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Messboy<br />
auf hoher See<br />
Juni-Dezember 1964
Vorwort<br />
Mit 70 ist die Zeit reif, seine Memoiren zu verfassen. Wo beginnen? Meine<br />
Kindheit verlief so «normal» und wenig spektakulär, dass es si<strong>ch</strong> kaum lohnt, darauf<br />
speziell einzugehen. S<strong>ch</strong>ule, KV-Berufslehre, Rekrutens<strong>ch</strong>ule – alles Mittelmass.<br />
Dann aber, so mit 20, flammte in mir das berühmte «Fernweh» auf. I<strong>ch</strong> wollte raus<br />
aus dem Alltag, die Welt sehen, Abenteuer erleben. Nur, wie stellt man das an,<br />
wenn die finanziellen Mittel fehlen?<br />
Im Frühjahr 1964 – i<strong>ch</strong> war damals 22 Jahre jung – stiess i<strong>ch</strong> auf ein Zeitungsinserat<br />
der S<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>en Reederei AG: «Für unsere Ho<strong>ch</strong>sees<strong>ch</strong>iffe su<strong>ch</strong>en wir<br />
Messboys». Das weckte s<strong>ch</strong>lagartig mein Interesse. Ho<strong>ch</strong>sees<strong>ch</strong>iff! – das klang s<strong>ch</strong>on<br />
mal spannend. Obwohl i<strong>ch</strong> keine Ahnung hatte, was ein Messboy ist, bewarb i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong><br />
um diese Stelle. Dabei erfuhr i<strong>ch</strong>, was man von einem Messboy auf einem Fra<strong>ch</strong>ter<br />
erwartete: Keinerlei seemännis<strong>ch</strong>en Voraussetzungen, nur arbeitswillig hatte er zu<br />
sein, und bereit, jede Drecksarbeit zu verri<strong>ch</strong>ten. Das war kein Problem für mi<strong>ch</strong>.<br />
Um mi<strong>ch</strong> «einzus<strong>ch</strong>ulen», bestellte man mi<strong>ch</strong> ins S<strong>ch</strong>ifferhaus der S<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>en<br />
Reederei in Basel. Dort «lernte» i<strong>ch</strong> erstmals mit dreckigen Pfannen umzugehen,<br />
die Kü<strong>ch</strong>e zu putzen und Kartoffeln zu s<strong>ch</strong>älen. Na<strong>ch</strong> drei Wo<strong>ch</strong>en harter Arbeit war<br />
i<strong>ch</strong> reif für die Arbeit als Messboy – te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong> gesehen. Alles andere würde i<strong>ch</strong> dann<br />
an Bord eines Ho<strong>ch</strong>seedampfers lernen...<br />
Anfangs Juli 1964 kam i<strong>ch</strong> dann auf die MS Basilea, ein unter s<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>er<br />
Flagge operierender Kombifra<strong>ch</strong>ter mit knapp 10‘000 Tonnen Ladegewi<strong>ch</strong>t. Kombi<br />
heisst: Er war geeignet, sowohl Stück- wie au<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>üttgut zu transportieren. In einer<br />
Zeit weit vor den Containers<strong>ch</strong>iffen war das die ideale Voraussetzung für eine<br />
Weltreise: Fra<strong>ch</strong>taufträge wurden so angenommen, wie sie gerade anfielen, man<br />
wusste also ni<strong>ch</strong>t im voraus, wel<strong>ch</strong>e Häfen wann angelaufen wurden. Nur die Enddestination<br />
war bekannt, und die klang spektakulär: China! Das zu einer Zeit, als<br />
dieses Land no<strong>ch</strong> hermetis<strong>ch</strong> von der Welt abges<strong>ch</strong>lossen war.<br />
Der folgende Beri<strong>ch</strong>t hält si<strong>ch</strong> weitgehend an das von mir während des Trips<br />
geführte <strong>Tagebu<strong>ch</strong></strong>, au<strong>ch</strong> was die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Form betrifft. Selbst dann, wenn einiges<br />
heute ni<strong>ch</strong>t mehr «politis<strong>ch</strong> korrekt» klingt. Wer seekrank ist, der kotzt eben,<br />
und 1964 musste man einen Neger no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als S<strong>ch</strong>warzen bezei<strong>ch</strong>nen.<br />
Ein halbes Jahr Abenteuer auf hoher See – eine der prägendsten Phasen in<br />
meinem Leben. Sie haben mir mehr an Lebenserfahrung und Mens<strong>ch</strong>enkenntnis eingebra<strong>ch</strong>t<br />
als alle S<strong>ch</strong>ulen und Weiterbildungen zusammen.<br />
Fritz Kleisli, Sommer 2012
Messboy Fritz auf hoher See<br />
Was ist überhaupt ein Messboy? Diese Frage höre i<strong>ch</strong> immer wieder. Eine Art Messdiener? Ein<br />
Diener s<strong>ch</strong>on, aber ganz anderer Art: Der Messboy ist der unterste Dienstgrad auf einem Fra<strong>ch</strong>ter,<br />
und seine Arbeit besteht aus Kartoffeln s<strong>ch</strong>älen und anderen Hilfsdiensten in der Kü<strong>ch</strong>e, aus<br />
Abwas<strong>ch</strong>, Toilettenputzen, Sauberma<strong>ch</strong>en von Kabinen. Do<strong>ch</strong> bevor ein Messboy seine ri<strong>ch</strong>tige<br />
Tätigkeit auf dem S<strong>ch</strong>iff beginnen konnte, musste er zunä<strong>ch</strong>st seine «Eignung» im S<strong>ch</strong>ifferhaus<br />
Basel der S<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>en Reederei beweisen (und hier so zu sagen das «Diplom der Pfannens<strong>ch</strong>rubber»<br />
erwerben). Man s<strong>ch</strong>rieb den 16. Juni 1964, Messboy Fritz war 22 Jahre jung, keine<br />
Arbeit war ihm zu dreckig, und er war voller Tatendrang und Fernweh...<br />
29. Juni 1964, Antwerpen<br />
Der Kampf mit den dreckigen Pfannen im S<strong>ch</strong>ifferhaus Basel ist na<strong>ch</strong> zwei Wo<strong>ch</strong>en endli<strong>ch</strong><br />
gewonnen, i<strong>ch</strong> bin jetzt ein «studierter Messboy» – die Reise kann beginnen. Sie führt im überfüllten<br />
Zug von Basel na<strong>ch</strong> Antwerpen. Sitzplätze gibt es keine mehr, wir (zwei Decksjungen<br />
und zwei Messboys) verbringen die Na<strong>ch</strong>t am Boden im Vorraum neben dem WC, halb sitzend,<br />
halb auf unseren Koffern liegend – ohne ein Auge zuzuma<strong>ch</strong>en. In Antwerpen erwartet uns die<br />
Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t, dass unser S<strong>ch</strong>iff no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t im Hafen eingetroffen ist, und so erleben wir au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong><br />
die Atmosphäre im dortigen Seemannshaus (Internazionaal Zeemanshuiz). Die ersten Eindrücke<br />
als «Seemänner»... Na<strong>ch</strong>tleben in Antwerpen inklusive.<br />
MS Basilea<br />
2. Juli 1964, Antwerpen<br />
Um Mitterna<strong>ch</strong>t ist «unsere» MS Basilea in den Hafen von Antwerpen eingelaufen! Unser S<strong>ch</strong>iff!<br />
Was für eine Aufregung! Es gibt Grossalarm – wir müssen am Morgen sofort anmustern. Mit<br />
zwei Taxis fahren wir zum Pier im Hafen 113. Und hier steht sie nun, majestätis<strong>ch</strong>, mit S<strong>ch</strong>weizer<br />
Fahne am Heck... Heimathafen Basel (den hat die Basilea allerdings no<strong>ch</strong> nie gesehen und wird<br />
ihn au<strong>ch</strong> nie sehen...). Sie erstrahlt in sattem Grün und weissen Aufbauten. Wir sind überwältigt.<br />
Zeit zur Bewunderung gibt man uns allerdings ni<strong>ch</strong>t, denn der Chief-Steward lässt uns<br />
glei<strong>ch</strong> zur Sa<strong>ch</strong>e s<strong>ch</strong>reiten. Der bisherige Messboy, Ernst, nimmt uns in Empfang und zeigt uns<br />
unsere Kojen. Sie ist winzig und eng und liegt zuhinterst im S<strong>ch</strong>iff, direkt nebem dem lärmigen<br />
Ruder. Sie verfügt ni<strong>ch</strong>t mal über einen fla<strong>ch</strong>en Boden, denn sie liegt in der Rundung des Hecks<br />
und erlaubt gerade mal das S<strong>ch</strong>lafen in zwei übereinander liegenden Prits<strong>ch</strong>en, je etwa 70 cm<br />
s<strong>ch</strong>mal... Was solls, denke i<strong>ch</strong>, im Militär wars au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t viel besser.<br />
Das S<strong>ch</strong>iff kommt mir wie ein Irrgarten vor: Endlose Gänge, Treppen rauf und runter, Stahltüren...<br />
und überall sieht es glei<strong>ch</strong> aus. Wie soll man si<strong>ch</strong> da je zure<strong>ch</strong>tfinden?<br />
Die MS BASILEA, ein Fra<strong>ch</strong>ter der<br />
S<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>en Reederei, Baujahr<br />
1952, der auf der Fernostlinie<br />
Europa-China verkehrte.<br />
Die Reise 1964 begann in Antwerpen,<br />
führte über Rotterdam, Hamburg,<br />
Casablanca, dann dur<strong>ch</strong> den Suezkanal,<br />
na<strong>ch</strong> Djibouti (französis<strong>ch</strong> Somaliland),<br />
via Singapore na<strong>ch</strong> Bangkok,<br />
Hong Kong, S<strong>ch</strong>anghai, Dairen und<br />
wieder zurück na<strong>ch</strong> Europa.<br />
Die Ladekapazität betrug 9565 t für<br />
kombinierte Güter (Stückgut und<br />
S<strong>ch</strong>üttgut).<br />
Länge 140 m, Breite 18.4 m, Tiefgang<br />
7.8 m, Ges<strong>ch</strong>windigkeit 12 Knoten.<br />
Die 38-köpfige Besatzung bestand<br />
zu 80% aus S<strong>ch</strong>weizern, der Kapitän<br />
war ein Holländer.<br />
No<strong>ch</strong> im Hafen liegend, lerne i<strong>ch</strong> meinen Arbeitstag kennen. Tagwa<strong>ch</strong>e um 06.00 Uhr. Zuerst<br />
müssen die Toiletten gereinigt werden, dann wird der Gang geputzt, na<strong>ch</strong> dem Morgenessen<br />
abwas<strong>ch</strong>en, sieben Kabinen in Ordnung bringen, Hilfe beim Mittagessen servieren (i<strong>ch</strong> bin dem<br />
Salon der Unteroffiziere zugeteilt), dann wieder abwas<strong>ch</strong>en und Kü<strong>ch</strong>e aufräumen, ab 15.00<br />
Uhr zwei Stunden frei. Um 17.00 h beginnt die Hilfsarbeit in der Kü<strong>ch</strong>e fürs Abendessen, dana<strong>ch</strong><br />
folgt Abwas<strong>ch</strong> und Kü<strong>ch</strong>e aufräumen. So um 21.00 h ist der Tag für mi<strong>ch</strong> rum.<br />
4. Juli 1964, Rotterdam<br />
Kurz na<strong>ch</strong> Mitterna<strong>ch</strong>t läuft die MS Basilea aus, Ziel ist Rotterdam. Als i<strong>ch</strong> um se<strong>ch</strong>s aufstehe,<br />
sind wir s<strong>ch</strong>on auf offener See. Das Meer ist ziemli<strong>ch</strong> fla<strong>ch</strong>, trotzdem spüre i<strong>ch</strong> die Bewegung<br />
des S<strong>ch</strong>iffes – und mir ist elend. Das darf do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wahr sein, denke i<strong>ch</strong>, wenn i<strong>ch</strong> jetzt s<strong>ch</strong>on<br />
seekrank werde, wie soll das bloss herauskommen? Bei Sturm? Und sowas will ein Seemann<br />
sein! I<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>äme mi<strong>ch</strong> vor mir selbst. Aber dann legen wir um 11.15 h in Rotterdam an, und<br />
s<strong>ch</strong>lagartig geht es mir wieder gut. Trotzdem: Ein mieses Gefühl der Unsi<strong>ch</strong>erheit bleibt, und<br />
au<strong>ch</strong> ein biss<strong>ch</strong>en Angst vor der nahen Zukunft auf See.<br />
Sonntag, 5. Juli 1964, Rotterdam<br />
Sonntage sind Werktage im S<strong>ch</strong>iffsleben. Zumindest für das Hilfspersonal. Die Matrosen und<br />
Mas<strong>ch</strong>inisten arbeiten ni<strong>ch</strong>t, aber gegessen werden muss ja immer. Am Na<strong>ch</strong>mittag bekomme<br />
i<strong>ch</strong> vom Zweiten Steward frei, und so habe i<strong>ch</strong> die Gelegenheit, in Rotterdam den Euromast-<br />
Turm zu besu<strong>ch</strong>en und den Hafen zu erkunden. Rotterdam ist total modern – neu aufgebaut,<br />
denn im Zweiten Weltkrieg war ja die Stadt völlig zerbombt worden. Eindruck ma<strong>ch</strong>en mir die<br />
auf dem Reissbrett enstandenen Strassen mit ihren Ladenges<strong>ch</strong>äften. Vom Na<strong>ch</strong>tbummel komme<br />
i<strong>ch</strong> ziemli<strong>ch</strong> spät zurück und habe nur no<strong>ch</strong> ein paar Stunden S<strong>ch</strong>laf vor mir. Prompt vers<strong>ch</strong>lafe<br />
i<strong>ch</strong> am anderen Morgen. I<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>affe es gerade no<strong>ch</strong>, bevor es jemand bemerkt. Gut, dass au<strong>ch</strong><br />
die anderen ni<strong>ch</strong>t pünktli<strong>ch</strong> zum Morgenessen ers<strong>ch</strong>einen...
MS Basilea<br />
7. Juli 1964, Rotterdam<br />
Letzter Tag in Rotterdam. Das Lös<strong>ch</strong>en/Laden geht zügig voran, denn von Land aus arbeiten<br />
zwei riesige Krähne, und vom Wasser aus ein S<strong>ch</strong>wimmkrahn – ein gewaltiges Monster. Dieser<br />
s<strong>ch</strong>aufelt Eisenerz aus dem Bau<strong>ch</strong> der MS Basilea, das auf kleinere Kähne umgeladen wird, zum<br />
Teil sind au<strong>ch</strong> Rheins<strong>ch</strong>iffe dabei. Übrigens habe i<strong>ch</strong> darunter au<strong>ch</strong> das Rheins<strong>ch</strong>iff «Züri<strong>ch</strong>see»<br />
entdeckt.<br />
8./9. Juli 1964, Bremerhaven<br />
Glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Auslaufen aus Rotterdam und dem Errei<strong>ch</strong>en des offenen Meeres gibt es ganz<br />
anständige Wellen. I<strong>ch</strong> spüre aber keine Seekrankheit mehr und bin überglückli<strong>ch</strong>. Viellei<strong>ch</strong>t wird<br />
es do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t so s<strong>ch</strong>limm, ma<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> mir Hoffnung. Gegen Abend laufen wir in Bremerhaven ein.<br />
Düster und kalt ist es geworden, von Sommer keine Spur. Und der 2. Steward hat heute au<strong>ch</strong><br />
keinen guten Tag, er nörgelt an allem rum. I<strong>ch</strong> sage ni<strong>ch</strong>ts – und tue, was er von mir will.<br />
Heute haben wir «Store». Das heisst Anbordnahme von Lebensmitteln – hier in Bremerhaven ist<br />
es... das Becks-Bier. Wir laden 700 Kisten (!), das sind über 16‘800 Flas<strong>ch</strong>en. I<strong>ch</strong> kann es kaum<br />
glauben, für eine Reise und 38 Mann! Ein paar Stunden später weiss i<strong>ch</strong> es allerdings besser:<br />
Das erste «Bordfest» findet statt. I<strong>ch</strong> würde es eher als Sauferei bezei<strong>ch</strong>nen. I<strong>ch</strong> nehme daran<br />
allerdings nur als «Biers<strong>ch</strong>litten» teil, zum Mitfesten komme i<strong>ch</strong> kaum.<br />
14. Juli 1964, Hamburg<br />
Wir verlassen Bremerhaven, aber das geht ni<strong>ch</strong>t so s<strong>ch</strong>nell: Bevor man auf das offene Meer<br />
kommt, verbringt man ein paar Stunden in den S<strong>ch</strong>leusen. Das Wetter ist jetzt herrli<strong>ch</strong>, die See<br />
spiegelglatt. In der Zimmerstunde lege i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> aufs Peildeck neben den Kamin, geniesse die<br />
Sonne und s<strong>ch</strong>aue den Möwen zu, wie sie ohne einen Flügels<strong>ch</strong>lag mit unserer MS Basilea<br />
mits<strong>ch</strong>weben. Wunderbar. Gegen sieben Uhr befinden wir uns bereits auf der Elbe, Ri<strong>ch</strong>tung<br />
Hamburg.<br />
17. Juli 1964, Hamburg im Trockendock<br />
Die MS Basilea befindet si<strong>ch</strong> jetzt im Drockendock der Howaldtswerft zur Überholung. Den<br />
ganzen Tag über wurde s<strong>ch</strong>on an der Aussenhaut gearbeitet. Und im S<strong>ch</strong>iffsinnern geht alles<br />
drunter und drüber, weil keine Mas<strong>ch</strong>ine mehr läuft. Das hat au<strong>ch</strong> Auswirkungen auf den den<br />
Kü<strong>ch</strong>endienst: Kein warmes Essen heute, nur Brot und Wurst, und abwas<strong>ch</strong>en muss i<strong>ch</strong> mit<br />
kaltem Wasser.<br />
Im Hamburger Hafen gibt es interessante Dinge zu beoba<strong>ch</strong>ten. Auf der Steuerbordseite unseres<br />
Kahns liegt ein zerstörter U-Boot-Bunker aus dem zweiten Weltkrieg, den die Hamburger nun<br />
gerne weg hätten, was aber gar ni<strong>ch</strong>t so einfa<strong>ch</strong> ist. Die Mauern sind 5 Meter dick, und da<br />
benötigt man eine Menge Dynamit! Und damit ist der gesprengte Beton no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t weg... das<br />
dürfte no<strong>ch</strong> Jahre dauern, bis dieser Platz für neue Docks verwendbar wird.<br />
Auf der Backbordseite liegt ein umgekippter Fra<strong>ch</strong>ter im Ba<strong>ch</strong>, es ist die «MS Brunswick», ein<br />
Bananens<strong>ch</strong>iff, und au<strong>ch</strong> das sollte dringend wegges<strong>ch</strong>afft werden. An dieser Aufgabe «übt»<br />
man nun s<strong>ch</strong>on seit Monaten. Das Unglück passierte, als man die Brunswick vom Trockendock<br />
ins Wasser lassen wollte. Hoffentli<strong>ch</strong> passiert das uns ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong>, sonst ist meine s<strong>ch</strong>öne Reise<br />
im Eimer, bevor sie ri<strong>ch</strong>tig begonnen hat...<br />
Die MS Basilea im<br />
Trockendock in Hamburg<br />
20. Juli 1964, Hamburg im Trockendock<br />
Mein letzter Arbeitstag im Salon – ab morgen soll i<strong>ch</strong> die Bootsmanns-Messe übernehmen. Wie<br />
si<strong>ch</strong> meine Arbeit verändern wird, werde i<strong>ch</strong> sehen. Der Grund für den We<strong>ch</strong>sel liegt bei «Chef-<br />
Messboy» Ernst Wittmer, der älteste Messboy an Bord, der bisher die «Boots» betreute und nun<br />
lieber im Salon arbeiten mö<strong>ch</strong>te. Ihm gehört das Vorre<strong>ch</strong>t der Wahl.<br />
Au<strong>ch</strong> auf der Brücke gibt es einen We<strong>ch</strong>sel. Der bisherige Kapitän der MS Basilea, der Klotener<br />
Domingo Bü<strong>ch</strong>eler, wird auf dem kommendem Trip ni<strong>ch</strong>t unser Boss sein. Sein Na<strong>ch</strong>folger ist<br />
der Holländer Vinzenz Grisar. Und no<strong>ch</strong> ein paar weitere Führungskräfte werden neu an Bord<br />
kommen: Der Chiefmate, der Chiefengineer sowie der Zweite und Dritte Offizier. Wie weit i<strong>ch</strong><br />
mit diesen hohen Tieren in Kontakt kommen werde, wird si<strong>ch</strong> zeigen – den bisherigen Kapitän<br />
habe i<strong>ch</strong> jedenfalls no<strong>ch</strong> nie zu Gesi<strong>ch</strong>t bekommen, der weiss si<strong>ch</strong>er au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, dass es an Bord<br />
jetzt einen Messboy Fritz gibt...<br />
Die gekenterte «Brunswick»<br />
In der Crew geht das Gerü<strong>ch</strong>t um, dass wir morgen ausdocken können. Mir wärs re<strong>ch</strong>t, dann<br />
kämen wir auf die Ausrüstungspier und hätten dort endli<strong>ch</strong> mal wieder Wasser.
Offizierssalon<br />
Meine Pantry<br />
21. Juli 1964, Hamburg<br />
Mein We<strong>ch</strong>sel in die Bootsmanns-Messe hat fürs erste positive Auswirkungen: Weniger Arbeit!<br />
I<strong>ch</strong> benutze die freie Zeit, um von Bord zu gehen und ein paar Dinge zu posten, die i<strong>ch</strong> für die<br />
Reise brau<strong>ch</strong>e. Die erstaunli<strong>ch</strong>ste Akquisition: Ein dunkler Kittel und eine passende Krawatte.<br />
Nie hätte i<strong>ch</strong> geda<strong>ch</strong>t, dass i<strong>ch</strong> hier sowas tragen müsste. I<strong>ch</strong> hatte mir vorgestellt, dass die<br />
Seeleute in Jeans und Pulli an Land gehen. Aber weit gefehlt! Alle stürzen si<strong>ch</strong> in S<strong>ch</strong>ale und<br />
Krawatte, wenn es Landgang gibt, vom Offizier bis runter zum Decksjungen. Da passe i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong><br />
wohl besser an, au<strong>ch</strong> wenn i<strong>ch</strong> mir dabei etwas ges<strong>ch</strong>niegelt vorkomme.<br />
Als i<strong>ch</strong> gegen 17 Uhr von meiner Shoppingtour zur Howaldtswerft zurückkomme, finde i<strong>ch</strong> die<br />
MS Basilea ni<strong>ch</strong>t mehr im Dock! I<strong>ch</strong> erkundige mi<strong>ch</strong> bei der Werftleitung. Dort sagt man mir,<br />
dass mein S<strong>ch</strong>iff jetzt am Pier 97 liegt. Als i<strong>ch</strong> dieses endli<strong>ch</strong> gefunden habe, trifft mi<strong>ch</strong> der<br />
S<strong>ch</strong>lag: Die MS Basilea liegt mitten im Hafenbecken! Wie komme i<strong>ch</strong> jetzt da bloss hin? Da<br />
bemerke i<strong>ch</strong>, dass unser Kahn an einen Hamburger Fra<strong>ch</strong>ter, die «Spreewald», gekoppelt ist.<br />
Also klettere i<strong>ch</strong> erst auf diesen und springe dann «zu uns» rüber. No<strong>ch</strong>mal S<strong>ch</strong>wein gehabt.<br />
22. Juli 1964, Hamburg<br />
Ein harter Arbeitstag. Neben meinen Aufgaben in der Bootsmesse muss i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> die<br />
Offiziersmesse betreuen, denn der Dritte Steward, der normalerweise dafür zuständig ist, musste<br />
zur Polizeistation, um einen Diebstahl zu melden: Aus seiner Kabine sind ein Radio, eine Uhr,<br />
Geld und andere Wertsa<strong>ch</strong>en gestohlen worden. Von der Crew wars si<strong>ch</strong>er keiner, aber es hatten<br />
viele Leute Zutritt während der Zeit im Dock. Niemand glaubt wirkli<strong>ch</strong>, dass die Polizei den Dieb<br />
ausfindig ma<strong>ch</strong>en kann.<br />
Auf dem S<strong>ch</strong>iff ist es hö<strong>ch</strong>st ungemütli<strong>ch</strong>. Es ist kalt, regneris<strong>ch</strong>, und ni<strong>ch</strong>ts funktioniert: kein<br />
Strom, kein Wasser (no<strong>ch</strong> immer ni<strong>ch</strong>t!), und der Baulärm ist unerträgli<strong>ch</strong>. Es wird gehämmert,<br />
ges<strong>ch</strong>weisst und geklopft, als ob man die MS Basilea zu S<strong>ch</strong>rott hauen würde, dabei soll sie<br />
do<strong>ch</strong> instand gestellt werden...<br />
23. Juli 1964, Hamburg<br />
Heute ist eine Reporterin des Ringier-Verlages bei uns an Bord.<br />
Sie ma<strong>ch</strong>t ein Interview mit mehreren Seeleuten, au<strong>ch</strong> mit mir.<br />
Dieses wird in der «Sie&Er» ers<strong>ch</strong>einen, und i<strong>ch</strong> bin mä<strong>ch</strong>tig<br />
stolz. Der Report trägt den Titel «Helvetia auf allen Meeren»<br />
und bes<strong>ch</strong>reibt einige der 31 Ho<strong>ch</strong>sees<strong>ch</strong>iffe, die für s<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>e<br />
Reedereien weltweit unterwegs sind, darunter au<strong>ch</strong><br />
die MS Basilea.<br />
Messboy Fritz in der «Sie+Er»<br />
Kü<strong>ch</strong>e<br />
25. Juli 1964, Hamburg<br />
Hamburg ohne Reeperbahn geht natürli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t!<br />
Die «Landgang-Profis» ma<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> einen Spass daraus, mi<strong>ch</strong><br />
Grüns<strong>ch</strong>nabel ins Na<strong>ch</strong>tleben hier einzuführen: Es sind dies der Basilea-Ko<strong>ch</strong><br />
Hans Dörflinger und der Dritte Steward Kurt Stamm. Was die zwei an Lokalen kennen! –<br />
i<strong>ch</strong> komme aus dem Staunen ni<strong>ch</strong>t heraus. Besonders trinkfest bin i<strong>ch</strong> ja ni<strong>ch</strong>t, aber i<strong>ch</strong> will<br />
mi<strong>ch</strong> natürli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t lumpen lassen und versu<strong>ch</strong>e so gut es geht, mitzuhalten, aber glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
mit Alkohol vorsi<strong>ch</strong>tig zu sein, wohl wissend, dass anderntags hö<strong>ch</strong>stens ein brummender Kopf<br />
warten würde. Trotzdem geniesse i<strong>ch</strong> die lange Hamburger Na<strong>ch</strong>t, die bis in die frühen Morgenstunden<br />
dauert. Zuhause im provinziellen Züri<strong>ch</strong> ist ja alles ab 24.00 Uhr ges<strong>ch</strong>lossen. An alle<br />
besu<strong>ch</strong>ten Lokale auf der Reeperbahn kann i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> zwar ni<strong>ch</strong>t mehr erinnern, aber die Namen<br />
Roxy, Zillertal, Washington-Bar, TopTen, StarClub und Santa Fe sind mir immerhin geblieben...<br />
und, a<strong>ch</strong> ja, das Alte St.Pauli war au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> dabei. Wir haben einen Riesenspass, und die halbe<br />
Heuer ist s<strong>ch</strong>on weg, bevor i<strong>ch</strong> die erste Abre<strong>ch</strong>nung zu sehen bekomme (die wird es erst in<br />
einem Monat geben, und sie dürfte si<strong>ch</strong> auf etwa 275 Franken belaufen). Morgens um halbse<strong>ch</strong>s<br />
ma<strong>ch</strong>en wir endli<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>luss und errei<strong>ch</strong>en gerade no<strong>ch</strong> die erste Fähre zur Howaldtswerft zurück.<br />
Wir kommen eine halbe Stunde zu spät zur Arbeit. Unser Zuspätkommen hat allerdings<br />
keine Folgen, es sind nur wenige Matrosen und Mas<strong>ch</strong>inisten zum Essen da, – wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong><br />
waren die au<strong>ch</strong> unterwegs und liegen no<strong>ch</strong> in der Koje.<br />
26. Juli 1964, Hamburg<br />
Mit brummendem Kopf wanke i<strong>ch</strong> von a<strong>ch</strong>tern zu meiner Pantry und erledige meine Arbeiten im<br />
Halbs<strong>ch</strong>laf. Blöd nur, dass in der Bootsmesse zusätzli<strong>ch</strong> fünf Stauer zu Gast sind, die au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong><br />
betreut sein wollen. Dazu kommt no<strong>ch</strong> ein «Riesen-Store» rein: Unmengen von Lebensmitteln,<br />
Getränken und Putzmitteln für Monate unterwegs... Das muss alles sorgfältig aussortiert und so<br />
verstaut und gelagert werden, dass man sinnvoll Zugriff darauf hat.
28. Juli 1964, Hamburg<br />
Der Tag, auf den i<strong>ch</strong> lange gewartet habe: Der letzte in Hamburg – jetzt kann die «ri<strong>ch</strong>tige»<br />
Reise endli<strong>ch</strong> beginnen! Heute erhalten wir vom 2. Offizier, der an Bord au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> das Amt des<br />
«Mediziners» innehat, die Impfungen gegen Cholera und Gelbes Fieber; wir werden ja s<strong>ch</strong>on<br />
bald in tropis<strong>ch</strong>en Gebieten unterwegs sein. Vom Stauer-Chef, der bei mir in der Bootsmesse<br />
isst, habe i<strong>ch</strong> erfahren, was wir hier in Hamburg geladen haben. Es sind Fässer mit Chemikalien<br />
für S<strong>ch</strong>anghai, Glas und S<strong>ch</strong>wefel für Hong Kong, diverse Stückgüter für <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e Häfen, und<br />
ein paar Kisten mit Mas<strong>ch</strong>inen und Mas<strong>ch</strong>inenteilen für Bangkok. Die Hauptladung, Phosphat,<br />
werden wir in Marokko an Bord nehmen. Phosphat wird als Düngemittel verwendet und soll in<br />
China gelös<strong>ch</strong>t werden, 7‘000 Tonnen, eine unvorstellbare Menge.<br />
Hafen Hamburg<br />
1. August-Feier auf See,<br />
mit S<strong>ch</strong>iessen...<br />
...und saufen<br />
Casablanca<br />
Vom weissen S<strong>ch</strong>üttgut Phosphat<br />
gezei<strong>ch</strong>nete Hafenanlagen<br />
31. Juli 1964, Antwerpen<br />
Antwerpen ist der letzte europäis<strong>ch</strong>e Hafen für eine geraume Zeit. Hier «bunkern» wir no<strong>ch</strong>mals<br />
tü<strong>ch</strong>tig, unter anderem kommen 2 Tonnen Fleis<strong>ch</strong> an Bord! Eine happige Arbeit, das alles im<br />
Kühlraum zu verstauen. Ufff! Um a<strong>ch</strong>t Uhr abends ist es soweit: Die beiden S<strong>ch</strong>leppkähne ziehen<br />
uns aus dem Hafen und in die S<strong>ch</strong>leuse, die das Tor zum «Great Trip» bedeutet.<br />
1. August 1964, auf See<br />
Diese Na<strong>ch</strong>t haben wir den Golf von Biscaya errei<strong>ch</strong>t, der bekannt ist für stürmis<strong>ch</strong>e See. Aber<br />
wir haben Glück, es herrs<strong>ch</strong>t wunderbares Wetter, und die MS Basilea s<strong>ch</strong>aukelt nur wenig.<br />
Genug für mi<strong>ch</strong> allerdings, um wieder seekrank zu werden. Es ist zum Kotzen, und das darf man<br />
wörtli<strong>ch</strong> nehmen. I<strong>ch</strong> fühle mi<strong>ch</strong> elend in jeder Beziehung, mag ni<strong>ch</strong>ts essen, bin verzweifelt und<br />
verunsi<strong>ch</strong>ert. Wie soll i<strong>ch</strong> diese Reise bloss überstehen? Die anderen Messboys und die «Decks»<br />
(so nennt man die Jungmatrosen) spüren offenbar ni<strong>ch</strong>ts, sie s<strong>ch</strong>einen bereits seefest zu sein.<br />
Und finden natürli<strong>ch</strong> Gefallen daran, mi<strong>ch</strong> zu hänseln, dass es mi<strong>ch</strong> erwis<strong>ch</strong>t hat. Toll. Aber i<strong>ch</strong><br />
habe keine Kraft, mi<strong>ch</strong> zu wehren. Und arbeiten muss i<strong>ch</strong> ja sowieso, denn hier an Bord kümmert<br />
si<strong>ch</strong> kein S<strong>ch</strong>wein darum, wie mies es mir geht. Kü<strong>ch</strong>e, Kabinen und Messe haben einfa<strong>ch</strong><br />
geputzt zu sein und das Essen muss auf dem Tis<strong>ch</strong> stehen. Versteh i<strong>ch</strong> ja. Viellei<strong>ch</strong>t ist Arbeit<br />
ganz gut, das lenkt immerhin etwas ab. Trotzdem, die erste Begeisterung für die Seefahrerei<br />
ist verflogen, und von der 1. August-Feier an Bord habe i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t viel (wenn i<strong>ch</strong> nur s<strong>ch</strong>on an<br />
Alkohol denke, wird mir s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t...).<br />
3. August 1964, auf See<br />
Hoffnung keimt auf. Im Atlantik zwis<strong>ch</strong>en Europa und Afrika rollt und stampft die Basilea ganz<br />
s<strong>ch</strong>ön, und denno<strong>ch</strong> geht es mir den Umständen entspre<strong>ch</strong>end ziemli<strong>ch</strong> gut. Ob i<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong><br />
seefest werde? Am Vormittag liegen wir drei Stunden ohne Fahrt zu ma<strong>ch</strong>en, denn eine Ladung<br />
Röhren, die wir in Bremerhaven an Bord genommen haben, hat si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die heftigen Rollbewegungen<br />
des S<strong>ch</strong>iffes gelöst und muss neu gelas<strong>ch</strong>t werden. Ni<strong>ch</strong>t ganz einfa<strong>ch</strong>, aber das<br />
Manöver gelingt. Ni<strong>ch</strong>t auszudenken, was hätte passieren können, wenn die Röhren ein Leck in<br />
die Bordwand ges<strong>ch</strong>lagen hätten. PS: Heute haben wir einen Wal gesehen!<br />
4. August 1964, Casablanca<br />
Es ist no<strong>ch</strong> ziemli<strong>ch</strong> dunkel, als wir am frühen Morgen die Küste Afrikas erblicken. Vor uns liegt<br />
Marokko mit seiner Hauptstadt Casablanca. Die Silhouette der Stadt mit ihren weissen Häusern<br />
ist gut zu erkennen. Wir liegen bis fünf Uhr na<strong>ch</strong>mittags vor Anker – bloss ein paar hundert Meter<br />
vom Land weg. Erst gegen Abend laufen wir in den Hafen ein, mit Hilfe eines S<strong>ch</strong>leppers, und<br />
kaum sind wir an der Mole, beginnen au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on die Ladearbeiten: 7‘000 Tonnen Phosphat!<br />
Die MS Basilea ist ein sogenannter kombinierter Fra<strong>ch</strong>ter. Sie kann ni<strong>ch</strong>t nur Stück-, sondern<br />
au<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>üttgut transportieren. Das Phosphat, eine Art Pulver, wird «unverpackt» einfa<strong>ch</strong> in den<br />
S<strong>ch</strong>iffsbau<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>üttet. Was das bedeutet, wird uns s<strong>ch</strong>nell klar: Der Dreck, der dabei entsteht,<br />
ist gewaltig. Obwohl alle Luken, Bullaugen und Türen vers<strong>ch</strong>lossen sind, findet der feine Staub<br />
überall Einlass und tün<strong>ch</strong>t alles weiss. In der Kü<strong>ch</strong>e und in meiner Pantry sieht es aus, als ob‘s<br />
ges<strong>ch</strong>neit hätte, alles bekommt einen weissen Belag: Das Ges<strong>ch</strong>irr genauso wie Brot, Gemüse,<br />
Fleis<strong>ch</strong>... und auf dem Deck liegt der Staub zentimeterdick. Mehr als genug Arbeit für die nä<strong>ch</strong>sten<br />
Tage. Die Matrosen und Deckjungen werden damit zu tun haben... und i<strong>ch</strong>, weil der ganze<br />
Dreck ständig in die Gänge, Kabinen und Essräume ges<strong>ch</strong>leppt wird.<br />
Aber das ist ni<strong>ch</strong>t unser grösstes Problem. Dieses besteht vielmehr darin, ob es endli<strong>ch</strong> Landgang<br />
gibt! Nur weiss niemand, ni<strong>ch</strong>t mal der Funker, der sonst alles weiss, ob es einen Landpass<br />
brau<strong>ch</strong>t. Alle stehen bereit und warten ungeduldig im «Ausgangstenu». S<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> kommt die<br />
Meldung, dass der S<strong>ch</strong>weizerpass genügt. Jetzt aber ni<strong>ch</strong>ts wie los! Zum ersten Mal in meinem<br />
Leben setze i<strong>ch</strong> meinen Fuss auf afrikanis<strong>ch</strong>en Boden, was für ein bewegender Moment! Der<br />
Weg in die Stadt ist ni<strong>ch</strong>t weit, und ein Einheimis<strong>ch</strong>er drängt si<strong>ch</strong> auf, uns (i<strong>ch</strong> bin mit Otto, dem<br />
Mas<strong>ch</strong>inisten unterwegs) den Weg zum Seemannshaus und zur American Bar zu zeigen, die er
Hafenhändler...<br />
natürli<strong>ch</strong> gross anpreist. Wir sind dann ni<strong>ch</strong>t so begeistert wie er, denn dort ist gar ni<strong>ch</strong>ts los.<br />
Aber auf Casablancas Strassen und Gäss<strong>ch</strong>en dafür umso mehr: Vers<strong>ch</strong>leierte Frauen, kleine<br />
Kinder bis in alle Na<strong>ch</strong>t, und Männer, die uns ständig um Zigaretten anbetteln oder si<strong>ch</strong> als<br />
Führer anbieten, um uns den «Weg ins Puff» zu zeigen oder «Figgbilder» zu verkaufen. Es gibt<br />
aber au<strong>ch</strong> massenhaft Strassenhändler – alle in herrli<strong>ch</strong> farbigen Gewänder gekleidet – , die uns<br />
bloss S<strong>ch</strong>uhbändel oder Spanis<strong>ch</strong>e Nüssli andrehen wollen. Eine Stadt zum Austoben s<strong>ch</strong>eint es<br />
ni<strong>ch</strong>t zu sein, aber das brau<strong>ch</strong>en wir au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, das hatten wir ja eben in Hamburg. Aufregend<br />
für uns ist vielmehr das für uns neue afrikanis<strong>ch</strong>e Ambiente.<br />
5. August 1964, Casablanca<br />
Der Andrang der Strassenhändler am Abend zuvor war «heilig» gemessen an dem, was jetzt auf<br />
uns zukommt. Seit den frühen Morgenstunden strömen heerweise S<strong>ch</strong>iffshändler auf die MS<br />
Basilea. Die einen kommen via Hafenmole über die Gangway, die andern mit kleinen Booten<br />
längsseits. Das Angebot ist unüberblickbar und rei<strong>ch</strong>t von Frü<strong>ch</strong>ten über Uhren, Silberwaren,<br />
Messingtellern, farbigen Tü<strong>ch</strong>ern und Decken, Zeitungen, Zeits<strong>ch</strong>riften, Hüten und S<strong>ch</strong>uhen bis<br />
zu ...lebenden S<strong>ch</strong>ildkröten! Aber au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>aus nützli<strong>ch</strong>e Sa<strong>ch</strong>en sind dabei, die ein Seemann<br />
benötigt, wie Seife, Zahnpasta, Rau<strong>ch</strong>waren, Socken, S<strong>ch</strong>uhbändel und so weiter. Wir decken<br />
uns mit dem Nötigen ein. Das Handeln ma<strong>ch</strong>t Spass, weil es keine fixen Preise gibt, es kann aber<br />
man<strong>ch</strong>mal ziemli<strong>ch</strong> anstrengend sein, bis man den ersten Fantasiepreis des Verkäufers auf ein<br />
vernünftiges Mass runtergehandelt hat.<br />
...und ihr rei<strong>ch</strong>es Angebot<br />
Casablanca<br />
Wie es heisst, soll das bereits unser letzter Tag in Casablanca sein – am Abend werden wir bereits<br />
wieder auslaufen. Also nutze i<strong>ch</strong> meine «Zimmerstunde», s<strong>ch</strong>nappe die Kamera und nehme<br />
mir die Stadt, diesmal am Tage, no<strong>ch</strong>mals vor. Sie ist wirkli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ön mit ihren weissen Gebäuden,<br />
den Palmenalleen und dem farbigen Treiben. Um halbfünf muss i<strong>ch</strong> wieder zurück an Bord sein,<br />
und kurz dana<strong>ch</strong> ertönt das Signal zum Ablegen. Zwei ziemli<strong>ch</strong> abgehalfert wirkende S<strong>ch</strong>lepper<br />
ziehen uns aufs offene Meer, und weiter geht die Reise. Ziel ist Tunesien.<br />
7. August 1964, auf See<br />
Die Tage auf dem Wasser gefallen mir immer besser. Verträumt aufs Meer raus blicken und den<br />
Delfinen zus<strong>ch</strong>auen – herrli<strong>ch</strong>. Und das Salz des Meeres rie<strong>ch</strong>en, die endlose Weite und das<br />
Gefühl von Abenteuer erleben...<br />
Na<strong>ch</strong> der Dur<strong>ch</strong>fahrt dur<strong>ch</strong> die Meerenge von Gibraltar befinden wir uns jetzt im Mittelmeer, das<br />
spiegelglatt und blau ist. Aber es ist heiss geworden, und beim S<strong>ch</strong>reiben des Tagesbu<strong>ch</strong>es tropft<br />
der S<strong>ch</strong>weiss aufs Papier... Die Matrosen haben auf Deck ein 4x4 Meter grosses S<strong>ch</strong>wimmbassin<br />
aufgebaut, das mit Meerwasser gefüllt wird. Wer gerade frei hat, nutzt es mit Begeisterung.<br />
Vom Zimmermann habe i<strong>ch</strong> mir die Haare s<strong>ch</strong>neiden<br />
lassen, ein «Coupe Basilea», superkurz und<br />
praktis<strong>ch</strong>, ideal bei dieser Hitze. In der Kabine ist es<br />
unerträgli<strong>ch</strong> heiss geworden, und so baue i<strong>ch</strong> mir<br />
eine «Sommerresidenz» auf Deck auf, dort, wo au<strong>ch</strong><br />
einer meiner Arbeitsplätze liegt: Neben dem Kartoffelbunker<br />
(!), von wo i<strong>ch</strong> jeden Tag ein paar Kessel<br />
Kartoffeln zum S<strong>ch</strong>älen runters<strong>ch</strong>leppen muss. Wenn<br />
die Nä<strong>ch</strong>te so warm sind wie jetzt, ist das ein wunderbarer<br />
Ort zum s<strong>ch</strong>lafen, stets von einer sanften<br />
Meeresbrise gekühlt.<br />
9. August 1964, Sfax (Tunesien)<br />
Ein idyllis<strong>ch</strong>er Hafen, er befindet si<strong>ch</strong> praktis<strong>ch</strong> mitten in der Stadt, umgeben von Häusern und<br />
Mos<strong>ch</strong>een. Der Bummel dur<strong>ch</strong> die Stadt ist grossartig – genau, wie man si<strong>ch</strong> eine tunesis<strong>ch</strong>e<br />
Stadt vorstellt: weisse Gebäude, Frü<strong>ch</strong>teverkäufer, Händler, Gemüsemarkt, vers<strong>ch</strong>leierte Frauen,<br />
enge Gäss<strong>ch</strong>en mit ihren typis<strong>ch</strong>en Düften von Gewürzen, orientalis<strong>ch</strong>er Musik, halb verhungerten<br />
Katzen und Hunde, die hier ni<strong>ch</strong>ts wert sind und in Abfallkübeln na<strong>ch</strong> Fressbarem graben,<br />
unglaubli<strong>ch</strong> hässli<strong>ch</strong>e Weiber in den Strassen des Rotli<strong>ch</strong>tbezirkes (das trifft dann meine Vorstellungen<br />
von 1001 Na<strong>ch</strong>t eher weniger...). Der Aufenthalt der MS Basilea in Sfax ist ziemli<strong>ch</strong> kurz.<br />
Wir laden ein paar Ölfässer, lös<strong>ch</strong>en ein paar Kisten und weiter gehts.<br />
Meine S<strong>ch</strong>lafstelle auf Deck<br />
11. August 1964, auf See<br />
Das Mittelmeer zeigt si<strong>ch</strong> heute mal von seiner weniger freundli<strong>ch</strong>en Seite. Sturm wäre zwar zu<br />
viel gesagt, aber die MS Basilea rollt ganz s<strong>ch</strong>ön. Wir sind auf dem Weg zum Suez-Kanal, die<br />
erste Station dort heisst Port Said.
14. August 1964, Port Said<br />
Seit 08.00 Uhr stehen wir vor dem Suezkanal – aber wir sind ni<strong>ch</strong>t die einzigen. Und so ergibt<br />
si<strong>ch</strong> eine beträ<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Wartes<strong>ch</strong>lange. Wie es heisst, werden wir so gegen Mitterna<strong>ch</strong>t an der<br />
Reihe sein. Es werden immer sogenannte Konvois gebildet, die dann zusammen dur<strong>ch</strong> den Kanal<br />
fahren. Landgang gibt es hier keinen, Port Said wird von den Ägyptern wie ein Militärgebiet<br />
behandelt. Wer Souvenirs kaufen mö<strong>ch</strong>te, kann dies aber trotzdem tun, denn wenn wir ni<strong>ch</strong>t<br />
zu den Händlern an Land gehen können, kommen diese eben zu uns aufs S<strong>ch</strong>iff. I<strong>ch</strong> kaufe eine<br />
Ledertas<strong>ch</strong>e und taus<strong>ch</strong>e eine Flas<strong>ch</strong>e Bier (!) gegen ein kleines Stoffkamel. Zudem erstehe i<strong>ch</strong><br />
mir einen Hocker für meine Koje, einen Marocaine. Drei US-Dollars ers<strong>ch</strong>eint billig, aber i<strong>ch</strong> habe<br />
hinterher trotzdem das Gefühl, über den Tis<strong>ch</strong> gezogen worden zu sein.<br />
Port Said<br />
15. August 1964, Suezkanal<br />
Wir sind tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> um Mitterna<strong>ch</strong>t an die Reihe gekommen und fahren nun im Konvoi – ein<br />
S<strong>ch</strong>iff hinter dem anderen – dur<strong>ch</strong> den Kanal. Als i<strong>ch</strong> um 6 Uhr aufstehe, haben wir bereits zwei<br />
Drittel der Strecke hinter uns gebra<strong>ch</strong>t. Der Suezkanal ist 162 Kilometer lang und wurde 1869<br />
eröffnet. Nun liegen wir bis Mittag in der Auswei<strong>ch</strong>stelle für den Gegenverkehr im Grossen<br />
Bittersee. Dana<strong>ch</strong> gehts weiter Ri<strong>ch</strong>tung Rotes Meer. Die Dur<strong>ch</strong>fahrt dur<strong>ch</strong> den Kanal ist ziemli<strong>ch</strong><br />
eintönig. Auf der Backbordseite eine endlose Wüste, auf Steuerbord hie und da eine Oase, aber<br />
nur wenige Häuser, Mens<strong>ch</strong>en und ein paar Kamele. S<strong>ch</strong>on spannender dann ein Militärflugplatz,<br />
auf dem die MIG-Düsenjäger in Reih und Glied stehen. Von der Stadt am Ende des Kanals,<br />
Suez, bekommen wir ni<strong>ch</strong>t viel mit, denn wir fahren glei<strong>ch</strong> weiter ins Rote Meer, südli<strong>ch</strong> an der<br />
Sinai-Halbinsel vorbei.<br />
18. August 1964, Rotes Meer<br />
Was für eine Hitze! Das Thermometer zeigt 39 Grad, die Luftfeu<strong>ch</strong>tigkeit beträgt 92%, und<br />
mir ist, als würde mir der Kopf zerspringen. Leider sind das hier ja keine Badeferien – i<strong>ch</strong> muss<br />
arbeiten, und der S<strong>ch</strong>weiss läuft nur so runter beim Kartoffelns<strong>ch</strong>älen. Zum Glück kann i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong><br />
na<strong>ch</strong>ts auf meine Liege auf Deck beim Kartoffelbunker zurückziehen, – Welten besser als in der<br />
Koje! Im übrigen ist die Stimmung an Bord ausgezei<strong>ch</strong>net, und i<strong>ch</strong> habe eben vom Bootsmann<br />
erfahren, dass er mit meiner Arbeit zufrieden ist. Freut mi<strong>ch</strong> natürli<strong>ch</strong>.<br />
Suezkanal<br />
19. August 1964, Djibouti<br />
Lange dauert der Aufenthalt hier ni<strong>ch</strong>t, denn es gibt ni<strong>ch</strong>ts zu lös<strong>ch</strong>en, wir bunkern nur Diesel.<br />
«Shore Leave» ist auf 21.00 Uhr angesetzt. Das gibt uns immerhin die Mögli<strong>ch</strong>keit, an Land<br />
zu gehen und etwas von Djibouti zu sehen. Was auffällt: Die Leute hier sind grossgewa<strong>ch</strong>sen,<br />
haben lange, dünne Hälse, und ihre Haut ist s<strong>ch</strong>warz, aber sowas von s<strong>ch</strong>warz! Einige s<strong>ch</strong>öne,<br />
stolz und aufre<strong>ch</strong>t gehende Negerinnen erfreuen unser Auge, aber da gibt es au<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>reckend<br />
viele verkrüppelte Mens<strong>ch</strong>en, denen Arme oder Beine fehlen, au<strong>ch</strong> zahlrei<strong>ch</strong>e Blinde. Wir fragen<br />
uns warum, kennen aber die Antwort ni<strong>ch</strong>t. Halbnackte Kleinkinder rennen hinter uns her und<br />
betteln, und die etwas Älteren s<strong>ch</strong>reien «Want a fogg?». Eigentli<strong>ch</strong> wäre ja Französis<strong>ch</strong> die<br />
erste Fremdspra<strong>ch</strong>e hier neben dem Arabis<strong>ch</strong>en, denn Djibouti liegt im Gebiet von Französis<strong>ch</strong>-<br />
Somalia. Aber offenbar finden die Leute das Englis<strong>ch</strong> praktis<strong>ch</strong>er, um uns Fremde anzuspre<strong>ch</strong>en.<br />
In den Strassen liegt ein unbes<strong>ch</strong>reibli<strong>ch</strong>er Dreck, und in einigen Quartieren stinkt es dermassen,<br />
dass wir freiwillig den Rückzug antreten. Zudem empfinden wir mit der Zeit die Aufdringli<strong>ch</strong>keit<br />
der selbsternannten «Mö<strong>ch</strong>tegern-Fremdenführer» unerträgli<strong>ch</strong>. Als Andenken kaufe i<strong>ch</strong> einen<br />
kleinen Negerinnenkopf aus Holz. Dann fahren wir im Taxi (es ist ein roter Chevi Impala!) zurück<br />
zum Hafen und gehen wieder an Bord. Um 23.00 Uhr heisst es Leinen los für eine extrem lange<br />
Strecke: Diesmal werden wir für fast zwei Wo<strong>ch</strong>en auf See sein! Ziel Singapore.<br />
Djibouti<br />
23. August 1964, auf See<br />
Den Persis<strong>ch</strong>en Golf und das Horn von Afrika haben wir hinter uns, jetzt befinden wir uns im<br />
Indis<strong>ch</strong>en Ozean. Mir geht es hundsmiserabel, i<strong>ch</strong> bin wieder seekrank. Die MS Basilea rollt seit<br />
Tagen (und Nä<strong>ch</strong>ten...) wie verrückt, von einer Seite zur anderen, mit je 40 Grad S<strong>ch</strong>lagseite, hin<br />
und her, hin und her... Und i<strong>ch</strong> muss arbeiten! Die beiden Kö<strong>ch</strong>e und der Bootsmann haben zwar<br />
Erbarmen mit mir und nehmen mir ab, was sie können – aber ri<strong>ch</strong>tig helfen kann mir niemand.<br />
I<strong>ch</strong> muss da dur<strong>ch</strong>. Alles, was i<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te, ist festen Boden unter den Füssen. Aber den werde i<strong>ch</strong><br />
wohl erst in zehn Tagen wieder bekommen. I<strong>ch</strong> ertappe mi<strong>ch</strong> dabei, dass i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> zuhause<br />
sehne, na<strong>ch</strong> Regen, der Fünftagewo<strong>ch</strong>e, den Bergen... i<strong>ch</strong> verflu<strong>ch</strong>e die Seefahrt.<br />
Das Verrückte an diesem Seegang ist, dass praktis<strong>ch</strong> keine Wellen zu sehen sind. Aber ein paar<br />
Meter unter der Meeresoberflä<strong>ch</strong>e wütet das Wasser no<strong>ch</strong>, weil wenige Tage zuvor ein Sturm<br />
herrs<strong>ch</strong>te. Und diese Unterwasserkräfte – sie wirken wie eine einzige, langgezogene Riesenwelle<br />
– lassen die MS Basilea rollen und wie besoffen s<strong>ch</strong>wanken, als ob wir harten Seegang
hätten. Wie lange das wohl no<strong>ch</strong> dauern wird? Na<strong>ch</strong>ts habe i<strong>ch</strong> viel Zeit, über meine Situation<br />
na<strong>ch</strong>zudenken, denn s<strong>ch</strong>lafen kann i<strong>ch</strong> bei dieser Rollerei eh ni<strong>ch</strong>t, i<strong>ch</strong> muss mi<strong>ch</strong> ständig festhalten,<br />
damit i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t von der Liege falle. S<strong>ch</strong>on jetzt kommen Gedanken ho<strong>ch</strong>, ob i<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />
dieser Reise – die i<strong>ch</strong> natürli<strong>ch</strong> jetzt ni<strong>ch</strong>t aufgeben will, das liesse mein Stolz ni<strong>ch</strong>t zu! – mit<br />
der Seefahrerei aufhören will. Dagegen spri<strong>ch</strong>t, dass es so viel auf der Welt zu sehen gibt; dafür<br />
spri<strong>ch</strong>t allerdings, dass die Verblödung an Bord s<strong>ch</strong>on Angst ma<strong>ch</strong>t. I<strong>ch</strong> sehe das vor allem bei<br />
jenen, die ihr Leben s<strong>ch</strong>on seit Jahren auf See verbringen. Anderseits denke i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong>, dass das<br />
mi<strong>ch</strong> ja ni<strong>ch</strong>t betreffen muss. I<strong>ch</strong> bin hin und her gerissen. Und die Na<strong>ch</strong>t will ni<strong>ch</strong>t enden...<br />
Indis<strong>ch</strong>er Ozean<br />
28. August 1964, Indis<strong>ch</strong>er Ozean<br />
Wind und Wellen nehmen zu. Die MS Basilea rollt und rollt immer stärker, man<strong>ch</strong>mal legt sie<br />
si<strong>ch</strong> so tief, dass Spritzer aufs Deck kommen. Inzwis<strong>ch</strong>en haben die Matrosen alle Bullaugen<br />
und Türen vers<strong>ch</strong>lossen, damit kein Wasser in die Aufenthaltsräume dringt. Damit in der Kü<strong>ch</strong>e<br />
ni<strong>ch</strong>t alles vom Tis<strong>ch</strong> fällt, legen wir nasse Tis<strong>ch</strong>tü<strong>ch</strong>er, die etwas Halt bieten. Und alles muss<br />
«gelas<strong>ch</strong>t» werden, was von den Gestellen fallen könnte. Immerhin geht es mir jetzt etwas<br />
besser, seit i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> an die Rollerei gewöhnt habe. Hoffentli<strong>ch</strong> hält das.<br />
29. August 1964, Indis<strong>ch</strong>er Ozean<br />
Aus dem Wind ist ein Sturm geworden, der uns mitten in der Na<strong>ch</strong>t überfallen hat. Wie aus<br />
Kübeln begann es zu giessen, alle paar Sekunden zuckten Blitze auf, die die Na<strong>ch</strong>t taghell<br />
ers<strong>ch</strong>einen liessen, und aus meiner Freiluftliege auf Deck ist innert Minuten ein «Wasserbett»<br />
geworden. Ni<strong>ch</strong>t weiter s<strong>ch</strong>limm, denn es ist ja warm hier. Die MS Basilea rollt jetzt ni<strong>ch</strong>t nur, sie<br />
stampft au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong>. Aber das ertrage i<strong>ch</strong> inzwis<strong>ch</strong>en mit Fassung.<br />
30. August 1964, Strasse von Malakka<br />
Na<strong>ch</strong> 11 Tagen Wasser sehen wir endli<strong>ch</strong> mal wieder Land. Das tut gut. Au<strong>ch</strong> wenn es nur ein<br />
paar grüne Inseln sind, die zu Sumatra gehören. Seit 5 Uhr morgens sind wir ni<strong>ch</strong>t mehr im Indis<strong>ch</strong>en<br />
Ozean, sondern in der Strasse von Malakka – und das S<strong>ch</strong>aukeln hat ein Ende gefunden,<br />
das Meer liegt wie ein Teppi<strong>ch</strong>, und wir alle freuen uns, wieder mal gerade stehen zu können.<br />
Und wunderbar warm ist es au<strong>ch</strong>. Seit Antwerpen habe i<strong>ch</strong> nie mehr ein Hemd getragen... das<br />
tun nur no<strong>ch</strong> die Offiziere.<br />
Zur Feier der Ozeanüberquerung gibt‘s abends ein Riesenfest an Bord, mit Musik, S<strong>ch</strong>iessstand,<br />
viel, viel Bier und Lärm...<br />
31. August 1964, Strasse von Malakka<br />
... und gewaltigen Auswirkungen für mi<strong>ch</strong> am anderen Morgen. I<strong>ch</strong> selbst habe mi<strong>ch</strong> zwar früh<br />
auf meine S<strong>ch</strong>lafliege an Deck zurückgezogen, aber einige der Matrosen hängen no<strong>ch</strong> immer<br />
«halbvoll» rum. Und i<strong>ch</strong> darf jetzt aufräumen und das Gekotze in den Toiletten und Gängen<br />
wegputzen. Es gibt S<strong>ch</strong>öneres.<br />
Singapore<br />
1. September 1964, Singapore<br />
Seit dem letzten Hafen sind nun 13 Tage vergangen... und alle freuen si<strong>ch</strong> auf Landgang. Aber<br />
daraus wird ni<strong>ch</strong>ts! Die Pier ist zu klein und s<strong>ch</strong>on belegt von anderen S<strong>ch</strong>iffen, also müssen wir<br />
draussen vor Anker gehen und die paar Kisten, die zu lös<strong>ch</strong>en sind, auf kleine Boote laden. Viel<br />
ist es ni<strong>ch</strong>t. Einen kleinen Teil der Stadt sehen wir vom S<strong>ch</strong>iff aus. Was für eine Enttäus<strong>ch</strong>ung!<br />
Auf dem Kahn ist allerdings ein Riesenbetrieb: Eine Unmenge S<strong>ch</strong>iffshändler und -innen sind an<br />
Bord gekommen und bieten alles an, was man si<strong>ch</strong> ausdenken kann. I<strong>ch</strong> kaufe für drei Dollar,<br />
etwa 12 Franken, zwei paar Hosen!<br />
2. September 1964, auf See<br />
Das Hauptthema der gesamten Crew auf dem S<strong>ch</strong>iff: Wie lange werden wir wohl in Bangkok<br />
bleiben können? Bangkok ist bei den Matrosen die beliebteste Destination. Warum, weiss i<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t. Aber i<strong>ch</strong> spüre die Aufbru<strong>ch</strong>stimmung, die jetzt herrs<strong>ch</strong>t, und i<strong>ch</strong> fühle mi<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> immer<br />
wohler an Bord. An ein frühzeitiges Abmustern denke i<strong>ch</strong> jedenfalls ni<strong>ch</strong>t mehr... Im Gegenteil:<br />
Bereits ist zur Spra<strong>ch</strong>e gekommen, ob man mir auf dieser Reise s<strong>ch</strong>on den «3. Steward» verleihen<br />
solle. Karriere ma<strong>ch</strong>en auf der MS Basilea? Wer weiss...<br />
3. September 1964, auf See<br />
Heute erhalte i<strong>ch</strong> meine erste Heuerabre<strong>ch</strong>nung. Und sie gefällt mir! Hat si<strong>ch</strong> gelohnt, dass i<strong>ch</strong><br />
mi<strong>ch</strong> mit den Getränken zurückgehalten habe: I<strong>ch</strong> habe die kleinste Store-Abre<strong>ch</strong>nung aller<br />
Besatzungsmitglieder, die auf einen S<strong>ch</strong>nitt von Fr. 280.– kommen, i<strong>ch</strong> habe gerade mal 75.90<br />
für Getränke ausgegeben. Und auf meinem Konto verbleiben somit Fr. 508.30 für zwei Monate<br />
Arbeit, das ist ein Stück mehr, als viele Mas<strong>ch</strong>inisten und Matrosen haben.
4. September 1964, Bangkok<br />
Der von allen ersehnte Tag ist da: wir sind in Bangkok! Von drei Uhr morgens bis zum späten<br />
Na<strong>ch</strong>mittag müssen wir allerdings auf offener See vor Anker liegen. Der Grund: Wir warten, bis<br />
der Bangkok River genügend Wasser führt. Die Flussfahrt dauert dann no<strong>ch</strong> drei Stunden, bis<br />
wir im Hafen ankommen. Aber eigentli<strong>ch</strong> ist es gar kein Hafen, die S<strong>ch</strong>iffe werden einfa<strong>ch</strong> dem<br />
Fluss entlang festgema<strong>ch</strong>t.<br />
Bangkok River<br />
S<strong>ch</strong>ätz<strong>ch</strong>en Piak<br />
Und vom Moment des Festma<strong>ch</strong>ens an wird au<strong>ch</strong> mir klar, warum Bangkok bei der Crew so<br />
ungeheuer beliebt ist: Innert Minuten wimmelt es auf dem S<strong>ch</strong>iff von hübs<strong>ch</strong>en Mäd<strong>ch</strong>en. Aha,<br />
das ist also der Zauber dieser Stadt... und ni<strong>ch</strong>t die berühmten Tempel.<br />
S<strong>ch</strong>on am ersten Abend gehen wir an Land – sobald die Formalitäten erledigt sind. Bäcker Charly<br />
S<strong>ch</strong>mid zeigt mir die eins<strong>ch</strong>lägigen Lokale, die wir einem dreirädrigen Vespataxi errei<strong>ch</strong>en.<br />
Und i<strong>ch</strong> komme aus dem Stauen ni<strong>ch</strong>t heraus. So viele s<strong>ch</strong>öne Frauen habe i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> nie auf<br />
«einem Haufen» gesehen! Und sie sind viel, viel netter als die Abrissweiber in den europäis<strong>ch</strong>en<br />
Häfen. Höfli<strong>ch</strong> und lieb, ni<strong>ch</strong>t aufdringli<strong>ch</strong>, und ni<strong>ch</strong>t von der Sorte «Na Kleener, willst au<strong>ch</strong><br />
mal?». Und sie vermitteln einem ni<strong>ch</strong>t das Gefühl, dass es nur um Kohle geht. Naja, das wissen<br />
wir ja trotzdem. Wer die Wahl hat, hat die Qual! Es ist gar ni<strong>ch</strong>t so lei<strong>ch</strong>t, das sympathis<strong>ch</strong>ste<br />
Girl zu finden. Alle mit s<strong>ch</strong>lanken Figuren, braune, zarte Haut, dunkle Augen und ein hübs<strong>ch</strong>es<br />
Näs<strong>ch</strong>en... Wir trinken eine Cola, und Charly ents<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> zügig und vers<strong>ch</strong>windet, wohin<br />
au<strong>ch</strong> immer. Und i<strong>ch</strong> bleibe allein zurück, was nun? Ein süsser Käfer, Piak heisst sie, nimmt<br />
mir die Ents<strong>ch</strong>eidung ab und fragt, ob i<strong>ch</strong> mit ihr na<strong>ch</strong> Hause kommen wolle. Und ob i<strong>ch</strong> will.<br />
Wir spazieren los zu ihrem Heim. Es ist eine Art «Pfahlbauersiedlung», wir mars<strong>ch</strong>ieren dur<strong>ch</strong><br />
Dreck und Sumpf, über Bretter hinweg, die die Hauptstrasse des Dorfes bilden, verwilderte<br />
Katzen und Hunde streifen umher, und i<strong>ch</strong> komme mir vor wie im Film. Es ist so spannend und<br />
aufregend, dass i<strong>ch</strong> gar keine Zeit habe für Angstgefühle. Piaks Hütte erweist si<strong>ch</strong> dann von<br />
aussen als ziemli<strong>ch</strong> verwahrlost, aber innen ist sie hübs<strong>ch</strong> eingeri<strong>ch</strong>tet und sauber geputzt. Die<br />
im Hauptraum anwesenden Eltern, Grosseltern, Ges<strong>ch</strong>wister und Tanten sitzen alle am Boden<br />
und begrüssen mi<strong>ch</strong> begeistert. Für sie ist es völlig normal, dass die Tö<strong>ch</strong>ter oder Enkelinnen<br />
ihren neuen «Boyfriend» mit na<strong>ch</strong> Hause bringen – i<strong>ch</strong> bin etwas verlegen und erröte, was man<br />
la<strong>ch</strong>end zur Kenntnis nimmt. Ras<strong>ch</strong> erkenne i<strong>ch</strong>, dass Besu<strong>ch</strong>er wie i<strong>ch</strong> zum Lebensunterhalt der<br />
ganzen Sipps<strong>ch</strong>aft beitragen. Zuerst wollen natürli<strong>ch</strong> alle wissen, woher i<strong>ch</strong> komme. S<strong>ch</strong>weiz?<br />
Davon hat no<strong>ch</strong> nie jemand gehört, aber Europa rei<strong>ch</strong>t für den Moment au<strong>ch</strong>. Der bisher laufende<br />
TV-Kasten wird jedenfalls sofort abges<strong>ch</strong>altet, denn das Hauptereignis bin nun i<strong>ch</strong>. I<strong>ch</strong><br />
konstatiere das mit gemis<strong>ch</strong>ten Gefühlen... Die Grossmutter bringt ein Getränk, jemand ein paar<br />
Kekse. Viel Konversation gibt es ni<strong>ch</strong>t, die Spra<strong>ch</strong>barrieren sind zu gross. Aber dann wird es für<br />
mi<strong>ch</strong> dramatis<strong>ch</strong>. Mein Girl beginnt si<strong>ch</strong> zu entkleiden, inmitten der ganzen Sipps<strong>ch</strong>aft. Nein!,<br />
denke i<strong>ch</strong>, das darf do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wahr sein, soll i<strong>ch</strong> etwa hier...in diesem Raum... vor allen Leuten...<br />
Do<strong>ch</strong> das Ganze wendet si<strong>ch</strong> zum Guten. Piak, inzwis<strong>ch</strong>en halbnackt, nimmt mi<strong>ch</strong> an der Hand<br />
und führt mi<strong>ch</strong> in einen Nebenraum. Ein wunderbares (Liebes)Nest aus farbigen Tü<strong>ch</strong>ern, einer<br />
breiten Matratze mit hellblauem Moskitonetz, ri<strong>ch</strong>tig kus<strong>ch</strong>elig. Wir s<strong>ch</strong>lüpfen beide rein. Piak<br />
muss erkannt haben, dass i<strong>ch</strong> Anfänger bin, denn sie geht sehr zärtli<strong>ch</strong> mit mir um, entkleidet<br />
si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> ganz und dann mi<strong>ch</strong>. Vom Zweiten Offizier sind wir no<strong>ch</strong> an Bord ermahnt worden,<br />
dass wir uns vor Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tskrankheiten s<strong>ch</strong>ützen sollen. Er verteilte zweierlei: Eine Salbe, die<br />
man(n) in die Harnröhre eingeben soll, und ein paar Pariser. Da i<strong>ch</strong> einer der ganz Vorsi<strong>ch</strong>tigen<br />
(oder Ängstli<strong>ch</strong>en?) bin, verwende i<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong> beides... si<strong>ch</strong>er ist si<strong>ch</strong>er. Piak s<strong>ch</strong>munzelt nur. I<strong>ch</strong><br />
bleibe die ganze Na<strong>ch</strong>t bei ihr und finde es wunders<strong>ch</strong>ön.<br />
Auf dem Na<strong>ch</strong>hauseweg werde i<strong>ch</strong> von einer hübs<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>warz-weissen Katze begleitet, und<br />
i<strong>ch</strong> male mir s<strong>ch</strong>on aus, dass sie bestens zu unserer S<strong>ch</strong>iffskatze, Globi, passen würde. Aber kurz<br />
vor der Gangway will sie ni<strong>ch</strong>t mehr und verabs<strong>ch</strong>iedet si<strong>ch</strong> blitzartig.<br />
5. September 1964, Bangkok<br />
Einen normalen Arbeitstag kann man das ni<strong>ch</strong>t nennen, obwohl i<strong>ch</strong> arbeiten muss. Überall stehen<br />
einem die Mäd<strong>ch</strong>en im Wege, aber i<strong>ch</strong> finde das ganze Dur<strong>ch</strong>einander an Bord lustig. Am<br />
Vormittag kommen die «Flas<strong>ch</strong>engirls» in ihren Booten längsseits, und die Matrosen ma<strong>ch</strong>en<br />
si<strong>ch</strong> einen Spass daraus, ihnen die tausenden von Becks-Flas<strong>ch</strong>en, die wir auf der Reise s<strong>ch</strong>on<br />
geleert haben, in Kartons runterzulassen. Man<strong>ch</strong>e werfen die Kartons au<strong>ch</strong> ungezielt runter<br />
und s<strong>ch</strong>auen dann dem bunten Treiben zu, wie die Mäd<strong>ch</strong>en sie aus dem Fluss fis<strong>ch</strong>en. Auf den<br />
Flas<strong>ch</strong>enbooten sitzen au<strong>ch</strong> junge Burs<strong>ch</strong>en, die jeweils na<strong>ch</strong> einzelnen Flas<strong>ch</strong>en tau<strong>ch</strong>en – in<br />
dieser unsägli<strong>ch</strong>en braunen Brühe. Wie die da unten was sehen können, wird mir ewig s<strong>ch</strong>leierhaft<br />
bleiben. Und dann die Überras<strong>ch</strong>ung: «Meine» Piak besu<strong>ch</strong>t mi<strong>ch</strong> an Bord, um bye bye zu<br />
sagen. I<strong>ch</strong> bin ganz gerührt. Sie verspri<strong>ch</strong>t, bei unserer Rückfahrt wieder zu Besu<strong>ch</strong> zu kommen.<br />
Hoffentli<strong>ch</strong> laufen wir Bangkok auf dem Na<strong>ch</strong>hauseweg wieder an!
6. September 1964, Bangkok<br />
Die Sensation: Wir erhalten eine ganz besondere Fra<strong>ch</strong>t, nämli<strong>ch</strong> 300 Wasserbüffel und Kühe!<br />
Sie sind für HongKong bestimmt – fürs S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>thaus. Keine lei<strong>ch</strong>te Aufgabe, denn sie sollen dort<br />
lebendig ankommen. Die Tiere werden an Deck festgebunden, ein anderer Platz steht ja ni<strong>ch</strong>t<br />
zur Verfügung, denn der S<strong>ch</strong>iffsbau<strong>ch</strong> ist voll. Leib an Leib stehen die armen Vie<strong>ch</strong>er und können<br />
si<strong>ch</strong> kaum bewegen. Und der Zimmermann baut überall Holztreppen, da die übli<strong>ch</strong>en Wege auf<br />
Deck geblockt sind dur<strong>ch</strong> die Kühe. Die Matrosen stellen ihre normale Arbeit ein – die sonst<br />
meist aus Rostklopfen und Malen besteht – und betätigen si<strong>ch</strong> nun als «Farmer». Den ganzen<br />
Tag hindur<strong>ch</strong> muss nun getränkt, gefüttert und gewässert werden, damit die Tiere in der Hitze<br />
ni<strong>ch</strong>t eingehen. Sentimentalität kommt auf, au<strong>ch</strong> bei hartgesottenen Seemännern. Sie strei<strong>ch</strong>eln<br />
die Büffel, wenn sie si<strong>ch</strong> unbeoba<strong>ch</strong>tet fühlen, und tun au<strong>ch</strong> sonst alles, um ihnen die letzten<br />
Tage ni<strong>ch</strong>t zur Hölle werden zu lassen. Hoffentli<strong>ch</strong> ist die See ruhig, sonst gibt es ein Massaker.<br />
Die besondere Fra<strong>ch</strong>t...<br />
7. September 1964, auf See<br />
Die ganze Crew geniesst es, mit diesen Tieren zusammen zu sein. Okay, sie ma<strong>ch</strong>en viel Dreck,<br />
aber das stört niemanden. Einige sind sehr zutrauli<strong>ch</strong> geworden, und die Manns<strong>ch</strong>aft versu<strong>ch</strong>t,<br />
den Büffeln das Leben zu erlei<strong>ch</strong>tern, soweit dies mögli<strong>ch</strong> ist. Die Matrosen sind pausenlos damit<br />
bes<strong>ch</strong>äftigt, sie zu tränken und zu füttern und kübelweise Wasser auf die brutal der Sonne<br />
ausgesetzten Leiber zu giessen. Für einige ist die Hitze trotzdem zum Verhängnis geworden.<br />
Die toten Leiber werden mit einer Winde über Bord gehievt. Immerhin bekommen die anderen<br />
dadur<strong>ch</strong> etwas mehr Platz.<br />
9. September 1964, auf See<br />
Die Mas<strong>ch</strong>inen sind gestoppt, wir liegen ohne Fahrt irgendwo im <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Meer und warten<br />
auf Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten, wie si<strong>ch</strong> ein Taifun bewegen wird, der zur Zeit auf den Philippinen tobt. Vers<strong>ch</strong>windet<br />
er nördli<strong>ch</strong>, dann ist‘s gut und wir können Ri<strong>ch</strong>tung Hong Kong weiterfahren, kommt<br />
er aber auf uns zu, wirds brenzling und wir müssten abhauen. So warten wir eben...<br />
Um 21.00 Uhr kommt die Meldung, der Taifun bewege si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Also ents<strong>ch</strong>eidet der Kapitän,<br />
dass wir weiterfahren. Länger warten können wir eh ni<strong>ch</strong>t, da sonst das Futter für die Büffel zu<br />
Ende geht.<br />
...tägli<strong>ch</strong> mehrmals tränken<br />
Messboy Fritz auf der «Farm»<br />
11. September 1964, Hong Kong<br />
Wir errei<strong>ch</strong>en die grosse Bu<strong>ch</strong>t gegen 14.00 Uhr. Die Bergzüge rings um die Stadt liegen in<br />
di<strong>ch</strong>tem Nebel, es regnet, und die Si<strong>ch</strong>t ist miserabel. Denno<strong>ch</strong> sieht man ansatzweise die imponierende<br />
Silhouette der Wolkenkratzer. Einen Hafen gibt es ni<strong>ch</strong>t, zumindest ni<strong>ch</strong>t für uns. Wir<br />
gehen in der Bu<strong>ch</strong>t vor Anker, und was gelös<strong>ch</strong>t werden muss, wird in kleinere Boote verladen.<br />
Und wer von Bord will, muss si<strong>ch</strong> ein Boot mieten. Und i<strong>ch</strong> will von Bord! Solange habe i<strong>ch</strong> von<br />
Hong Kong geträumt, dass i<strong>ch</strong> mir jetzt keine Minute entgehen lassen will. Vom Chiefsteward<br />
erhalte i<strong>ch</strong> die Erlaubnis, den Abendservice auszulassen, was mir die Mögli<strong>ch</strong>keit gibt, die Stadt<br />
bei Tag und bei Na<strong>ch</strong>t zu sehen. Das habe i<strong>ch</strong> dem Taifun zu verdanken. Wären wir früher eingelaufen,<br />
hätten wir Hong Kong wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> gegen Abend s<strong>ch</strong>on wieder verlassen.<br />
Der erste Weg an Land führt zum Fotoges<strong>ch</strong>äft, wo i<strong>ch</strong> Filme und ein Fernglas kaufe. Dann lasse<br />
i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> von einer Riks<strong>ch</strong>a zum Peak-Tram fahren, mit dem man auf den berühmten Aussi<strong>ch</strong>tspunkt<br />
Victoria Peak Park gelangt. I<strong>ch</strong> bin total begeistert und finde, dass das die s<strong>ch</strong>önste Stadt<br />
ist, die i<strong>ch</strong> je gesehen habe. Die Aussi<strong>ch</strong>t auf das Stadtzentrum, den Hafen und auf die gegenüberliegenden<br />
Berge faszinieren mi<strong>ch</strong>, i<strong>ch</strong> komme mir vor wie im Kino. Aber i<strong>ch</strong> bin wirkli<strong>ch</strong><br />
hier! Am Abend besu<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> den Peak no<strong>ch</strong>mals, Hong Kong by night, e<strong>ch</strong>t klasse. Und au<strong>ch</strong> der<br />
nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Stadtbummel hat‘s in si<strong>ch</strong>. Im Victoriaviertel, wo die Händler zuhause sind, gibt es<br />
ganze Strassen mit nur S<strong>ch</strong>neidern oder mit nur S<strong>ch</strong>uhma<strong>ch</strong>ern oder mit nur Bäckern. Imposant.<br />
Im Vergnügungsviertel spri<strong>ch</strong>t mi<strong>ch</strong> ein kleiner Junge an: «Mistel, me show you somthing», und<br />
i<strong>ch</strong> folge ihm dur<strong>ch</strong> die engen, unbeleu<strong>ch</strong>ten Gassen... ohne jede Ahnung, wohin. Keine Spur<br />
von Angst oder Vorsi<strong>ch</strong>t, die Lust auf Abenteuer ist grösser. Ein paar Quergäss<strong>ch</strong>en weiter, i<strong>ch</strong><br />
habe s<strong>ch</strong>on längst die Orientierung verloren und weiss ni<strong>ch</strong>t mehr, wo i<strong>ch</strong> bin, betreten wir ein<br />
altes, halb zerfallenes Backsteinhaus. Eine endlose gusseiserne Wendeltreppe führt na<strong>ch</strong> oben.<br />
Der Kleine voraus, «Mistel, come...», i<strong>ch</strong> hinterher, Stockwerk um Stockwerk um Stockwerk.<br />
Irgendwo ganz weit oben klopft er an eine s<strong>ch</strong>were Metalltüre, und ein sehr, sehr altes, vornübergebücktes<br />
zierli<strong>ch</strong>es Weib begrüsst mi<strong>ch</strong> überaus herzli<strong>ch</strong> und bittet mi<strong>ch</strong>, einzutreten. Sie<br />
rei<strong>ch</strong>t einen Tee und sagt dann «wait here», vers<strong>ch</strong>windet und ers<strong>ch</strong>eint kurz dana<strong>ch</strong> wieder,<br />
diesmal in Begleitung von sieben blutjungen Grazien, eine hübs<strong>ch</strong>er als die andere, s<strong>ch</strong>lank und<br />
zierli<strong>ch</strong>, mit Porzellan-Gesi<strong>ch</strong>t<strong>ch</strong>en und Seidenhaut. Und alle sieben lä<strong>ch</strong>eln mi<strong>ch</strong> um die Wette<br />
an. «Now <strong>ch</strong>oose, Mistel», sagt die Alte, und i<strong>ch</strong> stehe da wie ein Klotz und weiss vor lauter<br />
Hemmungen ni<strong>ch</strong>t, was i<strong>ch</strong> tun soll. Irgendwie s<strong>ch</strong>eint mir das ni<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tig zu sein...
Hong Kong<br />
I<strong>ch</strong> weiss ni<strong>ch</strong>t, was tun... Aber dann wird mir die Ents<strong>ch</strong>eidung abgenommen: Eines der Mäd<strong>ch</strong>en<br />
geht auf mi<strong>ch</strong> zu, nimmt mi<strong>ch</strong> bei der Hand und führt mi<strong>ch</strong> in ein Kämmer<strong>ch</strong>en. Etwas<br />
an mir muss ihr speziell gefallen, sie lä<strong>ch</strong>elt unentwegt und deutet auf mein Gesi<strong>ch</strong>t, strei<strong>ch</strong>elt<br />
meine Wangen. I<strong>ch</strong> verstehe erst ni<strong>ch</strong>t, was sie meint, dann sagt sie mit einem Strahlen: «So<br />
nice...». Es sind meine jugendli<strong>ch</strong> geröteten Bäcklein, die sie so faszinieren... Ni<strong>ch</strong>t gerade, was<br />
man si<strong>ch</strong> als Mann wüns<strong>ch</strong>t! Aber es wird denno<strong>ch</strong> ein unvergessli<strong>ch</strong>es und überaus sinnli<strong>ch</strong>es<br />
Erlebnis mit dieser zarten S<strong>ch</strong>önheit. Meinen Obulus entri<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> der alte Dame, die mi<strong>ch</strong> dann<br />
mit zuvorkommender Höfli<strong>ch</strong>keit verabs<strong>ch</strong>iedet. Die jungen Grazien winken mir freundli<strong>ch</strong> hinterher.<br />
Und «meine» strahlt no<strong>ch</strong> immer.<br />
Ein Problem «dana<strong>ch</strong>» gilt es no<strong>ch</strong> zu lösen. I<strong>ch</strong> steige die unendli<strong>ch</strong> lange Wendeltreppe wieder<br />
runter, verlasse das halbzerfallene Haus – und hab keine Ahnung, wo i<strong>ch</strong> bin. Also mars<strong>ch</strong>iere<br />
i<strong>ch</strong> auf gut Glück los, erneut dur<strong>ch</strong> zahllose kleine dunkle Gäss<strong>ch</strong>en. S<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> finde i<strong>ch</strong><br />
eine etwas grössere Strasse und rufe einen Riks<strong>ch</strong>afahrer herbei. Zum Hafen, please! Der junge,<br />
kräftige Mann tritt in die Pedale und, oh Wunder, bringt mi<strong>ch</strong> an ein Pier, wo i<strong>ch</strong> ein kleines Boot<br />
finde, das mi<strong>ch</strong> zur MS Basilea bringt, die immer no<strong>ch</strong> in der Bu<strong>ch</strong>t vor Anker liegt. Es ist weit<br />
na<strong>ch</strong> Mitterna<strong>ch</strong>t.<br />
12. September 1964, Hong Kong<br />
Als i<strong>ch</strong> am Morgen in meiner Koje erwa<strong>ch</strong>e, weiss i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er, ob i<strong>ch</strong> das Gestrige geträumt<br />
oder wirkli<strong>ch</strong> erlebt habe. Meine Arbeit erledige i<strong>ch</strong> wie im S<strong>ch</strong>laf, automatis<strong>ch</strong>, und denke<br />
immer wieder an das Erlebte zurück. Und langsam kommen Fragen in mir ho<strong>ch</strong>. War das klug,<br />
so allein unterwegs zu sein und si<strong>ch</strong> auf alles einzulassen, ohne eine Gefahr darin zu sehen?<br />
Eher nein, komme i<strong>ch</strong> zum S<strong>ch</strong>luss, beruhige mi<strong>ch</strong> dann aber mit der Tatsa<strong>ch</strong>e, dass ja alles gut<br />
abgelaufen ist und i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> wieder auf dem Dampfer gelandet bin. Es hätte au<strong>ch</strong> anders<br />
herauskommen können, immerhin das realisiere i<strong>ch</strong> jetzt bei Tagesli<strong>ch</strong>t.<br />
Die Lös<strong>ch</strong>arbeiten gehen eher s<strong>ch</strong>leppend voran, weil jede Kiste und jedes Fass einzeln aus<br />
dem Bau<strong>ch</strong> der MS Basilea gehievt und auf kleine Transportboote verladen werden müssen. Zu<br />
meinem Erstaunen sind no<strong>ch</strong> alle Büffel und Kühe an Bord. Erst gegen Mittag beginnt deren<br />
Abtransport. Jedes Tier wird einzeln ho<strong>ch</strong>gezogen – zwei Seile unter dem Bau<strong>ch</strong> – und per<br />
Winde in die bereitstehenden grossen Transportkähne verladen. Jedes Tier verhält si<strong>ch</strong> anders.<br />
Die einen s<strong>ch</strong>icken si<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong> drein und lassen es ges<strong>ch</strong>ehen, die anderen zappeln wie wild in<br />
ihren Seilen. Ein Büffel tut so wild, dass er si<strong>ch</strong> aus den Seilen windet und wie ein Stein auf den<br />
Bordrand des Transports<strong>ch</strong>iffes fällt. Unter Flu<strong>ch</strong>en ziehen die Stauleute das arme Tier auf Deck<br />
und prügeln ihn zu den anderen, bereits auf dem Kahn zusammengepfer<strong>ch</strong>ten. Lange werden<br />
sie ni<strong>ch</strong>t mehr leiden müssen, denn der S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>thof wartet.<br />
Shore Leave ist auf 17.00 Uhr angesetzt. Eine ausgezei<strong>ch</strong>nete Zeit zum Auslaufen, denn so können<br />
wir no<strong>ch</strong> bei Tagesli<strong>ch</strong>t einen letzten Blick auf diese aufregende Stadt erhas<strong>ch</strong>en, no<strong>ch</strong>mals<br />
die Wolkenkratzer bewundern und die Bergzüge rund um die Bu<strong>ch</strong>t. Wir fahren au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> an<br />
jenen Slums vorbei, die si<strong>ch</strong> die Berghänge hinauf ziehen. Die andere Seite dieser pulsierenden<br />
Stadt. Die sehen wir allerdings nur aus der Ferne.<br />
13. September 1964, auf See<br />
Der normale Alltag hat uns wieder, die Putzarbeiten na<strong>ch</strong> der Lös<strong>ch</strong>ung unserer tieris<strong>ch</strong>en Fra<strong>ch</strong>t<br />
sind in vollem Gange. Na<strong>ch</strong> ein paar Stunden sieht alles wieder blitzblank aus. Mit unserer<br />
sehr mässigen Ges<strong>ch</strong>windigkeit von 10-12 Knoten (ca. 18-21 km/h) «dampfen» wir Ri<strong>ch</strong>tung<br />
S<strong>ch</strong>anghai, Rot<strong>ch</strong>ina. Dieses sollten wir in 3-4 Tagen errei<strong>ch</strong>en. Das Wetter ist gut, die See ruhig,<br />
und es ist immer no<strong>ch</strong> sehr warm.<br />
14. September 1964, auf See<br />
Ein unangenehmer Tag für mi<strong>ch</strong>. I<strong>ch</strong> weiss ni<strong>ch</strong>t, was heute los ist, aber alle hacken auf mir rum.<br />
S<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Laune, weil es na<strong>ch</strong> China geht? Da will eigentli<strong>ch</strong> niemand hin, lieber würde man<br />
na<strong>ch</strong> Bangkok fahren. Aber warum lassen alle die s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Laune an mir aus? Das «Gesetz»<br />
s<strong>ch</strong>eint so zu funktioneren: Der unterste Grad auf dem S<strong>ch</strong>iff, der Messboy, ist der Fussabstreifer,<br />
und auf dem darf man rumtrampeln. Sogar mein bester Kumpel an Bord, Charly der Bäcker, lässt<br />
heute seine miese Laune an mir aus und bes<strong>ch</strong>impft mi<strong>ch</strong>, ihn «zu kollegial» zu behandeln, er<br />
sei s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> mein Vorgesetzter. Okay, denke i<strong>ch</strong>, wenn du es so willst, und s<strong>ch</strong>weige. Kra<strong>ch</strong> ist<br />
das Letzte, was i<strong>ch</strong> hier auf dem S<strong>ch</strong>iff gebrau<strong>ch</strong>en kann.<br />
Mein ruhiges Verhalten zahlt si<strong>ch</strong> aus. S<strong>ch</strong>on am Abend hat si<strong>ch</strong> Charly wieder beruhigt, er<br />
steigt vom hohen Ross, und das familiäre Verhältnis tritt wieder in Kraft. Es wäre wirkli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ade<br />
gewesen, mit ihm zu streiten, i<strong>ch</strong> mag ihn gut.
S<strong>ch</strong>anghai<br />
16. September 1964, S<strong>ch</strong>anghai<br />
Die gelbe See ist gerade am Überlegen, ob sie mit Wüten beginnen soll, da stehen wir s<strong>ch</strong>on im<br />
Delta des YangtseKiang-Flusses und müssen bloss no<strong>ch</strong> warten, bis die Flut kommt, damit wir<br />
mit unserem Tiefgang von fast 8 Metern manövrieren können. Dann geht es den Fluss ho<strong>ch</strong>,<br />
Ri<strong>ch</strong>tung S<strong>ch</strong>anhai. Ein paar Meilen vor dem Hafen kommt eine ganze Armada von <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en<br />
Kontrollbeamten an Bord. Die gesamte Besatzung muss si<strong>ch</strong> an Deck versammeln, während<br />
die Uniformierten die Kabinen dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>en, wona<strong>ch</strong> bloss? Dana<strong>ch</strong> muss jedes Crewmitglied<br />
deklarieren, wieviel Bargeld es auf si<strong>ch</strong> führt, wel<strong>ch</strong>e Uhrenmarke (!) man trägt, ob man eine<br />
Kamera hat, einen Radio, S<strong>ch</strong>muck usw. Die Kontrollen dauern bis Mitterna<strong>ch</strong>t, dann dürfen<br />
wir weiterfahren. Aber ni<strong>ch</strong>t ohne uns vorher einzubläuen, dass während der gesamten Fahrt<br />
Fotografierverbot herrs<strong>ch</strong>t. Mein Ärger hält si<strong>ch</strong> in Grenzen: i<strong>ch</strong> sehe eh nur eine dreckig-braune<br />
Brühe des Flusses rund um uns herum.<br />
17. September 1964, S<strong>ch</strong>anghai<br />
Als i<strong>ch</strong> um 6 Uhr zur Arbeit gehe, liegen wir bereits festgema<strong>ch</strong>t im Hafen. I<strong>ch</strong> erledige meine<br />
«Morgens<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t» und bin dann bereit für den Landgang. So einfa<strong>ch</strong> geht das aber ni<strong>ch</strong>t, denn<br />
vor der Gangway hat si<strong>ch</strong> ein Kontrollposten in einem lä<strong>ch</strong>erli<strong>ch</strong> kleinen Wa<strong>ch</strong>thäus<strong>ch</strong>en aufgebaut.<br />
Er s<strong>ch</strong>aut si<strong>ch</strong> wortlos meinen S<strong>ch</strong>weizerpass und den von den <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Behörden<br />
ausgestellten Landgangpass an. Er dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>t meine Swissairtas<strong>ch</strong>e. Da ist aber ni<strong>ch</strong>ts Besonderes<br />
drin, denke i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong>, als er mir ein kleines Plastiksäck<strong>ch</strong>en unter die Nase hält und mi<strong>ch</strong><br />
auf <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong> ans<strong>ch</strong>nauzt. I<strong>ch</strong> glaube zu wissen, dass er wissen mö<strong>ch</strong>te, was das ist, aber verstehe<br />
natürli<strong>ch</strong> kein Wort. Im ersten Moment weiss i<strong>ch</strong> es selber ni<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong> dann dämmert mir,<br />
dass i<strong>ch</strong> in Hong Kong einen Feldste<strong>ch</strong>er gekauft hatte. Und zu sol<strong>ch</strong>en Instrumenten werden<br />
meist so kleine Silikosetüt<strong>ch</strong>en beigepackt, die die Luftfeu<strong>ch</strong>tigkeit aufnehmen sollen. Dieses<br />
Plastiktüt<strong>ch</strong>en muss in meiner Tas<strong>ch</strong>e zurückgeblieben sein. I<strong>ch</strong> versu<strong>ch</strong>e, ihm auf englis<strong>ch</strong> zu<br />
erklären, was es ist. Er versteht kein Wort. Nun ist guter Rat teuer. Wie erklärt man jemanden<br />
ohne Spra<strong>ch</strong>e einen so komplizierten Sa<strong>ch</strong>verhalt? S<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> habe i<strong>ch</strong> die zündende Idee: Um<br />
ihn von der Wertlosigkeit dieses Zellophanpäck<strong>ch</strong>ens zu überzeugen, nehme i<strong>ch</strong> es und s<strong>ch</strong>meisse<br />
es in den YangtseKiang. Dass das ein grober Fehler ist, erfahre i<strong>ch</strong> am Abend...<br />
I<strong>ch</strong> nehme mir wieder eine Riks<strong>ch</strong>a und lasse mi<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die Stadt kuts<strong>ch</strong>ieren. Sie hat ni<strong>ch</strong>t<br />
viel zu bieten. Ein paar Monumentalbauten, ein paar Parks, riesige Strassen, aber kein Verkehr.<br />
In den Stunden, in denen i<strong>ch</strong> unterwegs bin, begegnet mir gerade mal ein Personenauto. Dafür<br />
viele altertümli<strong>ch</strong>e Lastwagen und heruntergekommene Busse und Trams. Was mir auffällt, ist<br />
eigentli<strong>ch</strong> nur, dass alle hupen und der Trämler ständig auf der Glocke steht. Warum, kann i<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t erkennen bei so wenig Verkehr. Die Leute auf der Strasse sind alle glei<strong>ch</strong> gekleidet: Sie<br />
tragen einheitli<strong>ch</strong> blaue Überkleider, einen runden, geflo<strong>ch</strong>tenen Strohhut und Stoffs<strong>ch</strong>uhe. Und<br />
viele sind mit dem Fahrrad unterwegs.<br />
S<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> lasse i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> zum «Seamen‘s Club» fahren und treffe dort einige meiner Basilea-<br />
Kollegen. Der Club ist in einem riesigen Gebäude untergebra<strong>ch</strong>t, worin si<strong>ch</strong> Ges<strong>ch</strong>äfte und<br />
Restaurants befinden, au<strong>ch</strong> eine Bibliothek. Im Store kaufe i<strong>ch</strong> mir ein paar <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>allplatten,<br />
eine s<strong>ch</strong>öne S<strong>ch</strong>nitzerei eines Chinesenkopfes und zwei fein gestickte Rollbilder. Die<br />
Waren muss/darf man ni<strong>ch</strong>t mitnehmen, sie werden dann aufs S<strong>ch</strong>iff geliefert. Die Wände des<br />
Seamen‘s Club sind rundherum mit Propagandasprü<strong>ch</strong>en verhängt. Mao wird verherrli<strong>ch</strong>t,<br />
Kennedy und Chrus<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>ow werden verteufelt, alle Kapitalisten und westli<strong>ch</strong>en Imperialisten<br />
sowieso. Dann gibt es ganze Bilderserien vom sozialen und wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Forts<strong>ch</strong>ritt in der<br />
neuen Volksrepublik China (gegründet 1949), fein säuberli<strong>ch</strong> aufgelistet mit «before» und «after<br />
the Liberation».<br />
Landgangpass<br />
Meine Begeisterung von der Stadt hält si<strong>ch</strong> in Grenzen, und i<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>e mi<strong>ch</strong> auf den Heimweg<br />
zum S<strong>ch</strong>iff. Kaum bin i<strong>ch</strong> an Bord, bri<strong>ch</strong>t die Hölle los. «Messboy Kleisli zum Käpten!» motzt<br />
man mi<strong>ch</strong> an. I<strong>ch</strong>? Zum Käpten? Den habe i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> gar nie zu Gesi<strong>ch</strong>t bekommen auf dieser<br />
Reise. Was soll das? Als i<strong>ch</strong> im Salon ankomme, wartet eine ganze Corona von uniformierten<br />
und dekorierten <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Militärköpfen auf mi<strong>ch</strong>. Sie sitzen alle hinter einem langen Tis<strong>ch</strong>,<br />
flankiert auf der einen Seite von unserem Chiefmate und auf der anderen vom Kapitän. Der<br />
S<strong>ch</strong>reck sitzt mir in den Gliedern, denn das sieht aus wie ein Tribunal. Was habe i<strong>ch</strong> denn<br />
verbro<strong>ch</strong>en? Bald weiss i<strong>ch</strong> es. Dieses ad hoc gebildete «Geri<strong>ch</strong>t» wirft mir vor: Erstens das<br />
«Beiseites<strong>ch</strong>affen von Beweismaterial», zweitens die «Vers<strong>ch</strong>mutzung des YangtseKiang».<br />
Der Dolmets<strong>ch</strong>er ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an mi<strong>ch</strong>, sondern an den Kapitän. I<strong>ch</strong> werde zwar angeklagt,<br />
aber die MS Basilea ist für mi<strong>ch</strong> verantwortli<strong>ch</strong>. Der Kapitän, ein ruhiger, besonnener Mann, hört<br />
si<strong>ch</strong> alles ungläubig an und fragt dann mi<strong>ch</strong>, was si<strong>ch</strong> da abgespielt habe. Natürli<strong>ch</strong> weiss i<strong>ch</strong><br />
sofort, worum es geht: Um dieses lä<strong>ch</strong>erli<strong>ch</strong>e Cellophanpäck<strong>ch</strong>en mit den Zellulosekörn<strong>ch</strong>en,
Dairen<br />
S<strong>ch</strong>anghai<br />
Korea<br />
das i<strong>ch</strong> unüberlegt in den Fluss geworfen habe, um dem Kontrollposten zu «beweisen», dass<br />
das wertloses Zeug ist. Eine ziemli<strong>ch</strong>e Dummheit von mir, das wird mir nun klar. Immerhin bekomme<br />
i<strong>ch</strong> jetzt die Gelegenheit, den Sa<strong>ch</strong>verhalt jemandem zu erklären, der mi<strong>ch</strong> spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
versteht, nämli<strong>ch</strong> dem Dolmets<strong>ch</strong>er. Aber damit bin i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t aus dem S<strong>ch</strong>neider, denn sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
versteht der absolut ni<strong>ch</strong>t, worum es si<strong>ch</strong> handelt. Im erkläre und erkläre, komme aber ni<strong>ch</strong>t<br />
weiter. Niemand von den Chinesen kann oder will verstehen, dass sol<strong>ch</strong>e Zellulosesäck<strong>ch</strong>en<br />
wert- und harmlos sind. Zum Glück bekomme i<strong>ch</strong> Unterstützung vom Kapitän und vom Chiefmate,<br />
die sofort erkannt haben, worum es si<strong>ch</strong> handelt. Und jetzt versu<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> die zwei, dem<br />
«hohen Geri<strong>ch</strong>t» zu erläutern, was Sa<strong>ch</strong>e ist. Aber die s<strong>ch</strong>ütteln nur den Kopf. Einer der «Ri<strong>ch</strong>ter»<br />
meint dann, selbst wenn es stimme, dass das Säck<strong>ch</strong>en wertlos war, die Anklage wegen<br />
Vers<strong>ch</strong>mutzung des Flusses würde ja weiterhin zutreffen. Womit der gute Mann natürli<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>t<br />
hatte. I<strong>ch</strong> sitze in der Falle. Und dass die Lage dramatis<strong>ch</strong> ist, erkenne i<strong>ch</strong> an der Intensität, mit<br />
der der Kapitän für mi<strong>ch</strong> kämpft. Das Problem mit sol<strong>ch</strong>en «Geri<strong>ch</strong>ten» besteht ja darin, dass<br />
man ni<strong>ch</strong>t weiss, wel<strong>ch</strong>e Strafen für wel<strong>ch</strong>es Vergehen verhängt werden können. Das einzige,<br />
was man uns, der Crew, gesagt hat: Wer si<strong>ch</strong> mit einer Chinesin einlädt, kriegt 25 Jahre Zwangsarbeit<br />
– ziemli<strong>ch</strong> happig. Da vergeht einem die Lust auf eine Chinesin zum vornherein.<br />
I<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>witze vor Angst und denke nur no<strong>ch</strong>: hoffentli<strong>ch</strong> ist das bloss ein böser Traum. Ist es<br />
aber ni<strong>ch</strong>t. S<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>affen es der Käpten und der Chief, das Geri<strong>ch</strong>t davon zu überzeugen,<br />
dass der Angeklagte, also i<strong>ch</strong>, nie wieder etwas in den YangtseKiang oder andere <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e<br />
Flüsse werfen werde, und sie geben ihr Ehrenwort, dass das wegges<strong>ch</strong>missene «Beweisstück»<br />
wirkli<strong>ch</strong> wert- und harmlos war. I<strong>ch</strong> bekomme einen s<strong>ch</strong>arfen Verweis und werde dann entlassen.<br />
S<strong>ch</strong>weissgebadet verkrie<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> in meine Kabine. Und mein Ents<strong>ch</strong>luss steht fest: In<br />
S<strong>ch</strong>anghai werde i<strong>ch</strong> nie mehr von Bord gehen – hier auf dem S<strong>ch</strong>iff fühle i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>erer.<br />
18. September 1964, auf See<br />
Bin i<strong>ch</strong> erlei<strong>ch</strong>tert, dass wir S<strong>ch</strong>anghai hinter uns lassen können! Au<strong>ch</strong> wenn der nä<strong>ch</strong>ste Hafen<br />
wieder in China liegt. Ho<strong>ch</strong> oben im Norden, Dairen.<br />
19. September 1964, Dairen, vor Anker<br />
Hier ist es ziemli<strong>ch</strong> fris<strong>ch</strong>. Die Gegend um uns herum s<strong>ch</strong>aut aus wie Fjorde in Norwegen. Bloss<br />
die Ds<strong>ch</strong>unken passen ni<strong>ch</strong>t ins Bild. Erfahrene Seemänner erzählen, dass es letztes Mal hier<br />
Eis im Hafen gehabt haben soll. Wir liegen auf Reede und kein Mens<strong>ch</strong> weiss, wann wir in den<br />
Hafen einlaufen können.<br />
22. September 1964, Dairen<br />
Endli<strong>ch</strong> erhalten wir die Erlaubnis, an die Pier zu fahren. Nun liegen wir hier und gehen davon<br />
aus, dass es ein langer Aufenthalt werden wird. Unsere Hauptladung, das Phosphat, das wir<br />
in Casablanca geladen haben, soll hier gelös<strong>ch</strong>t werden. Das wird aufwändig, denn es gibt<br />
keine Sauger, und das Ganze muss mit Greifern herausges<strong>ch</strong>aufelt werden. Ni<strong>ch</strong>t nur die S<strong>ch</strong>rift,<br />
sondern au<strong>ch</strong> die Arbeitsweise hier ist für uns «<strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>»: Da wird do<strong>ch</strong> das Phosphat zuerst<br />
herausges<strong>ch</strong>aufelt und dann auf Bahngeleise ges<strong>ch</strong>üttet, statt direkt in Bahnwagen. Es entsteht<br />
na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> ein Riesenberg. Und es kommt no<strong>ch</strong> besser: Dieser Berg wird nun wieder abgetragen<br />
und ein paar hundert Meter nebenan neu aufgetürmt.<br />
Der ganzen Pier entlang sind Lautspre<strong>ch</strong>er aufgestellt, aus der den ganzen lieben langen Tag<br />
die (für uns!) glei<strong>ch</strong>e <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e Melodie ertönt. Unterbro<strong>ch</strong>en nur von einer quäkenden<br />
Frauenstimme, die Propagandasprü<strong>ch</strong>e loslässt. Die wir natürli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verstehen.<br />
Abends dürfen wir an Land. I<strong>ch</strong> gehe natürli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr allein, nur no<strong>ch</strong> in der Gruppe. Ziel ist<br />
wieder einmal der Seemannsclub. Hier befinden si<strong>ch</strong> eine S<strong>ch</strong>iessbude, eine Tis<strong>ch</strong>tennisanlage,<br />
eine Bibliothek, ein Frisör, und natürli<strong>ch</strong> ein Restaurant, in dem wir uns verköstigen. Das <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e<br />
Essen s<strong>ch</strong>meckt uns allen, au<strong>ch</strong> wenn man nie genau weiss, was man isst (oder viellei<strong>ch</strong>t<br />
gerade deshalb). Wir üben uns im Essen mit Stäb<strong>ch</strong>en und haben ein Riesengaudi daran. Wenn<br />
man‘s mal raus hat, ma<strong>ch</strong>t‘s Spass.<br />
Der Hauptplatz von Dairen ist sehr gepflegt, mit s<strong>ch</strong>önen Parkanlagen. Hier sieht man ein paar<br />
Hühner. Au<strong>ch</strong> die Leute wirken gepflegter und individuell gekleideter als in S<strong>ch</strong>anghai. Aber so<br />
ri<strong>ch</strong>tig warm wird man mit ihnen ni<strong>ch</strong>t, denn au<strong>ch</strong> hübs<strong>ch</strong> aussehende Frauen spucken ständig<br />
auf die Strasse. An jeder Ecke steht ein Mao-Monument, überall Riesengemälde mit bis an die<br />
Zähne bewaffneter Chinesinnen und Chinesen. Auf in den Kampf! Das Volk wird von klein auf<br />
militäris<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ult, und in jedem Laden gibt es Spielzeugwaffen aus Plastik zu kaufen. Man<br />
sieht au<strong>ch</strong> haufenweise organisierte Kleinkinder, die militäris<strong>ch</strong>e Mars<strong>ch</strong>übungen ma<strong>ch</strong>en (müssen),<br />
so wie bei uns in der RS. Als «Kommandantin» wirkt meist ein 18, 19-jähriges Mäd<strong>ch</strong>en.
Dairen<br />
Das Ganze wirkt ziemli<strong>ch</strong> komis<strong>ch</strong>, wenn es ni<strong>ch</strong>t so ernst wäre. Die Kleinen sehen so drollig<br />
aus dabei, au<strong>ch</strong> wenn sie ni<strong>ch</strong>t wirkli<strong>ch</strong> bei der Sa<strong>ch</strong>e sind. Lieber würden sie spielen, wie alle<br />
Kinder.<br />
24. September 1964, Dairen<br />
Etwa die Hälfte des Phosphats ist jetzt gelös<strong>ch</strong>t, und längs der Pier türmen si<strong>ch</strong> jetzt bereits<br />
drei Riesenhaufen auf. Die Ladung, die wir hier erhalten, steht au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on bereit: Es sind 2‘000<br />
Tonnen Eisenerz für Ägypten. Das ma<strong>ch</strong>t natürli<strong>ch</strong> gute Stimmung, denn damit steht fest, dass<br />
wir Alexandria anlaufen werden.<br />
25. September 1964, Dairen<br />
Seit gut einer Wo<strong>ch</strong>e spri<strong>ch</strong>t der Ko<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr mit mir – und i<strong>ch</strong> weiss ni<strong>ch</strong>t, warum. Heute<br />
stelle i<strong>ch</strong> ihn und bringe in Erfahrung, dass er eifersü<strong>ch</strong>tig ist, weil i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> mit Bäcker Charly so<br />
gut verstehe. Er will uns zeigen, dass er «uns zwei ni<strong>ch</strong>t brau<strong>ch</strong>t». Bubenallüren. Aber er ist ja<br />
au<strong>ch</strong> erst 20 und wird sein Köpf<strong>ch</strong>en no<strong>ch</strong> öfter ans<strong>ch</strong>lagen.<br />
26. September 1964, Dairen<br />
Auf dem Kahn sieht es heute so aus, wie si<strong>ch</strong> das «Landratten» vorstellen: die halbe Crew<br />
ist besoffen. Ein besonderer Anlass dazu besteht ni<strong>ch</strong>t, ausser viellei<strong>ch</strong>t, dass alle etwas den<br />
«cafard» vom zu langen China-Aufenthalt haben.<br />
27. September 1964, Dairen<br />
Der Leiter des hiesigen Seemannsklubs organisiert für uns eine Stadtrundfahrt. 19 Crewmitglieder<br />
der Basilea haben si<strong>ch</strong> angemeldet. Darunter sind alle, die normalerweise in meiner<br />
Messe essen, also darf i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> mitgehen. Wir werden von einem verlotterten Bus am S<strong>ch</strong>iff<br />
abgeholt. Erstaunli<strong>ch</strong>, dass dieses Ding no<strong>ch</strong> fährt! In der Stadt werden wir angestaunt, als ob<br />
wir vom Mond kämen. Überall werden Strassen und Häuser geflickt und neu gepinselt, an jeder<br />
Ecke wird ein roter Stern gemalt, auf den Plätzen Mao-Bilder und -Büsten aufgestellt – alles im<br />
Hinblick auf den 1. Oktober, wo man den 15. Jahrestag der Befreiung und des Bestehens der<br />
Chinesis<strong>ch</strong>en Volksrepublik feiern wird.<br />
Den ersten Aufenthalt gibt‘s im Zoo. Den zeigt man uns mit Stolz, aber für uns wirkt die Anlage<br />
mehr als ärmli<strong>ch</strong>. Ausser einem abgemagerten Bären, der an seinen Krallen kaut, und einigen<br />
Meers<strong>ch</strong>wein<strong>ch</strong>en und Vögeln gibts ni<strong>ch</strong>t viel zu sehen, obwohl das Gelände riesig ist. Und im<br />
Aquarium hat‘s, wie s<strong>ch</strong>on der Name sagt, Wasser... und keinen einzigen Fis<strong>ch</strong>. Nä<strong>ch</strong>ste Station<br />
ist ein s<strong>ch</strong>öner Park mit vielen Blumen und Pflanzen, alles gut gepflegt. Und viele Kinder. Die<br />
Kleinen sind goldig mit ihren S<strong>ch</strong>litzhosen: beim Bücken s<strong>ch</strong>aut der Po raus. Sehr praktis<strong>ch</strong>. Alle<br />
Mäd<strong>ch</strong>en tragen Zöpfe, und hat man eine gesehen, hat man alle gesehen. Sie sehen si<strong>ch</strong> zum<br />
Verwe<strong>ch</strong>seln ähnli<strong>ch</strong>. Wir mars<strong>ch</strong>ieren zum nä<strong>ch</strong>sten Park, und dann zum übernä<strong>ch</strong>sten. Langsam<br />
kommen wir zur Überzeugung, dass wir wohl besser an Bord geblieben wären.<br />
28. September 1964, Dairen<br />
Das Phosphat ist gelös<strong>ch</strong>t, wir we<strong>ch</strong>seln an ein neues Pier. Die MS Basilea ist fast geleert, bis<br />
auf ein paar Röhren und einigen Volkswagen, die für Singkiang bestimmt sind. Nun kommt die<br />
neue Ladung: 1500 Tonnen Sonjabohnen (aus Langeweile haben wir ausgere<strong>ch</strong>net, dass es<br />
etwa 8 Milliarden und 700 Millionen Böhn<strong>ch</strong>en sein müssen...). Dazu kommen 2‘000 Tonnen<br />
Eisenerz und einige Fässer, Inhalt unbekannt. Da es an geeigneten Greifern fehlt, muss fast<br />
alles von Hand gema<strong>ch</strong>t werden. Leute sind mehr als genug vorhanden und erst no<strong>ch</strong> billig.<br />
Ein Hafenarbeiter verdient etwa 3.50 Yuan im Tag (Fr. 5.70) und arbeitet seine 9-10 Stunden,<br />
und wie! Fleissig wie die Bienen! Ferien gibts keine, der Sonntag ist immerhin frei. Da zu wenig<br />
Lastwagen vorhanden sind, wird ein Grossteil der Güter mit Handwagen (!) aus dem Hafen zur<br />
Bahn ges<strong>ch</strong>leppt. Dabei werden ca. 500 kg auf diese Zweiradwagen gepackt und von Frauen<br />
gezogen. Eigentli<strong>ch</strong> dürften wir dies ni<strong>ch</strong>t sehen (für uns sind ja die Parks da), aber dass wir es<br />
vom S<strong>ch</strong>iff aus sehen, lässt si<strong>ch</strong> nur s<strong>ch</strong>wer vermeiden.<br />
29. September 1964, Dairen<br />
Wir ma<strong>ch</strong>en einen neuen Versu<strong>ch</strong>, mehr von der Stadt zu sehen. Eigentli<strong>ch</strong>es Ziel sind die Berghänge<br />
etwas ausserhalb der Stadt. Aber s<strong>ch</strong>on bald stossen wir auf Tafeln, die in <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>,<br />
russis<strong>ch</strong> und englis<strong>ch</strong> mitteilen: «No Entrance For Foreigners». Wir überlegen uns s<strong>ch</strong>on, ob wir<br />
uns überhaupt daran halten sollen, als eine Horde wild gestikulierender Frauen auf uns zurennt<br />
und uns klar ma<strong>ch</strong>t, dass wir vers<strong>ch</strong>winden sollen. Wir treten den Rückzug an und geraten dadur<strong>ch</strong><br />
in ein Quartier, das ni<strong>ch</strong>t für fremde Augen bestimmt ist. Ein verwahrlostes Armenviertel.<br />
Aber au<strong>ch</strong> hier wird fleissig «Zugs<strong>ch</strong>ule» geübt. Für das grosse Fest am 1. Oktober. Man starrt<br />
uns wie Aliens an. Viellei<strong>ch</strong>t sind wir das au<strong>ch</strong>.
30. September 1964, Dairen<br />
Am Vorabend des Nationalfeiertages der Chinesis<strong>ch</strong>en Volksrepublik gibt die Partei ein Festessen,<br />
zu dem 10 Personen jedes im Hafen liegenden S<strong>ch</strong>iffes eingeladen sind. Natürli<strong>ch</strong> gehen<br />
da vorwiegend die hohen Tiere zu diesem Anlass – bei uns ist es der Kapitän, der Chief Officer,<br />
der Zweite Off, der Chief Ing (mit Frau!), der 3. Ingenieur... und Messboy Kleisli. Das will i<strong>ch</strong> mir<br />
ni<strong>ch</strong>t entgehen lassen! Das Essen interessiert mi<strong>ch</strong> zwar ni<strong>ch</strong>t, aber das ganze Drum und Dran<br />
s<strong>ch</strong>on. Das Bankett findet im «Friendshipstore» statt, der ganze Saal ist gross dekoriert, und<br />
die Tis<strong>ch</strong>e quellen mit Speisen über. An jedem Tis<strong>ch</strong> sind zwei <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e Gastgeber platziert,<br />
die Gäste kommen aus Japan, Russland, Norwegen, Grie<strong>ch</strong>enland, Spanien... und der S<strong>ch</strong>weiz.<br />
Natürli<strong>ch</strong> werden lange Reden ges<strong>ch</strong>wungen, die jedesmal vom Chinesis<strong>ch</strong>en ins Russis<strong>ch</strong>e,<br />
Englis<strong>ch</strong>e und Japanis<strong>ch</strong>e übersetzt werden. Bedeutet: Man muss si<strong>ch</strong> das Essen mit Geduld<br />
verdienen.<br />
Zentral bei diesen Reden ist die <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>-japanis<strong>ch</strong>e Freunds<strong>ch</strong>aft (wobei die japanis<strong>ch</strong>en Kapitäne<br />
na<strong>ch</strong> jeder Rede aufstehen und diese Freunds<strong>ch</strong>aft in einer Gegenrede weiter bes<strong>ch</strong>wören),<br />
dann kommt der «Forts<strong>ch</strong>ritt des <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Volkes» zur Spra<strong>ch</strong>e, zuerst Eigenruhm,<br />
dann bestätigt von den Japanern. Au<strong>ch</strong> während des Essen das glei<strong>ch</strong>e Prozedere. Immer wieder<br />
von Reden unterbro<strong>ch</strong>en – lang lebe die Partei. Und na<strong>ch</strong> jeder Rede wird auf die Chinesis<strong>ch</strong>e<br />
Volksrepublik angestossen, mit Wein, Bier, Reiswein und Wodka. Da kommt ganz s<strong>ch</strong>ön was<br />
zusammen, und die Stimmung wird immer besser. Das Essen ist hervorragend, und die Chinesen<br />
freuen si<strong>ch</strong>, dass wir «Imperialisten» s<strong>ch</strong>on ziemli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ickt mit Stäb<strong>ch</strong>en umgehen können.<br />
Wir bekommen au<strong>ch</strong> Gelegenheit, unsere Gastgeber in politis<strong>ch</strong>e Gesprä<strong>ch</strong>e zu verwickeln,<br />
do<strong>ch</strong> diese verlaufen s<strong>ch</strong>nell im Sand. Etwa so: Was halten Sie davon, dass ein fleissiger Mens<strong>ch</strong><br />
glei<strong>ch</strong> viel verdient wie ein fauler? Antwort: Bei uns gibt es nur fleissige Mens<strong>ch</strong>en. Oder: Ist es<br />
denn so, dass auf Ihren S<strong>ch</strong>iffen alle glei<strong>ch</strong> viel verdienen, der Kapitän soviel wie der Messboy?<br />
Nein, natürli<strong>ch</strong> verdient au<strong>ch</strong> bei uns ein Kapitän mehr als der Messboy, aber die Unters<strong>ch</strong>iede<br />
sind kleiner als bei eu<strong>ch</strong>. Aha. Der feu<strong>ch</strong>tfröhli<strong>ch</strong>e Abend gipfelt dann im Trinkspru<strong>ch</strong>: CAPTAINS,<br />
SEAMAN BROTHERS – UNITE AGAINST THE AMERICANS! Applaus, Applaus, und no<strong>ch</strong> ein Prost<br />
hinterher. Wir nehmen uns dabei ni<strong>ch</strong>t aus, s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> war das Essen ausgezei<strong>ch</strong>net.<br />
1. Oktober 1964, Dairen<br />
I<strong>ch</strong> kann wohl ni<strong>ch</strong>t mehr abstreiten, dass i<strong>ch</strong> eher Tourist als Messboy bin. Denn heute bekomme<br />
i<strong>ch</strong> wieder frei, um bei den Festivitäten zum 15. Jahrestag der Chinesis<strong>ch</strong>en Volksrepublik<br />
dabei zu sein. Ein Grossereignis! Auf einem riesigen Platz in Dairen sind mä<strong>ch</strong>tige Tribünen<br />
aufgebaut worden, auf der si<strong>ch</strong> die Parteibonzen und die hohen Militärs dem Volk zeigen. Zigtausende<br />
von Mens<strong>ch</strong>en säumen die breite Paradestrasse, und die Leute in den vorderen Reihen<br />
sind alle blütenweiss gekleidet und tragen eine rote Fahne vor si<strong>ch</strong>. Eindrückli<strong>ch</strong>! Wir fremden<br />
Besu<strong>ch</strong>er dürfen direkt neben der Ehrentribüne stehen, und wir haben sogar die Erlaubnis zu<br />
fotografieren und zu filmen. Punkt 09.00 h ertönt die Hymne, gespielt von einer mehrhundertköpfigen<br />
Blasmusik. Und dann gibt es natürli<strong>ch</strong> wieder Anspra<strong>ch</strong>en, endlos lang, und no<strong>ch</strong><br />
länger wirkend, wenn man ni<strong>ch</strong>ts versteht... Do<strong>ch</strong> ans<strong>ch</strong>liessend folgt eine Parade, wie i<strong>ch</strong> sie<br />
no<strong>ch</strong> nie im Leben gesehen habe. Das Mens<strong>ch</strong>enaufgebot ist gewaltig. 150‘000 Mens<strong>ch</strong>en<br />
in perfekter Mars<strong>ch</strong>disziplin, ein Block na<strong>ch</strong> dem anderen, jeder ein anderes Thema zeigend,<br />
und alles in herrli<strong>ch</strong>en Farben. Vers<strong>ch</strong>iedene Berufsgruppen, jeweils ein Symbol ihrer Tätigkeit<br />
mittragend, ganze Frauenblöcke mit Blumen, Kinderformationen mit Ballonen (jetzt wissen wir<br />
wenigstens, warum die s<strong>ch</strong>on seit Tagen in der Stadt so fleissig «Zugs<strong>ch</strong>ule» geübt haben...),<br />
Turnerinnen und Turner, jeder Block in einer anderen Farbe gekleidet, endlos... Wir fragen uns,<br />
wo diese Mens<strong>ch</strong>enmassen herkommen.<br />
Klar, dass die Hauptrolle des Umzugs dem Militär zufällt. Dieses zeigt si<strong>ch</strong> in unendli<strong>ch</strong>en Formationen,<br />
diszipliniert gegliedert na<strong>ch</strong> Waffengattung – von Infanterie, Mitrailleuren und Artillerie<br />
bis zu den Panzern, der Luftwaffe und der Marine. Die mitgeführten Symbole sind meist aus<br />
Holz und Karton, und feierli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>mückt und bes<strong>ch</strong>riftet. Das zentrale Thema ist der Konflikt<br />
zwis<strong>ch</strong>en den Chinesen einerseits und den Amerikanern und Russen anderseits. Ja, die Liebe<br />
zum «sozialistis<strong>ch</strong>en Verbündeten» UdSSR hat si<strong>ch</strong> abgekühlt in den letzten Jahren. Zwar hat<br />
man von der UdSSR das kommunistis<strong>ch</strong>e System übernommen, aber jetzt geht es um die Vorma<strong>ch</strong>tstellung<br />
im sozialistis<strong>ch</strong>en Block. Die Chinesen wollen ni<strong>ch</strong>t mehr die Nr. 2 hinter den<br />
Russen sein. No<strong>ch</strong> stärker ist die feindli<strong>ch</strong>e Stimmung gegenüber dem Westblock. Und eben hat<br />
man ein neues Thema «geliefert» bekommen: Den Vietnamkrieg. Jenen Konflikt, den die USA<br />
von den Franzosen übernommen haben. Na<strong>ch</strong> der Niederlage der Franzosen in der S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t von<br />
Dien Bien Phu im Jahre 1954 glauben nun die Amerikaner, hier siegen zu können. Im Umzug<br />
werden aber Sujets gezeigt, die das Gegenteil beweisen sollen: Abges<strong>ch</strong>ossene US-Flugzeuge<br />
in Form von Pappkarton. Und die Gesten dazu auf den Fahrzeugen sind klar: Die Vietnamesen<br />
und wir werden eu<strong>ch</strong> besiegen!
Dairen<br />
Qingdao<br />
Ko<strong>ch</strong> und Chief Steward...<br />
...Bootsmann...<br />
S<strong>ch</strong>anghai<br />
...Messboy und Bäcker, alle<br />
gross im S<strong>ch</strong>uss<br />
Korea<br />
2. Oktober 1964, auf See<br />
Dairen ist der entfernteste Punkt unserer Reise, – ab jetzt geht‘s wieder Ri<strong>ch</strong>tung Heimat. Und<br />
an Bord der MS Basilea jagen si<strong>ch</strong> die Gerü<strong>ch</strong>te. Jeder der Manns<strong>ch</strong>aft will was anderes gehört<br />
haben, wel<strong>ch</strong>e Häfen wir auf dem Weg zurück no<strong>ch</strong> anlaufen werden. Und eigentli<strong>ch</strong> ist es den<br />
meisten egal – Hauptsa<strong>ch</strong>e, Bangkok ist no<strong>ch</strong>mals dabei. Aber genau das ist ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er. Auf<br />
S<strong>ch</strong>anghai hat keiner Lust, wenn s<strong>ch</strong>on, dann lieber no<strong>ch</strong>mals Hong Kong. Aber was solls, wir<br />
müssen es eh so nehmen, wie‘s kommt. Der nä<strong>ch</strong>ste Hafen liegt si<strong>ch</strong>er no<strong>ch</strong>mals in China, und<br />
er ist ni<strong>ch</strong>t weit entfernt: Qingdao.<br />
Die Stimmung an Bord ist sehr gut. Das ist sie eigentli<strong>ch</strong> meistens, abgesehen von kleineren<br />
Streitereien, die es überall gibt. Wir haben wirkli<strong>ch</strong> Glück mit dieser Manns<strong>ch</strong>aft, die sehr ausgegli<strong>ch</strong>en<br />
ist, und in der König Humor herrs<strong>ch</strong>t. An jeder Stelle des S<strong>ch</strong>iffes wird gela<strong>ch</strong>t und<br />
ges<strong>ch</strong>erzt, bis rauf auf die Brücke. Dort ist vor allem der Funker sehr beliebt. Das eigentli<strong>ch</strong>e Zentrum<br />
der guten Laune liegt allerdings bei den Stewards, die mit ihrer Band viel zur entspannten<br />
Stimmung beitragen, und die au<strong>ch</strong> immer wieder Ausgangspunkt für Bordfeste sind.<br />
4. Oktober 1964, Qingdao<br />
Gegen vier Uhr ma<strong>ch</strong>en wir fest, und als erste freudige Überras<strong>ch</strong>ung vernehmen wir, dass<br />
S<strong>ch</strong>anghai definitiv ausfällt und wir na<strong>ch</strong> Qingdao direkt na<strong>ch</strong> Whampoa dampfen werden, das<br />
nördli<strong>ch</strong> von Hong Kong liegt. Das hebt die an si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on gute Stimmung no<strong>ch</strong>, denn damit<br />
verbunden ist au<strong>ch</strong> die jetzt bere<strong>ch</strong>tigte Hoffnung, dass wir Bangkok no<strong>ch</strong>mals anlaufen, um<br />
weitere Fra<strong>ch</strong>t abzuholen.<br />
Der Hafen von Qingdao gibt ni<strong>ch</strong>t viel her, es ist der bisher hässli<strong>ch</strong>ste. Kahle, halbzerfallene<br />
Baracken inmitten von Gerümpel aus Alteisen, Röhren und Steinen. Das einzige beleu<strong>ch</strong>tete<br />
Gebäude weit und breit ist der Seemannsclub. Der Service ist aber lausig und das Essen ungeniessbar.<br />
Immerhin treffen wir dort einen Glarner, der als Zweiter Ingenieur auf der ebenfalls<br />
im Hafen liegenden s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en «MS Dagmar» Dienst tut. Der Mann freut si<strong>ch</strong> höllis<strong>ch</strong>, hier<br />
in dieser Wüste auf S<strong>ch</strong>weizer zu treffen, und lädt uns ein, sein S<strong>ch</strong>iff zu besi<strong>ch</strong>tigen. Es ist ein<br />
35-jähriges Zweis<strong>ch</strong>raubens<strong>ch</strong>iff, das gerade mal no<strong>ch</strong> 8-10 Knoten ma<strong>ch</strong>t. Wir sind natürli<strong>ch</strong><br />
begeistert, denn endli<strong>ch</strong> haben wir einen Kahn gefunden, der no<strong>ch</strong> langsamer ist als unsere<br />
gute MS Basilea... Au<strong>ch</strong> sonst ist die «MS Dagmar» ein S<strong>ch</strong>rotthaufen mit für<strong>ch</strong>terli<strong>ch</strong> engen<br />
Kabinen, da ist unsere Basilea direkt ein Luxusdampfer daneben.<br />
8. Oktober 1964, auf See<br />
Da nur 200 Tonnen Röhren gelös<strong>ch</strong>t werden müssen, ist der Aufenthalt hier zum Glück kurz.<br />
Das Auslaufen ist auf 18.00 h angesetzt, aber dann lässt man uns warten und warten. Kurz vor<br />
Mitterna<strong>ch</strong>t, als die meisten s<strong>ch</strong>on pennen (ausser den Diensthabenden auf der Brücke natürli<strong>ch</strong>),<br />
kommt ein <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>es Kontrollkommando an Deck und holt alle aus dem Sack: Die ganze<br />
Crew muss si<strong>ch</strong> auf dem Bootsdeck versammeln und kontrollieren lassen. Es ist eine eisig kalte<br />
Na<strong>ch</strong>t, und wir stehen und stehen und wissen eigentli<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t, was «kontrolliert» werden<br />
soll. Si<strong>ch</strong>er ist nur, dass uns die Chinesen wieder mal gezeigt haben, dass sie mit uns ma<strong>ch</strong>en<br />
können, was sie wollen. Nur no<strong>ch</strong> weg von hier!<br />
9. Oktober 1964, auf See<br />
100 Tage auf der Basilea! so lange habe i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> nie «am Stück» gearbeitet, ohne freien Sonntag...<br />
Dafür habe i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on mehr gesehen als in meinen bisherigen 22 Jahren zusammen. Das<br />
Wetter ist allerdings ni<strong>ch</strong>t in Jubiläumsstimmung: dicke graue Wolken hängen tief über der See,<br />
die finster, grau und bedrohli<strong>ch</strong> wirkt. Es s<strong>ch</strong>eint ein Unwetter im Anzug zu sein.<br />
11./13. Oktober 1964, auf See<br />
Sturm! Die Matrosen werden um ihren freien Sonntag geprellt, denn sie haben jetzt alle Hände<br />
voll zu tun mit Las<strong>ch</strong>en und Si<strong>ch</strong>ern der Ladung. Das Meer ist giftig grün geworden, und<br />
zis<strong>ch</strong>ende Wellenkämme rasen um uns her. Die MS Basilea rollt und stampft und kämpft gegen<br />
die Wellenberge an. In der Kü<strong>ch</strong>e las<strong>ch</strong>en wir alles, was runterfallen könnte. Im Laufe des Tages<br />
nimmt der Wind no<strong>ch</strong> zu, und in der Na<strong>ch</strong>t kommt die Meldung rein, dass auf der Höhe von<br />
Hong Kong ein Taifun im Entstehen sei. Aber genau in diese Ri<strong>ch</strong>tung sind wir unterwegs. Der<br />
Kapitän lässt die Mas<strong>ch</strong>inen stilllegen, und wir dümpeln ein paar Stunden antriebslos in den<br />
Wellen. Dann aber kommt über Funk die Meldung, dass der Taifun seine Ri<strong>ch</strong>tung geändert hat:<br />
Er steuert jetzt auf uns zu! Wir müssen reagieren und vor dem Taifun flü<strong>ch</strong>ten. Die Mas<strong>ch</strong>inen<br />
werden auf volle Kraft voraus gestellt, und wir nehmen wieder nördli<strong>ch</strong>en Kurs an, – nur weg<br />
aus der Gefahrenzone! Das klingt allerdings einfa<strong>ch</strong>er als es ist, denn inzwis<strong>ch</strong>en sind die Wellen<br />
so ho<strong>ch</strong> und der Seegang so s<strong>ch</strong>wer, dass wir kaum no<strong>ch</strong> vom Fleck kommen. Der Wind fegt<br />
mit 120 km/h über uns hinweg, und der Taifun kommt immer näher...
Es wird ziemli<strong>ch</strong> ungemütli<strong>ch</strong> an Bord, der Kahn ä<strong>ch</strong>zt und stöhnt und biegt si<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en den<br />
Wellenbergen und Wellentälern. Das Getöse des Windes und des Meeres sind ohrenbetäubend.<br />
Die Nervosität der Manns<strong>ch</strong>aft steigt merkli<strong>ch</strong>, und Hektik kommt auf. Es wird der Befehl erteilt,<br />
dass alle Fenster mit Brettern verrammelt werden müssen, alle Türen gesi<strong>ch</strong>ert. Wer jetzt no<strong>ch</strong><br />
auf Deck ist, muss höllis<strong>ch</strong> aufpassen, dass er ni<strong>ch</strong>t über Bord ges<strong>ch</strong>leudert wird. Die Basilea,<br />
immerhin ein stolzer 10‘000-Tonnen-Fra<strong>ch</strong>ter, wird wie ein Ruderboot rumges<strong>ch</strong>leudert, und<br />
was im Innern ni<strong>ch</strong>t gelas<strong>ch</strong>t ist, geht in Trümmer. Stühle werden an die Wand geworfen, im<br />
Salon steht ni<strong>ch</strong>ts mehr. In der Pantry kra<strong>ch</strong>ts, in der Kü<strong>ch</strong>e fliegen die Pfannen, und die «gesi<strong>ch</strong>ert»<br />
geglaubten Teller gehen in S<strong>ch</strong>erben, die Vorratskammer ist ein Chaos. Ni<strong>ch</strong>t auszudenken,<br />
wie es im Laderaum aussieht! Das werden wir erst später sehen.<br />
Der Taifun nähert si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> immer: mit einer Ges<strong>ch</strong>windigkeit von 18 Knoten steuert er auf<br />
uns zu, das ist deutli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>neller, als die MS Basilea je dampfen könnte. Aber sie dampft gar<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr, denn die Diesel mussten abgestellt werden, um die S<strong>ch</strong>raube ni<strong>ch</strong>t zu verlieren. Die<br />
Wellen errei<strong>ch</strong>en jetzt 12 bis 15 Meter Höhe, und wenn das S<strong>ch</strong>iff von einem Wellental auf den<br />
Wellenkamm gehoben wird, dreht die S<strong>ch</strong>raube leer – und die Kardanwelle könnte bre<strong>ch</strong>en.<br />
Also sind wir nun antriebslos den Kräften des Sturmes ausgeliefert, ein beängstigendes Gefühl.<br />
Diese Bilder zeigen ni<strong>ch</strong>t den «ri<strong>ch</strong>tigen»<br />
Sturm während des Taifuns. Sie<br />
stammen vom Tag dana<strong>ch</strong>, als si<strong>ch</strong> die<br />
See na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> beruhigt hatte. Dass<br />
i<strong>ch</strong> im Sturm ni<strong>ch</strong>t fotografiert habe,<br />
liegt ganz einfa<strong>ch</strong> daran, dass es mir<br />
ni<strong>ch</strong>t ums Fotografieren war... man ist<br />
in einer sol<strong>ch</strong>en Situation mehr mit<br />
si<strong>ch</strong> selbst bes<strong>ch</strong>äftigt. Zudem wäre es<br />
zu gefährli<strong>ch</strong> gewesen, an Deck sol<strong>ch</strong>e<br />
Aufnahmen zu ma<strong>ch</strong>en (rede i<strong>ch</strong> mir<br />
jetzt ein..., das ist aber hö<strong>ch</strong>stens<br />
eine billige Ausrede).<br />
Apropos Angst: Da i<strong>ch</strong> ja no<strong>ch</strong> nie einen sol<strong>ch</strong>en Sturm erlebt habe, finde i<strong>ch</strong> das Ganze anfängli<strong>ch</strong><br />
eher spannend. Dann sehe i<strong>ch</strong> aber immer mehr die verängstigten Gesi<strong>ch</strong>ter der erfahrenen<br />
Seeleute, und jetzt wird es au<strong>ch</strong> mir etwas mulmig. Seekrank bin i<strong>ch</strong> zwar ni<strong>ch</strong>t, viellei<strong>ch</strong>t ist es<br />
das Adrenalin, das pumpt und dies verhindert, aber wohl ist mir ni<strong>ch</strong>t mehr in meiner Haut. Und<br />
denno<strong>ch</strong>: Es ist ein unglaubli<strong>ch</strong> tolles Gefühl zu erleben, wie dieses grosse S<strong>ch</strong>iff zum Spielball<br />
der Wellen wird. Wenn man unten im Wellental ist, türmt si<strong>ch</strong> links und re<strong>ch</strong>ts eine ungeheure<br />
Wasserwand auf, die weit über das S<strong>ch</strong>iff hinausragt. Dann wird der Kahn wie im Lift von<br />
verheerenden Kräften na<strong>ch</strong> oben gezogen, und auf dem Wellenkamm angekommen überblickt<br />
man das tobende Meer wieder bis zum Horizont. Für ein paar Sekunden. Dann geht es wieder<br />
runter mit einem Geratter, das si<strong>ch</strong> mit Worten ni<strong>ch</strong>t bes<strong>ch</strong>reiben lässt. Und wieder ho<strong>ch</strong>, dann<br />
ist die Wasserwand wieder da. So geht das zwei Tage und zwei Nä<strong>ch</strong>te lang.<br />
Die zweite Na<strong>ch</strong>t. An S<strong>ch</strong>laf ist ni<strong>ch</strong>t zu denken. Man hält si<strong>ch</strong> krampfhaft fest und kann froh<br />
sein, wenn man ni<strong>ch</strong>t von der Prits<strong>ch</strong>e fällt. Am s<strong>ch</strong>limmsten ist es um vier Uhr morgens, der<br />
Taifun hat si<strong>ch</strong> uns weiter genähert. Man<strong>ch</strong>mal geht ein Beben dur<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>iffsrumpf, dass<br />
man glaubt, er sei jetzt auseinandergebro<strong>ch</strong>en. Aber das trifft ni<strong>ch</strong>t ein. Die MS Basilea ist ein<br />
braves und sehr stabiles S<strong>ch</strong>iff, sie übersteht alle Attacken. Im Laufe des Vormittags dann eine<br />
von allen mit Erlei<strong>ch</strong>terung aufgenommene Funkmeldung: Der Taifun hat seine Ri<strong>ch</strong>tung erneut<br />
gewe<strong>ch</strong>selt und rast nun ni<strong>ch</strong>t mehr auf uns zu! In einer Entfernung von 70 Meilen zieht er an<br />
uns vorbei und erspart uns also sein zerstöreris<strong>ch</strong>es Zentrum.<br />
Gegen Abend des 13. Oktobers lässt die Wu<strong>ch</strong>t der Wellen langsam na<strong>ch</strong>, und wir können die<br />
Diesel wieder anwerfen und langsam Fahrt aufnehmen. Es bessert zusehends, je weiter si<strong>ch</strong><br />
das Zentrum des Taifuns entfernt. In der Na<strong>ch</strong>t laufen die Mas<strong>ch</strong>inen wieder mit voller Kraft.<br />
Ufff! Wir sind alle erlei<strong>ch</strong>tert: No<strong>ch</strong>mal mit einem blauen Auge davongekommen und ri<strong>ch</strong>tig<br />
S<strong>ch</strong>wein gehabt.<br />
PS: Einen Monat später, am 12. November, erfahren wir am Radio, dass in jener Na<strong>ch</strong>t ein<br />
panamesis<strong>ch</strong>er 10‘000-Tonnen-Fra<strong>ch</strong>ter (also ein S<strong>ch</strong>iff in unserer Grösse) in «unserem» Taifun<br />
abgesoffen ist. Ohne Lebenszei<strong>ch</strong>en, ohne Überlebenden.<br />
14. Oktober 1964, auf See<br />
Wir ma<strong>ch</strong>en gute Fahrt und s<strong>ch</strong>affen pro Tag rund 500 km in südli<strong>ch</strong>er Ri<strong>ch</strong>tung. Das merkt<br />
man gut an den Temperaturen. Es ist jetzt heiss und feu<strong>ch</strong>t geworden, und die Kleider weden<br />
wegen der hohen Luftfeu<strong>ch</strong>tigkeit – fast 100% – kaum no<strong>ch</strong> trocken. Das Atmen wird zur Qual.<br />
Gegen Abend errei<strong>ch</strong>en wir die grosse Bu<strong>ch</strong>t zwis<strong>ch</strong>en Hong Kong und Kanton. Hier liegen wir<br />
vor Anker und warten, bis man uns reinholt.<br />
15. Oktober, Whampoa<br />
Whampoa liegt nördli<strong>ch</strong> von Hong Kong und gehört zu China. No<strong>ch</strong> am Vormittag bringt uns<br />
ein Küstenboot den Lotsen an Bord, der uns den Fluss hinauf na<strong>ch</strong> Whampoa führen wird. Die<br />
Fahrt dauert mehr als se<strong>ch</strong>s Stunden und ist re<strong>ch</strong>t abwe<strong>ch</strong>slungsrei<strong>ch</strong>. Der mä<strong>ch</strong>tige Fluss ist<br />
dreckig gelb, links und re<strong>ch</strong>ts steigen hohe, kahle Felsen auf, dazwis<strong>ch</strong>en liegen au<strong>ch</strong> weite<br />
Reisfelder. Häuser sind selten, aber auf dem Wasser wimmelt es von Ds<strong>ch</strong>unken, Wohnbooten<br />
und Fis<strong>ch</strong>kähnen. Fotografieren ist in diesen <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Gewässern wieder verboten.
16. Oktober 1964, Whampoa<br />
Ohne einen Grund zu nennen, eröffnen uns die Chinesen, dass wir ni<strong>ch</strong>t in den Hafen einlaufen<br />
dürfen. Viellei<strong>ch</strong>t am 20. Oktober, heisst es. «Papa», wie wir unseren Kapitän nennen, flu<strong>ch</strong>t,<br />
aber das bringt ihn und die Basilea au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t weiter. Wir ankern irgendwo im Niemandsland<br />
bzw. auf dem Fluss.<br />
18. Oktober 1964, Whampoa<br />
Im Gegensatz zum Leben an Land ist der Sonntag für mi<strong>ch</strong> der s<strong>ch</strong>limmste Tag der Wo<strong>ch</strong>e. Alle<br />
haben frei – ausser dem Stewardpersonal, zu dem au<strong>ch</strong> die Messboys gehören, und vergnügen<br />
si<strong>ch</strong> die Zeit mit Kartenspiel, S<strong>ch</strong>iessen, Pfeilwerfen und Knobeln. Für mi<strong>ch</strong> hingegen bedeutet<br />
der Sonntag doppelte Arbeit, weil die ganze Messe zusammen isst. Da komme i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mal in<br />
Ruhe zum Essen, ständig gibt es irgendwel<strong>ch</strong>e Sonderwüns<strong>ch</strong>e zu erfüllen.<br />
20. Oktober 1964, Whampoa<br />
Eine langweilige Warterei! Zudem zehren die se<strong>ch</strong>s Wo<strong>ch</strong>en China an den Nerven. Dieses<br />
«si<strong>ch</strong>-ständig-beoba<strong>ch</strong>tet-und-kontrolliert-zu-werden», wie i<strong>ch</strong> das hasse! Und wie i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong><br />
freue, da endli<strong>ch</strong> wieder rauszukommen, in die freie Welt. Lange kann es ni<strong>ch</strong>t mehr dauern.<br />
Wir ankern no<strong>ch</strong> immer auf dem Fluss. Die Stadt muss ein gutes Stück aufwärts liegen. Ist<br />
mir allerdings egal, die diese Hafenstädte kenne i<strong>ch</strong> jetzt, wo es ni<strong>ch</strong>ts zu sehen gibt ausser<br />
einem Seemannshaus und dem «Friendship»-Store. Chinesis<strong>ch</strong>es Geld (Yuan) habe i<strong>ch</strong> eh<br />
keines mehr, um Souvenirs zu kaufen.<br />
Immerhin sind die Tage herrli<strong>ch</strong> warm (naja, eher heiss), und wenn i<strong>ch</strong> Freizeit habe, liege i<strong>ch</strong><br />
auf dem A<strong>ch</strong>terdeck und lese. Die Nä<strong>ch</strong>te verbringe i<strong>ch</strong> draussen auf Deck, wie immer bei<br />
meinem Kartoffelbunker. Aber hier gibt es jetzt nervtötende Moskitos, die mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>lafen<br />
lassen. Eigentli<strong>ch</strong> wäre es deshalb besser, in der Koje zu überna<strong>ch</strong>ten, aber dort ist es so<br />
stickig, dass es ni<strong>ch</strong>t zum Aushalten ist.<br />
21. Oktober 1964, Whampoa<br />
Nun steht fest, dass wir überhaupt ni<strong>ch</strong>t in den Hafen einlaufen können! Die Ladung Eisenerz-<br />
Briketts wird mit kleinen Fra<strong>ch</strong>tkähnen den Fluss abwärts zu uns transportiert und von diesen<br />
an Bord gehievt. Diese Transports<strong>ch</strong>iffe sind eigentli<strong>ch</strong>e Wohn-Ds<strong>ch</strong>unken, auf denen ganze<br />
Familien leben. Se<strong>ch</strong>s Ds<strong>ch</strong>unken liegen um uns rum, und die ganze Ladung muss von Hand<br />
reinges<strong>ch</strong>aufelt werden.<br />
22. Oktober 1964, Whampoa<br />
Nun vers<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tert si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> das Wetter, und der starke Regen legt die Ladearbeiten<br />
lahm. So liegen wir nun zusammen mit unseren se<strong>ch</strong>s Ds<strong>ch</strong>unken untätig inmitten des Flusses.<br />
Die Luken müssen wieder ges<strong>ch</strong>lossen werden, die Ladebäume werden ho<strong>ch</strong>gezogen. Ni<strong>ch</strong>ts<br />
läuft mehr, und die doofe Warterei geht weiter.<br />
24. Oktober 1964, Whampoa<br />
Endli<strong>ch</strong> hört der Regen auf, und die Ladearbeiter und Stauer kommen auf ihren Wohnbooten<br />
wieder zum Vors<strong>ch</strong>ein. Neben dem Eisenerz gibt es übrigens au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine Ladung von Fässern<br />
mit Bienenhonig, Zinnbrickets und Sprengstoff, bestimmt für Antwerpen, Rotterdam und<br />
Hamburg. Auf unserem Dampfer ist eine neue «Seu<strong>ch</strong>e» ausgebro<strong>ch</strong>en: Bier s<strong>ch</strong>eint ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
in zu sein, es wird jetzt harassweise Wein getrunken: Fendant! Das Gute daran ist, dass die<br />
bisher eher miese Stimmung gewaltig aufgebessert wird. Aber dafür ist die halbe Crew blau.<br />
26. Oktober 1964, auf See<br />
Die lang ersehnte Stunde ist gekommen: Wir dürfen China verlassen! Seit Dairen war es wirkli<strong>ch</strong><br />
nur no<strong>ch</strong> eine trostlose Warterei (wenn man mal vom Taifun absieht...). Die Crew ist in<br />
Ho<strong>ch</strong>stimmung, denn jetzt wartet Bangkok! Das haben si<strong>ch</strong> alle gewüns<strong>ch</strong>t.<br />
31. Oktober 1964, Bangkok<br />
Kaum sind wir an unserem Ankerplatz – mitten im Bangkok River – wird die MS Basilea wieder<br />
von Dutzenden von Mäd<strong>ch</strong>en gestürmt. Das kenne i<strong>ch</strong> ja inzwis<strong>ch</strong>en... Wie es heisst, werden<br />
wir diesmal ni<strong>ch</strong>t nur eine Na<strong>ch</strong>t bleiben, sondern 4-5 Tage. Damit ergibt si<strong>ch</strong> die erhoffte<br />
Gelegenheit, endli<strong>ch</strong> etwas von der Stadt zu sehen, ni<strong>ch</strong>t nur das Na<strong>ch</strong>tleben.<br />
1. November 1964, Bangkok<br />
Diesmal s<strong>ch</strong>affe i<strong>ch</strong> es weiter als zur «Moskitobar». I<strong>ch</strong> bin mit Bäcker Charly unterwegs; unser<br />
erstes Ziel sind natürli<strong>ch</strong> die Tempel. Zuerst lassen wir uns mit einem Speedy-Boot an Land<br />
setzen, dann geht‘s mit einem offenen, dreirädrigen Vespataxi weiter. Den Fahrer «mieten» wir
glei<strong>ch</strong> für den ganzen Tag, dann haben wir keine Transportprobleme. Die Stadt liegt no<strong>ch</strong> ein<br />
ziemli<strong>ch</strong>es Stück vom Hafen entfernt, wir benötigen fast eine Stunde für die Fahrt. Hier herrs<strong>ch</strong>t<br />
s<strong>ch</strong>on ein anderes Leben als in China! Ein emsiges Treiben auf den Strassen, in den Läden und<br />
Restaurants, dazu ein ungeheures Verkehrs<strong>ch</strong>aos. Und dann endli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr das Gefühl,<br />
überall beoba<strong>ch</strong>tet und kontrolliert zu werden, wieder fotografieren zu dürfen was man will...<br />
wir geniessen es!<br />
Bangkok<br />
Messboy Fritz<br />
mitten im Gold<br />
Inmitten dieser Tempel und Buddhafiguren zu stehen, das ist wie ein Mär<strong>ch</strong>en. Da gibt es<br />
Tempel, die bis zur Spitze rauf mit farbigen Mosaikstein<strong>ch</strong>en besetzt sind, oder sol<strong>ch</strong>e aus<br />
purem Gold (oder au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t), dann eindrückli<strong>ch</strong>e Paläste, die in der Sonne glänzen, dass es<br />
einen blendet. Und der Königspalast. Unbes<strong>ch</strong>reibli<strong>ch</strong>. Ni<strong>ch</strong>t mal Fotos können dem gere<strong>ch</strong>t<br />
werden, i<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>e natürli<strong>ch</strong> trotzdem meine Bilder. Wir streifen überall umher und können<br />
kaum fassen, was wir sehen.<br />
2. November 1964, Bangkok<br />
Von den Tempeln no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wer beeindruckt, gehen wir heute weiteren Sehenswürdigkeiten<br />
na<strong>ch</strong>. Zu den berühmtesten gehört der «Sleeping Buddha», ein etwa 50 Meter langer gewaltiger<br />
Koloss, voll mit Gold belegt. Der Buddha «liegt» tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>, und zwar in einem Tempel,<br />
den er total ausfüllt, mä<strong>ch</strong>tig und faszinierend. Wir kommen ins Gesprä<strong>ch</strong> mit einigen jungen<br />
Buddhisten in ihren orangefarbigen Gewändern. Sie zeigen uns ihre Arbeitszimmer und erkären<br />
uns ein paar ihrer Bräu<strong>ch</strong>e. Entgegen meiner Vorstellung handelt es si<strong>ch</strong> bei diesen Leuten<br />
ni<strong>ch</strong>t um Mön<strong>ch</strong>e, sondern es sind «nur» Studenten, die ihrem Brau<strong>ch</strong> entspre<strong>ch</strong>end drei<br />
Monate lang hier wohnen, das orange Gewand und kahle Köpfe tragen müssen. Sie können<br />
es aber trotzdem ni<strong>ch</strong>t lassen und versu<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> als «Übermens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e», indem sie uns die<br />
Zukunft lesen: Charly bekommt eine gute Frau und meine Intelligenz ist «excellent». Was das<br />
mit meiner Zukunft zu tun hat, weiss wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> nur Buddha. Ans<strong>ch</strong>liessend bummeln wir<br />
dur<strong>ch</strong> die Stadt und geniessen eine spannende Bootsfahrt auf dem Chao Phraya, vorbei an den<br />
typis<strong>ch</strong>en Hütten entlang des Flusses.<br />
3. November 1964, Bangkok<br />
An Bord gibt es s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten: Aus den 4-5 Tagen Aufenthalt in Bangkok wird ni<strong>ch</strong>ts.<br />
Wir laufen heute s<strong>ch</strong>on wieder aus! S<strong>ch</strong>ade. Aber was wir in zwei Tagen gesehen haben, war<br />
au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t. Um 13.00 Uhr beginnt die Fahrt flussabwärts in Ri<strong>ch</strong>tung offenes Meer<br />
– und sie wird zur Party! Die Tage in Bangkok haben die Moral der Crew auf 100 gebra<strong>ch</strong>t,<br />
die Stimmung ist grossartig. Nun wird das Klavier des Chiefstewards auf Deck ges<strong>ch</strong>leppt,<br />
das S<strong>ch</strong>lagzeug installiert, und die «Basilea-Band» legt los. Der Bootsmann legt eine Twist-<br />
Nummer hin, ein Mas<strong>ch</strong>inist führt einen Russentanz auf, und so weiter. Grossartige Stimmung.<br />
Das Fest dauert no<strong>ch</strong> bis in alle Na<strong>ch</strong>t, als wir s<strong>ch</strong>on längst wieder auf offener See sind. Ade<br />
Bangkok, du Stadt der Träume.<br />
4. November 1964, auf See<br />
So müde und kaputt war i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on lange ni<strong>ch</strong>t mehr – die «Auswirkungen» der letzten paar<br />
Tage haben ihre Spuren hinterlassen. Und Arbeit habe i<strong>ch</strong> mehr als genug, überall ist es<br />
dreckig, und kein Ding steht mehr am ri<strong>ch</strong>tigen Ort. Im übrigen hat die Besatzung um drei<br />
Köpfe zugenommen: eine neue Katze, ein Gockel und ein Huhn sind dazugekommen. Unserem<br />
Globi passt das allerdings ni<strong>ch</strong>t, er wäre lieber allein, um als einziger verwöhnt zu werden.<br />
5. November 1964, Singapore<br />
Ein Freudentag für alle: es gibt Post. Aber einen Landgang wird es au<strong>ch</strong> diesmal ni<strong>ch</strong>t geben,<br />
unser kurzer Stopp hier hier dient nur dem Bunkern. 300 Tonnen Wasser, Treibstoff, Lebensmittel<br />
und ein paar kleinere Fra<strong>ch</strong>tstücke. Dazu Gepäck der Besatzung der «MS Etha Rickmers».<br />
Das S<strong>ch</strong>iff wurde hier an Chinesen verkauft, die Manns<strong>ch</strong>aft wird na<strong>ch</strong> Hause geflogen, und<br />
wir übernehmen die s<strong>ch</strong>weren Koffern mit all den Souvenirs...<br />
7.-13. November 1964, Indis<strong>ch</strong>er Ozean<br />
Wie gehabt, kämpft die MS Basilea auf der langen Rückfahrt au<strong>ch</strong> diesmal gegen eine beträ<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />
Dünung an, aber diesmal kommt diese von vorne, was ein extremes Stampfen des<br />
Kahns verursa<strong>ch</strong>t (bei der Hinfahrt war‘s ein widerli<strong>ch</strong>es Rollen) und erst no<strong>ch</strong> etwa 2-3 Knoten<br />
Ges<strong>ch</strong>windigkeit kostet. Etwa auf der Höhe von Ceylon nimmt die Stärke der Dünung no<strong>ch</strong> zu,<br />
von Sturm kann man aber ni<strong>ch</strong>t spre<strong>ch</strong>en, die See ers<strong>ch</strong>eint ziemli<strong>ch</strong> glatt. I<strong>ch</strong> bin zwar no<strong>ch</strong><br />
immer kein Fan dieser S<strong>ch</strong>aukelei, aber so s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t wie bei der Hinreise fühle i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr. Immerhin habe i<strong>ch</strong> ja den Sturm meines Lebens hinter mir – den Taifun im <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en<br />
Meer – und mit dieser Erfahrung im Rücken empfinde i<strong>ch</strong> die Bewegungen des S<strong>ch</strong>iffes bereits<br />
als normal, man<strong>ch</strong>mal sogar angenehm.
14. November 1964, Indis<strong>ch</strong>er Ozean<br />
Die Stimmung an Bord ist trotz der langweiligen Überfahrt gut. Alle gehen ihren gewohnten<br />
Arbeiten na<strong>ch</strong>. Die Decksmanns<strong>ch</strong>aft ist wie immer mit Rostklopfen und Anstrei<strong>ch</strong>en bes<strong>ch</strong>äftigt,<br />
und bei mir hat si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t viel verändert. Putzen, abwas<strong>ch</strong>en, Kartoffeln s<strong>ch</strong>älen...<br />
Matrose beim Deckstrei<strong>ch</strong>en<br />
Ein Riesen-Bordfest ist in Vorbereitung. Es nimmt das ganze Stewardpersonal in Anspru<strong>ch</strong>. In<br />
der Kü<strong>ch</strong>e basteln wir belegte Bröt<strong>ch</strong>en, der Bäcker fixt Torten und Ku<strong>ch</strong>en, die anderen dekorieren<br />
die gesamte Backbordseite des Bootsdecks. Und der Name der Festhütte lässt tief<br />
blicken: «S<strong>ch</strong>enke zum alten Horn»... Neben der Basilea-Band gibt‘s eine Tombola (klar, dass<br />
i<strong>ch</strong> nur Nieten ziehe), einen S<strong>ch</strong>iessstand, Ballwerfen – und jede Menge Gratisbier. Das Fest<br />
ist vom Kapitän gespendet, er bedankt si<strong>ch</strong> damit für den Extraaufwand, den die Manns<strong>ch</strong>aft<br />
bei der Überführung der Büffel von Bangkok na<strong>ch</strong> Hong Kong geleistet hat. Ausser den bedienenden<br />
Stewards und Messboys gibt es na<strong>ch</strong> Mitterna<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t mehr viele, die nü<strong>ch</strong>tern sind.<br />
Abgesehen natürli<strong>ch</strong> vom Steuermann, der dafür sorgt, dass die MS Basilea trotz Festlaune<br />
ihren si<strong>ch</strong>eren Kurs fährt.<br />
15. November 1964, Indis<strong>ch</strong>er Ozean<br />
Die Folgen des gestrigen Bordfestes sind verheerend. Überall liegt Gekotztes (Arbeit für den<br />
Messboy!), hunderte von leeren Bierflas<strong>ch</strong>en torkeln im Rhythmus des s<strong>ch</strong>aukelnden S<strong>ch</strong>iffes<br />
auf dem Deck rum, überall liegen voll besoffene Matrosen, die ni<strong>ch</strong>t mehr wissen, wo und wer<br />
sie sind. Aber sie denken ni<strong>ch</strong>t daran, aufzugeben, denn s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> ist heute Sonntag und sie<br />
haben ni<strong>ch</strong>ts zu tun... ausser saufen.<br />
Bäcker Charly in der Kü<strong>ch</strong>e<br />
Walter Ziswiler, Chief Steward<br />
Messboy Fritz mit Bäcker Charly<br />
Port Sudan<br />
16. November 1964, Indis<strong>ch</strong>er Ozean<br />
Die meisten der Matrosen sind wieder nü<strong>ch</strong>tern, aber einige no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t arbeitsfähig. Sie dürfen<br />
si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong>mals einen freien Tag zur Erholung nehmen. Der Na<strong>ch</strong>brand wird jetzt aber mit<br />
Sinalco gelös<strong>ch</strong>t. Und die Messboys haben den ganzen Dreck aufgeräumt, langsam sieht der<br />
Kahn wieder passabel aus. Inzwis<strong>ch</strong>en errei<strong>ch</strong>en wir den Golf von Aden am Horn von Afrika.<br />
Hier herrs<strong>ch</strong>t wieder eine beträ<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Hitze. Das Meer ist tiefblau und ruhig. Eine rund 7000<br />
km lange Strecke auf See liegt bald hinter uns.<br />
18. November 1964, Djibouti<br />
Im Hafen von Djibouti liegen nur wenige S<strong>ch</strong>iffe. Das hängt damit zusammen, dass hier kaum<br />
Ladung aufgenommen oder gelös<strong>ch</strong>t wird, die meisten kommen nur zum Bunkern. Die Stadt<br />
habe i<strong>ch</strong> auf der Hinfahrt bei Na<strong>ch</strong>t gesehen, diesmal gehe i<strong>ch</strong> mit dem Zweiten Steward, Edi<br />
Ackermann, auf einen Bummel bei Tagesli<strong>ch</strong>t. Viel gibts allerdings ni<strong>ch</strong>t zu sehen. Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong><br />
bin i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on etwas verwöhnt mit tollen Städten wie Hong Kong oder Bangkok...<br />
22. November 1964, Port Sudan<br />
Kurz na<strong>ch</strong> Mitterna<strong>ch</strong>t laufen wir ins Hafenbecken ein, und na<strong>ch</strong> Sonnenaufgang<br />
holt man uns an die Pier. Dieser Hafen ist ein Paradies für unsere<br />
Fis<strong>ch</strong>er, die denn au<strong>ch</strong> – kaum angelegt – ihre Angeln auswerfen. Unglaubli<strong>ch</strong>,<br />
was die alles rausholen. Wunders<strong>ch</strong>öne Fis<strong>ch</strong>e, wie i<strong>ch</strong> sie no<strong>ch</strong><br />
nie gesehen habe, ni<strong>ch</strong>t mal im Zoo! Am Vormittag erhalten wir dann die<br />
Gelegenheit zur Besi<strong>ch</strong>tigung von Korallen. Ein Glasbodenboot holt uns<br />
ab, und wir erleben ein riesiges und eindrückli<strong>ch</strong>es «Aquarium» mit tausenderlei<br />
farbigen Fis<strong>ch</strong>en. Ans<strong>ch</strong>liessend bleibt no<strong>ch</strong> etwas Zeit für einen<br />
Stadtbummel und für einen Besu<strong>ch</strong> auf einem russis<strong>ch</strong>en Fra<strong>ch</strong>ter.<br />
24. November 1964, Rotes Meer<br />
Von einem Tag auf den anderen sinkt die Temperatur gewaltig. S<strong>ch</strong>luss mit sonnenbaden auf<br />
Deck, alle ziehen si<strong>ch</strong> einen Pulli über oder sitzen in der warmen Messe.<br />
25. November 1964, Suezkanal<br />
Diesmal werden wir den Kanal mit dem Morgen-Konvoi passieren können. Eine gute Gelegenheit,<br />
si<strong>ch</strong> alles no<strong>ch</strong>mals anzus<strong>ch</strong>auen, – wenn‘s denn ni<strong>ch</strong>t so bitter kalt wäre auf Deck. Kurz<br />
vor Mitterna<strong>ch</strong>t laufen wir in Port Said ein. Wir haben nur 90 Tonnen zu lös<strong>ch</strong>en, und ein paar<br />
Stunden später sind wir s<strong>ch</strong>on wieder unterwegs.<br />
Vorne «Chefmessboy» Ernst Wittmer,<br />
re<strong>ch</strong>ts Messboy Heiri Wittenwiler<br />
27. November 1964, Alexandria<br />
No<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t im Hafen, aber nahe dran, vor Anker. Die Crew hofft natürli<strong>ch</strong>, dass es einen etwas<br />
längeren Aufenthalt geben wird. Die Chancen stehen gut, denn wir haben 2800 Tonnen Eisenerzbriketts,<br />
die gelös<strong>ch</strong>t werden müssen.
29. November 1964, Alexandria<br />
Hier im Mittelmeer ist es wieder angenehm warm. Wir liegen immer no<strong>ch</strong> vor Anker und warten<br />
auf die Erlaubnis, in den Hafen einzulaufen. Heute ist Sonntag, und deshalb habe i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> weniger<br />
Gäste zu betreuen als sonst. Nur die ägyptis<strong>ch</strong>en Wa<strong>ch</strong>tleute und Polizisten essen in meiner<br />
Messe. Das Gerü<strong>ch</strong>t geht um, dass wir von Alexandria aus einen Ausflug na<strong>ch</strong> Kairo und zu den<br />
Pyramiden ma<strong>ch</strong>en können, hoffentli<strong>ch</strong> stimmt das. Alle freuen si<strong>ch</strong> darauf.<br />
Weil‘s keine Stauerarbeit gibt, haben die Matrosen begonnen, die Aussenbordwand und die<br />
Aufbauten zu strei<strong>ch</strong>en. Die MS Basilea wird s<strong>ch</strong>on bald wieder wie neu aussehen.<br />
Matrosen beim Anstri<strong>ch</strong><br />
Ausflug na<strong>ch</strong> Kairo zur Sphynx<br />
Kairo<br />
Im Museum<br />
3. Dezember 1964, Alexandria<br />
Endli<strong>ch</strong> dürfen wir in den Hafen einlaufen. Um 08.00 sind wir fest. Wir liegen an einem fur<strong>ch</strong>tbar<br />
s<strong>ch</strong>mutzigen Pier, zentimeterdick liegt der Dreck. Die gelös<strong>ch</strong>te Ware wird mit Esel- und<br />
Pferdekarren wegtransportiert. Weit und breit keine Lastwagen oder derglei<strong>ch</strong>en. Dafür zu Hunderten<br />
s<strong>ch</strong>natternde Ladearbeiter, s<strong>ch</strong>reiende Orangenverkäufer und herums<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>ende illegale<br />
Geldwe<strong>ch</strong>sler vom S<strong>ch</strong>warzen Markt.<br />
In Alexandria ist der grösste Teil der ägyptis<strong>ch</strong>en Marine stationiert. Den ganzen lieben langen<br />
Tag kreuzen Kriegss<strong>ch</strong>iffe im Hafen umher und vernebeln die ganze Gegend. Dazu rasende kleine<br />
S<strong>ch</strong>nellboote und dröhnende U-Boote. Sieht wie e<strong>ch</strong>t aus. Jedenfalls halten si<strong>ch</strong> alle Ägypter<br />
für Kriegshelden – und wehe, wenn man sie an ihre klägli<strong>ch</strong>en Taten gegen die Israeli erinnert...<br />
Der Bootsmann hat si<strong>ch</strong> am Bein verletzt und muss ins Spital. Wir (der Ko<strong>ch</strong> und i<strong>ch</strong>) besu<strong>ch</strong>en<br />
ihn am Na<strong>ch</strong>mittag. Das heisst, wir wollen ihn besu<strong>ch</strong>en und ihm ein paar Bü<strong>ch</strong>er bringen. Aber<br />
wir kommen damit ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> den Zoll. Während zwei Stunden versu<strong>ch</strong>en wir dem Beamten<br />
klar zu ma<strong>ch</strong>en, dass keine erotis<strong>ch</strong>en Bü<strong>ch</strong>er darunter sind, alle deuts<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>rieben und keine<br />
über Adolf Hitler (!) dabei sind, und dass es si<strong>ch</strong> nur um Romane handelt. Zum S<strong>ch</strong>luss müssen<br />
wir alles wieder zum S<strong>ch</strong>iff zurückbringen, weil «der Zensor heute frei hat und erst am Samstag<br />
wieder kommt». Und nur der Zensor kann das alles überprüfen... was soll man dazu no<strong>ch</strong> sagen!<br />
Auf dem Na<strong>ch</strong>hauseweg bekommen wir no<strong>ch</strong> Kra<strong>ch</strong> mit dem Kuts<strong>ch</strong>enführer, der uns für<br />
den selben Weg, bloss zurück, den dreifa<strong>ch</strong>en Preis verlangt. Typis<strong>ch</strong>, hier versu<strong>ch</strong>t jeder jeden<br />
über den Tis<strong>ch</strong> zu ziehen.<br />
In der Stadt herrs<strong>ch</strong>t ein für<strong>ch</strong>terli<strong>ch</strong>es Verkehrs<strong>ch</strong>aos, weil alle Leute auf der Strasse statt auf<br />
dem Trottoir gehen. Und die Autos versu<strong>ch</strong>en, si<strong>ch</strong> mit Hupen einen Weg zwis<strong>ch</strong>en Pferdekuts<strong>ch</strong>en<br />
und Eselskarren zu bahnen, aber das ist <strong>ch</strong>ancenlos. Die Frauen und Mäd<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>einen<br />
die Tendenz zu haben, wie «Kü<strong>ch</strong>lein aufzugehen». Do<strong>ch</strong> es gibt au<strong>ch</strong> ein paar hübs<strong>ch</strong>e darunter,<br />
mit tiefs<strong>ch</strong>warzem Haar.<br />
4. Dezember 1964, Alexandria/Kairo<br />
I<strong>ch</strong> bekomme frei und darf mit an den Ausflug! Um se<strong>ch</strong>s Uhr früh erwartet uns ein Car. Wir sind<br />
19 Personen, alle voller Tatendrang, und jeder mit einer Kamera bewaffnet. Die Strecke na<strong>ch</strong><br />
Kairo auf teils sehr holprigen Strassen ist 240 Kilometer lang. Kein Berg und kein Hügel weit<br />
und breit, nur fla<strong>ch</strong>e Wüste, hie und da mal ein kleines Dorf mit primitiven Behausungen, au<strong>ch</strong><br />
einigen Beduinenlagern begegnen wir, zahllosen Kamelen, rumhockenden Männern, die den<br />
Frauen bei der Arbeit zus<strong>ch</strong>auen, O<strong>ch</strong>sen, die bei den Ziehbrunnen ihre Kreise ziehen, und eine<br />
Unmenge von Kleinkindern.<br />
Um halbzehn erblicken wir bereits die ersten Häuser von Kairo und den Nil. Erstes Ziel ist<br />
das Museum, wo tausende von stummen Zeugen aus der Zeit der alten Ägypter aufbewahrt<br />
sind. Unglaubli<strong>ch</strong>, wie viele Stücke praktis<strong>ch</strong> unversehrt geblieben sind, dabei sind sie bis 4000<br />
Jahre alt. Um die vielen Namen sämtli<strong>ch</strong>er Pharaonen zu kennen, muss man in der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
des alten Ägyptens s<strong>ch</strong>on besser bewandert sein als i<strong>ch</strong> es bin. Trotzdem finde i<strong>ch</strong> alles ho<strong>ch</strong><br />
interessant – man sieht hier Dinge, die es sonst nirgends auf der Welt gibt, wie zum Beispiel<br />
die Totenmaske des Tut-En<strong>ch</strong>-Amun. I<strong>ch</strong> nehme mir vor, mi<strong>ch</strong> zuhause damit zu bes<strong>ch</strong>äftigen!<br />
Tut-En<strong>ch</strong>-Amun-Totenmaske<br />
Na<strong>ch</strong> dem Museum geht‘s in die Altstadt zum Bazaar. Hier könnte man tonnenweise Geld<br />
ausgeben und herrli<strong>ch</strong>e Souvenirs kaufen. Aber i<strong>ch</strong> erstehe nur einen s<strong>ch</strong>önen Kupferteller mit<br />
ägyptis<strong>ch</strong>en Sujets drauf. Weiter geht‘s zu einer Mos<strong>ch</strong>ee, dann zu einem Tempel, und s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong><br />
zum Essen. Wir sind uns einig: S<strong>ch</strong>affleis<strong>ch</strong> ist ni<strong>ch</strong>t unsere Sa<strong>ch</strong>e. Das Essen ist uns aber<br />
au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t so wi<strong>ch</strong>tig, wir wollen jetzt endli<strong>ch</strong> zu den Pyramiden! Sie befinden si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t weit<br />
ausserhalb der Stadt, auf der anderen Seite des Nils. S<strong>ch</strong>on von weitem sieht man diese gewaltigen<br />
steinernen Zeugen einer alten Kultur, glei<strong>ch</strong> drei nebeneinander.
Mit Kamel und Krawatte<br />
Besteigung der Cheops-Pyramide<br />
Na<strong>ch</strong> Ankunft erleben wir eine Überras<strong>ch</strong>ung: für jeden Mann steht ein Kamel bereit. Mit diesen<br />
ma<strong>ch</strong>en wir einen Rundgang zwis<strong>ch</strong>en den Pyramiden, ein Riesengaudi! Es erinnert mi<strong>ch</strong> an die<br />
Kolonne der Riks<strong>ch</strong>as, die wir in China gebildet haben. Bei der einen der drei Pyramiden steht die<br />
berühmte Sphinx. Dort verlassen wir die Kamele, besi<strong>ch</strong>tigen einen unterirdis<strong>ch</strong>en Tempel und<br />
fahren zurück zu grossen Pyramide, jene des Königs Cheops, 2900 Jahre vor Christus erbaut!<br />
Als Höhepunkt steht die Besteigung dieses 140 Meter hohen Bauwerkes an. Die Quader, die<br />
von weitem fast zierli<strong>ch</strong> aussehen, entpuppen si<strong>ch</strong> als mannshohe Monstersteine (übrigens sagt<br />
man uns, dass es über 2 Millionen Quader sind!), und ein Besteigen der Blöcke ist gar ni<strong>ch</strong>t so<br />
einfa<strong>ch</strong>. Einigen geht die Puste s<strong>ch</strong>on auf halber Höhe aus, ein kleiner Rest kämpft si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />
oben. Natürli<strong>ch</strong> gehöre i<strong>ch</strong> dazu, sowas würde i<strong>ch</strong> mir nie entgehen lassen! An der Spitze wartet<br />
eine überwältigende Aussi<strong>ch</strong>t zu den zwei anderen Pyramiden, die Wüste und den Nil. Man sieht<br />
bis in die Stadt rein.<br />
Beim Abstieg merken wir dann, dass der Aufstieg dagegen ein Kinderspiel war. Die Steilheit der<br />
Pyramide kommt erst jetzt so ri<strong>ch</strong>tig zum Ausdruck, der Winkel von 60 Grad wirkt von oben,<br />
als ob es senkre<strong>ch</strong>t runter ginge. Und nun wirken die Quader no<strong>ch</strong> höher, es brau<strong>ch</strong>t bei jedem<br />
Sprung runter einiges an Mut, ein Fehltritt, und man fiele im freien Fall, zumal auf den Absätzen<br />
au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> jede Menge ruts<strong>ch</strong>iger Sand liegt. Ho<strong>ch</strong> gefährli<strong>ch</strong>. Aber runter müssen wir ja! Und<br />
alle s<strong>ch</strong>affen es unversehrt. Unten angelangt, gehts glei<strong>ch</strong> wieder ho<strong>ch</strong>, aber diesmal im Innern<br />
der Pyramide. Ein ganz enger Gang, der nur 1.40 m ho<strong>ch</strong> (und höllis<strong>ch</strong> unbequem) ist, führt na<strong>ch</strong><br />
oben in einen Saal, in wel<strong>ch</strong>em einst der König begraben gewesen sein soll. Wir sehen aber nur<br />
einen steinernen offenen Sarg, sieht aus wie ein alter Brunnentrog. Die Heimfahrt im Bus geht<br />
wieder dur<strong>ch</strong> die Wüste, da es aber bereits dunkel ist, erkennt man ni<strong>ch</strong>t mehr viel. Wir sind<br />
totmüde, und die meisten pennen im Car. Eine e<strong>ch</strong>te Strapaze, so eine Pyramidenbesteigung,<br />
hätte i<strong>ch</strong> nie geda<strong>ch</strong>t!<br />
5. Dezember 1964, Alexandria<br />
Die Lös<strong>ch</strong>arbeiten gehen wesentli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>neller als vorgesehen voran, und es sieht so aus, als ob<br />
wir bereits morgen auslaufen würden. S<strong>ch</strong>ade, das warme Klima hier hätte mir gut gefallen.<br />
6. Dezember 1964, Alexandria<br />
Letzter Tag in Ägypten. Dass i<strong>ch</strong> die «Gäste» in meiner Messe, die ägyptis<strong>ch</strong>en Wa<strong>ch</strong>tleute und<br />
Polizisten, ni<strong>ch</strong>t mehr sehen muss, tut mir ni<strong>ch</strong>t weh. Dieses hars<strong>ch</strong>e und unhöfli<strong>ch</strong>e Rumkommandiertwerden<br />
habe i<strong>ch</strong> gründli<strong>ch</strong> satt. Es sind eigentli<strong>ch</strong> nur kleine Beamte, aber sie tun so,<br />
als wären sie die Grössten und könnten über alles bestimmen. Und von den lästigen Händlern<br />
an Bord habe i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Nase voll. Eigentli<strong>ch</strong> gäbe es heute no<strong>ch</strong>mals einen Ausflug, na<strong>ch</strong><br />
El Alamein, aber da darf i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mit, heute hat Ernst, der andere Messboy, frei bekommen.<br />
Abends um halbneun lassen wir Alexandria hinter uns, jetzt geht‘s zügig zurück na<strong>ch</strong> Europa.<br />
8. Dezember 1964, auf See<br />
Für mi<strong>ch</strong> ist die «grosse Reise» so gut wie beendet, da es jetzt ni<strong>ch</strong>t mehr viel Neues zu sehen<br />
geben wird. Auf meine Moral wirkt das ni<strong>ch</strong>t förderli<strong>ch</strong>, die Arbeit an Bord und der ganze Betrieb<br />
hängen mir zum Hals heraus. Das gibt no<strong>ch</strong> lange drei Wo<strong>ch</strong>en bis zur Abmusterung! Dass i<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t mehr weiter zur See fahren will, habe i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on seit geraumer Zeit ents<strong>ch</strong>ieden. I<strong>ch</strong> sehe<br />
jetzt klar: Meine berufli<strong>ch</strong>e Karriere liegt ni<strong>ch</strong>t auf dem Wasser. Und se<strong>ch</strong>s Monate rei<strong>ch</strong>en völlig,<br />
um das Leben an Bord eines Fra<strong>ch</strong>ters kennen zu lernen – ein «ri<strong>ch</strong>tiger» Seemann wäre wohl<br />
eh nie aus mir geworden. Dafür ist mir das S<strong>ch</strong>iffsleben zu rauh.<br />
12. Dezember 1964, auf See<br />
Abends um sieben passieren wir die Meerenge von Gibraltar. Auf Backbord liegt Afrika, auf<br />
Steuerbord Europa. Dort erkennt man das s<strong>ch</strong>neebedeckte Sierra-Nevada-Gebirge. S<strong>ch</strong>on bald<br />
sind wir wieder draussen auf dem Atlantik, und da müssen wir au<strong>ch</strong> wieder mit s<strong>ch</strong>werer See<br />
re<strong>ch</strong>nen, die Winterstürme hier sind ja berü<strong>ch</strong>tigt.<br />
Auf dem Gipfel der Cheops!<br />
14. Dezember 1964, im Atlantik<br />
Der Sturm lässt ni<strong>ch</strong>t lange auf si<strong>ch</strong> warten. Wir wurden gewarnt und konnten die Ladung gerade<br />
no<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tzeitig las<strong>ch</strong>en und si<strong>ch</strong>ern. Dann sind wir mitten drin. Stürme sind na<strong>ch</strong> wie vor<br />
ni<strong>ch</strong>t mein Ding, und da hilft au<strong>ch</strong> meine nun se<strong>ch</strong>smonatige Meer-Erfahrung ni<strong>ch</strong>t viel, – die<br />
Seekrankheit lässt mi<strong>ch</strong> leiden, und meine Arbeitsmoral sinkt gegen null. I<strong>ch</strong> glaube, dass i<strong>ch</strong> nie<br />
wirkli<strong>ch</strong> seefest werde. Der Bootsmann tröstet mi<strong>ch</strong>. Er erzählt, dass er volle fünf Jahre lang bei<br />
jedem Sturm gekotzt hat, und dem Zimmermann wird es au<strong>ch</strong> heute no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t. I<strong>ch</strong> kann die<br />
zwei nur bewundern, dass sie ni<strong>ch</strong>t aufgeben! I<strong>ch</strong> wähle den einfa<strong>ch</strong>en Weg und werde künftig<br />
mein Leben an Land führen. Der tobende Golf von Biscaya erweist si<strong>ch</strong> dann aber als ni<strong>ch</strong>t ganz<br />
so dramatis<strong>ch</strong> – zumindest vergli<strong>ch</strong>en mit unserem Taifun in den <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Gewässern. Wir
kommen problemlos dur<strong>ch</strong>, und im englis<strong>ch</strong>en Kanal wartet eine angenehm ruhige See auf uns,<br />
wie befreiend, es ist «wie Sonntag».<br />
Heute ist uns do<strong>ch</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> das Bier ausgegangen! Dabei hat mir jemand vor der Reise<br />
gesagt, auf der MS Basilea würde «ni<strong>ch</strong>t so viel» getrunken. Effektiv aber haben wir 19‘200 Flas<strong>ch</strong>en<br />
verputzt. Wieviel Flas<strong>ch</strong>en werden es wohl auf S<strong>ch</strong>iffen sein, wo «viel» getrunken wird?<br />
17. Dezember 1964, Antwerpen<br />
I<strong>ch</strong> bin wieder am Ausgangsort meiner grossen Reise! Freundli<strong>ch</strong> werden wir zwar ni<strong>ch</strong>t empfangen,<br />
es ist kalt und nass hier. Nun habe i<strong>ch</strong> nur no<strong>ch</strong> ein Ziel: Abmustern, so bald als mögli<strong>ch</strong>.<br />
Wenn i<strong>ch</strong> die Augen s<strong>ch</strong>liesse, sehe i<strong>ch</strong> nur no<strong>ch</strong> einen Berg dreckiger Pfannen... i<strong>ch</strong> hab sowas<br />
genug von dieser Arbeit! Nur, wann und wo lässt man mi<strong>ch</strong> von Bord gehen? Wie es heisst, soll<br />
die Reise no<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Oslo rauf gehen... i<strong>ch</strong> bin sauer.<br />
Antwerpen<br />
21. Dezember 1964, Rotterdam<br />
Mit dem Chef der Reederei, Herrn Meili, habe i<strong>ch</strong> nun vereinbart, dass i<strong>ch</strong> am 23. Dezember in<br />
Rotterdam abmustern kann. Zwar entgehen mir dadur<strong>ch</strong> gewisse Zulagen, die i<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> vollen<br />
se<strong>ch</strong>s Monaten bekommen hätte, aber das ma<strong>ch</strong>t gerade mal 200 Franken aus, das kann i<strong>ch</strong><br />
verkraften. Dafür darf i<strong>ch</strong> Weihna<strong>ch</strong>ten s<strong>ch</strong>on zuhause verbringen. I<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>icke meinen Eltern ein<br />
Telegramm: «Ankomme Donnerstag, Gruss Fritz». No<strong>ch</strong> zwei Tage.<br />
Eine interessante Feststellung ma<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> zum S<strong>ch</strong>luss: In den letzten Tagen waren alle<br />
an Bord ungewöhnli<strong>ch</strong> höfli<strong>ch</strong> mit mir, au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e, die mir das Leben man<strong>ch</strong>mal sehr s<strong>ch</strong>wer<br />
gema<strong>ch</strong>t haben. Könnte es damit zusammenhängen, dass sie si<strong>ch</strong> nun vorstellen, dem Messboy<br />
mal an Land zu begegnen, wo er ni<strong>ch</strong>t mehr der «Untertan» ist?<br />
23. Dezember 1964, Rotterdam<br />
Es ist vollbra<strong>ch</strong>t! Zwar ist der Abmusterungstag ein Arbeitstag (so steht es im Vertrag mit der<br />
Reederei), aber wenn s<strong>ch</strong>on, auf die paar Stunden kommt es jetzt au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr an. Au<strong>ch</strong><br />
mein bester Kumpel an Bord, Beck Charly, wird glei<strong>ch</strong>zeitig mit mir abmustern. Wir packen beide<br />
mit Freude unsere Riesenkoffer, die wir in Bangkok für den Transport unserer Souvenirs gekauft<br />
haben. Sie sind so s<strong>ch</strong>wer, dass wir sie der Bahn übergeben, als Fra<strong>ch</strong>tgut. Und dergestalt<br />
erlei<strong>ch</strong>tert, nur no<strong>ch</strong> mit unseren Seesäcken über der S<strong>ch</strong>ulter, verlassen wir die MS Basilea.<br />
Jeder in seine eigene neue Zukunft an Land...<br />
Kapitän Vinzenz Grisar<br />
am Fuss der Cheops-Pyramide<br />
Die Besatzung der MS Basilea, China-Trip 1964<br />
Brücke<br />
Mas<strong>ch</strong>ine<br />
Stewards<br />
Kapitän Vinzenz Grisar<br />
Chiefmate Robert von Arx<br />
2. Offizier Arthur Walser<br />
3. Offizier Helge Carstens<br />
Funker Bruno Maier<br />
Deck<br />
Bootsmann Bruno S<strong>ch</strong>u<strong>ch</strong>ter<br />
Zimmermann Bruno Weber<br />
Matrose Heinz Zülle<br />
Matrose Rudolf Bruni<br />
Matrose Toni S<strong>ch</strong>enk<br />
Matrose Pit Stalder<br />
Matrose Jürg Meier<br />
Matrose Albin Vögtlin<br />
Matrose Hans S<strong>ch</strong>mid<br />
Matrose Heinz Graf<br />
Matrose Hans Jeanneret<br />
Deckhand Armin Vogt<br />
Deckhand Jürg Seiler<br />
Chief Engineer Ron Smits<br />
2. Engineer Fritz Mön<strong>ch</strong><br />
3. Engineer Fredy S<strong>ch</strong>iegg<br />
4. Engineer Jean Werder<br />
Assi Peter Rüeger<br />
Assi Peter Rüeger<br />
Assi Hans Leuenberger<br />
Assi Robert Fie<strong>ch</strong>ter<br />
Motormann Roland Ryser<br />
Motormann Otto Sauter<br />
Motormann Siegfried Müller<br />
Elektriker Erwin Kunz<br />
Chief Walter Ziswiler<br />
2. Steward Edi Ackermann<br />
3. Steward Kurt Stamm<br />
Ko<strong>ch</strong> Hans Dörflinger<br />
Bäcker Charly S<strong>ch</strong>mid<br />
Messboy Ernst Widmer<br />
Messboy Heiri Wittenwiler<br />
Messboy Fritz Kleisli<br />
...und Globi,<br />
unsere S<strong>ch</strong>iffskatze