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30. September 1964, Dairen<br />
Am Vorabend des Nationalfeiertages der Chinesis<strong>ch</strong>en Volksrepublik gibt die Partei ein Festessen,<br />
zu dem 10 Personen jedes im Hafen liegenden S<strong>ch</strong>iffes eingeladen sind. Natürli<strong>ch</strong> gehen<br />
da vorwiegend die hohen Tiere zu diesem Anlass – bei uns ist es der Kapitän, der Chief Officer,<br />
der Zweite Off, der Chief Ing (mit Frau!), der 3. Ingenieur... und Messboy Kleisli. Das will i<strong>ch</strong> mir<br />
ni<strong>ch</strong>t entgehen lassen! Das Essen interessiert mi<strong>ch</strong> zwar ni<strong>ch</strong>t, aber das ganze Drum und Dran<br />
s<strong>ch</strong>on. Das Bankett findet im «Friendshipstore» statt, der ganze Saal ist gross dekoriert, und<br />
die Tis<strong>ch</strong>e quellen mit Speisen über. An jedem Tis<strong>ch</strong> sind zwei <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e Gastgeber platziert,<br />
die Gäste kommen aus Japan, Russland, Norwegen, Grie<strong>ch</strong>enland, Spanien... und der S<strong>ch</strong>weiz.<br />
Natürli<strong>ch</strong> werden lange Reden ges<strong>ch</strong>wungen, die jedesmal vom Chinesis<strong>ch</strong>en ins Russis<strong>ch</strong>e,<br />
Englis<strong>ch</strong>e und Japanis<strong>ch</strong>e übersetzt werden. Bedeutet: Man muss si<strong>ch</strong> das Essen mit Geduld<br />
verdienen.<br />
Zentral bei diesen Reden ist die <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>-japanis<strong>ch</strong>e Freunds<strong>ch</strong>aft (wobei die japanis<strong>ch</strong>en Kapitäne<br />
na<strong>ch</strong> jeder Rede aufstehen und diese Freunds<strong>ch</strong>aft in einer Gegenrede weiter bes<strong>ch</strong>wören),<br />
dann kommt der «Forts<strong>ch</strong>ritt des <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Volkes» zur Spra<strong>ch</strong>e, zuerst Eigenruhm,<br />
dann bestätigt von den Japanern. Au<strong>ch</strong> während des Essen das glei<strong>ch</strong>e Prozedere. Immer wieder<br />
von Reden unterbro<strong>ch</strong>en – lang lebe die Partei. Und na<strong>ch</strong> jeder Rede wird auf die Chinesis<strong>ch</strong>e<br />
Volksrepublik angestossen, mit Wein, Bier, Reiswein und Wodka. Da kommt ganz s<strong>ch</strong>ön was<br />
zusammen, und die Stimmung wird immer besser. Das Essen ist hervorragend, und die Chinesen<br />
freuen si<strong>ch</strong>, dass wir «Imperialisten» s<strong>ch</strong>on ziemli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ickt mit Stäb<strong>ch</strong>en umgehen können.<br />
Wir bekommen au<strong>ch</strong> Gelegenheit, unsere Gastgeber in politis<strong>ch</strong>e Gesprä<strong>ch</strong>e zu verwickeln,<br />
do<strong>ch</strong> diese verlaufen s<strong>ch</strong>nell im Sand. Etwa so: Was halten Sie davon, dass ein fleissiger Mens<strong>ch</strong><br />
glei<strong>ch</strong> viel verdient wie ein fauler? Antwort: Bei uns gibt es nur fleissige Mens<strong>ch</strong>en. Oder: Ist es<br />
denn so, dass auf Ihren S<strong>ch</strong>iffen alle glei<strong>ch</strong> viel verdienen, der Kapitän soviel wie der Messboy?<br />
Nein, natürli<strong>ch</strong> verdient au<strong>ch</strong> bei uns ein Kapitän mehr als der Messboy, aber die Unters<strong>ch</strong>iede<br />
sind kleiner als bei eu<strong>ch</strong>. Aha. Der feu<strong>ch</strong>tfröhli<strong>ch</strong>e Abend gipfelt dann im Trinkspru<strong>ch</strong>: CAPTAINS,<br />
SEAMAN BROTHERS – UNITE AGAINST THE AMERICANS! Applaus, Applaus, und no<strong>ch</strong> ein Prost<br />
hinterher. Wir nehmen uns dabei ni<strong>ch</strong>t aus, s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> war das Essen ausgezei<strong>ch</strong>net.<br />
1. Oktober 1964, Dairen<br />
I<strong>ch</strong> kann wohl ni<strong>ch</strong>t mehr abstreiten, dass i<strong>ch</strong> eher Tourist als Messboy bin. Denn heute bekomme<br />
i<strong>ch</strong> wieder frei, um bei den Festivitäten zum 15. Jahrestag der Chinesis<strong>ch</strong>en Volksrepublik<br />
dabei zu sein. Ein Grossereignis! Auf einem riesigen Platz in Dairen sind mä<strong>ch</strong>tige Tribünen<br />
aufgebaut worden, auf der si<strong>ch</strong> die Parteibonzen und die hohen Militärs dem Volk zeigen. Zigtausende<br />
von Mens<strong>ch</strong>en säumen die breite Paradestrasse, und die Leute in den vorderen Reihen<br />
sind alle blütenweiss gekleidet und tragen eine rote Fahne vor si<strong>ch</strong>. Eindrückli<strong>ch</strong>! Wir fremden<br />
Besu<strong>ch</strong>er dürfen direkt neben der Ehrentribüne stehen, und wir haben sogar die Erlaubnis zu<br />
fotografieren und zu filmen. Punkt 09.00 h ertönt die Hymne, gespielt von einer mehrhundertköpfigen<br />
Blasmusik. Und dann gibt es natürli<strong>ch</strong> wieder Anspra<strong>ch</strong>en, endlos lang, und no<strong>ch</strong><br />
länger wirkend, wenn man ni<strong>ch</strong>ts versteht... Do<strong>ch</strong> ans<strong>ch</strong>liessend folgt eine Parade, wie i<strong>ch</strong> sie<br />
no<strong>ch</strong> nie im Leben gesehen habe. Das Mens<strong>ch</strong>enaufgebot ist gewaltig. 150‘000 Mens<strong>ch</strong>en<br />
in perfekter Mars<strong>ch</strong>disziplin, ein Block na<strong>ch</strong> dem anderen, jeder ein anderes Thema zeigend,<br />
und alles in herrli<strong>ch</strong>en Farben. Vers<strong>ch</strong>iedene Berufsgruppen, jeweils ein Symbol ihrer Tätigkeit<br />
mittragend, ganze Frauenblöcke mit Blumen, Kinderformationen mit Ballonen (jetzt wissen wir<br />
wenigstens, warum die s<strong>ch</strong>on seit Tagen in der Stadt so fleissig «Zugs<strong>ch</strong>ule» geübt haben...),<br />
Turnerinnen und Turner, jeder Block in einer anderen Farbe gekleidet, endlos... Wir fragen uns,<br />
wo diese Mens<strong>ch</strong>enmassen herkommen.<br />
Klar, dass die Hauptrolle des Umzugs dem Militär zufällt. Dieses zeigt si<strong>ch</strong> in unendli<strong>ch</strong>en Formationen,<br />
diszipliniert gegliedert na<strong>ch</strong> Waffengattung – von Infanterie, Mitrailleuren und Artillerie<br />
bis zu den Panzern, der Luftwaffe und der Marine. Die mitgeführten Symbole sind meist aus<br />
Holz und Karton, und feierli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>mückt und bes<strong>ch</strong>riftet. Das zentrale Thema ist der Konflikt<br />
zwis<strong>ch</strong>en den Chinesen einerseits und den Amerikanern und Russen anderseits. Ja, die Liebe<br />
zum «sozialistis<strong>ch</strong>en Verbündeten» UdSSR hat si<strong>ch</strong> abgekühlt in den letzten Jahren. Zwar hat<br />
man von der UdSSR das kommunistis<strong>ch</strong>e System übernommen, aber jetzt geht es um die Vorma<strong>ch</strong>tstellung<br />
im sozialistis<strong>ch</strong>en Block. Die Chinesen wollen ni<strong>ch</strong>t mehr die Nr. 2 hinter den<br />
Russen sein. No<strong>ch</strong> stärker ist die feindli<strong>ch</strong>e Stimmung gegenüber dem Westblock. Und eben hat<br />
man ein neues Thema «geliefert» bekommen: Den Vietnamkrieg. Jenen Konflikt, den die USA<br />
von den Franzosen übernommen haben. Na<strong>ch</strong> der Niederlage der Franzosen in der S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t von<br />
Dien Bien Phu im Jahre 1954 glauben nun die Amerikaner, hier siegen zu können. Im Umzug<br />
werden aber Sujets gezeigt, die das Gegenteil beweisen sollen: Abges<strong>ch</strong>ossene US-Flugzeuge<br />
in Form von Pappkarton. Und die Gesten dazu auf den Fahrzeugen sind klar: Die Vietnamesen<br />
und wir werden eu<strong>ch</strong> besiegen!