus der Han-Region Chinas begonnen.<br />

1. Die Ausbreitung der Hindu-Buddha-Zivilisation<br />

auf der maritimen Seidenstrasse<br />

Abgesehen von einzelnen kürzeren Erkundungsreisen<br />

der Phöniker gelang es dem griechischen Kapitän Hippalos<br />

im 3.Jahrhundert unter Ausnutzung des Monsuns,<br />

durch die Strasse von Malaka bis an die Mündung<br />

des Mekong im heutigen Vietnam zu gelangen.<br />

Dagegen sind die Einflüsse aus frühen Kontakten mit<br />

Südindien und Ceylon von prägender Bedeutung für<br />

die kulturellen Transformationen im gesamten Malaiischen<br />

Archipel gewesen. Dabei begünstigten besonders<br />

die in westöstliche Richtung verlaufenden Winde<br />

in den Monaten Oktober bis Februar Seereisen in den<br />

Malaiischen Archipel. Die Monate September und<br />

März zwischen den komplementären Monsunwinden<br />

werden im Malaiischen Archipel als pancaroba bezeichnet.<br />

In dieser Zeit gibt es zahlreiche Turbulenzen,<br />

bis sich die Winde auf ihre neue Richtung eingestellt<br />

haben. Im übertragenen Sinn gelten diese Turbulenzen<br />

auch im personalen und gesellschaftlichen Bereich,<br />

wo sie Umbrüche charakterisieren.<br />

Das volksreligiöse System Javas (abangan) wird als die<br />

indigene Variante eines Bündels von Überzeugungen<br />

verstanden, die beginnend mit dem 4.Jahrhundert<br />

durch Ideen und Institutionen aus dem Hindu-<br />

Buddha-Kontext bereichert wurden. Die damit verbundenen<br />

Neuerungen bedeuteten jedoch keine abrupte<br />

Abkehr von den indigenen Überzeugungen,<br />

sondern verbreiteten sich im Volk nur sehr langsam.<br />

Dabei fand eine Verschmelzung bestimmter Ideen mit<br />

Elementen aus der indigenen Kultur statt, die in synkretistische<br />

Transformationen einmündete, wobei die<br />

einzelnen Elemente aus den verschiedenen Überzeugungssystemen<br />

nicht mehr isolierbar sind. Die Vorstellungen<br />

in Bezug auf die kosmische Ordnung und das<br />

Streben nach Harmonie dienten zwar den weltlichen<br />

Eliten der Einwanderer zur sakralen Legitimierung ihrer<br />

Macht, sind aber dennoch im Volksglauben tief verwurzelt<br />

worden. Die frühesten Hindukulte (Vaishnava)<br />

sind dem Brahmanismus zuzuordnen und wurden<br />

später durch Shivaismus (Shiva/Vishnu) und Tantrismus<br />

(Linga-Voni) ergänzt, während sich in Zentraljava<br />

(und Sumatra/Sri Vijaya) der Buddhismus durchsetzte,<br />

der schließlich vom Islam abgelöst wurde. Auf dem<br />

zeitlichen Horizont des 10. Jahrhunderts ist für Java ein<br />

Nebeneinander von Abangan, Vaishnava, Shivaismus,<br />

Tantrismus, Buddhismus und Islam sichtbar, deren<br />

Anhänger jedoch Überzeugungen (kepercayaan) jenseits<br />

theologischer Doktrin teilen.<br />

Die Konzepte von Harmonie (Ordnung) und Konflikt<br />

(Chaos) werden in der Umgangssprache Javas mit den<br />

Adjektiven aman und kajau benannt. Dabei besteht ein<br />

unmittelbarer Zusammenhang zwischen menschlichen<br />

Handlungen und kosmischer Ordnung. Menschliches<br />

Fehlverhalten ruft Naturkatastrophen und Epidemien<br />

hervor, die das kosmische Gleichgewicht stören. In der<br />

menschlichen Gesellschaft wie im Kosmos besteht als<br />

Garant der Ordnung eine Hierarchie der Wesen und<br />

Dinge, die den Platz des Einzelnen im Gesamtgefüge<br />

bestimmt. Dieser Platz wird durch Geburt, Rang, Geschlecht<br />

und Lebensalter festgelegt. Somit kennt in<br />

der Mikrosphäre der Familie jedes Individuum seinen<br />

ihm zugewiesenen Platz. Innerhalb der Sozialisation<br />

wird das Streben nach Harmonie idealtypisch bis an<br />

die Grenze der Selbstaufgabe verlangt, womit Konflikten<br />

vorgebeugt werden soll. Damit können Individuen<br />

oder Gruppen schließlich in eine ausweglose Situation<br />

gelangen, die besonders im Falle des Gesichtsverlustes<br />

durch amuk (Amok) gesühnt wird, wobei die gesamte<br />

Gemeinschaft eine Mitschuld an dem Unheil trägt.<br />

Diese Vorstellungen zur kosmischen Ordnung und das<br />

damit verbundene Streben nach Harmonie sind im<br />

Gebiet des inneren Hochlandes von Java mit seinen<br />

frühen hindu-buddhistischen Zentren noch am stärksten<br />

festzustellen und haben sich mit dem zurückge-<br />

8<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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henden Einfluss dieser Überzeugungen und dem Aufkommen<br />

neuer Formen des Zusammenlebens in den<br />

in der Moderne entstandenen urbanen Zentren relativiert.<br />

Mit der Idee der kosmischen Ordnung und der in<br />

ihr waltenden Balance wurden auch die Vorstellungen<br />

eines irdischen Paradieses verbunden, das in einem<br />

spezifischen Konzept von Landschaft eingebettet war,<br />

in der die einzelnen Elemente in idealer Proportion<br />

zueinander standen (sanskrit: sari, mal.: seri). Die<br />

wichtigsten der insgesamt 25 Elemente sind Wasser,<br />

Erde, Feuer. Luft und Raum. In neu erschlossenen Gebieten<br />

wurde deshalb das proportional gleiche Verhältnis<br />

von Wasser und Erde abgewogen und wenn<br />

dieses nicht adäquat war, ein anderes Siedlungsgebiet<br />

gesucht. In diesem Zusammenhang sollte jedoch auch<br />

eine in Ostasien weit verbreitete Humorale Pathologie<br />

erwähnt werden, die Gegenstände, individuelle Zustände<br />

und soziale Situationen in die Kategorien heiß<br />

und kalt einordnet. Dabei sind kalte Gegenstände und<br />

Zustände erstrebenswert, heiße dagegen als unheilvoll<br />

zu meiden. Von diesen Vorstellungen wird noch heute<br />

das Verhalten der Javaner im Alltag bestimmt.<br />

2. Die politische Geschichte der Hindu-Buddha-<br />

Phase<br />

Wir können davon ausgehen das die Insel Java vor<br />

dem 4. Jahrhundert eine Bevölkerung von maximal 5<br />

Millionen Menschen beherbergte, die in einer Reihe<br />

von tribalen Gesellschaften organisiert waren. In der<br />

Folgezeit soll ein legendäres Reich Taruma an der<br />

Nordküste von Java bestanden haben, dessen Existenz<br />

und Ausdehnung jedoch noch nicht archäologisch<br />

gesichert ist, weil bisher in den lokal begrenzten Herrschaften<br />

Hinweise der Bindung an ein Zentrum fehlen.<br />

Seit dem Ende des 3.Jahrhundert brachten Händler aus<br />

Südindien und Ceylon hindu-buddhistisches Gedankengut<br />

nach Sumatra und Java. Zu Beginn des<br />

8.Jahrhunderts sind Einwanderungen aus Tenassarim<br />

am Ostufer des Golfs von Bengalen belegt, deren Träger<br />

als Chin/Mon bzw. Thai identifiziert wurden. Zu<br />

diesem Zeitpunkt bestand auf dem Dieng Plateau in<br />

Zentraljava bereits das Reich Mataram unter einem<br />

Herrscher aus der Sanjaya Dynastie. Im Laufe des<br />

8.Jahrhunderts brachten die Einwanderer Zentraljava<br />

und einen Teil Westjavas unter ihre Kontrolle und ließen<br />

im Kedu Tal zu Beginn des 9. Jahrhunderts unter<br />

der Dynastie der Sailendras („Herren der Berge“) den<br />

buddhistischen Tempel von Borobudur und das Hindu-Heiligtum<br />

Prambanan errichten. Durch eine von<br />

den Sailendras und dem Herrscherhaus von Sri Vijaya<br />

eingefädelte dynastische Heirat stellten ihre Prinzen<br />

seit dem 9.Jahrhundert auch die Herrscher dieses maritimen<br />

Reiches im Malaiischen Archipel.<br />

Unter dem Herrscher Sindok (929-947) driftete das<br />

Zentrum der Macht des Mataram-Reiches aus bisher<br />

nicht geklärten Ursachen nach Ostjava, wobei der<br />

Hindu-Buddha- Kontext an Bedeutung verlor. Gleichzeitig<br />

gewannen die Einnahmen aus dem Fernhandel<br />

zunehmende Bedeutung, wodurch sich der Wettbewerb<br />

mit Sri Vijaya um die Kontrolle des Gewürzhandels<br />

aus den Molukken verschärfte und es zu kriegerischen<br />

Auseinandersetzungen kam. Über die folgenden<br />

Herrscher des Reiches Mataram ist wenig bekannt.<br />

Unter ihnen ist Air Langa hervorzuheben, der sich in<br />

der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts um die Kultur<br />

des Reiches und den Ausbau von Institutionen des<br />

Rechts und der staatlichen Verwaltung verdient gemacht<br />

hat. In jener Zeit blühte die in Kawi, einer aus<br />

dem Sanskrit abgeleiteten Schrift abgefasste Literatur.<br />

Mit dem Tode Air Langas zerfiel jedoch das Reich und<br />

der westliche Distrikt trat unter der Bezeichnung Kediri<br />

die Nachfolge an. Im 13. Jahrhundert etablierte sich<br />

das Reich Singosari, das im Jahre 1293 den Einfall eines<br />

mongolischen Expeditionsheeres abwehrte. Singosari<br />

wurde zu Beginn des 14. Jahrhunderts von Majapahit<br />

abgelöst. Dieses Reich wurde unter dem Herrscher<br />

Hayam Wuruk zu einem Imperium geformt und<br />

erstreckte sich über die meisten Inseln der gegenwärtigen<br />

Republik <strong>Indonesien</strong>. Es erlebte unter seinem<br />

ersten Minister Gadjah Mada einen gewaltigen kulturellen<br />

Aufschwung.<br />

3. Die Ausbreitung des Islam in Java<br />

Nach bisheriger Ansicht wird der Einfluss des Islam als<br />

eine weitere Bereicherung des kulturellen Synkretismus<br />

frühestens am Ende des 14. Jahrhunderts an der Nordküste<br />

Javas unter der Aristokratie spürbar. Gegenwärtig<br />

häufen sich allerdings die Hinweise, dass dieser Einfluss<br />

wesentlich früher anzusetzen ist und bereits im 10.<br />

Jahrhundert evident ist. Allerdings hat es weiterer 400<br />

Jahre bedurft, bevor die Bevölkerung des Inlandes von<br />

Java davon durchdrungen wurde. Die frühe Phase der<br />

Verbreitung des Islam ging von verschiedenen Bruderschaften<br />

des Sufi-Ordens aus, die ursprünglich aus<br />

dem persisch-arabischen Raum stammten, sich jedoch<br />

bereits seit dem 1o. Jahrhundert durch Zwischenheiraten<br />

mit Fischergruppen an der Westküste von Südindien<br />

(Mukkuvar/Tikar) vermischt hatten. Die von ihnen<br />

nach Südostasien getragenen Glaubensinhalte des<br />

Islam waren durch die vorangegangene Assimilation<br />

an andere kulturelle Systeme und die aus ihnen abgeleiteten<br />

Bedürfnisse geprägt.<br />

Die arabische Bezeichnung Adjam wurde seit dem<br />

Beginn der Islamischen Periode für alle Gebiete außerhalb<br />

der Arabischen Halbinsel benutzt. Dagegen wurde<br />

die Bezeichnung Kmr („Mond“) für alles Fremde<br />

und in einem engeren Sinn für „Mondleute“ verwendet.<br />

Es war eine Bezeichnung für Madagaskar und<br />

9


darauf geht auch die ethno-linguistische Kategorie<br />

Khmer zurück. Während der Anfangsphase des Eindringens<br />

wies der Islam im malaiischen Archipel noch<br />

starke Züge einer schiitischen Ausprägung auf, in welcher<br />

Elemente zoroastrischer Überzeugungen integriert<br />

waren, wie der Sonnenkult und das Ritual zum<br />

Neujahr (Newruz). Der Islam breitete sich zuerst in<br />

Mataram aus und erfasste schließlich die gesamte Insel<br />

Java. Mit der Konversion des Fürsten von Majapahit<br />

wurde dieser Prozess formal gebilligt, wobei sich ein<br />

Teil des Hofstaates abspaltete und nach Bali emigrierte.<br />

Durch das verstärkte Wirken jemenitischer Wachhabiten<br />

bekam der indonesische Islam seit dem 14.<br />

Jahrhundert eine eher sunnitische Ausprägung, die<br />

sich später auch auf die anderen Inseln übertrug und<br />

bis in die Gegenwart fortgesetzt hat. In dieser Zeit<br />

wurde <strong>Indonesien</strong> zur größten islamischen Nation<br />

außerhalb der Arabischen Halbinsel und fester Bestandteil<br />

des globalen Netzwerkes der Dar ul-Islam. Als<br />

die Portugiesen und Spanier im frühen 16. Jahrhundert<br />

in den Indischen Ozean vordrangen, trafen sie auf den<br />

koordinierten Widerstand der muslimischen Händler in<br />

den von diesen kontrollierten Stapelplätzen an allen<br />

Küsten des indio-asiatischen Raumes.<br />

4. Das Vordringen europäischer Handelskompanien<br />

Das Zeitalter der „Entdeckung“ Indiens stellte eine<br />

unfreiwillige Fortsetzung der Reconquista auf der Iberischen<br />

Halbinsel dar. Mit der Ausweitung des kapitalistischen<br />

Systems auf Südostasien trat ein weiteres globales<br />

Netzwerk hinzu, welches mit den bereits anwesenden<br />

in einen Wettbewerb um den Handel mit Gewürzen<br />

trat. Im Gegensatz zu den bereits anwesenden<br />

Arabern, Portugiesen und Spaniern strebte die VOC<br />

der Niederlande ein ausschließliches Monopol im Gewürzhandel<br />

an. Darüber hinaus wollte sie auch die<br />

Produktion unter ihre Kontrolle bringen und unterband<br />

alle Versuche der lokalen Bevölkerung, sich an<br />

dem Gewürzboom zu beteiligen. Auf diese Weise zerstörte<br />

die VOC die lokalen Handelsnetzwerke und<br />

nahm der lokalen Bevölkerung die Chance, Exportprodukte<br />

für den freien Markt anzubauen. Die Produktion<br />

von Gewürzen wurde aus Profitgier ins Unermessliche<br />

gesteigert, was zu einem Preisverfall in Europa führte<br />

und die VOC in den Konkurs trieb.<br />

5. Die Kronkolonie Niederländisch Indien<br />

Nach dem Konkurs der VOC wurde <strong>Indonesien</strong> eine<br />

Kronkolonie der Niederlande. Gravierende Maßnahmen<br />

betrafen die Enteignung großer Landflächen vor<br />

allem in Sumatra und Java, die zur Staatsdomäne erklärt<br />

wurden. Auf ihnen wurden künftig vor allem<br />

landwirtschaftliche Exportgüter wie Kaffee, Zucker und<br />

Tabak angebaut. Die javanische Bevölkerung wurde<br />

zusätzlich zu den zu leistenden Diensten für ihre Fürsten<br />

verpflichtet, unentgeltliche Dienste („Heeresdienste“)<br />

auf den staatlichen Domänen zu verrichten. Die<br />

Enteignung der wertvollsten Flächen ließ den javanischen<br />

Bauern nicht genügend Anbaufläche für ihre<br />

Eigenversorgung und führte zusammen mit dem Entzug<br />

von Arbeitskräften für die ihnen verbliebenen Felder<br />

zur Verarmung der bäuerlichen Bevölkerung und<br />

zu gewaltigen Hungersnöten, die zu Revolten und<br />

einem Aufstand unter dem Prinzen Diponegoro führten.<br />

Diese Missstände wurden von dem Assistant Resident<br />

Douwesdecker unter dem Pseudonym Multatuli<br />

im Parlament von Den Haag gebrandmarkt.<br />

6. Die Gründung der Republik <strong>Indonesien</strong><br />

Im Jahre 1942 wurde Niederländisch Indien von den<br />

Japanern besetzt und 1945 begann der Befreiungskampf<br />

der Indonesier auf Java unter der Führung von<br />

Sukarno und Hatta. Am 17. August 1945 wurde die<br />

Republik <strong>Indonesien</strong> proklamiert. Daraufhin versuchten<br />

die Niederlande ihre Kolonie durch ein Expeditionsheer<br />

zurück zu erobern. Unter dem Druck internationaler<br />

Organisationen kam jedoch 1949 ein Vertrag<br />

zustande und Sukarno trat das Amt des Staatspräsidenten<br />

an. Seine 20jährige Regierungszeit war durch<br />

das Bemühen geprägt, die gewonnene Unabhängigkeit<br />

durch eine Anlehnung an blockfreie Länder zu<br />

stärken und die gespaltene Nation zusammen zu führen.<br />

Diese Ziele versuchte er durch eine geschickte<br />

Heiratspolitik und direkte Einflussnahme auf die Formung<br />

der Nationalsprache Bahasa Indonesia zu erreichen.<br />

Im Jahre 1965 putschte Oberst Suharto, um einer angeblichen<br />

kommunistischen Machtübernahme vorzubeugen.<br />

Unter seiner Herrschaft gab es zwar einen<br />

gewissen ökonomischen Aufschwung, der jedoch von<br />

der Begünstigung der eigenen Familienmitglieder und<br />

einer Ausweitung der Vetternwirtschaft begleitet war.<br />

Auf dem Höhepunkt der ökonomischen Krise in Südostasien<br />

wurde Suharto 1998 nach einer 33 Jahre dauernden<br />

Herrschaft zum Rücktritt gezwungen und<br />

durch den Vizepräsidenten Habibi ersetzt. Dieser war<br />

um eine Liberalisierung zentralistischer Politik und<br />

Wirtschaft durch die Stärkung lokaler Autonomie bemüht.<br />

Mit seiner Zustimmung zu freien Wahlen ebnete<br />

er auch den Weg von Osttimor in dessen Unabhängigkeit.<br />

Durch den erbitterten Widerstand der nationalistischen<br />

Offiziere und die ihm nachgesagte Nähe zu<br />

Sukarno entmutigt, trat Habibi schließlich zurück.<br />

Nach der anschließend angesetzten Neuwahl wurde<br />

Wahid Abdul Rahman (Gusdur) vom Parlament zum<br />

Staatspräsidenten gewählt. Nach unbewiesenen Korruptionsvorwürfen<br />

wurde Gusdur abgesetzt und durch<br />

die Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri, eine Tochter<br />

Suhartos, ersetzt. Im Jahre 2004 gewann Susilo<br />

Bambang Yudhoyono die erste direkte Wahl zum<br />

10<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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Staatspräsidenten. Er handelte unter der Zusage einer<br />

Amnestie und einer erweiterten Autonomie mit der<br />

Befreiungsbewegung Acehs (GAM) einen Vertrag zur<br />

nationalen Konsolidierung aus.<br />

7. Auswirkungen der Globalisierung<br />

Aus Java als dem kulturellen, politischen und ökonomischen<br />

Zentrum der Republik werden die zaghaften<br />

Bemühungen um eine Demokratisierung auf der nationalen<br />

Ebene im Rahmen der Regionalautonomie gesteuert.<br />

Der nach wie vor in einer feudalen Struktur<br />

verharrende Agrarsektor hat hier bereits an Bedeutung<br />

verloren und in den urbanen Zentren wird der Sektor<br />

der Dienstleistungen stark ausgebaut. Die industrielle<br />

Entwicklung ist dagegen durch das Fehlen ausländischer<br />

Investitionen bescheiden. Besonders die weiterverarbeitende<br />

Holzindustrie leidet unter illegalem<br />

Holzeinschlag und hat gleichzeitig um faire Preise für<br />

ihre Fertigprodukte zu kämpfen Der stetig wachsende<br />

Bedarf an Nahrungsmitteln (vor allem Fisch und Meeresprodukte)<br />

in China, Taiwan und Japan hat innerhalb<br />

illegaler Aktivitäten zu einer Überbeanspruchung der<br />

Meeresressourcen geführt und zerstört durch Dynamitfischerei<br />

die Korallengebiete, welche für viele Sektoren<br />

der Wirtschaft von großer Bedeutung sind. Die<br />

aus der Suharto-Ära stammende gewaltige Staatsverschuldung<br />

<strong>Indonesien</strong>s hat zusammen mit dem gestiegenen<br />

Energiebedarf, für den keine adäquaten<br />

Investitionen getätigt wurden, eine neue ökonomische<br />

Krise eingeleitet. Seit dem letzten Jahr muss <strong>Indonesien</strong><br />

Erdöl importieren, das in US-Dollars bezahlt werden<br />

muss, während die Devisen unbedingt für die<br />

Reduzierung der Staatsschulden benötigt werden. Um<br />

weitere Kredite von der Weltbank zu erhalten, wurde<br />

<strong>Indonesien</strong> verpflichtet, seine Subventionierung des<br />

Benzins schrittweise abzubauen. Gleichzeitig sind damit<br />

notwendige Ausgleichszahlungen des Staates an<br />

Familien mit geringem Einkommen für die steigenden<br />

Transportkosten verbunden. Um seine Kreditwürdigkeit<br />

zu erhalten, lehnt <strong>Indonesien</strong> einen Schuldenerlass<br />

ab, was zu einer Verstärkung sozialer Spannungen<br />

beiträgt.<br />

11


DAYAK: DIE GEMEINSCHAFT DES LANGHAUSES<br />

KULTUR UND GESCHICHTE DER DAYAK<br />

Dr. Jani Kuhnt-Saptodewo<br />

Dr. Jani Kuhnt-Saptodewo ist Kuratorin für Insulares Südostasien am Museum für Völkerkunde Wien. Ihre Dissertation<br />

beruhte auf einer Feldforschung in Mittelkalimantan, ebenso wie ihr preisgekrönter Film „Fluss des geliehenen Lebens“<br />

über die Totenrituale der Ngaju-Dayak, den sie neben ihrem Vortrag auf der Tagung zeigte.<br />

Einleitung<br />

Die Dayak waren früher berühmt (bzw. berüchtigt) für<br />

ihre Kopfjagd und galten deswegen als ‘primitiv’. Die<br />

Bezeichnung dayak besitzt bisher dementsprechend<br />

allgemein die Konnotation, „primitiv zu sein“. Das<br />

Wort dayak bedeutet ursprünglich „Binnenländer“.<br />

Daher wollten viele Angehörige der indigenen Bevölkerung<br />

in Kalimantan sich selbst nicht als dayak bezeichnen.<br />

Die meisten Dayak-Ethnien sind Anhänger<br />

ihrer indigenen Religion oder Christen. Die indigene<br />

Religion - allgemein wird sie auch als Animismus bezeichnet<br />

– ist bis heute nicht offiziell als eigenständige<br />

Religion anerkannt.<br />

Die indigenen Religionen gelten als kepercayaan,<br />

'Glaube' und nicht als agama, 'Religion'. Nach der Unabhängigkeitserklärung<br />

<strong>Indonesien</strong>s gab es mehrere<br />

Versuche von Seiten der Ethnien, indigene Religionen<br />

als agama anerkennen zu lassen. Die Regierung stellt<br />

allerdings Bedingungen, um die indigenen Religionen<br />

anerkennen zu können. Die Bedingungen umfassen<br />

unter anderem das Vorhandensein von kitab suci, ‘hei-<br />

Das Dorf Tumbang Malahui am Beringai<br />

12<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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ligen Schriften’ bzw. den Nachweis eines kanonischen<br />

Schrifttums, das die Priestergesänge, Ritualanleitungen,<br />

religiöse Verhaltensregeln und Mythen umfasst;<br />

ein Gotteshaus bzw. einen Tempel; ein Gesangbuch,<br />

das kanonisierte Gesänge enthält und einen Gottesdienst<br />

bzw. ein gemeinsames Beten einmal in der Woche.<br />

Außer diesen Bedingungen müssen die Anhänger<br />

einer indigenen Religion auch nachweisen, dass sie an<br />

einen Gott glauben und sich formell einer der Weltreligionen<br />

unterordnen.<br />

Der Anschluss der indigenen Religionen an eine der<br />

Weltreligionen wird von der Regierung als Lösung<br />

dafür angesehen, sich verfassungskonform zu verhalten,<br />

da die Verfassung nur Weltreligionen als monotheistisch<br />

einstuft und die indigen Anschauungen damit<br />

formal als monotheistisch eingliedert. Darüber<br />

hinaus entspricht dies auch dem Staatsprinzip, das seit<br />

der Staatsgründung von der Regierung angestrebt<br />

wird: „Einheit in der Vielfalt“, wobei die Betonung<br />

mehr auf der Einheit liegt - sowohl auf der politischen<br />

als auch auf der sozialen Ebene.<br />

Alle indigenen Religionen <strong>Indonesien</strong>s, die von der<br />

Republik anerkannt wurden, haben sich dem Hinduismus<br />

zugeordnet. Sie erklären damit, dass ihre Religion<br />

und Kultur bereits seit dem vierten Jahrhundert. n.<br />

Chr. vom Hinduismus beeinflusst wurden. In der Tat<br />

sind sie jedoch wenig mit dem indischen Hinduismus<br />

verwandt. Im Jahr 1980 gab ihnen die Regierung die<br />

offizielle Anerkennung innerhalb der Hindu-Religion,<br />

sie heißen Agama Hindu-Kaharingan. Kaharingan<br />

heißt ‘von selbst wachsen’, bzw. ‘von alleine leben’.<br />

Seither versuchten die einheimischen Akteure auf Kalimantan,<br />

die verstreuten indigenen Gruppen dieses<br />

Glaubens unter dem Oberbegriff Dayak zu vereinen.<br />

Heutzutage gewinnen die Dayak dadurch immer mehr<br />

Selbstidentifikation und Selbstwertgefühl, so dass der<br />

Begriff dayak für sie fast wertfrei geworden ist.<br />

Das Alltagsleben im Langhaus der Ngaju-Dayak<br />

Die Ngaju leben an den Oberläufen der Flüsse Barito,<br />

Kahayan, Kapuas, Katingan und Mentaya. Die Ngaju<br />

sind eine der größten Dayak-Ethnien, ihre Bevölkerung<br />

umfasst ca. 1,2 Millionen Menschen.<br />

Die meisten Dorfbewohner in Mittelkalimantan sind<br />

Subsistenzbauern, die ihre Felder in der umliegenden<br />

Umgebung haben. Fast in jedem alten Dorf steht ein<br />

betang oder Langhaus, das ursprünglich als erstes in<br />

diesem Dorf gebaut wurde. In einem betang leben<br />

etwa 10 bis 15 Familien. Diese Familien haben jeweils<br />

ein Zimmer bzw. ein Appartement, bilik oder bilek<br />

genannt. Im bilik leben manchmal zwei oder drei Generationen<br />

einer Familie. Wenn die Familie zu groß<br />

wird, baut sie für sich ein anderes Haus in der Nähe<br />

des Langhauses, meistens am Flussufer.<br />

Auch wenn es so aussieht, als lebten die Menschen im<br />

Langhaus wie in einer Kommune, ist dieser Eindruck<br />

falsch. Die Familien im betang verbringen den Alltag<br />

sehr „individualistisch“, sie teilen nichts miteinander.<br />

In der gemeinsamen Küche wird darauf geachtet, dass<br />

jeder nur seinen eigenen Bedarf abdeckt. Jede Familie<br />

hat zum Beispiel ihr Holz zum Kochen und ihre eigenen<br />

Gewürze. Niemand benutzt etwas von anderen.<br />

Wenn Gäste kommen, dann wird eine Familie beauftragt,<br />

für die Gäste zu kochen. Gäste, die die Verhältnisse<br />

kennen, besorgen etwas für sich und benutzen<br />

die gemeinsame Küche zum Kochen.<br />

Die Ngaju verbringen die Tage selten im betang. Fast<br />

alle – außer alten Leuten – gehen nach Sonnenaufgang<br />

zu ihren Feldern, 5 bis 10 km vom Dorf entfernt.<br />

Oft übernachten sie auch dort, wo sie auf den Feldern<br />

eine Hütte gebaut haben. Zum Dorf kommen sie in<br />

Falle einer Zeremonie oder zu einer Dorfbesprechung<br />

zurück. Wenn sie nicht auf dem Feld übernachten,<br />

kommen sie allerdings vor Sonnenuntergang zurück<br />

und verbringen die Abende im betang. Dort gibt es<br />

eine Halle, wo sie abends sitzen, gemeinsam plaudern,<br />

musizieren oder tanzen.<br />

Die Religion<br />

In den traditionellen Gemeinschaften ist das soziale<br />

Leben eng mit der Religion verbunden. Die indigene<br />

Religion wird daher als gelebte Religion bezeichnet.<br />

Aufbau eines Langhauses<br />

13


Die Ngaju bildeten in den 70er Jahren einen Großen<br />

Rat und schlossen sich formell der Hindureligion an,<br />

die in ihrer balinesischen Ausprägung bereits anerkannt<br />

war. Dem Großen Rat des Hindu-Kaharingan-<br />

Glaubens, Majelis Besar Agama Hindu-Kaharingan, ist<br />

es nach mehreren Anläufen und unter großen Anstrengungen<br />

gelungen, 1980 die offizielle Anerkennung<br />

durch das Religionsministerium in Jakarta zu<br />

erhalten. Seither ist der Große Rat der Agama Hindu-<br />

Kaharingan dabei, die Rituale mit den dazugehörigen<br />

Priestergesängen sowie die Mythen in der Gemeinsprache<br />

und in der Sakralsprache der Ngaju niederzuschreiben,<br />

um so aus einer auf mündlicher Tradition<br />

beruhenden Lokalreligion eine regionale, dem Anspruch<br />

nach sogar überregionale Buchreligion zu entwickeln.<br />

Dies ist ein Prozess, der noch andauert.<br />

Das wichtigste Buch bei den Kaharingan, das auf diese<br />

Weise entstand, heißt Panaturan, das die Schöpfungsmythen<br />

von der Entstehung der Welt und der<br />

Menschen enthält. Sie werden während des Totenfestes<br />

vorgetragen. Diese Schöpfungsmythen gelten<br />

als heilig und genaue Kenntnis davon war bisher den<br />

Priestern vorbehalten. Durch die Forderung der Regierung<br />

nach kitab suci, ‘heiligen Schriften’, waren die<br />

Priester zum ersten Mal gewillt, ihr Wissen der Öffentlichkeit<br />

preiszugeben. Dies ist eine sehr interessante<br />

Entwicklung, denn das priesterliche Wissen war bis<br />

dahin geheim und seine Niederschrift verboten. Man<br />

war davon überzeugt, dies würde von den Oberweltwesen<br />

mit dem Tod bestraft werden. Durch das Niederschreiben<br />

sind die Mythen jetzt auch der Allgemeinheit<br />

zugänglich, wobei im Panaturan nur eine<br />

kurze Zusammenfassung der Schöpfungsmythen in<br />

Gemeinsprache wiedergegeben wird. Dies war ein<br />

Versuch der Priester, so ihre sakrale Stellung zu behalten.<br />

Anfang 1996 kam ein neues Panaturan, eine ‘heilige<br />

Schrift’ heraus, die von zwei jungen Priestern geschrieben<br />

wurde. Sie haben die Schöpfungsmythen<br />

von verschiedenen Priestern gesammelt, die einzelnen<br />

Versionen diskutiert und zu einer Übereinstimmung<br />

gebracht. Im Unterschied zu der älteren Version ist<br />

jetzt alles in der Sakralsprache geschrieben und die<br />

Schöpfungsmythen werden bis ins Detail beschrieben.<br />

Die Sakralsprache fungiert wie ein Mantra, ein Zauberspruch.<br />

Sie besteht aus formelhaften metaphorischen<br />

Ausdrücken, die die Priester während ihre Lehre lernen<br />

müssen. Die Kenntnis der Bedeutung dieser formelhaften<br />

Ausdrücke ist den Priestern vorbehalten. In der<br />

alten Version brachten die Priester in der Gemeinsprache<br />

nur eine kurze Zusammenfassung der Schöpfungsmythen<br />

heraus, der gesamte Verlauf der Zeremonien<br />

wurde nicht niedergeschrieben. In der neuen<br />

Version ist der Verlauf der Zeremonien Satz für Satz in<br />

der Sakralsprache mit den gesamten formelhaften<br />

Ausdrücken abgedruckt. Ein Laie könnte somit eine<br />

Zeremonie veranstalten, indem er den Text vorliest.<br />

Das heißt aber noch nicht, dass er die Bedeutung der<br />

formelhaften Ausdrücke auch kennt, das heißt ob der<br />

telische Aspekt des Rituals erreicht wird, ist eine andere<br />

Frage. Die Veröffentlichung des neuen Panaturan erzeugt<br />

bei den älteren Priestern Unmut, da sie befürchten,<br />

ihre Machtstellung zu verlieren. Andererseits<br />

könnte die Veröffentlichung zur Herausbildung einer<br />

Kaharingan-Theologie beitragen.<br />

Nach Informationen des Großen Rats des Hindu-<br />

Kaharingan-Glaubens haben sich mehrere Dayak-<br />

Ethnien der Lehre des neuen Panaturan angeschlossen<br />

und wollen zur Vereinheitlichung der indigenen Glaubensvorstellungen<br />

beitragen. Der Große Rat steht jetzt<br />

vor der Aufgabe, aus den lokalen und regionalen Varianten<br />

zu einer überregionalen verbindlichen Kanonisierung<br />

in Glaubensfragen zu gelangen.<br />

Nach der Anerkennung der Kaharingan-Religion wurde<br />

1986 ein Theologisches Institut (Sekolah Tinggi<br />

Agama Hindu Kaharingan Tampung Penyang) in der<br />

Provinzhauptstadt Mittelkalimantans Palangkaraya<br />

gegründet. Hier werden Leute ausgebildet, die später<br />

Priester oder Dozenten werden sollen. Sie bekommen<br />

Unterricht im Hinduismus indischer Version und balinesischer<br />

Ausprägung. Die Kaharingan-Version wird<br />

nur von einem Basir namens Tian Agan und dem Vorsitzenden<br />

des Großen Rates, Lewis, unterrichtet. Die<br />

anderen Dozenten sind Balinesen und Dayak, die in<br />

Denpasar (Bali) im Theologischen Institut Universitas<br />

Hindu Dharma Indonesia wiederum in der indischen<br />

und balinesischen Ausprägung des Hinduismus ausgebildet<br />

wurden. So bekommen die Dayak noch wenig<br />

Gelegenheit, ihre eigene Theologie zu studieren und<br />

zu reflektieren.<br />

In den Schulen in Kalimantan wird neuerdings auch<br />

die Hindu-Kaharingan-Religion unterrichtet, aber die<br />

Lehrer verfügen noch nicht über Lehrbücher. Als ich<br />

fragte, was sie denn konkret unterrichten, antworteten<br />

sie, die Hindu Dharma-Religion (die offizielle balinesische<br />

Ausprägung). Nur bei ganz unterschiedlichen<br />

Aspekten bringen sie ihre eigene Version mit hinein 1 .<br />

Das Leben mit anderen Religionen<br />

Die Geschicke des Dorfes werden bei den Ngaju-<br />

Dayak nach dem Adat-Recht, also dem traditionellen<br />

Brauch geregelt. Adat wird als Gewohnheitsrecht verstanden,<br />

wobei der Mikrokosmos als die Widerspiegelung<br />

der Ordnung des Makrokosmos angesehen wird.<br />

1 Zum Beispiel schreibt die Kaharingan-Religion die Sekundärbestattung<br />

vor, bei der die Knochen nach der Verwesung des Fleisches gewaschen<br />

und im Knochenhaus aufbewahrt werden. In der balinesischen Religion<br />

wird eine Leichenverbrennung veranstaltet.<br />

14<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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Die Adat-Überlieferungen stehen aber nicht immer in<br />

Übereinstimmung mit dem christlichen bzw. islamischen<br />

Glauben, so dass sich die Christen und Muslimen<br />

meist aus dem Dorfrecht ausschließen.<br />

Wenn ein Angehöriger dieser Kultur also zu einer anderen<br />

Religion übertritt, kann das Irritationen im sozialen<br />

Leben mit sich bringen. Solche Menschen beteiligen<br />

sich nicht mehr am Leben der Dorfgemeinschaft.<br />

Beim Übertritt zu einer anderen Religion – zum Beispiel<br />

zum Christentum - wird oft von ihnen verlangt,<br />

dass sie ihre pusaka (ihre Familienerbstücke) in den<br />

Fluss werfen, d.h. die Ausdrucksformen und Symbole<br />

einer alten Tradition aufgeben. Wenn sie zum Islam<br />

übertreten, können sie nicht mehr mit den Kaharingan-Leuten<br />

in einem Dorf zusammen wohnen, da<br />

diese ja Schweinezucht betreiben. So bilden sie ihre<br />

eigenen islamischen Dörfer.<br />

Auf der anderen Seite können sich die Anhänger anderer<br />

Religionen bei bestimmten rituellen Anlässen nicht<br />

aus der Gemeinschaft ausschließen, wie folgendes<br />

Beispiel zeigt: Das größte Fest im Dorf ist das Totenfest,<br />

um die Seelen der Verstorbenen in die Oberwelt<br />

zu geleiten. Dieses Fest wird in jedem Dorf etwa alle<br />

fünf Jahre veranstaltet und kostet die Teilnehmer viel<br />

Geld. Nicht selten stürzen sie sich in Schulden oder<br />

müssen dafür ihr Hab und Gut verkaufen. Die Kaharingan-Gläubigen<br />

müssen dieses Fest veranstalten, weil<br />

ein Toter, der nicht in die Oberwelt geleitet wird, in<br />

der Dorfgemeinschaft herumirrt, ziellos weiterlebt und<br />

zu keinem ewigen Leben gelangen kann. Es ist also die<br />

Pflicht der Betroffenen, für ihre Eltern und Verwandten<br />

dieses Fest zu veranstalten; das heißt der Übertritt zu<br />

einer anderen Religion alleine ist noch keine Lösung,<br />

es sei denn, man überredet die Eltern, sich auch zum<br />

Christentum zu bekennen. Ein Christ, der für seine<br />

Eltern das Totenfest mitveranstalten muss, muss am<br />

rituellen Dorfleben für eine Zeit von etwa vier Monaten<br />

teilhaben und die Taburegelungen beachten.<br />

Vor der Unabhängigkeit <strong>Indonesien</strong>s mussten die Ngaju<br />

entweder Christen oder Muslime sein, um eine<br />

Schule besuchen zu können. Nach der Unabhängigkeit<br />

<strong>Indonesien</strong>s konnten sie ungeachtet der religiösen<br />

Zugehörigkeit die Schule besuchen. Doch konnten sie<br />

sich nach wie vor nicht zu ihrer Religion bekennen, da<br />

diese offiziell ja nicht anerkannt war. Als 1965 im Gefolge<br />

des Putsches vom 30. September das Militär<br />

gegen die Kommunisten vorging, musste sich in der<br />

Folgezeit jeder zu irgendeiner Religion bekennen, ‘Atheismus’<br />

wurde nicht mehr geduldet.<br />

Ein Dayak-Abgeordneter sagte zu mir: „Kami memang<br />

sudah merdeka, tapi belum bebas“ (‘Wir sind in der<br />

Tat schon unabhängig, aber noch nicht frei’). Er spielte<br />

auf die Tatsache an, dass Gebildete, Politiker, Beamte<br />

immer noch keine Zukunft haben, wenn sie sich<br />

zum Kaharingan-Glauben bekennen. Hochschulabsolventen<br />

haben nur eine Chance auf die Anstellung als<br />

Beamte, wenn sie entweder Muslime oder Christen<br />

sind. So sind im Dorf nur diejenigen Kaharingan-<br />

Anhänger, die als Bauern, als Waldarbeiter oder als<br />

Priester arbeiten. Die anderen lassen sich taufen, sobald<br />

sie sich eine Anstellung in der Stadt erhoffen. Ihr<br />

Identitätsgefühl hat sich zwar mittlerweile verstärkt,<br />

aber sie sehen immer noch keine Perspektive, wenn sie<br />

sich zu ihrem indigenen Glauben bekennen. So gibt es<br />

bisher keine Kaharingan-Leute in einer Machtposition.<br />

Die traditionsbewusste Dayak-Elite, auch Gouverneure<br />

(wie Tjilik Riwut 2 ), die die Bestrebungen zur Anerkennung<br />

der angestammten Religion unterstützten, waren<br />

alle entweder Christen oder Muslime.<br />

Das Leben im nationalen Gefüge<br />

Auch in der Politik findet man selten Dayak in einer<br />

Schlüsselrolle. In der Suharto-Ära wurden Gouverneure<br />

von der Zentralregierung eingesetzt. In Westkalimantan<br />

wurde aber unter Suharto kein einziger Dayak<br />

Gouverneur, in Mittelkalimantan erst 1984. Aber auch<br />

auf der nationalen Ebene hat kein Dayak eine Position<br />

im Kabinett, beim Militär oder anderen großen Institutionen<br />

inne. Hier zeigt sich wiederum die Vetternwirtschaft<br />

und das schlechte Management der Regierung<br />

der Neuen Ordnung.<br />

Jacques Bertrand, ein Politikwissenschaftler der Universität<br />

Toronto, gibt in seinem 2004 herausgegebenen<br />

Buch „Nationalism and Ethnic Conflict in Indonesia“,<br />

den Ausschluss ethnischer Gruppen aus der politischen<br />

Sandung (Knochenhaus) in Tumbang Malahui<br />

2<br />

Tjilik Riwut war Gouverneur der Provinz Mittelkalimantan von 1957 bis<br />

1967.<br />

15


Repräsentation als wichtigsten Grund für ethnische<br />

Konflikte an. Während der Neuen Ordnung verteilte<br />

der Suharto- Clan Holzeinschlagskonzessionen und<br />

Konzessionen für Goldminen unter sich und den Generälen.<br />

Die Konzessionen reduzierten die den Dayak<br />

zur Verfügung stehenden Landressourcen deutlich,<br />

denn sie betrafen oft ihre Gebiete, die sie dann nicht<br />

mehr betreten konnten. 3<br />

es Hoffnung, dass sich die ethnischen und religiösen<br />

Konflikte immer besser lösen lassen.<br />

In der Neuen Ordnung Suhartos wurde der Begriff<br />

„national“ instrumentalisiert. Im Namen des „Nationalen“<br />

wurden die Rechte und die Existenz der indigenen<br />

Völker missachtet, politische Repression betrieben<br />

und die Religionen politisiert. Die Ignoranz gegenüber<br />

Gewohnheitsrechten und der Lebensweise der jeweiligen<br />

einheimischen Bevölkerung spiegelt ein generelles<br />

Zivilisationsverständnis wider, das „Zivilisation“ mit<br />

„technischem Fortschritt“ gleichsetzt. Die zentral gesteuerte<br />

regionale Entwicklungsplanung verfolgte entsprechend<br />

diesem Zivilisationsverständnis das Ziel, die<br />

verschiedenen indigenen Völker <strong>Indonesien</strong>s mit dem<br />

technologischen Fortschritt zu „beglücken“, ob sie<br />

dies nun wollten oder nicht. Diese negative Haltung<br />

der Regierung zur „Rückständigkeit“ der lokalen Bevölkerung<br />

wird auch von der Mehrheit der Zuwanderer<br />

in bevölkerungsschwache Regionen „importiert“.<br />

Die Einstellung erschwert verständlicherweise das Zusammenleben<br />

der ethnischen Gruppen, wie wir bei<br />

den ethnisch motivierten Ausschreitungen von Dayak<br />

gegen Maduresen zwischen 1996 und 2001 beobachten<br />

konnten. Denn die Zuwanderer, die sich überlegen<br />

fühlen, sehen keinen Grund, sich der lokalen Bevölkerung<br />

anzupassen. Dementsprechend stellen – um nur<br />

ein Beispiel zu nennen – die traditionellen Haustiere<br />

der Dayak wie Schweine und Hunde eine Konfliktursache<br />

dar, da diese Tiere bei den Muslimen als unrein<br />

(haram) gelten.<br />

Die heutige indonesische Regierung hat nun die<br />

Chance, den Begriff „national“ neu zu definieren und<br />

dadurch den demokratischen Prozess voranzutreiben.<br />

Die Interpretation des Mottos „Einheit in Vielfalt“ sollte<br />

mehr Wert auf die Vielfalt legen und nicht wie bisher<br />

auf die Einheit, das heißt die Schaffung einer homogenen<br />

Nation. Darunter ist bisher die Javanisierung<br />

verstanden worden, denn für Javaner sind die Völker<br />

der Außeninseln in der Entwicklung zurückgebliebene<br />

Kinder, ihre Kultur- und Lebensweise wird als primitiv<br />

und rückständig abqualifiziert.<br />

<strong>Indonesien</strong> muss sich zu seiner Multikulturalität und<br />

seinem Multiethnizimus bekennen. Nur wenn die verschiedenartigen<br />

Kulturen und Religionen <strong>Indonesien</strong>s<br />

mit Respekt und Anerkennung behandelt werden, gibt<br />

3<br />

Zum Beispiel gehört in Westkalimantan in Ketapang in der Nähe von<br />

Pontianak 94% des Waldes der Holzindustrie.<br />

16<br />

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MINAHASA: STARKE FRAUEN UND STREITBARE HERRSCHER<br />

KULTUR UND GESCHICHTE DER MINAHASA<br />

Dr. Gabriele Weichart<br />

Dr. Gabriele Weichart ist Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und betreibt ein Forschungsprojekt<br />

zum Thema „Nahrung und Identität in Minahasa/Nord-Sulawesi“. Nach ihrer Promotion in Völkerkunde an<br />

der Universität Wien war sie am Institut für Ethnologie der Universität Heidelberg als wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

tätig, bevor sie nach Wien zurückkehrte.<br />

Pingkan und Matindas: Eine Minahasa-Geschichte<br />

An der Nordwestspitze der Insel Celebes, dem heutigen<br />

Sulawesi, in einem kleinen Dorf bei Tanawankgo<br />

im Gebiet der Tombulu, das in der heute als Minahasa<br />

bezeichneten Region liegt, lebte vor langer Zeit ein<br />

Ehepaar namens Pingkan und Matindas. Sie waren<br />

zwar nicht wohlhabend, aber dennoch glücklich und<br />

zufrieden mit ihrem Dasein, da sie einander sehr liebten<br />

und wann immer möglich beisammen waren. So<br />

bemerkten die anderen Dorfbewohner mit Erstaunen<br />

und Bewunderung, dass Pingkan mit unermüdlichem<br />

Fleiß und Seite an Seite mit ihrem Mann die Gärten<br />

und Felder bestellte, anstatt tagsüber im Dorf zu bleiben,<br />

wie viele andere Frauen dies taten. Nur zum Fischen<br />

konnte Pingkan ihren Mann nicht begleiten, da<br />

diese Tätigkeit nach traditionellem Verständnis den<br />

Männern vorbehalten blieb. Um die manchmal mehrere<br />

Tage dauernde Trennung etwas zu erleichtern,<br />

schnitzte Matindas eine kleine Skulptur als Abbild seiner<br />

Frau, die er überallhin mitnehmen konnte.<br />

Eines Tages jedoch war das Meer besonders unruhig<br />

und die Wellen so hoch, dass das Fischerboot kenterte.<br />

Matindas und seine Freunde konnten sich zwar<br />

schwimmend an Land retten, aber die Holzstatue war<br />

verloren. Sie trieb mit der Strömung das Ufer entlang<br />

bis ins benachbarte Reich des Raja von Bolaang Mongondow,<br />

wo sie von einem Fischer aufgelesen wurde.<br />

Dieser war von ihrer Schönheit so beeindruckt, dass er<br />

sie zum Raja brachte, der sofort beschloss, das lebende<br />

Vorbild für die Skulptur zu suchen und zur Frau zu<br />

nehmen.<br />

Als das Vorhaben des Raja Pingkan u. Matindas zu<br />

Ohren kam, verließen sie ihr Dorf und suchten Zuflucht<br />

in dem an der Südostküste liegenden Bezirk von<br />

Kema, im Grenzgebiet der Tonsea und Tolour. Der<br />

Raja ließ jedoch nicht locker, und schließlich spürten<br />

seine Gefolgsleute die neu gewählte Unterkunft des<br />

Ehepaares auf. Während Matindas sich versteckte,<br />

empfing Pingkan den Raja, wobei sie sich eine List<br />

ausgedacht hatte.<br />

Der Raja wollte am liebsten gleich zur Sache kommen<br />

und bat Pingkan um ihre Hand. Diese wusste, dass sie<br />

den Wunsch des Raja nicht einfach ungestraft ablehnen<br />

konnte und gab vor, in ihn einzuwilligen – aber<br />

unter der Bedingung, dass sie zuerst nach dem lokalen<br />

Brauch gemeinsam Betel kauen würden. Die Zutaten<br />

dafür, Arecanüsse und Betelblätter, sollte der Raja eigenhändig<br />

vom Baum pflücken. Von der Schönheit<br />

und dem Charme Pingkans bezaubert, willigte er in<br />

dieses Unternehmen ein. Dafür sollte er auch das<br />

prächtige fürstliche Gewand ablegen und gegen Matindas’<br />

Hose und Hemd tauschen. Als der Raja den<br />

Baum erkletterte, trat Matindas, nun als Raja verkleidet,<br />

hervor. Pingkan befahl den Soldaten, den vermeintlichen<br />

Matindas auf dem Baum zu töten. Diese<br />

ließen sich täuschen und führten den Befehl aus. Der<br />

Betrug blieb jedoch nicht lange unentdeckt, und Pingkan<br />

und Matindas mussten wieder die Flucht ergreifen.<br />

Dieser Anlass war der Anfang eines lange andauernden<br />

Krieges gegen Bolaang-Mongondow. Schließlich<br />

schlossen sich die bis dahin aufgesplitterten benachbarten<br />

Ethnien Tontemboan, Tombulu, Tonsea<br />

und Tolour das erste Mal zu einem Bündnis zusammen,<br />

um gemeinsam den Feind zu besiegen.<br />

Kultur und Geschichte „schreiben“<br />

Pingkan und Matindas zählen wohl zu den populärsten<br />

„historischen“ Persönlichkeiten in Minhasa, deren<br />

Schicksal bei Alt und Jung bekannt ist. Während meiner<br />

Feldforschung im Bezirk Kema wurde mir wiederholt<br />

diese Geschichte erzählt, wobei je nach Erzähler<br />

und Situation das Schwergewicht auf unterschiedlichen<br />

Passagen oder Handlungselementen lag. Manches<br />

fehlte, dafür wurde anderes hinzu gefügt. Dies<br />

war nichts Außergewöhnliches und entsprach den<br />

allgemeinen Merkmalen oraler Traditionen, in denen<br />

der Person des Erzählers ein relativ großes Maß an<br />

Flexibilität zugestanden wird. Vor allem im ländlichen<br />

17


Raum werden diese und ähnliche Geschichten auch<br />

heute noch zumeist mündlich überliefert, obwohl<br />

mittlerweile auch schriftliche Versionen vorliegen. Ihre<br />

Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften<br />

machten die Erzählungen zwar einer breiteren Öffentlichkeit<br />

in und außerhalb der Region zugänglich, jedoch<br />

um den Preis ihrer Fixierung und Homogenisierung.<br />

Durch ihre Verschriftlichung wird meist eine<br />

offizielle und daher quasi-autoritäre Version einer Geschichte,<br />

meist als Synthese mehrerer Erzählvarianten,<br />

geschaffen und gelegentlich in einen breiteren historischen<br />

Kontext gestellt bzw. werden Details ausgeführt,<br />

die in mündlichen Erzählungen oft fehlen. So steht<br />

zwar in der von H.M. Taulu herausgegebenen und mit<br />

140 Seiten auch recht umfangreichen Publikation<br />

„Bintang Minahasa“ (1987) das persönliche Schicksal<br />

der Liebenden Pingkan und Matindas im Vordergrund,<br />

Beschreibungen der zeitgenössischen politischen Umstände<br />

und Entwicklungen gewinnen jedoch im Laufe<br />

des Textes zunehmend an Bedeutung.<br />

Dennoch werden Texte, denen mündlich überlieferte<br />

Legenden oder Mythen als Grundlage gedient haben,<br />

nur bedingt als Quellen für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung<br />

anerkannt und erhalten nicht die<br />

selbe Wertigkeit wie so genannte „seriösere“ Schriftstücke<br />

zur kulturellen Vergangenheit einer Region. In<br />

der christlich dominierten Minahasa-Region wurden<br />

daher meist die Berichte der Missionare, Kolonialbeamten,<br />

Reisenden und ForscherInnen herangezogen.<br />

Somit war die Kultur- und Geschichtsschreibung bis<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts fest in westlichen (zumeist<br />

europäischen) Händen. In der Folge, und besonders<br />

seit der Unabhängigkeit <strong>Indonesien</strong>s nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg, übernahmen zunehmend<br />

Indonesier – nicht zuletzt Minahasa selbst – diese Aufgabe.<br />

Die in wissenschaftlichen Diskursen noch immer<br />

beliebten Dichotomien wie „lokal“ versus „global“<br />

und „schriftlich“ versus „oral“ verlieren in diesem Zusammenhang<br />

schließlich ihre klaren Abgrenzungen<br />

und lösen sich zunehmend auf. Lokale orale Traditionen<br />

werden verschriftlicht, und lokale Eliten schreiben<br />

Geschichtsbücher nach westlichen Standards. Dennoch,<br />

oder vielleicht gerade deshalb, bleibt weiterhin<br />

folgende zentrale Frage bestehen: Wer „schreibt“ für<br />

wen welche Kultur/Geschichte?<br />

Kultur- und Geschichtsschreibungen stellen notwendigerweise<br />

immer nur eine Auswahl dessen dar, das beschrieben<br />

werden könnte. Vor diese Herausforderung<br />

wurde ich auch beim Verfassen des vorliegenden Aufsatzes<br />

gestellt. Ich möchte daher in den folgenden<br />

Kapiteln einige Beispiele der Repräsentation herausgreifen,<br />

die nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht sondern<br />

meines Wissens nach auch im Selbstverständnis<br />

der lokalen Bevölkerung Beachtung verdienen. Als<br />

wesentliche Bausteine der Minahasa Kultur und/oder<br />

Geschichte sind diese auch untrennbar mit der ethnischen<br />

und kulturellen Identität der Minahasa Bevölkerung<br />

verbunden.<br />

In meinen Ausführungen greife ich sowohl auf wissenschaftliche<br />

Texte zurück, die meist versuchen, ein<br />

möglichst „objektives“ Bild zu vermitteln, als auch auf<br />

populäre Überlieferungen, die die Frage nach der<br />

Selbstrepräsentation deutlich machen. Nicht zuletzt<br />

stütze ich mich auf meine eigenen Erfahrungen als<br />

lernende und forschende Ethnologin in der Minahasa<br />

Region.<br />

Vereint in Minahasa<br />

Die Region Minahasa, die heute aus drei Kabupaten<br />

sowie den drei Verwaltungsstädten Manado, Bitung<br />

und Tomohon besteht, dürfte bis vor ca. 300 Jahren<br />

sowohl in politischer als auch kultureller Hinsicht alles<br />

andere als ein homogenes und geeintes Gebiet gewesen<br />

sein. Diese Erfahrung machten auch die Kolonialmächte<br />

– zuerst die Portugiesen und Spanier und ab<br />

Mitte des 17. Jahrhunderts die Niederländer –, denen<br />

die Aufsplitterung der Region in kleine, häufig verfeindete<br />

Fürsten- bzw. Häuptlingstümer ein Dorn im Auge<br />

war. Derartige Strukturen, oder auch mangelnde<br />

Strukturen, stellten ein Risiko für die Sicherheit wie<br />

auch für die Regierbarkeit des Landes dar. Die so genannten<br />

„Befriedungsmaßnahmen“, die zum Beispiel<br />

lokale Fehden und Praktiken wie die Kopfjagd unterbinden<br />

sollten, aber manchmal selbst nicht besonders<br />

friedlich vor sich gingen, waren daher nicht nur im<br />

Interesse der Bevölkerung sondern mindestens ebenso<br />

im Interesse der Kolonialregierung. Der erste nachweisliche<br />

Akt eines Zusammenschlusses zu einer gemeinsamen<br />

politischen Handlung zwischen den Oberhäuptern<br />

der Dorfverbände (Walak) der als Landstreek<br />

van Manado 4 bezeichneten Region war 1679 eine Vertragsunterzeichnung.<br />

Dabei verpflichteten sich die<br />

lokalen Chiefs zur Loyalität gegenüber der VOC 5 , die<br />

als Gegenleistung den Schutz vor Übergriffen und<br />

Tributforderungen des Raja von Bolaang gewähren<br />

sollte. Die historische Bedeutung dieses Dokuments<br />

liegt vor allem darin, dass es den Niederlanden den<br />

Weg zur kolonialen Herrschaft über das Gebiet von<br />

Manado öffnete.<br />

Die Bezeichnung Minahasa, die „sich vereinigen“,<br />

„eins werden“ bedeutet, schien jedoch in niederländischen<br />

Aufzeichnungen erst 1789, also mehr als hundert<br />

Jahre später auf. Während sie sich anfänglich nur<br />

auf den als Vertretung gegenüber der Kolonialregie-<br />

4<br />

Als Landstreek van Manado wurde das Gebiet des gegenwärtigen<br />

Minahasa bezeichnet. Es wird angenommen, dass der Name Manado<br />

ursprünglich von der vorgelagerten Insel Manado Tua (= Altes Manado)<br />

stammt. Auch heute wird in der Alltagssprache Manado oft synonym<br />

für Minahasa verwendet.<br />

5<br />

Vereinigte Ostindische Kompanie<br />

18<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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ung gebildeten Landraad der Häuptlinge bezog,<br />

schloß sie einige Jahrzehnte später als geografischethnische<br />

Markierung die gesamte Region sowie deren<br />

Bevölkerung mit ein. Der politische Einigungsprozess<br />

spielte sich wohl in erster Linie zwischen den einzelnen<br />

Walak bzw. ihren Anführern ab, und ethnolinguistische<br />

Grenzen dürften dabei zumindest anfänglich<br />

nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben.<br />

Populärgeschichtliche Versionen beziehen sich jedoch<br />

gerade auf die Letztgenannten und vertreten dabei<br />

eine selbst in der ethnologischen Wissenschaft bis Mitte<br />

des 20. Jahrhunderts durchaus übliche Sichtweise<br />

der Gleichstellung linguistischer und politischer Einheiten.<br />

Demzufolge bezeichnet man oft auch heute noch<br />

die acht verschiedenen Sprachgruppen in Minahasa<br />

als Stämme, die ihren ursprünglich autonomen Status<br />

zu Gunsten eines größeren und nach außen hin stärkeren<br />

politischen Verbandes aufgegeben haben. Wie<br />

die lokale Geschichte von Pingkan und Matindas erzählt,<br />

so soll die militärische Bedrohung durch das<br />

benachbarte Fürstentum Bolaang-Mongondow bereits<br />

in vorkolonialer Zeit ausschlaggebend gewesen sein<br />

für das Bündnis zwischen vier benachbarten „Stämmen“.<br />

Die Statuen von Toar und Lumimuut auf dem Bukit Kasih<br />

Das Geschichtenrepertoire der Minahasa hat jedoch<br />

nicht nur Erklärungen für die geglückte Verbindung<br />

zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen zur<br />

Hand, sondern auch solche, die Aufschluss geben über<br />

ihre ursprüngliche Aufsplitterung und Trennung. Die<br />

wohl bekannteste und am meisten zitierte Geschichte<br />

in diesem Zusammenhang kann als die Schöpfungsmythe<br />

der Minahasa schlechthin gesehen werden. Die<br />

Hauptakteure darin sind das „Urelternpaar“ aller Minahasa,<br />

nämlich Lumimuut und Toar, die in grauer<br />

Vorzeit als erste Menschen in dieser Region gelebt<br />

haben sollen. Aus deren unwissentlich inzestuöser<br />

Mutter-Sohn-Beziehung gingen je nach Überlieferung<br />

drei bzw. vier Kinder hervor. Als diese erwachsen waren,<br />

wurde das umliegende Land, ausgerichtet nach<br />

den Himmelsrichtungen, unter ihnen aufgeteilt mit<br />

der Anweisung, dass sie und ihre Nachfahren in diesem<br />

Territorium leben sollten. Aufgrund der relativen<br />

Isolation hätten sich daraufhin unterschiedliche Sprachen<br />

und Kulturen ausgebildet (Tombulu, Tontemboan,<br />

Tonsea und ev. Tolour). Dennoch bestand ein gewisses<br />

Zusammengehörigkeitsgefühl, die Vorstellung<br />

einer gegenseitigen Komplementarität, die zum Beispiel<br />

in gemeinsamen Ritualen seinen Ausdruck fanden.<br />

Dieser Aspekt, vor allem aber die vermeintliche<br />

genealogische Nähe, lassen die spätere Wiedervereinigung<br />

als eine geradezu natürliche Entwicklung erscheinen,<br />

als eine Quasi-Rückkehr in einen früheren<br />

Zustand, zu den „Wurzeln“ sozusagen. Eine derartige<br />

Geschichtsdarstellung mit dem Fokus auf Abstammung<br />

rechtfertigt die Bezeichnung der Sprachgruppen<br />

als Stämme. Der Stein von Pinawetengan, der<br />

Schauplatz der territorialen Aufteilung zwischen Lumimuuts<br />

Nachkommen im Gebiet von Tontemboan,<br />

gilt noch heute als Heiligtum, dessen kulturelle und<br />

spirituelle Bedeutung selbst von überzeugten Christen<br />

nicht angezweifelt wird. Mittlerweile ist er auch zu<br />

einem touristischen Wahrzeichen avanciert, und ein<br />

Besuch dieses Ortes gehört zum Pflichtprogramm einer<br />

Minahasa-Reise.<br />

In den letzten Jahren hat der Bezirk noch eine weitere<br />

Attraktion dazu bekommen und zwar den so genannten<br />

Bukit Kasih. Dabei handelt es sich um einen nahe<br />

gelegenen Berg in der umliegenden Hügelkette, der<br />

zu einer Art „ökumenischen Pilgerstätte“ um- und<br />

ausgebaut worden ist. Es handelt sich dabei in erster<br />

Linie um eine Art „Tempelanlage“, da für jede in der<br />

Provinz offiziell vertretene und anerkannte Weltreligion<br />

(agama) ein entsprechender „Tempel“ 6 in Kleinformat<br />

errichtet worden ist. Der Besucher kann auf einem<br />

betonierten Pfad zwischen den einzelnen Stätten umherwandern<br />

bzw. den Hügel besteigen. Die Tatsache,<br />

dass dem Christentum – im Gegensatz zu den anderen<br />

Religionen – zwei Kirchen zugestanden worden sind<br />

und eine Differenzierung zwischen Katholiken und<br />

Protestanten als notwendig und wünschenswert erachtet<br />

worden ist, spiegelt zweifelsohne die lokalen und<br />

aktuellen gesellschaftspolitischen Prioritäten wider.<br />

Dennoch wird die offizielle Bedeutung darin gesehen,<br />

einen Ort der Begegnung und des Austausches zwischen<br />

Angehörigen verschiedenen Glaubens geschaffen<br />

zu haben, der das Verbindende über das Trennende<br />

stellen will. Die zugrunde liegende Einigkeit bzw.<br />

Einheit soll durch den Bezug auf die gemeinsamen<br />

Wurzeln aller Minahasa vermittelt werden: Überlebensgroße<br />

Statuen der Urahnen Toar und Lumimuut<br />

begrüßen die Besucher bei der Ankunft.<br />

Zwar können der Legende nach nur etwa die Hälfte<br />

der in Minahasa vertretenen Sprachgruppen ihre Ab-<br />

6<br />

Darunter befinden sich eine römisch-katholische und eine evangelische<br />

Kirche, eine Moschee sowie ein buddhistischer und ein hinduistischer<br />

Tempel.<br />

19


stammung auf ein gemeinsames Urelternpaar zurückführen,<br />

aber in der Praxis wird dies nicht so eng gesehen.<br />

Auch darin war die evangelische Kirche nicht<br />

unbeteiligt, die es verstand, sich lokaler Traditionen zu<br />

ihrem eigenen Vorteil zu bedienen. So wurden in den<br />

Missionsschulen Geschichten wie diejenige von Toar<br />

und Lumimuut als kulturelles Erbe aller Minahasa gelehrt<br />

und die Idee einer gemeinsamen, wenn auch<br />

fiktiven, Abstammung über die ursprünglichen<br />

„Stammesgrenzen“ hinaus getragen. Die Einheit Minahasas<br />

wird auch heute noch, in Zeiten zunehmender<br />

separatistischer Bewegungen, als wertvolles Gut<br />

hoch gehalten, und die Lesearten der Geschichte und<br />

Geschichten werden in diesem Sinne ausgewählt bzw.<br />

adaptiert. Bukit Kasih kann demnach nicht nur als<br />

Sinnbild für religiöse Toleranz und Gleichberechtigung<br />

verstanden werden, sondern auch – und vor allem in<br />

Verbindung mit dem nahe gelegenen Watu Pinawetengan<br />

- als Symbol für eine geeinte Minahasa Identität.<br />

Aksi und nasi<br />

Ein über die Grenzen Minahasas hinaus bekanntes<br />

Sprichwort lautet: „Biar kalah nasi asal jangan kalah<br />

aksi“, was sinngemäß wie folgt übersetzt werden<br />

kann: „Es ist nicht so schlimm, keinen Reis zu haben,<br />

wenn es nur genügend Action gibt!“ Dieser Satz wird<br />

häufig und gerne zitiert und zwar vor allem von Minahasa<br />

selbst, wenn es darum geht, das Charakteristische<br />

ihrer Gesellschaft auf den Punkt zu bringen. Demnach<br />

nimmt aksi eine zentrale Rolle ein. Unter diesem Begriff<br />

werden vor allem Feste, Feiern und andere aufwendige<br />

oder ereignisreiche soziale Veranstaltungen<br />

subsummiert, die man sich aus der Sicht vieler Minahasa<br />

nicht entgehen lassen sollte. Dabei geht es nicht<br />

zuletzt um sehen und gesehen werden, und viele Anwesende<br />

sind ein Zeichen für die Qualität und Bedeutung<br />

des Ereignisses. Diese Haltung gilt nicht nur für<br />

StadtbewohnerInnen, denn auch der ländliche Raum<br />

ist in dieser Hinsicht alles andere als „beschaulich“,<br />

und so mancher musste sich schon gute Ausreden<br />

einfallen lassen, um seinen sozialen Kalender auf ein<br />

erträgliches Maß einzuschränken. Schließlich will und<br />

darf man potentielle Gastgeber nicht beleidigen, denn<br />

wann immer es nur irgendwie möglich scheint, sollten<br />

Einladungen angenommen werden und der Gast zumindest<br />

für eine kurze Weile erscheinen. Dabei gilt es,<br />

im Gegensatz zu westlichen Gepflogenheiten, nicht als<br />

ausgesprochen unhöflich, nur kurze Zeit zu verweilen<br />

und sich im Anschluss an das Mittag- oder Abendessen<br />

sofort zu verabschieden.<br />

Womit wir schon beim zweiten wichtigen Wort hier<br />

wären und zwar bei nasi. Damit wird genau genommen<br />

der gekochte essfertige Reis bezeichnet. Da Reis<br />

mittlerweile quer durch alle Gesellschaftsschichten den<br />

ersten Platz unter den Grundnahrungsmitteln in Minahasa<br />

einnimmt 7 , wird der Begriff in der Umgangssprache<br />

oft synonym für Essen im Allgemeinen verwendet.<br />

Wenn zum Beispiel ein Gastgeber mit den<br />

Worten „Tambah nasi!“ („Nimm dir noch Reis!“) seinen<br />

Gast zum Zugreifen ermuntert, meint er tatsächlich<br />

sämtliche dargebotene Speisen. So ist auch das<br />

eingangs zitierte Sprichwort in einem weiteren Sinn zu<br />

verstehen. Nun darf man keineswegs glauben, dass in<br />

Minahasa Feiern und Essen zwei separate Bereiche<br />

wären, die nichts miteinander zu tun hätten, und dass<br />

letzterem geringe gesellschaftliche Bedeutung zuerkannt<br />

würde. Ganz im Gegenteil! Die Region ist nicht<br />

nur für seine lokalen Spezialitäten bekannt, sondern<br />

auch dafür, dass ihre Bewohner gerne und viel essen<br />

und dass die Idee der Gastfreundschaft untrennbar mit<br />

dem Anspruch einer dem jeweiligen Anlass und den<br />

Möglichkeiten entsprechenden großzügigen Bewirtung<br />

verbunden ist. Dies entspricht durchaus auch<br />

dem Selbstbild der Minahasa, die das Erstaunen –<br />

manchmal auch Entsetzen – der Touristen und anderer<br />

Besucher über Quantität und Qualität von Speisen oft<br />

amüsiert beobachten und eventuell mit einem Augenzwinkern<br />

„noch ein Schäuflein nachlegen“. 8<br />

Gilt es schon im Alltag als Qualitätskriterium, gut und<br />

reichlich zu essen, und eine leere Schüssel als Zeugnis<br />

von Armut oder extremer Nachlässigkeit, so wird dieses<br />

Ideal bei besonderen Anlässen zur unbedingten<br />

Forderung erhoben. Von der relativ kleinen Zusammenkunft<br />

im erweiterten Familienkreis bis zur hochoffiziellen<br />

öffentlichen Veranstaltung mit mehreren hundert<br />

Teilnehmern wird dem leiblichen Wohl der Gäste<br />

höchste Priorität zugewiesen. Entscheidende Faktoren<br />

bei der Bewirtung sind einerseits der Grad der sozialen<br />

Nähe bzw. Distanz zwischen Gastgeber und Gästen,<br />

andererseits der Status des Anlasses. Während „Fremde“<br />

selbst bei kurzen und unangemeldeten Besuchen<br />

das Gastrecht genießen, das eine möglichst prestigeträchtige<br />

Bewirtung einschließt (Bier, Coca Cola, Kekse<br />

oder sogar eine ganze Mahlzeit), ist ein formeller<br />

Rahmen erforderlich für ähnlich großzügige Darbietungen<br />

innerhalb der Familie und im engen Bekanntenkreis.<br />

Selbst private Anlässe wie zum Beispiel Geburtstage<br />

werden daher einem relativ strengen Zeremoniell<br />

unterworfen, das für Spontaneität wenig Raum<br />

lässt. Dabei stehen weniger die tatsächlichen Bedürfnisse<br />

der zu Feiernden (z.B. das „Geburtstagskind“)<br />

oder der einzelnen Gäste im Vordergrund als das mit<br />

„erfolgreichen“, d.h. auch investitionsträchtigen, Festen<br />

einhergehende Prestige. Daher darf neben und<br />

nach dem reichlichen Mahl die musikalische „Unter-<br />

7<br />

Noch vor 1-2 Generationen teilte sich Reis zumindest in quantitativer<br />

Hinsicht und unter der ländlichen sowie einkommensschwächeren<br />

Bevölkerung seine Vormachtstellung mit einer Reihe anderer stärkeha l-<br />

tiger Produkte, wie z.B. Sago, Maniok oder Kochbananen.<br />

8<br />

Besonders die Aussicht, Hunde- oder Rattenfleisch auf seinem Teller<br />

serviert zu bekommen, wirkt bei so manch Reisendem als Appetitzügler.<br />

20<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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malung“ auf keinen Fall fehlen. Dazu bedient man sich<br />

in erster Linie der sogenannten „Discos“, d.h. riesiger<br />

Verstärkeranlagen, die nicht nur die geladenen Gäste<br />

sondern letzten Endes das ganz Dorf mit vorwiegend<br />

indonesischer Pop- und Schlagermusik unterhalten<br />

sollen.<br />

Die heute wohl aufwendigsten Feste mit ausgeprägtem<br />

Ritualcharakter, bei denen Privates mit Öffentlichem<br />

vereint wird, sind Hochzeiten. Während in den<br />

Städten schon aufgrund räumlicher und organisatorischer<br />

Notwendigkeiten anstelle einer klassischen<br />

Hochzeitstafel meist auf eines der vielfältigen Angebote<br />

großer Restaurants und Hotels zurückgegriffen<br />

wird 9 , ist es für viele DorfbewohnerInnen nicht nur<br />

eine Frage des Geldes sondern auch der Ehre und Traditionsverbundenheit,<br />

für den Sohn oder die Tochter<br />

eine große Hochzeit im eigenen Haus zu veranstalten.<br />

Eine Gästeliste von 200 bis 300 Personen ist bei solchen<br />

Anlässen keine Seltenheit. Neben anderen Aufgaben<br />

stellen erwartungsgemäß die Vor- und Zubereitungen<br />

des Hochzeitsmahls große Anforderungen an<br />

die finanziellen und menschlichen Ressourcen und an<br />

die organisatorischen Fähigkeiten der Gastgeber.<br />

Schweinefleisch in verschiedenen Kochvarianten zählt<br />

nach wie vor zu den am meisten geschätzten Speisen,<br />

und die Anzahl der geschlachteten Schweine bzw.<br />

deren Gewicht ist ein entscheidender Maßstab für die<br />

Bewertung des Status des Gastgebers sowie seiner<br />

Bereitschaft zur Redistribution seines Vermögens anlässlich<br />

eines großen Festes.<br />

stellen. Die Beziehung zwischen groß angelegten Festen,<br />

einer an Verschwendung grenzenden Darstellung<br />

sowie dem Verbrauch von Reichtum und dem Status<br />

des Gastgebers gab es bereits in vorchristlicher Zeit.<br />

Die potlatch-artigen „Verdienstfeste“ (foso), bei denen<br />

wertvolle Objekte, wie z.B. Keramik, zerstört wurden,<br />

stellten eine ritualisierte Wiederholung einer von der<br />

Urgöttin Karema vollbrachten Opferhandlung zur Befestigung<br />

der Erde und Erlösung der Menschen dar.<br />

Für den Gastgeber war dies eine Möglichkeit des sozialen<br />

und spirituellen Aufstiegs, der sich bereits zu Lebzeiten<br />

in einer Akkumulation von Prestige und einer<br />

höheren Position in der lokalen Hierarchie bemerkbar<br />

machte und ihm nach seinem Tode den Rang eines<br />

vergöttlichten Ahnen sichern sollte.<br />

Ostentative Demonstrationen von Besitz und Ansehen<br />

mögen vielleicht nicht gerade einem christlichen Ideal<br />

von Bescheidenheit und selbstlosem Geben entsprechen,<br />

dennoch sind heutzutage die Kirchen und ihre<br />

Vertreter auch bei solchen Anlässen in den vorderen<br />

Reihen vertreten. Dies ist nicht weiter verwunderlich,<br />

da es kaum ein relevantes soziales Ereignis geben dürfte,<br />

bei dem nicht der kirchliche, oder zumindest christliche,<br />

Beistand gesucht wird. Die Vorliebe der Minahasa<br />

für eine Art gelenkter Geselligkeit kommt auch den<br />

Zielen der Kirchen entgegen, die in der Gemeindearbeit,<br />

in Gebetszirkeln, aber auch in ihrem Unterhaltungsprogramm<br />

den christlichen Glauben nachhaltig<br />

sozial verankern können. Bei den meisten dieser Veranstaltungen<br />

spielt auch das gemeinsame Mahl eine<br />

wichtige Rolle. Makan dan minum bersama (gemeinsam<br />

essen und trinken), die Botschaft der Gleichheit<br />

und Gemeinschaft, wird dabei als zentrales Motiv in<br />

den Vordergrund gestellt.<br />

Individualismus in der Gemeinschaft<br />

Ehrengäste beim Festmahl anlässlich einer Taufe in Waleo<br />

Schon alleine deshalb, neben anderen Spezifika, können<br />

wir bei Hochzeiten, Taufen oder anderen ausgiebig<br />

gefeierten Anlässen trotz ihrer westlich-christlichen<br />

Ausprägungen einen traditionellen Hintergrund fest-<br />

9<br />

Solche Hochzeitsfeiern, die vor allem in der Hauptstadt Manado ausgetragen<br />

werden, bestehen üblicherweise aus einem offiziellen und<br />

durch Reden und Gebete stark strukturierten Empfang mit anschließendem<br />

Buffet. In der Regel dauert die ganze Veranstaltung nicht viel<br />

länger als zwei Stunden, was in vor allem in bemerkenswertem Gegensatz<br />

zu den im ländlichen Raum sich über den ganzen Tag und in die<br />

Nacht hinein erstreckenden Feierlichkeiten steht.<br />

„Einheit“ und „Gemeinsamkeit“ sind wesentliche<br />

Themen in der Repräsentation von Geschichte und<br />

Kultur der Minahasa und folglich auch in meinen vorangegangenen<br />

Ausführungen. Wir finden dieses Ideal<br />

sowohl in Mythen und wissenschaftlichen Berichten als<br />

auch in Beschreibungen des Alltags und der Festtage,<br />

sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart,<br />

sowohl auf kollektiver als auch individueller Ebene<br />

wieder. Die Geschichten von Lumimuut und Toar<br />

sowie von Pingkan und Matindas weisen darauf hin,<br />

dass im Falle der verschiedenen Sprachgruppen in<br />

Minahasa eine Einheit zwar genetisch und historisch<br />

bedingt sein mag, aber erst durch die bewusste Zusammenarbeit<br />

realisiert werden kann. Für viele Minahasa<br />

ist diese Erkenntnis auch heute noch wesentlicher<br />

Bestandteil ihres Alltags. Die als Mapalus bezeichneten<br />

sozialen Netzwerke zur reziproken Unterstützung haben<br />

zwar in den letzten Jahrzehnten im Arbeitsumfeld<br />

etwas an Bedeutung verloren, aber bei der Organisati-<br />

21


on von Festen wird noch gerne und häufig von ihnen<br />

Gebrauch gemacht. So sind selbst relativ wohlhabende<br />

Minahasa im Falle einer „traditionellen“ Dorfhochzeit<br />

auf die tatkräftige bzw. materielle Unterstützung<br />

aus ihrem sozialen Umfeld angewiesen, und die meisten<br />

weniger finanzkräftigen Haushalte würden ohne<br />

Zugriffsmöglichkeiten auf das Mapalus-System schon<br />

durch soziale Verpflichtungen kleineren Ausmaßes an<br />

die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen.<br />

Dennoch wäre es falsch anzunehmen, dass die Bereitschaft<br />

zu Kooperation und kollektivem Handeln das<br />

Streben nach persönlichem Erfolg überschatten würde.<br />

Die Geschichte der Minahasa Gesellschaft zeigt<br />

gerade das Gegenteil auf. Die traditionellen egalitären<br />

Strukturen ließen einerseits ein relatives Gleichheit s-<br />

ideal zu, boten andererseits jedoch ehrgeizigen und<br />

fähigen Individuen die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs<br />

als primus inter pares. Einrichtungen der Kolonialzeit,<br />

wie der Verwaltungsapparat und das Schulsy s-<br />

tem, förderten derartige Entwicklungen. Westliche<br />

Bildung und Berufsfelder eröffneten neue Wege zu<br />

einer sozialen Anerkennung persönlicher Leistungen<br />

und somit zu einer erweiterten Differenzierung innerhalb<br />

der Gesellschaft.<br />

Tanzgruppe in Tomohon. Kabasaran bzw. Cakalele ist ein traditioneller<br />

Kriegstanz der Minahasa, der heute bei vielen Feierlichkeiten als Willkommensgruß<br />

für die Gäste aufgeführt wird.<br />

Auch in den Minahasa-Sagen und -Mythen stehen oft<br />

einzelne Personen im Mittelpunkt und bestimmen<br />

durch ihre Handlungen das Geschick ihres Dorfes oder<br />

Region, wie auch das Beispiel von Pingkan und Matindas<br />

zeigt. Dabei werden nicht nur „klassische“ Tugenden<br />

wie Liebe, Treue, Fleiß und Tapferkeit belohnt und<br />

von den Lesern oder Zuhörern bewundert, sondern so<br />

manchem Helden gelingt sein Vorhaben durch<br />

Schlauheit und List, wobei die Ehrlichkeit gelegentlich<br />

auf der Strecke bleibt. So erzählt man sich, dass ein<br />

Mann namens Tumileng die ersten Reiskörner von den<br />

Göttern im Himmel gestohlen und auf die Erde zu den<br />

Menschen geschmuggelt hätte. Auch Pingkan gelang<br />

es durch List und Täuschung, sich und ihren Ehemann<br />

vor dem Raja von Bolaang-Mongondow zu retten. Wie<br />

man sieht, sind derartige Fähigkeiten nicht nur Männern<br />

zugeschrieben worden, und auch im profanen<br />

Leben wird Frauen durchaus zugetraut, sich zu behaupten<br />

und im Alltag sowie in Krisensituationen „ihren<br />

Mann zu stellen“. Die schöne, treue und äußerst<br />

mutige Pingkan steht in der kollektiven Erinnerung der<br />

Minahasa im Beliebtheitsgrad vor Matindas, und ihr<br />

Name an erster Stelle im Titel ist vielleicht mehr als<br />

bloß stilistische Präferenz - eine starke Frau, die auch<br />

streitbaren Herrschern die Stirn bietet.<br />

Ausgewählte Literaturverweise<br />

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bei den Minahasa (Nord-Sulawesi, <strong>Indonesien</strong>). Basel:<br />

Ethnologisches Seminar der Universität u. Museum der<br />

Kulturen (Basler Beiträge zur Ethnologie, Bd. 41).<br />

WEICHART, G. 2004. Minahasa Identity: A Culinary<br />

Practice. Antropologi Indonesia, Special Volume, 55-<br />

74<br />

22<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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PAPUA: HOFFNUNG EINES BEDROHTEN VOLKES<br />

KULTUR UND GESCHICHTE WEST-PAPUAS<br />

Uwe Hummel<br />

Uwe Hummel studierte in Hamburg, Südafrika und Amsterdam Theologie. Für die Vereinigte Evangelische Mission<br />

(VEM) arbeitete er sieben Jahre lang auf Nias in <strong>Indonesien</strong>. Seit 2004 ist er Koordinator des West-Papua-Netzwerks<br />

mit Sitz in Wuppertal.<br />

“West Papua“ ist die international gängige Bezeichnung<br />

für die östlichste, an Papua Nugini grenzende<br />

Region <strong>Indonesien</strong>s, dem ehemaligen Nederlands Nieuw-Guinea.<br />

Nachdem dieses Gebiet 1963 der Republik<br />

<strong>Indonesien</strong> einverleibt wurde, hieß die neue Provinz<br />

zunächst Irian-Barat (West-Irian), später Irian Jaya und<br />

seit 2000 Papua.<br />

Gegenwärtig ist West Papua in zwei Provinzen aufgeteilt:<br />

die Provinz Papua mit Hauptstadt Jayapura und<br />

die Provinz „Irian Jaya Barat“ (West-Irian Jaya) mit<br />

Hauptstadt Manokwari. Diese im Jahre 2003 vollzogene,<br />

sehr umstrittene Teilung West Papuas wurde am<br />

11. November 2004 vom indonesischen Verfassungsgericht<br />

für rechtmäßig erklärt, entbehrt aber bis heute<br />

einer gesetzlichen Grundlage. Die Gründung einer<br />

dritten Provinz, „Irian Jaya Tengah“ (Mittel-Irian Jaya)<br />

mit Hauptstadt Timika konnte bislang von der Bevölkerung<br />

verhindert werden. Seit Anfang diesen Jahres<br />

gibt es aber immer wieder Stimmen von höchster Stelle<br />

in Jakarta, welche West Papua in bis zu fünf Provinzen<br />

aufteilen wollen. Der Vorwand ist effizientere Verwaltung;<br />

in Wirklichkeit geht es aber nicht um das<br />

Wohl der Papua, sondern um Ressourcen und Macht.<br />

Bei dieser „Teile-und-Herrsche-Politik“ Jakartas machen<br />

leider auch einige opportunistische indigene Papua<br />

mit.<br />

Bevölkerung<br />

Gegenwärtig leben 2,4 Millionen Menschen in West<br />

Papua, davon etwa 60% indigene Papua, die sich<br />

deutlich von anderen indonesischen Völkern unterscheiden.<br />

Sie sind dunkelhäutig und kraushaarig; ein<br />

melanesisches und kein asiatisches Volk. Hinzu kommen<br />

Siedler (pendatang) aus anderen Teilen <strong>Indonesien</strong>s.<br />

Im Jahre 1978 wurde das Gesetz zur sogenannten<br />

Transmigrasi erlassen, dass eine Umsiedlung von<br />

Menschen aus den überbevölkerten Regionen Javas<br />

und Maduras u. a. nach West Papua vorsah. In den<br />

folgenden 20 Jahren wurden über 300.000 Westindonesier<br />

nach West Papua umgesiedelt. Neben dieser<br />

organisierten Transmigrasi, die nach der Suharto-Ära<br />

stark abnahm und schließlich gestoppt wurde, ziehen<br />

immer noch Tausende auf eigene Initiative nach West<br />

Papua, hauptsächlich in die großen Städte. In Jayapura,<br />

Sorong, Manokwari, Merauke, Biak und wahrscheinlich<br />

auch in Timika sind Papua bereits in der<br />

Minderheit. Im Hochland ist das anders. Insgesamt<br />

liegt der Anteil der Siedler an der Bevölkerung wahrscheinlich<br />

bei 40%. Dies kann aber nicht belegt werden,<br />

weil <strong>Indonesien</strong> aus angeblich noblen Motiven<br />

keine rassenspezifischen Angaben in die Statistik aufnimmt.<br />

Nur aus den Angaben zur Religionsangehörigkeit<br />

lassen sich Rückschlüsse ziehen. 10<br />

Neuerdings kommen viele Transmigranten aus Sulawesi,<br />

vor allem Muslime aus Makassar, aber auch<br />

christliche Toraja. Insgesamt beherrschen die Siedler<br />

fast alle Wirtschaftsbereiche. Ich hörte auf meiner letzten<br />

Reise, dass sogar der Verkauf von Betelnuss (sirih<br />

dan pinang) am Straßenrand, bisher von den Mama<br />

Papua betrieben, von der Übernahme von Siedlern<br />

bedroht ist. Auch die Investitionen im Rahmen der<br />

Sonderautonomie kommen überwiegend den Siedlern<br />

und nicht den indigenen Papua zugute. Die Angst vor<br />

völliger Entmündigung, dem Verlust kultureller Identität,<br />

ja dem Aussterben ist bei indigenen Papua allgegenwärtig.<br />

Geschichte<br />

Die Papua haben, entgegen den gängigen nationalen<br />

Geschichtsdarstellungen, ein eigenes, kritisches Verständnis<br />

ihrer Geschichte. Wahrscheinlich ist gerade<br />

dies, was Jakarta am allermeisten fürchtet und bekämpft.<br />

Als der südafrikanische Erzbischof Desmond<br />

Tutu im Februar 2004 eine Überprüfung des Referendums<br />

von 1969 forderte, also des sogenannten Act of<br />

free Choice (die Papuas sagen: Act of no Choice), bei<br />

dem 1.022 Wahlmänner unter Zwang für den endgül-<br />

10<br />

Papua dalam Angka (Papua in Figures), 2002, Badan Pusat Statistik<br />

Provinsi Papua, Jayapura, 2003, S. 197.<br />

23


tigen Anschluss an <strong>Indonesien</strong> stimmten, war Jakarta<br />

sehr verstimmt. Regelrechte Panik entstand vor drei<br />

Monaten, als auch noch eine Gruppe USamerikanischer<br />

Parlamentarier den Review des Act of<br />

Free Choice verlangten. Gerüchte und Heilserwartungen<br />

überschlugen sich. Unter den Siedlern wuchs die<br />

Angst vor einer Vertreibung nach der „Befreiung Papuas“<br />

durch die USA, die UNO oder gar durch den<br />

christlichen Westen. Das Militär nutzte wie immer die<br />

Gelegenheit, seine Position in West Papua zu verstärken.<br />

Zu der bevorstehenden Erscheinung einer vom niederländischen<br />

Parlament in Auftrag gegebenen, 600 Seiten<br />

umfassenden historischen Studie zu West Papua<br />

von Professor Pieter Drooglever soll Stabschef General<br />

Sutarto gesagt haben: „Wenn dies Buch erscheint,<br />

wird West Papua unabhängig.“. Das ist natürlich völlig<br />

übertrieben und realitätsfremd, aber es zeigt, wie viel<br />

Angst die Eliten in Jakarta vor einer Aufarbeitung der<br />

Geschichte <strong>Indonesien</strong>s der 1960er Jahre, einschließlich<br />

der West Papuas haben.<br />

Durch die Geschichte der Papua zieht sich der hässliche<br />

Faden der Fremdbestimmung. Bis ans Ende des<br />

19. Jahrhunderts machte der Sultan von Tidore seinen<br />

Anspruch auf die Vogelkopfregion und Biak geltend.<br />

1885 machten die Kolonialmächte Großbritannien,<br />

Deutschland und die Niederlande einfach einen Strich<br />

auf der Landkarte Neuguineas. Die westliche Hälfte<br />

wurde eine niederländische Kolonie, die zunächst von<br />

der nordmolukkischen Insel Tidore aus verwaltet wurde.<br />

1897 gründeten die Holländer die Kolonien<br />

Noord-Nieuwguinea mit der Hauptstadt Manokwari<br />

und West-en-Zuid-Nieuwguinea mit der Hauptstadt<br />

Fakfak. Am 7. März 1910 hisste Kapitän F.J.P. Sachs in<br />

Hollandia an der Humboldbucht, im heutigen Jayapura,<br />

die Niederländische Trikolore.<br />

Als die Niederlande am 27. Dezember 1949 der indonesischen<br />

Regierung die volle Souveränität übertrugen,<br />

gehörte West Papua nicht zum neuen Staatsgebiet.<br />

Bald danach fing Holland zum Ärgernis Jakartas<br />

an, die Autonomie West Papuas als überseeisches<br />

Reichsgebiet der Niederlande vorzubereiten. 1961<br />

durften die Papua ein eigenes Parlament, den Nieuw-<br />

Guinea Raad wählen. Parteien entstanden, darunter<br />

die Papua-Partei Parna (Nationale Partei) von Frits Kirihio,<br />

welche die Souveränität West Papuas anstrebte.<br />

Am 5. April 1961 wurde der Nieuw-Guinea Raad feierlich<br />

eingesetzt. Neben der niederländischen Trikolore<br />

wehte die Morgensternflagge der Papua und durfte<br />

die Papua-Hymne, „Oh Papua, mein Land“, gesungen<br />

werden. Der Name Papua durfte gebraucht werden.<br />

Der Beamtenapparat sollte innerhalb von 10 Jahren<br />

„papoeaniseerd“ und West Papua auf die Unabhängigkeit<br />

vorbereitet werden.<br />

<strong>Indonesien</strong> erwiderte mit Säbelrasseln. Brigadegeneral<br />

Suharto, der spätere Diktator, bekam den Auftrag,<br />

West Papua zu erobern. Zu mehr als Infiltrationen und<br />

Scharmützeln kam es aber nicht. Dann mischte sich<br />

der 1961 gewählte US-Präsident John F. Kennedy ein.<br />

Im Rahmen des kalten Krieges musste <strong>Indonesien</strong>, das<br />

eine starke kommunistische Partei besaß, vor der Annäherung<br />

an den Ostblock bewahrt werden. Dafür<br />

musste Holland West Papua opfern.<br />

Am 15. August 1962 unterschrieben die Niederlande<br />

und <strong>Indonesien</strong> das New York Agreement, welches<br />

den Übertrag West Papuas an <strong>Indonesien</strong> regelte. Die<br />

UNO-Generalversammlung nahm diese Vereinbarung<br />

einen Monat später an. Am 1. Oktober 1962 kam<br />

West Papua unter die Verwaltung der Vereinten Nationen<br />

und am 1. Mai 1963 wurde es der Republik <strong>Indonesien</strong><br />

einverleibt. Die Entscheidung wurde ohne<br />

einen einzigen Papua getroffen. Allerdings gab es eine<br />

Auflage für <strong>Indonesien</strong>: Nach fünf Jahren sollten die<br />

Papua in einem Referendum bestimmen dürfen, ob sie<br />

zu <strong>Indonesien</strong> gehören oder unabhängig werden wollen.<br />

Dieser bereits erwähnte Act of free Choice, der in<br />

dem völkerrechtlich legitimierten, aber sehr umstrittenen<br />

endgültigen Anschluss West Papuas an <strong>Indonesien</strong><br />

mündete, fand 1969 statt.<br />

Kultur<br />

An dieser Stelle sei etwas zu der Kultur West Papuas<br />

gesagt: Traditionell gibt es in West Papua drei Kulturräume:<br />

die Küstenregionen, in denen die Menschen<br />

seit jeher vom Fischfang und den üppigen Wäldern,<br />

aber auch zum Teil vom Handel leben. Dann die stärker<br />

bevölkerten Hochlandregionen, wo man dem kargen<br />

Boden durch mühsamen Ackerbau Süßkartoffeln<br />

abgewinnt und Schweine züchtet. Und die dünnbesiedelten<br />

Sumpfregionen zwischen dem Hochland und<br />

den Küsten, wo es halbnomadische Jäger und Sammler<br />

gibt. 11<br />

Die geographischen und klimatischen Bedingungen<br />

haben unterschiedliche Charaktere ausgeprägt.<br />

Die Erschließung abgelegener Gebiete und die<br />

zunehmende Mobilität durch moderne Verkehrsmittel<br />

und die Medien konfrontiert die Papua jedoch aufs<br />

schärfste mit fremden Kultureinflüssen.<br />

Im Ringen um den Erhalt der eigenen Identität spielt<br />

die Kultur neben der Religion bei den Papua eine entscheidende<br />

Rolle. Auf dem II. Papua-Kongress, der<br />

vom 21. Mai bis zum 4. Juni 2000 in Jayapura abgehalten<br />

wurde, befasste sich eine Kommission (Komisi<br />

IV) besonders mit Kulturfragen. Betont wurde, dass<br />

11<br />

Siegfried Zöllner, in: Theodor Rathgeber (Hrsg.), Economic, Social<br />

and Cultural Rights in West-Papua, foedus-verlag, Wuppertal 20<strong>05</strong>, S.<br />

42ff.<br />

24<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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die uralten Papua-Sprachen, von denen es 253 gibt 12 ,<br />

neben der Lingua Franka, dem indonesischmalaiischen<br />

Dialekt, besonderer Pflege bedürfen. Papua-Kunst,<br />

wie etwa Holzschnitzereien, Malereien auf<br />

Baumbast, traditionelle Tänze und Musik, traditionelle<br />

Architektur, Kochkunst etc. müssen geschützt und<br />

gefördert werden. Auch die traditionellen Religionen<br />

bieten neben und in Verbindung mit dem Christentum<br />

und dem Islam wichtige Quellen der geistlichen<br />

Inspiration.<br />

Unter Suharto wurde die Papua-Kultur als primitiv und<br />

rückständig eingestuft und sollten die Papuas nach<br />

javanischer Art zivilisiert werden. Hierzu wurden die<br />

sogenannten Adat-Räte (lembaga musyawarah adat)<br />

instrumentalisiert. Der Höhepunkt der Kulturverachtung<br />

des Suharto-Regimes war die sogenannte Operasi<br />

Koteka, die am indonesischen Nationalfeiertag, den<br />

17. August 1971, vom damaligen Gouverneur Acub<br />

Zainal durchgeführt wurde. Innerhalb eines halben<br />

Jahres sollte die gesamte Bevölkerung des Hochlandes<br />

zum Tragen von Textilkleidung verpflichtet werden.<br />

An mehreren Orten wurden riesige Pakete mit Kleidung<br />

aus der Luft abgeworfen. Die Dani durften ihre<br />

Kreishauptstadt nicht mehr mit dem Penisköcher oder<br />

dem Netz bekleidet betreten. Da man Textilkleidung<br />

nicht kannte und sie folglich auch nicht wusch, erkrankten<br />

in kürzester Zeit sehr viele an Hautkrankheiten.<br />

Die „Operation Penisköcher“ scheiterte, wie so<br />

viele andere gut gemeinte, aber von kultureller Überheblichkeit<br />

und Unwissenheit geprägte Zivilisierungsversuche.<br />

In den 1980er Jahren lehnte sich der Papua-<br />

Anthropologe Arnold Clemens Ap gegen die kulturelle<br />

Überfremdung bzw. die von <strong>Indonesien</strong> betriebene<br />

Zerstörung der Kultur der Papua auf. Er dokumentierte<br />

die alten Papua-Sprachen und gründete Tanz- und<br />

Musikgruppen, die auf kreative und sehr selbstbewusste<br />

Weise alte Papua-Motive verarbeiteten und sozialkritisches<br />

Theater aufführten. Das war ein Dorn im Auge<br />

der Indonesier. Ende April 1984 wurde Arnold Ap von<br />

einer militärischen Sondereinheit kaltblütig erschossen.<br />

Den Geist von Mambesak, einer auf Ap zurückgehenden<br />

Musik- und Theatergruppe, konnte jedoch nicht<br />

getötet werden. Ähnlich wie im süd-afrikanischen<br />

Black Consciousness der 70er Jahre besann die Papua-<br />

Jugend sich darauf, dass ihre schwarze Haut und ihr<br />

krauses Haar besonders schön sind. Dr. Benny Giay<br />

schöpft seine Inspiration unter anderem aus der USamerikanischen<br />

und südafrikanischen Black Theology.<br />

12<br />

Dirk Vlasblom, Papoea: Een geschiedenis, Mets & Schilt Amsterdam,<br />

2004.<br />

Religionen<br />

Fast 90% der indigenen Einwohner West Papuas sind<br />

Christen. Die größte und älteste Kirche ist die GKI di<br />

Tanah Papua, die aus der 1855 begonnenen Arbeit<br />

von deutschen und niederländischen Missionaren erwachsen<br />

ist und heute unter einer indigenen Führung<br />

steht. Die zweitgrößte Religionsgemeinschaft ist die<br />

Römisch-Katholische Kirche, die fünf Bistümer in West<br />

Papua hat, davon ein Erzbistum in Merauke. Leider<br />

gibt es noch keinen Papua als Bischof. Überwiegend<br />

im Hochland gibt es zudem mehrere kleinere protestantische<br />

Kirchen, die seit den 1950er Jahren aus der<br />

Arbeit US-amerikanischer, niederländischer und australischer<br />

Missionen entstanden sind. Neuerdings gibt es<br />

auch zunehmend Pfingstkirchen und charismatische<br />

Gruppierungen, die oft von westindonesischen Siedlern<br />

geleitet und finanziert werden und im Gegensatz<br />

zu den etablierteren Kirchen, die in den letzten 10<br />

Jahren engagiert gegen die Schändung der Menschenrechte<br />

protestiert haben, ausgesprochen unpolitisch<br />

bzw. absolut jakartatreu zu sein pflegen.<br />

In einigen Küstenregionen wie etwa Fakfak, Bintuni<br />

und der Paradiesvogelbucht gibt es schon sehr lange<br />

Papua islamischen Glaubens. Durch die Transmigrasi<br />

ist in den letzten 30 Jahren die Zahl der Muslime in<br />

West Papua aber stark gestiegen. Jeder, der für das<br />

Transmigrasi-Programm in Anmerkung kommen wollte,<br />

musste sich als Muslim ausgeben, selbst dann,<br />

wenn er Christ war. Nach erfolgreicher Übersiedlung<br />

entpuppten sich dann doch einige als Christen. Die<br />

Siedler haben es schwer, sich ihren Glaubensgeschwistern<br />

anzupassen. Das gilt für Christen und Muslime.<br />

Die Solidarität zwischen Papua-Muslimen und Papua-<br />

Christen ist oftmals stärker als zwischen Indigenen und<br />

Siedlern desselben Glaubens. Zurecht fordern führende<br />

Papua-Theologen wie Hermann Saud, Socratez<br />

Yoman und Benny Giay, dass Siedler sich an die Papua-Kultur<br />

anpassen und sich in die Papua-Kirchen<br />

integrieren müssten, und nicht etwa umgekehrt. Völlig<br />

unakzeptabel ist es, dass Christen in den Streitkräften,<br />

die aus anderen Teilen <strong>Indonesien</strong>s stammen, nicht<br />

selten an brutalen Razzien in den Dörfern, an den Folterungen<br />

in den Gefängnissen und anderen Menschenrechtsverletzungen<br />

teilnehmen.<br />

Memoria Passionis Papua<br />

Der Franziskaner und Menschenrechtler Theo van der<br />

Broek, der fast 30 Jahre lang in der Diözese von Jayapura<br />

gearbeitet und das Sekretariat für Gerechtigkeit<br />

und Frieden geleitet hat, hat in den Jahren nach dem<br />

Abtritt Suhartos regelmäßig Berichte über die Menschenrechtssituation<br />

geschrieben und diese als „Memoria<br />

passionis di Papua“ herausgegeben. Aus diesen<br />

und anderen Quellen und vor allem aus den vielen<br />

25


Berichten indigener Papua, wird deutlich, dass die<br />

Demokratisierung der Reformasi-Ära nur kurzfristig<br />

und sehr bedingt zu einer Verbesserung der Lage der<br />

Papua geführt hat.<br />

Im Februar 1999 besuchten 100 Repräsentanten des<br />

Papua-Volkes unter Leitung von Tom Beanal Präsident<br />

B. J. Habibi im Präsidentenpalast in Jakarta zu einem<br />

Dialog über die Zukunft West Papuas. Die Gäste überraschten<br />

den Gastgeber mit der klaren Forderung nach<br />

Unabhängigkeit für West Papua. Der verblüffte Präsident<br />

bat seine Gäste, sich das noch einmal zu überlegen.<br />

Als das „Team 100“ nach Papua zurückkehrte,<br />

bekam es einen Heldenempfang. Dies löste eine gewaltige<br />

Dynamik in ganz Papua aus. In kürzester Zeit<br />

entstand eine Bürgerwehr, die Satgas Papua, und errichteten<br />

überwiegend junge Papua überall sogenannte<br />

poskos, ein Begriff der sowohl mit Kommandoposten<br />

als auch mit Koordinierungsposten übersetzt wird<br />

und in diesem Fall auch beides beinhaltete. Als die<br />

poskos verboten werden sollten, wurden sie kurzerhand<br />

als „Gebetsversammlungsstellen“ ausgegeben.<br />

Der nicht unumstrittene Ondofolo von Sentani, Theys<br />

Hiyo Eluay, ließ sich im November 1999 von seinen<br />

Anhängern zum großen Führer des Papua-Volkes ausrufen.<br />

Am 1. Dezember 1999 ließ er in Anwesenheit<br />

von 5.000 Anhängern die Morgensternflagge, seit<br />

1961 das Symbol für ein freies Papua, hissen und das<br />

Hai Tanahku Papua singen.<br />

In Jakarta war inzwischen der fortschrittliche Islamgelehrte<br />

Abdurrahman Wahid Präsident geworden. Ihn<br />

beeindruckte der Freiheitswille der Papua. Er besuchte<br />

West Papua Ende 1999 und erlaubte den Namen Papua<br />

(Bedeutung: kraushaarig) wieder anstelle des ungeliebten<br />

Namens Irian Jaya. Im Juni 2000 erlaubte<br />

Wahid auch die Tagung des „II. Papua-Kongresses“.<br />

Die Morgensternflagge durfte als Kultursymbol neben<br />

der indonesischen Nationalfahne wehen. All dies wurde<br />

von Wahids Nachfolgerin im Präsidentenamt, Megawati<br />

Sukarnoputri, wieder rückgängig gemacht. Die<br />

Morgensternflagge wurde verboten und friedliche<br />

Menschenrechtler kamen ins Gefängnis. Papua-Führer<br />

Theys Eluay wurde im November 2001 von einer Spezialeinheit<br />

des Militärs ermordet.<br />

Massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber der<br />

Zivilbevölkerung wurden von der Nationalen Menschenrechtskommission<br />

(Komnas HAM) untersucht<br />

und bestätigt. Einige Fälle kamen sogar vor Gericht,<br />

aber mit wenigen Ausnahmen genossen die Angehörigen<br />

der Sicherheitskräfte Straflosigkeit und wurde der<br />

Verdacht einer Systematik der Menschenrechtsverletzungen<br />

abgewiesen. Eine 2003 erschiene Studie der<br />

Juristenfakultät der US-amerikanischen Yale University<br />

konnte zwar zahlreiche Hinweise für schwere Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit nachweisen, einen<br />

Genozid am Volke der Papua aber nicht kategorisch<br />

belegen. 13 Zuletzt setzte der neu eingerichtete, ständige<br />

Menschenrechtsgerichtshof in Makassar zwei hohe<br />

Polizeioffiziere, die im Dezember 2000 einen Vergeltungsangriff<br />

auf durch indigene Papuas bewohnte<br />

Studentenheime in Abepura befahlen und willkürliche<br />

Festnahmen, systematische Folterungen und vorsätzliche<br />

Tötungen zu verantworten haben, auf freien Fuß,<br />

weil das Gericht sich nicht für diesen Fall zuständig<br />

sieht.<br />

Bei den Wahlen 2004 wählten die Papuas mehrheitlich<br />

Susilo Bambang Yudhoyono zum Präsidenten. Er versprach<br />

in seiner Antrittsrede vom 20. Oktober 2004<br />

eine neue Ära der Rechtsstaatlichkeit auch für West<br />

Papua. Er gab zu, dass die „Schwestern und Brüder“ in<br />

Aceh und Papua in Angst und Schrecken lebten. Jetzt<br />

werde seine Regierung die Konflikte auf demokratische<br />

Weise lösen. Das gleiche betonte er auch in seiner<br />

Rede vom 16. August 20<strong>05</strong> zum Nationalfeiertag. Der<br />

Kompromiss, auf den der Präsident setzt, ist das Gesetz<br />

zur Sonderautonomie für West Papua, das Megawati<br />

nicht umgesetzt hatte. 14 Allerdings scheint sogar<br />

der „kluge General“ nichts gegen das größte Problem<br />

West Papuas ausrichten zu können: Die Sicherheit s-<br />

kräfte.<br />

Militär<br />

Die schwerste Geißel der Papua sind die indonesischen<br />

Sicherheitskräfte. Das gilt vor allem für das Militär, das<br />

sich in Papua als Retterin der Einheit der Republik profilieren<br />

will und massiv in illegale Geschäfte verwickelt<br />

ist. In einer rezenten Studie der Londoner Environmental<br />

Investigation Agency 15 , wird die Beteiligung des<br />

Militärs am illegalen Handel mit dem wertvollen und<br />

unter Naturschutz stehenden Merbau-Tropenholz belegt.<br />

Regelmäßig unternehmen Sicherheitskräfte sogenannte<br />

penyisiran, wörtlich „Durchkämmungsaktionen“<br />

oder sweepings, wobei nach Separatisten gesucht<br />

wird. Dabei kommen Rassismus und Menschenverachtung<br />

gegenüber den Papua ans Tageslicht. Die<br />

Soldaten dringen in die Wohnhäuser ein, zerstören<br />

und brennen, stehlen die Süßkartoffeln und erschießen<br />

die Schweine, beleidigen, vertreiben und foltern<br />

die Menschen. Öfter werden sogenannte Separatisten<br />

einfach hingerichtet, wie zum Beispiel der Pfarrer Elisa<br />

Tabuni in Mulia Puncak Jaya im November vergangenen<br />

Jahres. Nach Angaben des Präses der Baptistenkir-<br />

13<br />

Indonesian Human Rights Abuses in West Papua: Application of the<br />

Law of Genocide to the History of Indonesian Control A paper prepared<br />

for the Indonesia Human Rights Network by the Allard K. Lowenstein<br />

International Human Rights Clinic Yale Law School, Elizabeth<br />

Brundige et al, Yale, April 2004.<br />

14<br />

siehe die Studie: Autonomy for Papua: Opportunity or Illusion? Papers<br />

presented at the conference “Autonomy for Papua – Opportunity<br />

or Illusion”, June 4 th and 5 th 2003, Berlin, Germany (Hrsg.: FES).<br />

15<br />

EIA / Telapak, The Last Frontier. Illegal logging in Papua and China’s<br />

Massive Timber Theft, 20<strong>05</strong>.<br />

26<br />

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che, Pfarrer Socratez Yoman, sollen die Militärs sich<br />

diese Aktionen sogar aus den Geldern für die Sonderautonomie<br />

bezahlen lassen.<br />

Das Militär verdient auch kräftig an den Schutzgeldern,<br />

die es für die Bewachung des internationalen<br />

Kupfer- und Gold-Bergbauunternehmens Freeport<br />

McMoRan in Freeport 16 kassiert. Etwa 5 Millionen Dollar,<br />

so musste die Geschäftsführung auf der Aktionärsversammlung<br />

2003 zugeben, zahle das Unternehmen<br />

jährlich direkt an das Militär. Und das, obwohl Freeport<br />

sowieso schon der größte Steuerzahler <strong>Indonesien</strong>s<br />

ist.<br />

Selbstverständlich versuchen die Sicherheitskräfte auch<br />

etwas von den zu erwartenden Gewinnen des Erdgasgeschäftes<br />

von BP in der Bintunibucht 17 abzuschöpfen.<br />

BP versucht das durch eine eigene Community Based<br />

Security zu vermeiden, arbeitet aber stark mit der Polizei<br />

zusammen. Vieles deutet darauf hin, dass BP spätestens<br />

ab 2007, wenn die Produktion anlaufen soll,<br />

ebenfalls in die klebrigen und undurchschaubaren<br />

Gewebe der Korruption verstrickt werden wird. Die<br />

größten Opfer werden aber wieder einmal die Papua<br />

sein.<br />

Zukunftsperspektiven<br />

bei der Entwicklung einer Kultur des Friedens in allen<br />

Lebensbereichen an.<br />

Vor gut zwei Wochen sprach ich mit einem hohen<br />

Beamten des Außenministeriums in Jakarta. Ich versuchte<br />

ihm zu erklären, warum die meisten Papua kein<br />

Vertrauen mehr in die Politik Jakartas haben. Sie sind<br />

einfach immer wieder enttäuscht worden. Er erwiderte,<br />

dass <strong>Indonesien</strong> noch nie soviel Geld in diese Region<br />

investiert habe wie in den letzten Jahren. Ich hielt<br />

dagegen, dass sich für die allermeisten Papuas nichts<br />

verbessert habe. Die Milliarden aus Jakarta fließen in<br />

die Taschen korrupter Landräte und Parlamentarier.<br />

Der Aufbau der Infrastruktur dient fast ausschließlich<br />

den Siedlern, westindonesischen Beamten und Militärs.<br />

Eine gefährliche Polarisierung zwischen Indigenen<br />

und Siedlern bahnt sich an 18 . Die Papua fühlen sich<br />

zurecht in ihrer Existenz als Volk bedroht.<br />

Was also würde ich der indonesischen Regierung empfehlen,<br />

fragte mich der hohe Regierungsbeamte. Meine<br />

kurze Antwort lautete: „Einen offenen Dialog mit<br />

den anerkannten Führern West Papuas, einschließlich<br />

des Dewan Adat Papua und des Papua-Präsidiums und<br />

möglichst unter internationaler Beobachtung.“ Das<br />

könnte, wie unlängst in Aceh, die Tür für eine gerechtere<br />

und friedlichere Zukunft West Papuas öffnen.<br />

Nicht wenige Papua sehen nur noch eine Möglichkeit,<br />

als Volk in Würde und Freiheit zu leben: die Unabhängigkeit<br />

von <strong>Indonesien</strong>. Einige wenige wie die Kämpfer<br />

der OPM sind sogar zur Gewaltanwendung bereit.<br />

Realistisch gesehen ist dies aber keine verantwortliche<br />

Option. Militärisch haben die zum großen Teil mit<br />

Pfeil und Bogen ausgerüsteten Papua-Krieger keine<br />

Chance gegen das indonesische Militär. Im Gegenteil,<br />

die liefern nur eine willkommene Rechtfertigung für<br />

die weitere Militarisierung West Papuas. Viel sinnvoller<br />

ist die seit über drei Jahren eingeschlagene Strategie<br />

der Religionen eines gewaltlosen Widerstandes gegen<br />

Willkür, Entmündigung und Ausbeutung. Diese Strategie,<br />

von evangelischen und katholischen Christen<br />

initiiert, heißt „Papua, Land des Friedens“ und setzt<br />

16<br />

1967 schlossen der damalige indonesische Präsident Suharto und das<br />

US-amerikanische Konzern Freeport McMoRan einen Vertrag zur Förderung<br />

von Kupfererz und Gold auf dem 4000 Meter hohen Grasberg in<br />

der Region Timika. Es werden jährlich etwa 1,5 Milliarden Pfund Kupfer<br />

und 2,6 Millionen Unzen Gold gefördert. Die Schattenseite: Pro Tag<br />

gelangen weit über 100.000 Tonnen Abraum in das Aghawaghon-<br />

Aijkwa-Flusssystem. Über 130 Quadratkilometer Bergland und trop i-<br />

scher Regenwald, die Heimat der indigenen Amungme und Kamoro,<br />

sind dadurch zerstört worden. Das indonesische Militär zeigt starke<br />

Präsenz, um die über 100 Kilometer lange Freeport-Anlage vor Terroranschlägen<br />

zu schützen.<br />

17<br />

Seit über drei Jahren bereitet BP als größter Anteilseigner am „Tangguh<br />

LNG Project“ in West Papua die Erschließung des größten Gasfe l-<br />

des <strong>Indonesien</strong>s vor. Ab 2007/2008 sollen in der Bintuni-Bucht, an der<br />

„Kehle des Vogelkopfes“, jährlich 7,6 Millionen Tonnen Flüssiggas<br />

gefördert und nach China, Südkorea, Mexiko und den USA exportiert<br />

werden. BP wäre dann nach Freeport der größte Steuerzahler der Republik<br />

<strong>Indonesien</strong>.<br />

18<br />

Seit dem Ende des Bürgerkrieges in den benachbarten Molukken, also<br />

seit etwa drei Jahren gibt es auch immer wieder Anzeichen dafür, dass<br />

islamistische Laskar Jihad in Papua eindringen, Hass predigen und<br />

Kämpfer ausbilden. Auch von christlicher Seite gibt es ve rgleichbares:<br />

Der ehemalige pro-indonesische Milizenführer Eurico Gutteres hat in<br />

Sorong und Timika bewiesenermaßen Männer rekrutiert, die bereit<br />

sind, gegen sogenannte Separatisten, die für die politische Unabhängigkeit<br />

West Papuas agieren, mit Waffengewalt vorzugehen. (Front<br />

Pembela Merah Putih / FPMP; Radar Timika, 12. November 2003).<br />

27


EINHEIT IN VIELFALT: MISSION IMPOSSIBLE?<br />

WIE WURDE DIE PANCASILA UMGESETZT, ABER AUCH MISSBRAUCHT?<br />

EIN BLICK AUF DIE KÄMPFE UND DAS ZUSAMMENWACHSEN DER VOLKSGRUPPEN IM INDONESISCHEN STAAT<br />

Alex Flor<br />

Alex Flor ist Mitgründer der Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia! mit Sitz in Berlin. Der Ingenieur für Umwelttechnik<br />

arbeitet nach wie vor bei Watch Indonesia! und befasst sich hauptsächlich mit nationaler Politik und Demokratieentwicklung<br />

in <strong>Indonesien</strong>.<br />

Der heutige Staat <strong>Indonesien</strong> umfasst die Gebiete<br />

Südostasiens, die früher unter niederländischer Kolonialherrschaft<br />

standen. Es handelt sich dabei um eine<br />

eher „zufällige“ Zusammenlegung von Gebieten, die<br />

über keine ethnischen, kulturellen, religiösen, sprachlichen<br />

oder gar nationalen Gemeinsamkeiten verfügten.<br />

Unter diesen Kriterien betrachtet wären Zusammenschlüsse<br />

von Sumatra mit West-Malaysia oder von<br />

Kalimantan mit Ost-Malaysia (Sabah und Sarawak)<br />

sicher näher liegender gewesen als ein Staatsgebilde,<br />

das nach Gemeinsamkeiten zwischen Aceh und Flores,<br />

zwischen Mentawai und Surabaya sucht.<br />

Die „Nationale Bewegung“ <strong>Indonesien</strong>s geht auf die<br />

20er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Damals<br />

formierte sich zum ersten Mal eine regional übergreifende<br />

Freiheitsbewegung gegen die holländischen<br />

Unterdrücker. Die „nationalen“ Ziele wurden dieser<br />

Bewegung aufgepflanzt, um den Zusammenhalt zu<br />

stärken.<br />

Ohne den Unabhängigkeitskampf und vor allem die<br />

großen Opfer, die dabei erbracht wurden, schmälern<br />

zu wollen, wage ich zu behaupten, dass der Erfolg<br />

dieses Kampf letztendlich wohl in engem Zusammenhang<br />

mit dem Ende des 2. Weltkrieges und der dadurch<br />

entstandenen völlig neuen Weltordnung gesehen<br />

werden muss. Eine Entwicklung, die <strong>Indonesien</strong><br />

mit zahlreichen anderen ehemaligen Kolonien in Asien<br />

und Afrika gemeinsam hat. Viele der hier vorgetragenen<br />

Gedanken mögen daher in der ein oder anderen<br />

Form auch auf eine ganze Reihe anderer Staaten auf<br />

den beiden genannten Kontinenten in ähnlicher Form<br />

zutreffen. Diese Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten<br />

und zu einer gemeinsamen politischen Kraft gegenüber<br />

den beiden Blockmächten zu formen, war übrigens<br />

ein Leitmotiv der Einberufung der Asien-Afrika<br />

Konferenz in Bandung, die 1955 stattfand.<br />

Die Entstehungsgeschichte dieser jungen unabhängigen<br />

Staaten ist völlig verschieden zu der über Jahrhunderte<br />

gewachsenen Genese der als „klassische<br />

Nationalstaaten“ angesehenen Staaten Mitteleuropas.<br />

In Südostasien erfüllen wohl bestenfalls Thailand, das<br />

frühere Königreich Siam, welches als einziges Land der<br />

Region vom Kolonialismus verschont blieb, und vielleicht<br />

mit einigen Einschränkungen das heutige Kambodscha<br />

als Nachfolgestaat des früheren Khmer-<br />

Reiches in Ansätzen die Charakteristika, die diesen<br />

„Nationalstaaten“ zugeschrieben werden.<br />

Insbesondere die Staaten Insel-Südostasiens mit ihrer<br />

extrem hohen Diversität von Ethnien und Kulturen<br />

erfüllten wohl kaum ein einziges der Kriterien, um sich<br />

innerhalb kürzester Zeit – in <strong>Indonesien</strong> lagen weniger<br />

als 10 Jahre zwischen Beginn des Pazifikkrieges bis<br />

zum endgültigen Abzug der Niederländer und der<br />

internationalen Anerkennung 1949 – zu einem Nationalstaat<br />

zu mausern. Einziges identitätsstiftendes Element<br />

<strong>Indonesien</strong>s in seiner Gesamtheit ist die ehemalige<br />

Kolonisierung durch die Niederlande. Es ist vielleicht<br />

psychologisch bedeutsam, dass dieser eine identitätsbestimmende<br />

Faktor keine eigene Errungenschaft,<br />

sondern Ergebnis von Jahrhunderte langer Fremdbestimmung<br />

war. Nicht einmal der Name „<strong>Indonesien</strong>“<br />

ist aus der eigenen Kultur, Sprache oder Geschichte<br />

gewachsen. Es war ein Brite, der Ethnologe J. Logan,<br />

der diesen Begriff 1850 prägte.<br />

Man war Opfer derselben Unterdrücker. Aber reicht<br />

das, um eine Nation so immenser geografischer Ausmaße<br />

wie <strong>Indonesien</strong> zu begründen? Selbst diese Gemeinsamkeit<br />

als Opfer desselben Kolonialsystems ist<br />

hinterfragbar, denn der Grad des Leidens unter den<br />

Holländern war in den verschiedenen Regionen recht<br />

unterschiedlich ausgeprägt – unter anderem in Abhängigkeit<br />

von der jeweiligen Intensität der Machtausübung,<br />

der unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedeutung<br />

der Gebiete und nicht zuletzt der Frage, ob<br />

sich die traditionellen Führer gegen die Kolonisatoren<br />

auflehnten oder mit diesen kollaborierten. Die Kolonialgeschichte<br />

West-Javas ist eine andere als die der Molukken.<br />

Aber worin liegt eigentlich die Bedeutung von nationaler<br />

Einheit und Identität? Besteht ein internationaler<br />

28<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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Druck dahingehend, dass nur Nationalstaaten als<br />

„richtige“ Staaten anerkannt werden? Oder gibt es<br />

möglicherweise einen Komplex seitens der unabhängig<br />

gewordenen Kolonien, der dazu führt, sich als<br />

Nationalstaat beweisen zu müssen? Den indonesischen<br />

Nationalismus von Sukarnos kämpferischen Slogans<br />

bis zu den andauernden Konflikten um Aceh und Papua<br />

alleine damit begründen zu wollen, griffe zu kurz.<br />

Denn es gibt durchaus ganz pragmatische Gründe, die<br />

ein gewisses Maß an innerer Einheit notwendig machen:<br />

- Zum einen die Frage der Regierbarkeit. Ohne ein<br />

Mindestmaß an gemeinsamen Werten, denen sich<br />

Beamte verpflichtet fühlen, ist das Funktionieren der<br />

staatlichen Verwaltung nicht zu gewährleisten. Der<br />

gemeinsamen Sprache kommt hier ein besonderer<br />

Stellenwert zu. Nur ein reiches Land wie die Schweiz<br />

mag sich den Luxus von drei Nationalsprachen leisten<br />

können. <strong>Indonesien</strong> wäre wohl zweifelsohne überfordert<br />

gewesen, alle ca. 250 im Archipel gesprochenen<br />

Sprachen gleichberechtigt zu National- und Verwaltungssprachen<br />

zu erheben. Ich komme darauf gleich<br />

noch einmal zurück.<br />

- Zu große Diversität macht den Staat verwundbar<br />

gegenüber Sezessionsbewegungen und Spaltungsversuchen<br />

seitens äußerer Mächte. <strong>Indonesien</strong> erlebte in<br />

den ersten Jahren der Republik gleich mehrere solcher<br />

Versuche. Nachdem es den Niederlanden nicht gelungen<br />

war, ihre Kolonie nach dem 2. Weltkrieg mit Waffengewalt<br />

zurück zu gewinnen, versuchten sie durch<br />

die Bildung der sog. Vereinigten Staaten von <strong>Indonesien</strong><br />

(Republik Indonesia Serikat - RIS) mehrere nur<br />

locker miteinander verbundene Entitäten zu schaffen,<br />

die leicht untereinander auszuspielen gewesen wären.<br />

Der Versuch wurde in <strong>Indonesien</strong> als „Teile- und Herrsche-Politik“<br />

gewertet, mit der Folge, dass der Begriff<br />

„Föderalismus“ bis heute als Unwort gilt.<br />

In den 50er Jahren leisteten sich auf Sumatra und Sulawesi<br />

militante islamische Bewegungen bewaffnete<br />

Konflikte mit der Republik. Wie spätestens mit dem<br />

Abschuss eines US-Militärflugzeuges als bewiesen galt,<br />

wurden diese Konflikte von der CIA unterstützt, um<br />

den linkspopulistischen Anti-Imperialisten Sukarno zu<br />

schwächen.<br />

Sukarnos kämpferische anti-imperialistische Slogans<br />

hatten daher durchaus ihre realen Hintergründe. Die<br />

jungen Habenichtse mussten sich gegen die reichen<br />

Staaten der ersten Welt behaupten. Ein Kampf von<br />

David gegen Goliath, der nur durch einen hohen Grad<br />

an Motivation und Einigkeit zu bestehen war. Obgleich<br />

das Ausland seine Interessen heute mit ganz<br />

anderen Mitteln als damals wahrnimmt, erzeugt doch<br />

jede noch so kleine Äußerung eines Ausländers zu den<br />

inneren Problemen <strong>Indonesien</strong>s noch immer Misstrauen<br />

und sofortige Abwehrhaltung.<br />

Wenn ich Slogans wie „Einig Vaterland von Sabang bis<br />

Merauke“ höre, stellt sich bei mir als Deutscher unweigerlich<br />

die Assoziation mit „von der Maas bis an<br />

die Memel“ ein. Nichts wäre jedoch Verständigung<br />

und Dialog abträglicher als wenn ich meinen diesbezüglichen<br />

Empfindungen freien Lauf ließe. Und, leise<br />

zähneknirschend, versuche ich zu akzeptieren, welchen<br />

ideologischen Stellenwert die Herrschaft <strong>Indonesien</strong>s<br />

über Merauke – und damit ganz Papua - hat.<br />

Der Staatsgründer und erste Präsident Sukarno, der bis<br />

heute hohe Popularität genießt, suchte nach meiner<br />

Interpretation die Gegensätze zu überwinden, indem<br />

er (Formel-) Kompromisse suchte. Offenkundig war es<br />

damals noch kein Sakrileg, den Mangel an nationaler<br />

Identität festzustellen. Denn Sukarno sah seine wesentliche<br />

Aufgabe nach der Unabhängigkeit im „nation<br />

building“, also dem Aufbau einer Nation. Streng genommen<br />

fallen etliche Maßnahmen Sukarnos, die<br />

seiner Politik des „nation building“ zugeschrieben<br />

werden, eigentlich unter den Begriff „state building“.<br />

Als politologischer Laie wage ich nicht zu beurteilen,<br />

ob Sukarno selbst ungenügend zwischen „Staat“ und<br />

„Nation“ unterschied oder ob diese Begriffsverwirrung<br />

einigen seiner Biographen zuzuschreiben ist.<br />

Wie Robert Cribb treffend bemerkte, begründete sich<br />

die Vereinigung der unterschiedlichen Regionen zu<br />

einer Nation nicht nur auf der Existenz eines gemeinsamen<br />

Gegners, sondern vor allem darauf, dass ein<br />

geeintes <strong>Indonesien</strong> Fortschritt und Entwicklung versprach<br />

(Robert Cribb, ‘Nation: Making Indonesia’, in<br />

Donald K. Emmerson (ed.), Indonesia Beyond Suharto:<br />

Polity, Economy, Society, Transition. Armonk, New<br />

York: M.E. Sharpe, 1999, pp.3-38). Daraus lässt sich<br />

ableiten, dass die Einheit nicht ein anzustrebender<br />

Endzustand, sondern vielmehr der Weg zu höheren<br />

Zielen wie Fortschritt und Entwicklung sein sollte.<br />

Erst später, spätestens nach der blutigen Machtergreifung<br />

Suhartos 1965, wurden der Aufbau und die Einheit<br />

der Nation (des Staates?) als abgeschlossen angesehen,<br />

und alle, die auf mangelnde Einheit des Staates<br />

(der Nation?) aufmerksam machten, galten seitdem als<br />

Feinde der Regierung, die mit Verfolgung rechnen<br />

mussten.<br />

Freilich beschränkten sich die Kompromisse Sukarnos<br />

mitunter auf wohlklingende Worthülsen. Es mag der<br />

Versuch gewesen sein, dialektisch aus These und Antithese<br />

eine Synthese zu schmieden. Doch wenn sich<br />

Gegensätze nicht miteinander verbinden ließen, wurden<br />

sie unter neuen Begrifflichkeiten kurzerhand zu<br />

einer Einheit zusammengeschmiedet, die in Wirklich-<br />

29


keit keine war. Der vielleicht waghalsigste Versuch,<br />

eine solche Einheit herzustellen, war der Begriff NASA-<br />

KOM. Er stand für Nationalismus, Glaube (Agama)<br />

und Kommunismus, die drei seinerzeit dominanten<br />

gesellschafts- und parteipolitischen Strömungen. Über<br />

alle ideologischen Gegensätze hinweg versuchte Sukarno<br />

diese drei Strömungen zu einem gemeinsamen<br />

Ganzen zu definieren. Ein politischer Balanceakt, der<br />

schließlich fatal scheitern sollte und in einem Blutbad<br />

endete. 1965 übernahm Suharto die Macht und Hunderttausende,<br />

wenn nicht Millionen tatsächliche und<br />

vermeintliche Anhänger der Kommunistischen Partei<br />

(PKI) wurden ermordet.<br />

Die Staatsphilosophie Pancasila<br />

Bhinekka Tunggal Ika – Einheit in der Vielfalt war sozusagen<br />

die Mutter all der genannten Kunstbegriffe und<br />

die Staatsphilosophie Pancasila ihre Durchführungsverordnung.<br />

1945 ursprünglich von Präsident Sukarno formuliert,<br />

sollte die Pancasila (sanskrit: die fünf Säulen) als gemeinsame<br />

Vision die äußerst unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen<br />

<strong>Indonesien</strong>s zusammenbinden. Unter<br />

Suharto ist sie später zu einem Instrument der Gleichschaltung<br />

geworden, dem alle gesellschaftlichen<br />

Gruppen und Organisationen gesetzlich verpflichtet<br />

waren. Die Pancasila steht für die integralistische<br />

Staatsidee, nach der die indonesische Gesellschaft ein<br />

Kollektiv bildet, in dem das Individuum der Gemeinschaft<br />

untergeordnet ist. Gesellschaftliche Harmonie<br />

soll die politische Kultur <strong>Indonesien</strong>s bestimmen, wobei<br />

reale Interessenskonflikte geleugnet und dem<br />

„westlich-liberalen“ Individualismus zugerechnet werden.<br />

Die fünf Säulen der Pancasila sind:<br />

1. der Glaube an einen allmächtigen Gott,<br />

2. Humanität,<br />

3. nationale Einheit,<br />

4. auf Konsens basierende Demokratie und<br />

5. soziale Gerechtigkeit.<br />

Da ich hier vor einem evangelischen Forum spreche,<br />

möchte ich mich exemplarisch auf die erste Säule –<br />

der Glaube an einen Gott – beschränken.<br />

Sukarno hatte sich massiv dem Bestreben islamischer<br />

Kräfte widersetzt, die sog. Jakarta-Charter (Piagam<br />

Jakarta) in die Verfassung aufzunehmen, die den Islam<br />

für alle Muslime zur verbindlichen Rechtsgrundlage<br />

gemacht hätte. Sukarno wollte nach meiner Interpretation<br />

die Gleichberechtigung aller Religionen, ganz<br />

im Sinne von Bhinekka Tunggal Ika. Der Glaube an<br />

einen Gott sollte ein verbindendes Element sein. <strong>Indonesien</strong><br />

sollte keine Staatsreligion haben, aber ausdrücklich<br />

auch kein säkularer Staat werden, wie es im<br />

Westen oft fälschlich ausgelegt wird.<br />

Fünf vorhandene Religionen wurden gleichberechtigt<br />

anerkannt: Islam, protestantisches Christentum<br />

(Kristen), Katholizismus (Katolik), Buddhismus und<br />

Hinduismus. Animistische Religionen von Ureinwohnern<br />

und nicht oder nur in marginalem Umfang in<br />

<strong>Indonesien</strong> vorhandene Religionen wie Orthodoxes<br />

Christentum, Judaismus, Zeugen Jehovas u.v.a. wurden<br />

schlicht „vergessen“. Obgleich in der chinesischstämmigen<br />

Minderheit weit verbreitet, wurde auch<br />

der Konfuzianismus nicht als Religion anerkannt. Möglicherweise,<br />

weil man den Konfuzianismus eher als<br />

eine philosophische Überzeugung statt als Religion<br />

interpretierte (ich weiß es nicht und bin für jeden<br />

Hinweis dankbar, AF). Auch zwischen den großen islamischen<br />

Strömungen des sunnitischen und schiitischen<br />

Glaubens wurde nicht unterschieden, obwohl<br />

diese – ich bin kein Theologe – nach meiner Auffassung<br />

mindestens so eigenständige Glaubensrichtungen<br />

sind wie evangelisches und katholisches Christentum.<br />

Aber Schiiten gab es in <strong>Indonesien</strong> nicht.<br />

Sind die Bahai’i eine islamische Sekte oder eine eigenständige<br />

Religion? Unter Suharto waren sie verboten,<br />

jetzt werden sie still schweigend geduldet. Um die<br />

Ahmadiyah brennt gerade ein heftiger Streit mit tätlichen<br />

Übergriffen, Fatwas (religiösen Urteilen/Weisungen)<br />

usw., weil die Frage ungelöst ist, ob es<br />

sich um eine eigene Religion oder um eine islamische<br />

Sekte handelt, die gegen die konventionelle Interpretation<br />

des Islam verstößt, da sie einen nach Mohammed<br />

geborenen Propheten verehrt. Solche erst 60<br />

Jahre später aufbrechenden Konflikte sind Anzeichen<br />

dafür, dass die erste Säule der Pancasila nur ein pragmatischer<br />

Formelkompromiss war, dessen religionstheoretischer<br />

Tiefgang eher zu Wünschen übrig ließ.<br />

Unter Suharto erfuhr diese Säule der Pancasila eine<br />

weit reichende Neuinterpretation: der „Glaube an<br />

EINEN Gott“ wurde zur Verpflichtung eines jeden<br />

Staatsbürgers. Dies zielte insbesondere auf die chinesische<br />

Minderheit, die zu größeren Teilen Konfuzianisten<br />

waren, und die Kommunisten, die fälschlicherweise<br />

oft als „gottlose“ Atheisten dargestellt wurden.<br />

Die ursprünglich integralistische erste Säule der Pancasila<br />

wurde so zu einer Waffe umgeschmiedet, mit der<br />

bestimmte Gruppen von der Gesellschaft ausgeschlossen<br />

werden konnten. Neben Indonesiern chinesischer<br />

Abstammung und vermeintlichen PKI-Anhängern,<br />

hatten spätestens mit dieser Definition auch die indigenen<br />

Völker ein Problem am Hals, die bislang Animisten<br />

waren. Frau Kuhnt-Saptodewo hat in diesem<br />

Zusammenhang sehr interessante Studien gemacht,<br />

30<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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die beschreiben, wie und warum ein Dayak-Volk auf<br />

Kalimantan den Hinduismus annahm.<br />

Bahasa Indonesia – ein Volk, eine Sprache<br />

Ein sehr wichtiger Schritt zur Verwirklichung von Einheit<br />

in der Vielfalt und nation building auf säkularer<br />

Ebene war die Einführung von Bahasa Indonesia als<br />

Nationalsprache. Der Begriff „Bahasa Indonesia“ wurde<br />

auf dem 2. Jugendkongress von 1928 geprägt. Der<br />

Leitspruch war „Satu nusa, satu bangsa, satu bahasa!“<br />

(Ein Land, ein Volk, eine Sprache!). Eine einzige Verkehrssprache,<br />

die in sämtlichen Schulen gelehrt wird,<br />

in der Gesetze und Verordnungen geschrieben werden<br />

und die von nahezu sämtlichen Medien (Presse, Rundfunk,<br />

Fernsehen) verwendet wird.<br />

Die Hunderten von lokalen Sprachen sind deswegen<br />

weder verboten noch in ihrer Existenz gefährdet. Fast<br />

überall im familiären Umfeld werden diese Lokalsprachen<br />

nach wie vor gesprochen, z.T. auch in den ersten<br />

Schuljahren verwendet. Und zumindest die großen<br />

Sprachen wie Javanisch, Sundaisch, Balinesisch, Minangkabau,<br />

Batak oder Acehnesisch – um hier nur<br />

einige zu nennen - spielen nach wie vor auch im kulturellen<br />

Leben eine tragende Rolle. Wayang-<br />

Vorführungen in Yogyakarta werden selbstverständlich<br />

auf Javanisch abgehalten, während ein Dalang auf Bali<br />

das Mahabharata-Epos ebenso selbstverständlich auf<br />

Balinesisch inszeniert.<br />

Die Wahl von Bahasa Indonesia als Nationalsprache<br />

war ein Glücksgriff. Eigentlich dem Malaiischen entlehnt,<br />

wurde diese Sprache von praktisch keinem der<br />

indonesischen Völker als Muttersprache gesprochen,<br />

aber als weit verbreitete Verkehrs- und Handelssprache<br />

von sehr vielen verstanden. Die Einführung der größten<br />

einheimischen Sprache – Javanisch – hätte die ohnehin<br />

von vielen kleineren Völkern misstrauisch beäugte<br />

Dominanz der Javaner zu deutlich betont und die<br />

junge Republik damit vor eine Zerreißprobe gestellt.<br />

Und Niederländisch, die ebenfalls weit verbreitete<br />

Sprache der Kolonialherren, kam wohl aus ideologischen<br />

Gründen nicht in Betracht.<br />

Die Einheit in der Vielfalt der Rechtssysteme<br />

Der Vielfalt der Kulturen und Religionen sollte auch im<br />

Rechtssystem Rechnung getragen werden. Formal gilt<br />

in <strong>Indonesien</strong> neben dem staatlichen Recht auch religiöses<br />

und traditionelles (Adat-) Recht. Kleinere Streitigkeiten<br />

im Dorf müssen nicht vor einem Amtsgericht<br />

ausgetragen werden, sondern können nach lokalem<br />

Brauch von Adat-Führern gerichtet oder geschlichtet<br />

werden. Die durch die Existenz der drei Rechtssysteme<br />

zum Ausdruck kommende Achtung vor Religion und<br />

Kultur führt freilich nicht immer zu mehr Gerechtigkeit.<br />

Bei Scheidungsangelegenheiten wird ein muslimischer<br />

Mann sehr wahrscheinlich das Religionsgericht<br />

anrufen, während die Frau sich ein bisschen bessere<br />

Chancen vor einem zivilen Gericht erhoffen könnte.<br />

Die größte Ungleichheit in der vorgeblichen Gleichwertigkeit<br />

ist jedoch das Manko der meisten traditionellen<br />

Rechtssysteme, dass sie nicht über kodifiziertes<br />

Recht, also geschriebene Gesetze und vor allem Urkunden<br />

u.dgl. verfügen. Bei der in <strong>Indonesien</strong> wohl<br />

häufigsten und elementarsten Form von Rechtsstreitigkeiten,<br />

dem Konflikt um Landrechte, sind traditionelle<br />

Gemeinschaften und insbesondere indigene Völker<br />

daher den Mühlen der staatlichen Justiz meist hilflos<br />

ausgesetzt.<br />

Der Einflussbereich von Majapahit<br />

31


nekka Tunggal Ika wurde auf dem Feld erschossen.<br />

Verordnete Einheit - das Ende der Vielfalt<br />

Während Sukarno versuchte, Unterschiede zu überwinden<br />

und Gemeinsamkeiten herzustellen, sah das<br />

Suharto-Regime diese Entwicklung offenbar als abgeschlossen<br />

an. Nation building war kein Thema mehr.<br />

Suharto versuchte eher den Eindruck zu vermitteln, die<br />

indonesische Nation habe es schon immer gegeben.<br />

Gewagte historische Verweise begründeten die territoriale<br />

Ausdehnung <strong>Indonesien</strong>s nun mit der Ausdehnung<br />

des Majapahit-Reiches im 14. Jahrhundert oder<br />

im Falle von Papua mit der Ausdehnung des Sultanates<br />

von Tidore (siehe Karten). Zunehmend wurde der Begriff<br />

der nationalen Einheit auf die territoriale Einheit<br />

reduziert, während an Stelle der Einheit des Volkes die<br />

Vereinheitlichung des Volkes trat.<br />

Wertet man Äußerungen von Politikern und Militärs in<br />

der indonesischen Presse aus, stellt sich der Eindruck<br />

ein, bei dem Konflikt um Aceh ginge es nur um die<br />

Beherrschung des Territoriums und der darauf zu findenden<br />

natürlichen Ressourcen. Auf das Schicksal der<br />

Menschen in Aceh, die ja insbesondere nach indonesischer<br />

Lesart indonesische Staatsbürger sind, wird nur<br />

selten verwiesen. Abertausende wurden zu Opfern von<br />

Repression und militärischen Auseinandersetzungen.<br />

Der Gedanke, wie man den Konflikt entschärfen könnte,<br />

indem man den Menschen in Aceh das Gefühl<br />

vermittelt, sie seien in ihrer Andersartigkeit gleichberechtigte<br />

Staatsbürger, kam nur den wenigsten. Bhi-<br />

Vereinheitlichung wurde unter Suharto systematisch in<br />

praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens<br />

vollzogen. Die Vielfalt der politischen Parteien wurde<br />

auf eine Einheitspartei und zwei zwangsvereinigte<br />

Blockflötenparteien (PDI als Zusammenschluss nationaler<br />

und christlicher Parteien und PPP als Vereinigung<br />

der islamischen Parteien) „vereinfacht“, wie es so<br />

schön hieß. Es gab eine Einheitsgewerkschaft, einen<br />

Einheitsjournalistenverband usw. usf. – ein System,<br />

welches dem angeblich so verhassten real existierende<br />

Sozialismus in vieler Hinsicht nicht unähnlich war. Wer<br />

sich außerhalb dieser Einheitsorgane zu betätigen versuchte,<br />

geriet schnell unter Druck. Es drohten Gefängnis<br />

und deutlich Schlimmeres.<br />

Chancengleichheit, gerechte ökonomische Verteilung<br />

usw. wurde als gegeben angesehen. Die strukturelle<br />

Benachteiligung bestimmter Gruppen, ja ganzer Völker,<br />

wollte Suharto nicht sehen. Kritische Stimmen gab<br />

es nur wenige. Nicht nur aus Angst. Denn ein Spezifikum<br />

marginalisierter Gruppen ist ja unter anderem,<br />

dass sie Schwierigkeiten haben, sich öffentlich zu artikulieren.<br />

Und die wenigen Privilegierten unter ihnen,<br />

die ausreichend Zugang zu Bildung haben, werden<br />

von ihren eigenen Leuten nicht unbedingt als authentisch<br />

oder repräsentativ angesehen, da sie der Elite zu<br />

nahe stehen. Tatsächlich wurden einige von ihnen<br />

begierig von der Elite aufgesogen und dienten fortan<br />

als Alibifiguren. So wenig man von einer ostdeutschen<br />

Kanzlerin auf die Berufschancen für Jugendliche in den<br />

Der Einflussbereich des Sultanates von Tidore<br />

32<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

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neuen Bundesländern schließen kann, so wenig konnte<br />

man von einem prominenten Nachrichtensprecher<br />

aus Papua auf die Bildungschancen in Wamena schließen.<br />

Der inoffizielle Maßstab, an dem sich alle zu messen<br />

hatten, waren die Verhältnisse auf Java. Aber leider<br />

sind es die Bewohner Javas (Javaner, Sundanesen<br />

usw.), die sich dessen am wenigsten bewusst sind. Sie<br />

reagieren mit völligem Unverständnis, wenn ihnen<br />

Ignoranz oder diskriminierende Ansichten vorgeworfen<br />

werden, so wie ein unaufgeklärter Mann abstreiten<br />

wird, er bevormunde seine Ehefrau. Diese Unaufgeklärtheit<br />

macht einen Interessenausgleich nicht einfacher.<br />

Umgekehrt sind natürlich auch die Bewohner der abgelegenen<br />

Regionen nicht immer Meister der differenzierenden<br />

Analyse. In Papua hegen viele indigene Einwohner<br />

Vorbehalte bis hin zu offenem Hass auf die<br />

„Javaner“, die sich dort breit machen. Dabei handelt<br />

es sich um Migranten, die teils im Rahmen von Regierungsprogrammen,<br />

teils auf eigene Faust nach Papua<br />

umgesiedelt sind. Nicht wenige dieser „Javaner“<br />

stammen von den Molukken oder aus Sulawesi. Ähnlich<br />

in Aceh: über diverse Listen im Internet erhalte ich<br />

von dort in einiger Regelmäßigkeit Pamphlete mit<br />

Hasstiraden auf die „Indonesisch/Javanischen Neokolonialisten“.<br />

Diese behandeln dann des öfteren einen<br />

aktuellen Zwischenfall, an dem ein Militärkommandant<br />

beteiligt war, dessen Name ihn eindeutig als Batak<br />

ausweist.<br />

Festzuhalten bleibt, dass unter Suharto der innere Zusammenhalt<br />

<strong>Indonesien</strong>s nicht gestärkt, sondern geschwächt<br />

wurde. Zahlreiche Konflikte wurden gesät,<br />

die aber erst später, nach Überwindung des repressiven<br />

Systems zum Ausbruch kommen sollten.<br />

Sie boten neue Identifikationsmuster an, die z.T. auf<br />

ethnischen, z.T. auf religiösen und anderen Zugehörigkeiten<br />

basierten. Sie alle funktionierten nach dem<br />

einfachen Prinzip der Ausgrenzung: Wir gegen die<br />

anderen. Diese destruktive Identitätsfindung dürfte<br />

eine wesentliche Ursache der blutigen Auseinadersetzungen<br />

auf den Molukken (Christen gegen Muslime),<br />

in Zentralsulawesi (dito) und in West-Kalimantan<br />

(Dayak gegen Maduresen) gewesen sein. Sie spielten<br />

eine Rolle bei den anti-chinesischen Pogromen in Jakarta<br />

und Solo 1998, ebenso wie sie ihren Beitrag zum<br />

Erstarken radikaler religiös orientierter Gruppen (nicht<br />

nur Muslime!) und krimineller Banden (preman) leisteten.<br />

Nicht zuletzt spielten und spielen sie eine Rolle in<br />

den Separationskonflikten um Aceh und West-Papua.<br />

(Auf die besonderen Umstände des Konfliktes in Osttimor<br />

möchte ich hier bewusst nicht eingehen, da dies<br />

den Rahmen sprengen würde).<br />

Der drohende Verlust von Teilen des Staatsgebietes<br />

beschleunigte die Dynamik, und der nahe liegende<br />

Verweis von politischen Beobachtern auf vergleichbare<br />

Entwicklungen nach dem Zerfall Jugoslawiens – Droht<br />

<strong>Indonesien</strong> die Balkanisierung? (mea culpa! Auch ich<br />

habe so getitelt) – taten ihr übriges. Die Nationalisten<br />

reagierten mit Durchhalteparolen und erlagen der<br />

Versuchung, die Konflikte mit harter Hand lösen zu<br />

wollen, was den Unabhängigkeitsbestrebungen natürlich<br />

nur neuen Auftrieb gab. Ein schwer zu durchbrechender<br />

Teufelskreis.<br />

Eine im Januar veröffentlichte Studie kommt zu dem<br />

Ergebnis, dass sich nur 39% der Bevölkerung in erster<br />

Linie als Indonesier identifizieren. 49% identifizieren<br />

sich in erster Linie mit ihrer lokalen, ethnischen oder<br />

religiösen Gemeinschaft (siehe Tabelle).<br />

Mit seinem Verzicht auf die Fortsetzung des nation<br />

building versäumte es Suharto neue identitätsschaffende<br />

Werte zu schaffen. Eine Zeit lang gelang es ihm<br />

durch eine scheinbar erfolgreiche Wirtschafts- und<br />

Entwicklungspolitik diesen Mangel zu übertünchen.<br />

Aber spätestens nachdem „sein“ Wirtschaftswunder<br />

1997/1998 wie eine leere Seifenblase zerplatzte, sieht<br />

sich <strong>Indonesien</strong> einer Identitätskrise ausgesetzt. „Auf<br />

was sollen wir als Indonesier stolz sein?“, lautet die<br />

unausgesprochene Frage.<br />

Auf der Suche nach der verlorenen Einheit – die Ära<br />

nach Suharto<br />

Bestimmte dubiose Gestalten wussten das Machtvakuum<br />

und die allgemeine Orientierungslosigkeit nach<br />

Suhartos Rücktritt schnell für ihre Zwecke zu nutzen.<br />

33<br />

Karte: Der Einflussbereich des Sultanates von Tidore


Type of identity<br />

1 st priority<br />

1 st + 2 nd priority<br />

1 st priority in Aceh<br />

and Papua<br />

1. As Indonesian citizens 39% 24% 19%<br />

2.<br />

As citizens of province/district<br />

15% 23% 18%<br />

3. As part of local community/ desa 11% 11% 14%<br />

4. As part of ethnic community 20% 20% 40%<br />

5. As part of religious community 12% 18% 10%<br />

from: DEMOS, Executive report, January 20, 20<strong>05</strong>, TOWARDS AN AGENDA FOR MEANINGFUL HUMAN RIGHTS-BASED DEMOCRACY<br />

Die Identifikation mit anderen Ethnien und deren<br />

Problemen fällt schwer, wenn man sie nicht kennt. Es<br />

wird oft als Ignoranz gewertet, dass viele Menschen<br />

auf Java nicht stärker um die Nöte ihrer Landsleute in<br />

anderen Teilen des Archipels besorgt sind. Es erscheint<br />

unfassbar, dass der anzügliche Tanzstil des javanischen<br />

Dangdut Stars Inul eher die Gemüter erregte als der<br />

gleichzeitige Kriegszustand in Aceh oder dass Jakarta<br />

mindestens drei Tage brauchte, um endlich zu begreifen,<br />

dass der Tsunami vom 26.12.2004 mehr war als<br />

nur eine weitere lokale Naturkatastrophe.<br />

Was die gesellschaftliche und politische Elite anbelangt,<br />

ist diese Kritik aus meiner Sicht berechtigt. Angehörige<br />

dieser Schicht sind äußerst mobil und man<br />

sollte erwarten dürfen, dass sie zu den Gegenden, die<br />

sie bereisen, ein bestimmtes Verhältnis aufbauen konnten.<br />

Für die große Masse der Menschen ist jedoch<br />

jeder andere Teil <strong>Indonesien</strong>s so weit weg wie Europa<br />

oder Afrika. Für einen Bauern auf Sumatra war der<br />

Krieg auf den Molukken nicht näher als der im Irak.<br />

Und nach bestimmten Regionen befragt, kommt<br />

schnell Unsicherheit auf, ob diese zu <strong>Indonesien</strong> gehören<br />

oder nicht. „Wieso braucht man nach Singapur<br />

einen Pass? Das ist doch noch <strong>Indonesien</strong>“, „Ja, ob<br />

Ternate zu <strong>Indonesien</strong> gehört oder zu den Philippinen<br />

..., wenn du mich so fragst ..., ich bin mir nicht sicher“,<br />

„Makassar, das ist in Malaysia. Da verdienen die<br />

Leute gut.“ Alles Zitate, die ich selbst gehört habe.<br />

Notwendigkeiten für eine bessere Zukunft <strong>Indonesien</strong>s.<br />

Mission impossible? I don’t think so. Die schiere<br />

Fülle der Probleme und die gewaltigen Dimensionen<br />

des Landes sind – vorsichtig ausgedrückt – große Herausforderungen.<br />

Es gilt jedoch die positiven Aspekte<br />

zu erkennen und zu nutzen. Die trotz allem Gesagten<br />

enorme Unvoreingenommenheit und Wissbegier, die<br />

beneidenswerte Gabe, fremde und neue Einflüsse in<br />

altbewährte Traditionen einfließen zu lassen und viele<br />

andere positive Eigenschaften der Menschen in <strong>Indonesien</strong><br />

sind ein nicht zu unterschätzendes Potenzial,<br />

das es nach Kräften zu fördern gilt.<br />

Einfache Lösungen liegen sicher nicht auf der Hand.<br />

Die Suche danach war auch nicht Anliegen dieses Vortrages.<br />

Denn bevor man nach Lösungen sucht, bedarf<br />

es einer eingehenden Problemanalyse. Vielleicht konnte<br />

ich hierzu einen kleinen Beitrag leisten.<br />

Mission impossible?<br />

Ein Mehr an Bildung, ein Mehr an finanziellem Spielraum<br />

für die Mehrheit der Bevölkerung, ein Mehr an<br />

Dialog und Austausch mit Landsleuten wie mit Ausländern<br />

und viele Mehrs mehr sind sicher dringende<br />

34<br />

DOKUMENTATIONSBRIEF INDONESIEN 5/20<strong>05</strong><br />

WWW.<strong>EMS</strong> -ONLINE.ORG


Impressum<br />

<strong>EMS</strong>-Dokumentationsbrief Nr. 5/20<strong>05</strong>: Vielfalt in Einheit. <strong>Indonesien</strong>s Ethnien im Wandel<br />

<strong>Indonesien</strong>tagung des <strong>EMS</strong> 14.-16.10.20<strong>05</strong> in Stuttgart<br />

Herausgegeben vom Evangelischen Missionswerk in Südwest deutschland e.V.<br />

Redaktion: Christine Grötzinger, David Tulaar<br />

Vogelsangstr. 62, 70197 Stuttgart, Deutschland<br />

Tel: 0711/ 636 78 -0; Fax: 0711/ 636 78 -45<br />

Mail: info@ems-online.org<br />

Internet: www.ems-online.org<br />

Bankverbindung: Ev. Kreditgenossenschaft Stuttgart, Konto-Nr. 124 (BLZ 600 606 06)<br />

35

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