Pfalzrätliche Strafuntersuchung gegen Joseph Antoni Egger aus ...
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«Die Wahrheit muss her<strong>aus</strong>!» – <strong>Pfalzrätliche</strong><br />
<strong>Strafuntersuchung</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong><br />
<strong>aus</strong> Tablat wegen Totschlags und<br />
Leichenschändung 1775<br />
Dissertation<br />
der Universität St. Gallen,<br />
Hochschule für Wirtschafts-, Rechtsund<br />
Sozialwissenschaften (HSG)<br />
zur Erlangung der Würde einer<br />
Doktorin der Rechtswissenschaft<br />
vorgelegt von<br />
Miriam Lendfers<br />
von<br />
Arosa (Graubünden)<br />
Genehmigt auf Antrag der Herren<br />
Prof. Dr. Lukas Gschwend<br />
und<br />
Prof. Dr. Hans Vest<br />
Dissertation Nr. 3518<br />
Dike Verlag Zürich/St. Gallen 2008
Die Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und<br />
Sozialwissenschaften (HSG), gestattet hiermit die Drucklegung der<br />
vorliegenden Dissertation, ohne damit zu den darin <strong>aus</strong>gesprochenen<br />
Anschauungen Stellung zu nehmen.<br />
St. Gallen, den 23. Juni 2008<br />
Der Rektor:<br />
Prof. Ernst Mohr, PhD<br />
Die gleiche Arbeit ist erschienen als Band 4 der Schriftenreihe<br />
«Europäische Rechts- und Regionalgeschichte»,<br />
her<strong>aus</strong>gegeben von Prof. Dr. Lukas Gschwend und<br />
Prof. Dr. René Pahud de Mortanges<br />
ISBN 978-3-03751-117-6
Vorwort<br />
Die vorliegende Arbeit wurde im Juni 2008 an der Universität St. Gallen (HSG)<br />
als Dissertation angenommen. Nachdem bereits während meines rechtswissenschaftlichen<br />
Studiums mein Interesse für rechtshistorische Zusammenhänge<br />
geweckt und gefördert worden war und ich im Rahmen meiner Diplomarbeit<br />
erste Erfahrungen mit der qualitativen Analyse eines frühneuzeitlichen Kriminalfalls<br />
sammeln konnte, habe ich mich an die vorliegende Studie gewagt. Das<br />
Stiftsarchiv St. Gallen geniesst international Bekanntheit und Ansehen. Dennoch<br />
lagern dort aufgrund der vorhandenen Fülle an Quellenmaterial bedeutende<br />
Mengen an Akten und Dokumenten, die auf eine Aufarbeitung warten. Die<br />
vorliegende Arbeit soll dazu einen – zugegebenermassen äusserst kleinen – Beitrag<br />
leisten.<br />
Zur Archivarbeit allgemein und zum Studium der frühneuzeitlichen Strafakten<br />
des Stiftsarchivs St. Gallen im Besonderen ermuntert und motiviert hat mich<br />
mein Doktorvater, Prof. Dr. Lukas Gschwend. Dafür und für seine stets hilfreiche<br />
und äusserst kompetente Unterstützung möchte ich mich ganz herzlich bedanken.<br />
Für die Übernahme des Koreferats und das grosse Interesse an meiner<br />
Arbeit bin ich Prof. Dr. Hans Vest dankbar.<br />
Zu dieser Arbeit mit sehr wertvoller Hilfe beigetragen hat weiter lic. phil. Lorenz<br />
Hollenstein, Stiftsarchivar. Er nahm sich immer wieder Zeit, meine vielen<br />
Fragen zu beantworten und stand mir mit Rat zur Seite. Auch sein Stellvertreter<br />
Dr. phil. Peter Erhart zeigte stets Interesse an meiner Arbeit und gab mir Anregungen.<br />
Beiden wie auch Silvia Bärlocher, Sekretärin des Stiftsarchivs, danke<br />
ich herzlich.<br />
Grosse Unterstützung erhielt ich durchgehend von meinem Partner lic. iur.<br />
Benedikt van Spyk, der mir mit vielen befruchtenden Diskussionen und kritischen<br />
Anmerkungen zur Seite stand. Dankbar bin ich auch meiner Schwester<br />
lic. rer. publ. Corina Lendfers sowie lic. iur. Manuela Studach, Rechtsanwältin,<br />
und Heidi Becker, M.A. Law, für das stets «offene Ohr», das Interesse an meiner<br />
Arbeit und die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts.<br />
St. Gallen, im Juli 2008<br />
Miriam Lendfers
Inhaltsübersicht<br />
Inhaltsübersicht<br />
Inhaltsverzeichnis .................................................................................................3<br />
Zusammenfassung/Summary................................................................................9<br />
1 Einleitung ....................................................................................................13<br />
2 Die Kulisse: Alte Landschaft ......................................................................25<br />
3 Vorgeschichte..............................................................................................51<br />
4 Strafverfahren..............................................................................................63<br />
5 Prozessrechtliche Beurteilung...................................................................103<br />
6 Materielle Beurteilung...............................................................................157<br />
7 Urteil und Strafe........................................................................................185<br />
8 Schlussbetrachtungen................................................................................211<br />
Anhang<br />
1
Inhaltsverzeichnis<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
ZUSAMMENFASSUNG/SUMMARY .............................................................9<br />
1 EINLEITUNG ...........................................................................................13<br />
1.1 Einführung in die Thematik...............................................................................................13<br />
1.2 Zielsetzung ...........................................................................................................................15<br />
1.3 Methode................................................................................................................................15<br />
1.4 Aufbau..................................................................................................................................23<br />
2 DIE KULISSE: ALTE LANDSCHAFT..................................................25<br />
2.1 Entstehung und Entwicklung.............................................................................................25<br />
2.2 Die Zeit Abt Bedas...............................................................................................................28<br />
2.3 Rechtssystem........................................................................................................................30<br />
2.3.1 Gerichts- und Verwaltungswesen.....................................................................................30<br />
2.3.1.1 Grundlagen .............................................................................................................30<br />
2.3.1.2 Hohe und niedere Gerichtsbarkeit..........................................................................33<br />
2.3.1.3 Der Pfalzrat, das «höchste tribunal der gerechtigkeit»..........................................37<br />
2.3.2 Relevante Gesetzgebung ..................................................................................................43<br />
2.3.2.1 Grundlagen .............................................................................................................43<br />
2.3.2.2 Die Constitutio Criminalis Carolina.......................................................................44<br />
2.3.2.3 Landsatzung und Landmandat der Alten Landschaft..............................................47<br />
3 VORGESCHICHTE .................................................................................51<br />
3.1 Der Täter: <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong>........................................................................................51<br />
3.2 Das Opfer: Catharina Himmelberger ...............................................................................55<br />
3.3 Der Tag der Tat: Montag, 6. Februar 1775 ......................................................................56<br />
3.4 Die Zeit bis zur Gefangennahme <strong>Egger</strong>s...........................................................................57<br />
3.4.1 Erste Verdachtsmomente..................................................................................................57<br />
3.4.2 Aussprache mit dem Wirt.................................................................................................58<br />
3.4.3 Gespräch mit Schwager und Stiefvater; Gefangennahme ................................................60<br />
4 STRAFVERFAHREN ..............................................................................63<br />
4.1 Besetzung des Gerichts .......................................................................................................63<br />
4.2 Weitere am Verfahren beteiligte Beamte ..........................................................................67<br />
4.3 Untersuchungshandlungen und erste Einvernahme <strong>Egger</strong>s............................................70<br />
4.3.1 Zeugen<strong>aus</strong>sage der Näherin Elisabeth Schafh<strong>aus</strong>er am 13. Februar 1775.......................70<br />
4.3.2 Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> Bensegger und Bestätigung von Johannes Kunz<br />
am 14. Februar 1775.........................................................................................................70<br />
3
Inhaltsverzeichnis<br />
4.3.3 Bergung der Leiche <strong>aus</strong> dem Galgentobel am 14. Februar 1775......................................71<br />
4.3.4 Berichte des Fiskals Zollikofer vom 14. und 15. Februar 1775........................................71<br />
4.3.5 Das «visum et repertum» von Leibarzt Rogg vom 15. Februar 1775...............................72<br />
4.3.6 Stellungnahme des Chirurgen Wolff vom 15. Februar 1775............................................73<br />
4.3.7 Erste Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 15. Februar 1775 .............................................................74<br />
4.4 Weitere Untersuchungshandlungen und zweite Einvernahme <strong>Egger</strong>s..........................76<br />
4.4.1 Anzeige des Strumpfwebers Pankraz Rietmann am 16. Februar 1775............................76<br />
4.4.2 H<strong>aus</strong>durchsuchung am 16. Februar 1775 .........................................................................76<br />
4.4.3 Aussage von Jacob Himmelberger am 17. Februar 1775 und dessen förmliche<br />
Zeugeneinvernahme am 18. Februar 1775 .......................................................................77<br />
4.4.4 Zweite Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 17. Februar 1775...........................................................78<br />
4.5 Weitere Untersuchungshandlungen und dritte Einvernahme <strong>Egger</strong>s...........................81<br />
4.5.1 Öffnung des Grabs von Maria Baumann am 18. Februar 1775........................................81<br />
4.5.2 Zurückkommen auf Zeugen<strong>aus</strong>sagen vom August 1773..................................................82<br />
4.5.3 Exkurs: Das Schicksal der Elisabeth Han.........................................................................83<br />
4.5.4 Befragung des Knechts Franz <strong>Antoni</strong> Ritter am 18. Februar 1775...................................86<br />
4.5.5 Anzeige des Wirts Christian Louis am 18. Februar 1775.................................................86<br />
4.5.6 Zeugeneinvernahme von Carl Etter am 20. Februar 1775................................................87<br />
4.5.7 Dritte Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 20. Februar 1775 ............................................................87<br />
4.6 Vierte Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 21. Februar 1775 ...........................................................90<br />
4.7 Weitere Untersuchungshandlungen und fünfte Einvernahme <strong>Egger</strong>s ..........................92<br />
4.7.1 Zeugeneinvernahme von <strong>Egger</strong>s Stieftöchtern am 22. Februar 1775...............................92<br />
4.7.2 Fünfte Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 22. Februar 1775 ...........................................................92<br />
4.8 Weitere Untersuchungshandlungen und letzte Einvernahme <strong>Egger</strong>s ............................95<br />
4.8.1 Zeugeneinvernahme der Ehefrau am 23. Februar 1775....................................................95<br />
4.8.2 Zeugeneinvernahme von <strong>Joseph</strong> Rüesch am 23. Februar 1775........................................97<br />
4.8.3 Sechste und letzte Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 7. März 1775...............................................98<br />
4.8.4 Zeugeneinvernahme von Johannes Geser am 8. März 1775.............................................99<br />
4.9 Beratung und «Rechtsgutachten»....................................................................................101<br />
5 PROZESSRECHTLICHE BEURTEILUNG.......................................103<br />
5.1 Der Inquisitionsprozess und seine Grundlagen ..............................................................103<br />
5.1.1 Abgrenzung zum Akkusationsprozess............................................................................103<br />
5.1.2 Entstehung und Entwicklung des Inquisitionsprozesses.................................................104<br />
5.2 Zur Zweiteilung des Verfahrens ......................................................................................107<br />
5.3 Der Beweis im Inquisitionsprozess ..................................................................................108<br />
5.3.1 Der Indizienbeweis.........................................................................................................108<br />
5.3.1.1 Rechtshistorische Einordnung ..............................................................................108<br />
5.3.1.2 Indizien im Fall <strong>Egger</strong> ..........................................................................................111<br />
5.3.2 Der Zeugenbeweis..........................................................................................................114<br />
5.3.2.1 Rechtshistorische Einordnung ..............................................................................114<br />
5.3.2.2 Zeugen im Fall <strong>Egger</strong> ...........................................................................................118<br />
4
Inhaltsverzeichnis<br />
5.3.3 Der Sachverständigenbeweis..........................................................................................122<br />
5.3.3.1 Rechtshistorische Einordnung ..............................................................................122<br />
5.3.3.2 Sachverständige im Fall <strong>Egger</strong>.............................................................................126<br />
5.4 Generalinquisition.............................................................................................................129<br />
5.4.1 Erste Schritte in der Verbrechensaufklärung..................................................................129<br />
5.4.2 Vorgehen bis zu <strong>Egger</strong>s Verhaftung...............................................................................131<br />
5.5 Spezialinquisition ..............................................................................................................134<br />
5.5.1 Entwicklung und Stellenwert der Verfahrensrechte .......................................................134<br />
5.5.2 Exkurs: Fürstäbtische Verhaltensvorschriften für Anwälte und Pfalzräte.....................137<br />
5.5.3 Die Verfahrensrechte <strong>Egger</strong>s..........................................................................................139<br />
5.5.4 Das Verhör .....................................................................................................................140<br />
5.5.4.1 Befragung des Angeschuldigten ohne Folter ........................................................140<br />
5.5.4.2 Folter und weitere Druckmittel.............................................................................143<br />
5.5.4.3 Verhöre <strong>Egger</strong>s nach Gefangennahme .................................................................147<br />
5.5.5 Zeugeneinvernahmen .....................................................................................................151<br />
5.5.6 Haftbedingungen ............................................................................................................153<br />
6 MATERIELLE BEURTEILUNG .........................................................157<br />
6.1 Totschlag ............................................................................................................................157<br />
6.1.1 Historisch-kriminologische Grundlagen.........................................................................157<br />
6.1.2 Rechtliche Einordnung ...................................................................................................161<br />
6.1.3 Totschlag der Catharina Himmelberger..........................................................................165<br />
6.2 Leichenschändung.............................................................................................................168<br />
6.2.1 Historisch-kriminologische und rechtliche Einordnung .................................................168<br />
6.2.2 <strong>Egger</strong>s Experimente........................................................................................................170<br />
6.2.2.1 Vorbemerkung.......................................................................................................170<br />
6.2.2.2 Aberglaube und Wissenschaft im frühneuzeitlichen Wettstreit .............................171<br />
6.2.2.3 Die Geköpfte und die Wöchnerin ..........................................................................178<br />
7 URTEIL UND STRAFE .........................................................................185<br />
7.1 Das Strafsystem .................................................................................................................185<br />
7.1.1 Poena ordinaria und extraordinaria.................................................................................185<br />
7.1.2 Todesstrafe .....................................................................................................................186<br />
7.1.3 Freiheitsstrafen ...............................................................................................................187<br />
7.1.4 Landesverweisung und Galeerenstrafe...........................................................................193<br />
7.1.5 Begnadigung und Urfehde..............................................................................................198<br />
7.2 Bestrafung <strong>Egger</strong>s wegen Totschlags und Leichenschändung .....................................201<br />
7.2.1 Verurteilung zur Todesstrafe..........................................................................................201<br />
7.2.2 Begnadigung zur Galeerenstrafe ....................................................................................205<br />
7.2.3 Vollzug ...........................................................................................................................208<br />
8 SCHLUSSBETRACHTUNGEN............................................................211<br />
5
Inhaltsverzeichnis<br />
ANHANG............................................................................................................. I<br />
A<br />
B<br />
C<br />
D<br />
E<br />
F<br />
Akten im Fall <strong>Egger</strong>....................................................................................................................i<br />
Personen im Fall <strong>Egger</strong>............................................................................................................. ii<br />
Quellen und Materialien...........................................................................................................iv<br />
Literatur .................................................................................................................................. vii<br />
Nachschlagewerke.................................................................................................................xxxi<br />
Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................... xxxiii<br />
6
Zusammenfassung<br />
Zusammenfassung<br />
Am 6. Februar 1775 verschwindet Catharina Himmelberger <strong>aus</strong> Rotmonten.<br />
Wenige Tage später gerät <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong> <strong>aus</strong> Tablat in Verdacht, ihr etwas<br />
angetan zu haben. Unter Druck gesteht er, sie getötet zu haben, worauf die<br />
Obrigkeit aktiv wird. <strong>Egger</strong> wird im Turm hinter dem Wirtsh<strong>aus</strong> «Hirschen» in<br />
St. Fiden gefangengesetzt. Das Verbrechen gelangt vor den Pfalzrat der Alten<br />
Landschaft, das «höchste tribunal der gerechtigkeit». Die Verhöre beginnen.<br />
Bei der Bergung der Leiche Catharina Himmelbergers werden im Galgentobel<br />
zwei weitere, verstümmelte Leichen gefunden, was den Fall zunehmend<br />
verzwickter erscheinen lässt und das Gericht vor einige Probleme stellt. Der<br />
Leibarzt von Abt Beda wird beauftragt, die Leichen zu begutachten und über<br />
seine Erkenntnisse schriftlich Bericht zu erstatten. Auch ein Wundarzt und zwei<br />
Hofbarbiere werden um ihre sachkundige Meinung ersucht. Es kommt zu einer<br />
H<strong>aus</strong>durchsuchung auf <strong>Egger</strong>s Hof. Gräber werden aufgegraben und inspiziert.<br />
Das Gericht verhört eine Reihe von Zeugen. Immer wieder muss auch <strong>Egger</strong><br />
Rede und Antwort stehen, wobei neben der Ergründung der Vorgehensweise<br />
beim Totschlag Catharina Himmelbergers der Fokus auf dem Motiv für die Leichenschändungen<br />
liegt.<br />
Die vorliegende Studie verankert das pfalzrätliche Strafverfahren in der Forschung<br />
über die Strafrechtsgeschichte in der frühen Neuzeit. Der Fall wird im<br />
Sinne einer qualitativen Einzelfalluntersuchung unter Einbezug und Verwertung<br />
sämtlicher vorhandener Akten aufgearbeitet und analysiert. Ein Schwerpunkt<br />
liegt dabei auf der Untersuchung der Vorgehensweise des Pfalzrats der Fürstabtei<br />
St. Gallen. Neben der prozessrechtlichen Seite des Falles wird die materiellrechtliche<br />
behandelt. Die Delikte des Totschlags und der Leichenschändung<br />
werden gesellschaftlich und rechtlich in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />
eingeordnet. Schliesslich wird der Abschluss des Verfahrens mit der Verurteilung<br />
und dem Vollzug der Strafe, soweit dieser nachvollzogen werden kann,<br />
gewürdigt. Die Arbeit gewährt Einblick in die Strafrechtsverhältnisse einer Zeit,<br />
die an der Schwelle zur «modernen» Welt noch gar nicht so weit zurück liegt.<br />
9
Summary<br />
Summary<br />
On February 6 th 1775, Catharina Himmelberger from Rotmonten disappears.<br />
Rotmonten belonged to the monastery of St. Gallen. A few days later, <strong>Joseph</strong><br />
<strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong> from Tablat is accused having laid his hands on her. Set under<br />
pressure he confesses having killed her, whereupon the authorities take actions.<br />
<strong>Egger</strong> is being held in custody in a tower behind the restaurant «Hirschen» in<br />
St. Fiden. The case is taken to court, to the so called «Pfalzrat», which is the<br />
«highest tribunal of justice». The questionings begin.<br />
When recovering the corpse of Catharina Himmelberger, two more mutilated<br />
bodies are found in the Galgentobel. This makes the whole case seem even more<br />
intricate and the authorities are confronted with even more problems. Abbot<br />
Beda’s medical attendant is instructed to examine the bodies and give a full<br />
written account on his findings. Further, a surgeon and two barbers are being<br />
asked for their competent opinion. A house search is being done on the premises<br />
on <strong>Egger</strong>’s farm. Graves are dug up and inspected. The court is interrogating<br />
more and more witnesses. Time and again, <strong>Egger</strong> is obliged to give account of<br />
Catharina Himmelberger’s homicide. Moreover the questioning is focusing on<br />
the motive of the desecration of the bodies.<br />
The present study anchors the criminal procedure of the «Pfalzrat» in the research<br />
of the history of criminal law in the early modern times. The case is<br />
worked up and analysed in terms of a qualitative exploration of an individual<br />
case, considering all preserved files. A main focus lies on the inquest of the procedural<br />
methods of the «Pfalzrat». Besides the procedural law, the substantive<br />
law is being discussed. The crimes of homicide and desecration of corpses are<br />
socially and legally classified in the second half of the 18 th century. Eventually,<br />
the conclusion of proceedings with the conviction and the enforcement of the<br />
sentence – as far as this can be retraced – is dissected. The study provides an<br />
insight into the criminal law of a time not so long ago, on the threshold of the<br />
modern world.<br />
11
Einleitung<br />
1 Einleitung<br />
1.1 Einführung in die Thematik<br />
Im Jahr 1775 beschäftigten den Pfalzrat der Fürstabtei St. Gallen erschütternde<br />
Verbrechen, die <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong> <strong>aus</strong> Tablat zur Last gelegt wurden. Ein<br />
Totschlag mit einer Mistgabel und brutale Leichenverstümmelungen; war <strong>Joseph</strong><br />
<strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong> ein kaltblütiger Gewalttätiger oder steckte etwas anderes<br />
hinter den von ihm verübten Taten?<br />
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veröffentlichte eine unbekannte<br />
Autorschaft in St. Gallen eine kleine Schrift mit dem Titel «Kriminalgeschichten<br />
– aktengetreu erzählt» 1 . Das Büchlein enthält zwei Geschichten. Die erste<br />
handelt von «<strong>Joseph</strong> Anton <strong>Egger</strong> von Tablat, Todtschläger und Leichenräuber»,<br />
die zweite von einem gewissen «Sebastian Hohl von Trogen, Goldmacher<br />
und Mädchenschänder». Dem Vorwort des Büchleins ist folgendes zu entnehmen:<br />
«Wenn die Veröffentlichung vorliegender Straf-Fälle vielleicht einer entschuldigenden Einleitung<br />
bedürfen, so kann die Ursache hiezu jedenfalls nur in dem Umstande liegen, dass<br />
ihr Inhalt in gewissem Sinne als beinahe ‹zu interessant› erscheinen dürfte.» 2<br />
Der Fall <strong>Egger</strong>, ist dem Vorwort weiter zu entnehmen, fessle durch die «Seltsamkeit<br />
der Vergehen» und durch «die räthselhaft stumpfe Rohheit des Verbrechers,<br />
die uns übrigens mehr mit sinnlichem Ekel als mit sittlichem Abscheu<br />
erfüllt». 3 Die gebotenen Enthüllungen seien nach Kräften von den anstössigeren<br />
Bestandteilen gesäubert worden, sodass das Büchlein zwar nicht als Jugendschrift<br />
angepriesen, doch aber Erwachsenen als ebenso belehrende wie unterhaltende<br />
Lektüre übergeben werden dürfe, schliesst der anonyme Autor sein Vor-<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Autor anonym, Kriminalgeschichten, aktengetreu erzählt, [ca. 1860]. Das Erscheinungsjahr<br />
fehlt in der Schrift. Da der Autor auf S. 1 «die Eisenbahn von St. Gallen nach Rorschach»<br />
erwähnt und diese seit 1856 in Betrieb ist (vgl. DIETZ [2005]), wurde das Büchlein<br />
schätzungsweise in den 1860er-Jahren geschrieben.<br />
Autor anonym, Kriminalgeschichten, aktengetreu erzählt, [ca. 1860], 1. Seite des Vorworts<br />
(ohne Seitenzahl).<br />
Autor anonym, Kriminalgeschichten, aktengetreu erzählt, [ca. 1860], 1. Seite des Vorworts<br />
(ohne Seitenzahl).<br />
13
Einleitung<br />
wort. 4 Möge der heutige Leser bei der Konfrontation mit dem Kriminalfall <strong>Egger</strong><br />
nun sinnlichen Ekel oder sittliche Abscheu empfinden; unberührt lassen die<br />
Geschehnisse und das Schicksal der Protagonisten dieses frühneuzeitlichen Falles<br />
keineswegs.<br />
«Die Wahrheit müsse her<strong>aus</strong>» war eine der Wendungen, mit der das Gericht<br />
im Fall <strong>Egger</strong> im Rahmen der langwierigen Einvernahmen die Zunge des Delinquenten<br />
zu lockern versuchte. 5 Insbesondere die Leichenverstümmelungen<br />
wurden als so ungeheuerlich und unverständlich empfunden, dass man sich mit<br />
<strong>Egger</strong>s Antworten lange nicht zufrieden gab und auf verschiedene Arten – so<br />
auch unter Androhung der Folter – versuchte, den auf ihn <strong>aus</strong>geübten Druck zu<br />
erhöhen, um endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen.<br />
Diese Suche nach der Wahrheit um fast jeden Preis hat ihre Grundlage im Inquisitionsprozess,<br />
der den Akkusationsprozess allmählich ablöste und die Aufklärung<br />
von Verbrechen von der Privatsache wegbrachte und zur Aufgabe der<br />
Landesobrigkeit machte. Die Notwendigkeit der hoheitlichen Verbrechensverfolgung<br />
beschrieb der Rechtsgelehrte BENEDIKT CARPZOV 6 in der Vorrede zu<br />
seinem Peinlichen sächsischen Inquisitions- und Achtsprozess 1638 folgendermassen:<br />
«Dass an dem exercitio der peinlichen Gerichte besonders aber an rechtmessiger Ausübung<br />
des inquisition processus wider die Verbrecher unnd Bestrafung der Übelthäter der Republic<br />
und gemeinem Wesen höchlichen unnd viel gelegen wird von niemand leichtlichen<br />
in zweifel gezogen alldieweil hierdurch die Frommen bey ihren Haab und Gütern auch Leib<br />
und Leben geschützet hin<strong>gegen</strong> die Bösen hinweg und <strong>aus</strong> dem Mittel gereumet andere von<br />
dergleichen Übelthaten unnd Verbrechungen abgeschrecket und also Fried und Einigkeit allenthalben<br />
erhalten zuförderst aber des lieben Gottes Ehre gesuchet und sein ernster Wille<br />
vollbracht wird dann in Warheit kein besseres Opffer dem beleidigten Gott geleistet noch<br />
derselbe anderer Gestalt als durch Hinrichtung unnd gebürlicher Bestraffung der Missethäter<br />
versönet werden mag.» 7<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
Autor anonym, Kriminalgeschichten, aktengetreu erzählt, [ca. 1860], 2. Seite des Vorworts<br />
(ohne Seitenzahl).<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 127.<br />
Benedikt Carpzov (1595-1666) gilt als der eigentliche Begründer der deutschen gemeinrechtlichen<br />
Strafrechtswissenschaft. Eine übersichtliche Biographie findet sich bei KLEIN-<br />
HEYER/SCHRÖDER [1996], S. 87 ff.<br />
CARPZOV [1638], S. 3.<br />
14
Einleitung<br />
1.2 Zielsetzung<br />
Das Ziel der vorliegenden Studie ist, den Kriminalfall <strong>Egger</strong> <strong>aus</strong> dem Jahr 1775<br />
aufzuarbeiten. Die Taten von <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong> sowie das darauf folgende<br />
Strafverfahren werden in den geschichtlichen Kontext gestellt und <strong>aus</strong> einer<br />
rechtshistorischen Perspektive untersucht. Anhand der qualitativen Einzelfalluntersuchung<br />
soll nicht nur ein Beitrag zur Geschichte der st. gallischen Stiftslande<br />
geliefert werden, 8 sondern es wird ein Stück Strafrechtsgeschichte <strong>aus</strong> einer<br />
Zeit aufgearbeitet und analysiert, in der sich die bestehende Ordnung grundlegend<br />
zu wandeln begann.<br />
Man mag sich die Frage stellen, ob sich die qualitative Aufarbeitung eines<br />
einzigen historischen Kriminalfalls im Rahmen einer Dissertation im wissenschaftlichen<br />
Diskurs behaupten kann. Zwar vermögen die Betrachtungen nur<br />
einen Ausschnitt von juristischen und sozialgeschichtlichen Begebenheiten gewisser<br />
Bevölkerungsschichten und gewisser Zeiten zu vermitteln und weisen<br />
somit kaum quantitativen Wert auf. Dennoch eignet sich nach Ansicht der Verfasserin<br />
gerade eine qualitative Untersuchung, verbunden mit der Aufarbeitung<br />
umfangreicher, bisher unbekannter Akten, äusserst gut dazu, Einblick in und<br />
Verständnis für eine Zeit zu verschaffen, die mit ihren Strukturen und Werten<br />
zwar vergangen ist, aber dennoch eine Grundlage der Entwicklungen der Gegenwart<br />
bildet. Die Studie wird durch Beizug einschlägiger Literatur und Beachtung<br />
aktueller Forschung breit abgestützt.<br />
1.3 Methode<br />
Mit einer Schnur zusammengebunden befindet sich im St. Galler Stiftsarchiv<br />
ein umfangreiches Bündel an Akten zum Kriminalfall <strong>Egger</strong>. Wie das <strong>aus</strong>führliche<br />
Verhörprotokoll <strong>Egger</strong>s belegt, musste <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> dem fürstäbtischen<br />
Pfalzgericht zu 255 Fragen Rede und Antwort stehen, bevor über seine Taten<br />
beraten und geurteilt wurde. Untersucht wurde der Totschlag einer gewissen<br />
8<br />
Auch wenn die Zahl der Studien zur landesherrlichen Strafjustiz im Wachsen begriffen<br />
ist, überwiegen zumindest für das späte Mittelalter Studien über die städtische Kriminaljustiz;<br />
m.w.H. SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 22.<br />
15
Einleitung<br />
Catharina Himmelberger, die angeblich eine Gläubigerin <strong>Egger</strong>s gewesen war.<br />
Weiter geriet <strong>Egger</strong> unter Verdacht, zwei Leichen geraubt und an ihnen grauenhafte<br />
Verstümmelungen vorgenommen zu haben. Während der mehreren Wochen,<br />
über die sich das Verhör hinzog, wurden viele Zeugen befragt, es wurden<br />
medizinische Gutachten zu den gefundenen drei Leichen eingeholt und der<br />
Hofweibel, der Hatschier 9 und der Totengräber mit Nachforschungen betraut.<br />
Schliesslich wurde ein rechtliches Gutachten erstellt, der Fall abgeurteilt und<br />
das Urteil vollstreckt. Der Kriminalfall <strong>Egger</strong> verfügt über umfangreiches, gut<br />
erhaltenes Quellenmaterial, das in der vorliegenden Studie aufgearbeitet und<br />
<strong>aus</strong>gewertet wurde.<br />
Für die Kriminalitätsgeschichte sind Quellenbestände, vor allem Gerichtsakten,<br />
die ihre Existenz dem rechtlichen Kontroll- und Sanktionierungssystem<br />
verdanken, von grosser Wichtigkeit. Der Informationsgehalt solcher Quellen<br />
beschränkt sich nicht auf die gerichtliche Ebene. Die Quellen gewähren vielmehr<br />
nicht selten Einblick in das Zusammenspiel zwischen dem formellrechtlichen<br />
und dem informell-gesellschaftlichen Kontrollsystem; sie lassen das<br />
Recht und das Gericht als Teil der Gesellschaft plastisch hervortreten. 10 Gerade<br />
die zahlreichen Gerichtsakten von frühneuzeitlichen Inquisitionsprozessen besitzen<br />
aufgrund ihrer Reichhaltigkeit und Ausführlichkeit jedoch den trügerischen<br />
Anstrich der Authentizität. Hier sind zwei Vorbehalte anzubringen. 11 Der<br />
eine zielt auf die Aussergewöhnlichkeit des Handlungskontextes ab, der Aussagen<br />
von Delinquenten und Zeugen hervorbringt. Die hinter einem Gerichtsverfahren<br />
liegende gesellschaftliche Wirklichkeit wird nur unzureichend und verzerrt<br />
abgebildet. 12 Der zweite Vorbehalt betrifft den künstlichen Charakter von<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
Als Hatschiere (auch Hartschiere, Haschiere oder Harschiere) wurde ursprünglich die<br />
kaiserliche Leibwache zu Pferde bezeichnet. Der Begriff leitet sich vom italienischen/spanischen<br />
«arciere» (Bogenschütze) und dies vom lat. «arcus» (der Bogen) ab,<br />
weil die Leibwache in alten Zeiten <strong>aus</strong> Bogenschützen bestanden hatte; vgl. KRÜNITZ,<br />
Bd. 22 [1789], Stichwort «Hatschier», S. 248. In der Stadt St. Gallen erscheint die Berufsbezeichnung<br />
des Harschiers offenbar erstmals 1766 und war identisch mit dem Stadtdiener,<br />
MOSER-NEF, Bd. 7 [1955], S. 165.<br />
M.w.H. SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 12 f.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 62.<br />
Dennoch erlauben historische Gerichtsakten eine Zugangsmöglichkeit zur Lebenswelt<br />
und zu den Handlungsstrategien. Damit ermöglichen sie nicht nur die Thematisierung von<br />
16
Einleitung<br />
schriftlichen gerichtlichen Aussagen und weist auf die Informationsverluste des<br />
geschriebenen Wortes im Vergleich zum gesprochenen Wort hin. Die mündliche<br />
Kommunikation verfügt <strong>gegen</strong>über der schriftlichen über grössere semiotische<br />
Reichhaltigkeit, etwa durch Intonation und Prosodie. Bei schriftlicher<br />
Kommunikation ist es nicht möglich, perzeptionsgestützte Wissensdaten hinzuzufügen,<br />
die Ebenenvielfalt sprachlicher oder sprachunterstützender Zeichen ist<br />
in der mündlichen Sprache grösser. 13 Diese Informationsverluste treffen freilich<br />
auch die Kommunikation in der Gegenwart; bei historischen Gerichtsakten, deren<br />
Sprache einen anderen Entwicklungsstand aufweist als unsere heutige, vergrössern<br />
sich die Informationsverluste zusätzlich.<br />
Die Niederschriften von mündlichen Äusserungen im Rahmen eines frühneuzeitlichen<br />
Strafverfahrens sind zudem mit einer gewissen Vorsicht zu lesen,<br />
weil eine angstfreie Interaktion zwischen Verhörendem und Verhörtem wohl<br />
nur selten möglich war. Auch war das soziale Gefälle oftmals beträchtlich, sodass<br />
unterschiedliche Erfahrungs- und Bildungshorizonte aufeinander trafen,<br />
aber auch unterschiedliche sprachliche Codes verwendet wurden, was nicht selten<br />
zu Missverständnissen führen musste. 14<br />
Für die Arbeit mit dem Quellenmaterial werden die Erkenntnisse der rechtshistorischen<br />
Textexegese beachtet. 15 Um wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht<br />
zu werden, sind die Einarbeitung der einschlägigen Literatur und die Auseinandersetzung<br />
mit den dort vertretenen Meinungen Vor<strong>aus</strong>setzungen dieser Fallanalyse.<br />
16 Durch die Verarbeitung von geschichtlichen Forschungserkenntnissen<br />
wird bezweckt, die eigene Auslegung zu differenzieren und diese in Breite und<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
Kriminalität und Konflikt im engeren Sinn; m.w.H. SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999],<br />
S. 21.<br />
BUSSE [1992], S. 135. Erschwerend bei den frühneuzeitlichen Gerichtsakten kommt die<br />
Filterfunktion der Schreiber hinzu: Flüchtigkeiten bei der Niederschrift, aber auch<br />
Verständigungs- und Sprachprobleme konnten eine Aussage verfälschen. Das Protokoll<br />
ist eher eine summarische und typisierte Zusammenfassung als eine individuelle Aussage;<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 64. Andererseits waren die Schreiber jedoch schon<br />
allein deshalb zur Detailgenauigkeit verpflichtet, weil die Protokolle in der Regel übergeordneten<br />
Gerichtsinstanzen als Entscheidungsgrundlage dienten; SCHWERHOFF, Aktenkundig<br />
[1999], S. 65.<br />
BEHRINGER [1996], S. 282.<br />
Siehe etwa Erläuterungen dazu bei SENN/GSCHWEND [2004], S. 16 ff.<br />
GSCHWEND/KRAMER, Textexegese [2004], S. 248.<br />
17
Einleitung<br />
Tiefe zu verbessern. Da Fundstelle, Autor und Datum bei fast allen der <strong>aus</strong>zuwertenden<br />
Akten bekannt sind, erfolgt die Interpretation unter Berücksichtigung<br />
der durch diese Angaben eröffneten Erkenntnisperspektiven. 17 Bei der Aufarbeitung<br />
des historischen Hintergrunds wird stets darauf geachtet, nur die für die<br />
Quellen und deren Verständnis tatsächlich relevanten Gegebenheiten darzulegen<br />
und allenfalls (weiter) zu entwickeln. 18 Die Einordnung in den rechtlichen, politischen<br />
und verwaltungstechnischen Rahmen ist für die Kontextualisierung der<br />
Akten unerlässlich. 19 Um die Gefahr unnötiger Weitschweifigkeit zu vermeiden,<br />
erscheinen allgemeine Darstellungen zur Entstehungszeit der Quellen nur insoweit<br />
angebracht, als sie dem Forschungs<strong>gegen</strong>stand direkt dienlich sind.<br />
Der Inquisitionsprozess mit obrigkeitlicher Verfolgung von Verbrechern und<br />
möglichst weitgehender materieller Ermittlung der Wahrheit zog eine zunehmende<br />
Verschriftlichung der Gerichtsbarkeit nach sich. Nun ermittelten immer<br />
häufiger spezialisierte Richter und Amtsleute, Verhöre und Zeugenbefragungen<br />
wurden durchgeführt und schriftlich festgehalten. Somit wird die Entstehung<br />
der Gerichts- und Kriminalakten in der Epoche des Spätmittelalters verankert. 20<br />
Bis weit in die frühe Neuzeit hinein kann jedoch nicht von einem abstrakten<br />
Streben der Herrschenden nach umfassender Dokumentation von Kriminalfällen<br />
gesprochen werden; vielmehr standen bei der Verschriftlichung der Strafjustiz<br />
jeweils ganz praktische Gesichtspunkte im Vordergrund, weshalb die einschlägigen<br />
Quellen grundsätzlich ein lückenhaftes Bild präsentieren. 21 Die Aussagekraft<br />
von Strafprozessakten für den frühneuzeitlichen Alltag ist denn auch sehr<br />
unterschiedlich. 22 Das wachsende Bedürfnis nach Dokumentation der peinlichen<br />
Strafen – insbesondere der Todesstrafen – liegt nicht zuletzt in einem Wunsch<br />
nach Legitimation begründet. Zudem sollte wohl die exemplarisch verhängte<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
GSCHWEND/KRAMER, Textexegese [2004], S. 248.<br />
GSCHWEND/KRAMER, Textexegese [2004], S. 248.<br />
Die rein textimmanente Interpretation kann nicht zu tragfähigen Ergebnissen führen;<br />
SCHNABEL-SCHÜLE, Ego-Dokumente [1996], S. 298.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 25 f.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 26. Der Prozess der Ausbildung des Aktenwesens<br />
gelangte im Wesentlichen im Laufe des 18. Jahrhunderts zum Abschluss; SCHMID GER-<br />
HARD [2003], S. 75.<br />
Diese Aussagekraft dürfte grösser sein bei Akten über Straftaten, die tendenziell eher zum<br />
Alltag gehörten als andere (etwa Eigentumsdelikte, mitunter auch Totschlag); VALENTI-<br />
NITSCH [1992], S. 77 und 81. Siehe auch SCHULZE [1996], S. 322.<br />
18
Einleitung<br />
gerechte Strafe im kollektiven Gedächtnis des Herrschaftsgebiets verankert<br />
werden. 23<br />
Gerade bei der Beschäftigung mit historischen Strafprozessakten ist man<br />
mitunter der Kritik <strong>aus</strong>gesetzt, nur ein von obrigkeitlichen Vorstellungen geprägtes<br />
Bild zu gewinnen, zur Selbstwahrnehmung der Menschen in ihrem sozialen<br />
Umfeld aber keinen Zugang zu bekommen. Es existiert die Befürchtung,<br />
beim Studium von Strafprozessakten den «Erzählkünsten» der Betroffenen auf<br />
den Leim zu gehen, was immerhin nicht überall als Nachteil gewertet wird. 24<br />
Nicht verkannt werden darf jedenfalls, dass erhaltene historische Kriminalakten<br />
über erstaunlichen Aussagegehalt und hohe Validität verfügen. Gerade die Gattungsvielfalt<br />
der Akten 25 erlaubt oft eine umfassende Kontextualisierung und<br />
damit eine weitgehend objektive Rekonstruktion konkreter Straffälle. Dies ermöglicht<br />
die Erfassung einer historischen Wirklichkeit, die die Wahrnehmung<br />
und Verarbeitung von historischen Vorkommnissen durch den historischen<br />
Menschen erschliesst. 26 Historische Kriminalfälle bilden nicht bloss rechtshistorisches<br />
Anschauungsmaterial, sondern sind hilfreich, den Blick für ein breites,<br />
sozial- und kulturhistorisch geprägtes Verständnis der Strafrechtsgeschichte zu<br />
schärfen, wie wegweisende Erkenntnisse der historischen Kriminologie der<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
Mit Beispielen SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 32; SCHMID GERHARD [2003],<br />
S. 75.<br />
Einen Überblick über in diese Richtung zielende kritische Stimmen bietet SCHNABEL-<br />
SCHÜLE, Ego-Dokumente [1996], S. 296. Bezogen auf Verhörprotokolle sieht Z’GRAG-<br />
GEN [1999] die Her<strong>aus</strong>forderung darin, diese bei der Auswertung einerseits auf Widersprüche<br />
und Pl<strong>aus</strong>ibilität zu überprüfen, sie andererseits in einem breiteren Kontext zu betrachten,<br />
S. 79. Mit Gefahren und Chancen der Arbeit mit Zeugenverhörprotokollen in der<br />
Forschung befasst hat sich FUCHS, Zeugenverhöre [2001], S. 141 ff., insbes. S. 142.<br />
Diese beinhaltet etwa Verhöre von Verdächtigen, Zeugenbefragungen, medizinische oder<br />
rechtliche Gutachten, Untersuchungsberichte, Anklage- und Verteidigungsschriften sowie<br />
allenfalls Akten der unterschiedlichen Prozessinstanzen eines Falles.<br />
SCHNABEL-SCHÜLE, Ego-Dokumente [1996], S. 297, S. 299. Bezogen auf Zeugenverhöre<br />
weist SCHULZE auf die Vielzahl an Informationen hin, die durch die Beachtung des Lebenslaufs<br />
der Zeugen, ihrer Mobilität, ihrer Kenntnis der Welt <strong>aus</strong>serhalb ihres Umfelds,<br />
ihrer Kenntnisse von herrschaftlich-administrativen Strukturen und ihrem Bild von der<br />
Obrigkeit, allenfalls auch ihrer Selbsteinschätzung in der Gesellschaft, gewonnen werden<br />
können; SCHULZE [1996], S. 322. Siehe auch FUCHS, Gott [2000], S. 315 ff.<br />
19
Einleitung<br />
1990er Jahre zeigen. 27 Die bewusste Beschränkung auf die Untersuchung eines<br />
einzigen Kriminalfalls erlaubt es, auch Details des Falles und der Untersuchungsmethode<br />
zu beachten, zu analysieren, zu würdigen und schliesslich in<br />
grössere Zusammenhänge zu stellen. So wird nicht nur Quellenstudium betrieben,<br />
sondern es erfolgt eine Auswertung sowie eine umfassende Würdigung des<br />
vorhandenen Materials.<br />
Die Forschungsarbeit eines Historikers verlangt nach VON BRANDT unter anderem<br />
die kritische Fähigkeit, die gefundenen Quellen möglichst fehlerfrei <strong>aus</strong>zuwerten,<br />
also ihnen durch einen Schleier von Entstellungen und Lückenhaftigkeit,<br />
von Verworrenheit und Mehrdeutigkeit, von Widersprüchen, Tendenzen<br />
und Lügen ein möglichst hohes Mass an wahren Aussagen abzugewinnen. 28<br />
Auch in der kriminalhistorischen Forschung muss man sich dieses «möglichst<br />
hohe Mass von wahren Aussagen» zum Ziel setzen; Sicherheit oder absolute<br />
Gewissheit wird man kaum je erreichen können. Bei der Arbeit mit den historischen<br />
Strafprozessakten sind zur Ergründung eines möglichst hohen Wahrheitsgehalts<br />
folgende Fragestellungen nützlich: Konnte eine in den Akten vorkommende<br />
Person ein Interesse daran haben, im Prozess bewusst falsche Aussagen<br />
zu machen? Worin liegt dieses Interesse? Konnten hoheitlich eingesetzte Personen<br />
ein Interesse an der durch parteiische Protokollführung erreichbaren Verfälschung<br />
der gehörten Aussagen haben, um den Prozess in eine andere Richtung<br />
zu lenken? 29 Auch wenn sich bei der vertieften Beschäftigung mit einem historischen<br />
Straffall wohl unweigerlich Sympathien mit oder Antipathien <strong>gegen</strong> den<br />
Beteiligten einstellen, gilt es doch, der Versuchung zu widerstehen, nachträglich<br />
als eine Art Gericht zweiter Instanz zu fungieren und einzelne Delinquenten<br />
erneut zu verurteilen oder aber zu rehabilitieren. 30<br />
Akten sind im Archivgut eine Vereinigung von Schriftstücken zu mehr oder<br />
weniger festen Kompositionseinheiten. 31 Die Aktenbildung begann sich wie er-<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
31<br />
Vgl. den Überblick über die Erkenntnisse der historischen Kriminologie bei GSCHWEND,<br />
Studentenmord [2002], S. 15. Siehe auch mit Schwerpunkt auf dem Aussagegehalt von<br />
Zeugenverhörprotokollen FUCHS/SCHULZE [2002], S. 9.<br />
VON BRANDT [1998], S. 9.<br />
SCHNABEL-SCHÜLE, Ego-Dokumente [1996], S. 300.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 65 f.<br />
FRANZ [2004], S. 52.<br />
20
Einleitung<br />
wähnt bereits im <strong>aus</strong>gehenden Mittelalter zu entwickeln, als neben rechtserheblichen<br />
Urkunden auch mit der Aufbewahrung von Verwaltungsschriftstücken,<br />
Befehls- und Mitteilungsschreiben begonnen wurde. So wurden sämtliche Unterlagen<br />
zu einem bestimmten Gerichtsprozess oder etwa zu einem Vertragsabschluss<br />
gesondert gelagert und zusammengebunden. 32 Diese «Bündel» stellen<br />
Sachakten dar und nicht mehr bloss eine Aktenserie, die älteste und am nächsten<br />
liegende Ordnungsform der einfachen chronologischen Reihung. 33 Die Quellen<br />
des Kriminalfalls <strong>Egger</strong> stellen eine vermutlich vollständige Sachakte dar.<br />
Sämtliche Akten des Kriminalfalls <strong>Egger</strong> sind in handschriftlicher Form erhalten.<br />
Für die wörtlichen Zitate <strong>aus</strong> den Akten des Falles sowie <strong>aus</strong> zahlreichen<br />
weiteren beigezogenen handschriftlichen Dokumenten werden folgende Transkriptionsregeln<br />
angewendet: 34<br />
Die Buchstaben «u», «v» und «w» werden entsprechend dem Lautwert<br />
wiedergegeben.<br />
Der Buchstabe «s», der in den Akten verschiedene Schreibweisen kennt,<br />
wird stets als «s» bzw. «ss» wiedergegeben; auf «ß» wird verzichtet.<br />
Bei Wörtern, die im Originaldokument mit Zeilenumbruch (Silbentrennung)<br />
geschrieben sind, wird der Trennungsstrich weggelassen.<br />
Sämtliche Wörter mit Ausnahme von solchen am Satzanfang sowie Namen<br />
(Orts-, Flur-, Gewässer- und Personennamen) werden klein geschrieben.<br />
32<br />
33<br />
34<br />
FRANZ [2004], S. 52.<br />
VON BRANDT [1998], S. 107.<br />
Zur Erstellung der Regeln beachtet wurden die im Jahrbuch der historischen Forschung in<br />
der Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 1980, abgedruckten «Empfehlungen zur<br />
Edition frühneuzeitlicher Texte», hg. vom «Arbeitskreis Editionsprobleme der frühen<br />
Neuzeit», v.a. S. 89, sowie die Regeln bei GUGGENHEIMER/SONDEREGGER, CD-ROM<br />
[2006].<br />
21
Einleitung<br />
Reine Distinktionszeichen (z.B. auf «ÿ» und auf «ù» zur Unterscheidung<br />
von «n») werden weggelassen.<br />
Abkürzungen 35 und Ligaturen werden aufgelöst.<br />
Den Familiennamen der Frauen wurde in den Gerichtsakten häufig die in jener<br />
Zeit typische weibliche Endung «-in» angehängt, beispielsweise Himmelbergerin,<br />
Grossin oder dergleichen. Im wörtlichen Zitat entsprechender Textstellen<br />
werden die Endungen übernommen. Da uns der Name ohne Endung jedoch<br />
geläufiger ist, wird bei der Nennung <strong>aus</strong>serhalb des Zitats auf die Endung «-in»<br />
verzichtet. Weiter werden dem Lesefluss hinderliche Zweitnamen (insbesondere<br />
zweite Vornamen) nach einer ersten Nennung – <strong>aus</strong>genommen im direkten Zitat<br />
– nicht wiederholt, sofern Verwechslungen <strong>aus</strong>geschlossen sind. Die Orthographie<br />
weicht nicht selten massgeblich von der heutigen ab. Obwohl bei der<br />
Mehrheit der vorhandenen Dokumente ein und derselbe Schreiber tätig war,<br />
weist dasselbe Wort mithin eine unterschiedliche Schreibweise auf. Direkte Zitate<br />
alter Druckschriften erfolgen buchstaben- und satzzeichengetreu, wobei die<br />
Gross- und Kleinschreibung dem Original folgt.<br />
Die Akten des Kriminalfalls <strong>Egger</strong> sind im Stiftsarchiv St. Gallen zwar zu einem<br />
Bündel zusammengeschnürt, die einzelnen Aktenstücke weisen aber keine<br />
nachvollziehbare Ordnung auf. Zur Bearbeitung wurden sie deswegen gemäss<br />
dem im Anhang abgedruckten Aktenverzeichnis chronologisch sortiert, nummeriert<br />
und werden entsprechend zitiert. Dabei werden die Seiten der einzelnen<br />
Dokumente beziffert und nach diesen Seitenzahlen zitiert, obwohl diese auf den<br />
Handschriften fast immer fehlen. Das separat gebundene Verhörprotokoll von<br />
<strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> umfasst 93 Seiten und enthält 255 Fragen. Die Zitate dar<strong>aus</strong> erfolgen<br />
wenn möglich unter Nennung der Ziffer der entsprechenden Frage bzw.<br />
Antwort.<br />
Eine vom Ratssekretär Gross verfasste Abschrift des Verhörprotokolls findet<br />
sich im Kriminalprotokollbuch des Ledigen Pfalzrats. 36 Um 1865 verfasste zudem<br />
der damalige Archivar des Stiftsarchivs St. Gallen, Eugen von Gonzen-<br />
35<br />
36<br />
Getreu den in der Zeit der Entwicklung der Kurrentschriften herrschenden Bedürfnissen<br />
nach Lesbarkeit und der Möglichkeit schneller Ausführung der Buchstaben (BOESELAGER<br />
[2004], S. 49 und 57) finden sich auch in den Akten <strong>Egger</strong> vermehrt Abbrevaturen.<br />
StiASG, Bd. 1074, S. 3-77.<br />
22
Einleitung<br />
bach, eine Abschrift des Verhörprotokolls (ohne die übrigen Dokumente), das<br />
im Staatsarchiv St. Gallen erhalten ist. 37<br />
1.4 Aufbau<br />
Konzentriert man sich zu sehr auf vorhandene Quellen, so läuft man Gefahr,<br />
gewisse Zusammenhänge und Strukturen zu vernachlässigen oder gar nicht zu<br />
erkennen. Bevor materiell auf die Kriminalakten des Falls <strong>Egger</strong> eingegangen<br />
werden kann, ist daher eine Einführung in die relevanten historischen und gesellschaftlichen<br />
Hintergründe notwendig. Der Kriminalfall ereignete sich in der<br />
zu Neige gehenden frühen Neuzeit, also in der Blüte der Aufklärung, einer Zeit,<br />
in der viele Strukturen aufzubrechen begannen.<br />
Kulisse des Kriminalfalls sind die st. gallischen Stiftslande des 18. Jahrhunderts,<br />
das Gebiet der sog. Alten Landschaft. Nach einem Abriss über Entstehung<br />
und Entwicklung der Alten Landschaft wird in das ebenda in der <strong>aus</strong>gehenden<br />
frühen Neuzeit vorherrschende Rechtssystem eingeführt. Für die Fallstudie direkt<br />
relevante Bereiche wie das Gerichtswesen und die einschlägige Gesetzgebung<br />
werden eingehender behandelt.<br />
Das dritte Kapitel widmet sich der Vorgeschichte des Strafverfahrens. Der<br />
Protagonist <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong>, seine Familie und sein direktes Umfeld werden<br />
vorgestellt. Weiter wird von seiner Bekanntschaft mit Catharina Himmelberger<br />
und seiner Beziehung zu ihr berichtet. Nach ihrem Tod vergehen bis zur<br />
Gefangennahme <strong>Egger</strong>s mehrere Tage, auf deren bekannt gewordene Geschehnisse<br />
eingegangen wird. Im vierten Kapitel wird das Strafverfahren dargestellt,<br />
wobei die Untersuchungshandlungen in chronologischer Reihenfolge wiedergegeben<br />
sowie thematisch gegliedert werden. Dabei nehmen die Einvernahmen<br />
<strong>Egger</strong>s einen zentralen Platz ein.<br />
Nach der Darlegung der Fakten erfolgt im fünften Kapitel eine prozessrechtliche<br />
Beurteilung, die in die Erkenntnisse der frühneuzeitlichen Strafprozessforschung<br />
eingebettet wird. Mit Blick auf den durchgeführten Inquisitionsprozess<br />
37<br />
StaASG, Sig. AA 8 A 3-5.<br />
23
Einleitung<br />
werden dessen entstehungsgeschichtliche Grundlagen erläutert. Besondere Beachtung<br />
erhält das Beweisverfahren, das in die Bereiche des Indizienbeweises,<br />
des Zeugenbeweises und des Sachverständigenbeweises aufgegliedert wird.<br />
Nach einer rechtshistorischen Einordnung erfolgt jeweils eine detaillierte Subsumtion.<br />
In der Beurteilung wird der Zweiteilung des Verfahrens in Generalund<br />
Spezialinquisition Rechnung getragen. Insbesondere im Rahmen letzterer<br />
werden die Verfahrensrechte des Angeschuldigten untersucht und die Verhörund<br />
Fragetechnik der Untersuchenden <strong>gegen</strong>über <strong>Egger</strong> einerseits und <strong>gegen</strong>über<br />
den Zeugen und Aussagenden andererseits gewürdigt.<br />
<strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> wird nicht nur wegen Totschlags verhört. Angeblich hat er sich<br />
noch eines anderen Verbrechens schuldig gemacht, demjenigen der Leichenschändung.<br />
Die im sechsten Kapitel vorgenommene materielle Beurteilung des<br />
Falles gliedert sich daher in die Betrachtung des Delikts des Totschlags einerseits<br />
und jenem der Leichenschändungen andererseits. Die Delikte werden jeweils<br />
in ihren rechtshistorischen Kontext gestellt. Im Zusammenhang mit den<br />
Leichenschändungen gibt die Suche des Gerichts nach möglichen Motiven den<br />
Blick auf eine Erscheinung frei, die historisch eine grosse Vielfalt aufweist, aber<br />
keineswegs ein angestaubtes Thema längst vergangener Zeiten darstellt: den<br />
Aberglauben. Nicht nur dem Aberglauben, sondern auch dessem Gegner, der<br />
Wissenschaft, kommt insbesondere im 18. Jahrhundert eine erhebliche Bedeutung<br />
zu. Neben der Entwicklung der beiden Gebiete in der <strong>aus</strong>gehenden frühen<br />
Neuzeit wird ihre Korrelation näher betrachtet. Auf dieser Grundlage erfolgt<br />
schliesslich eine Beurteilung der von <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> an den Leichen vorgenommenen<br />
«Experimente».<br />
Das Urteil, das <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> im März 1775 trifft, hält Überraschungen bereit,<br />
auf die im siebten Kapitel nach einer Darlegung der historischen Entwicklung<br />
des Strafsystems eingegangen wird. Die Strafe ist ebenfalls – zumindest auf den<br />
ersten Blick – ungewöhnlich. Auch hier erfolgt eine Analyse.<br />
Die Studie schliesst mit Schlussbetrachtungen zu den durch Quellenstudium<br />
und Quellen<strong>aus</strong>wertung <strong>aus</strong> der Vergessenheit einer Archivschachtel her<strong>aus</strong>gearbeiteten<br />
Begebenheiten.<br />
24
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
2 Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
2.1 Entstehung und Entwicklung<br />
Das aufgrund der Taten von <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> durchgeführte Strafverfahren fand<br />
1775 statt. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist eine Epoche, in der sich<br />
nicht nur gesellschaftlich vieles im Umbruch befand. 38<br />
Die Fürstabtei St. Gallen und die Stadtrepublik St. Gallen bildeten bis zum<br />
Jahre 1798 als sog. zugewandte Orte der Alten Eidgenossenschaft mehr oder<br />
weniger selbstständige Staatswesen. Im Gegensatz zu ihren katholischen Nachbarn<br />
im Fürstenland waren die Bürger der Stadt evangelischer Konfession. 39<br />
Wenngleich man sich im Laufe der Jahrhunderte zusammenraufte, war die Ausgangslage<br />
des nachbarschaftlichen Verhältnisses von Fürstabtei und Stadt<br />
St. Gallen keine einfache. 40<br />
Das nach dem heiligen Gallus benannte Stift entwickelte sich <strong>aus</strong> dessen Zelle,<br />
dem Ort in der einsamen, unwirtlichen Gegend, an dem sich der irische Gottesmann<br />
im Jahre 612 als Einsiedler niedergelassen hatte. Die ersten Benediktiner,<br />
die seit Mitte des 8. Jahrhunderts im Kloster über Gallus’ Grab lebten,<br />
mochten wohl auch eher nach der abgelegenen Ruhe gesucht haben als nach<br />
politischem Leben. Doch der Grundbesitz des Stifts vergrösserte sich durch<br />
Schenkungen stetig, sodass eine über die Klostermauern hin<strong>aus</strong>greifende Verwaltung<br />
notwendig wurde. 41 Bereits im Jahr 818 erlangte das Kloster die Stellung<br />
einer Reichsabtei und die Immunität, was das Stift in einer ersten Blütezeit<br />
zu einer der bedeutendsten Stätten geistigen Lebens nördlich der Alpen machte.<br />
42 So entwickelte sich das Stift im Hochmittelalter zu einem Lehenstaat mit<br />
einer bedeutenden Ministerialität. 43 Im 13. Jahrhundert verursachten strittige<br />
Abtwahlen und Kämpfe <strong>gegen</strong> Habsburg jedoch einen Niedergang. Die kurz<br />
nach 1400 <strong>aus</strong>brechenden Appenzellerkriege brachten die Fürstabtei um einen<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
42<br />
43<br />
Siehe etwa VAN DÜLMEN, Gesellschaft [1993], S. 16 f., MÜNCH [1992], S. 11.<br />
THÜRER, Geschichte, Bd. 2, 1. Halbband [1972], S. 15.<br />
Näheres dazu bei EHRENZELLER ERNST [1988], S. 73 ff.<br />
THÜRER, Geschichte, Bd. 2, 1. Halbband [1972], S. 16.<br />
MÜLLER, Einleitung [1974], S. IX.<br />
MÜLLER, Ordnung [1973], S. 246.<br />
25
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
Grossteil ihrer geschlossenen Grundherrschaft; erst in der zweiten Hälfte des 15.<br />
Jahrhunderts gelang es Abt Ulrich Rösch 44 , dem «zweiten Gründer des Klosters<br />
St. Gallen» 45 , durch den Aufbau eines territorial abgerundeten und wesentlich<br />
vergrösserten Klosterstaats eine neue Blütezeit herbeizuführen. 46 Die Verwaltungstätigkeit<br />
von Abt Ulrich Rösch wird häufig als mustergültig beschrieben;<br />
ihm gelang es, durch den Erwerb von Niedergerichten, durch Rückkauf von<br />
verpfändeten Rechten und Gütern, durch Lösung der verpfändeten Reichsvogtei<br />
und durch Rechtsvereinheitlichung Grundsteine für einen modernen geistigen<br />
Territorialstaat zu legen. 47<br />
Die sog. Alte Landschaft, das angestammte Fürstenland, bildete seit der<br />
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts das Kernstück des neuen Staates 48 und erstreckte<br />
sich auf das Gebiet zwischen dem Reichshof Rorschach und der Kleinstadt<br />
Wil, ohne die Stadt St. Gallen. 49 Abt Ulrich Rösch regierte in der Alten<br />
Landschaft als absolutistischer Fürst, während das Toggenburg, die «Neue<br />
Landschaft», eine Art konstitutioneller Monarchie darstellte, 50 in der neben dem<br />
Abt der Landrat politischen Einfluss hatte, was einen höheren Grad an Eigenständigkeit<br />
gewährleistete. 51 Die Bevölkerung der Alten Landschaft versuchte<br />
verschiedentlich, mehr Freiheit und Unabhängigkeit vom Stift zu erlangen. Spätestens<br />
nachdem 1559 durch den Eidgenössischen Schiedsspruch in Rapperswil<br />
die nominelle Leibeigenschaft der äbtischen Untertanen anerkannt wurde, war<br />
den Freiheitsbestrebungen jedoch auf lange Sicht – bis zum <strong>aus</strong>gehenden<br />
18. Jahrhundert – jede Aussicht auf Erfolg genommen. 52<br />
44<br />
45<br />
46<br />
47<br />
48<br />
49<br />
50<br />
51<br />
52<br />
Ulrich Rösch, geb. 1426, gest. 1491, Abt von 1463 bis 1491. Biographie bei DUFT ET AL.<br />
[1986], S. 149 ff. Siehe auch EHRENZELLER WILHELM [1938], S. 3 bis 12; HENGGELER<br />
[1929], S. 132 ff.<br />
MÜLLER, Verfassung [1969], S. 378.<br />
MÜLLER, Einleitung [1974], S. IX. STAERKLE schrieb, Ulrich Rösch habe das Stift <strong>aus</strong><br />
dem Abgrund der Verachtung und Verschuldung her<strong>aus</strong>gezogen, STAERKLE, Hofstaat<br />
[1964], S. 37. BAUMGARTNER [1868] hielt fest, unter Ulrich Rösch habe alles wieder einen<br />
höheren Schwung genommen, S. 47.<br />
COZZIO [2005], S. 59 f.; BAUMGARTNER [1868], S. 48.<br />
MÜLLER, Ordnung [1973], S. 246.<br />
MÜLLER, Einleitung [1974], S. X.<br />
COZZIO [2005], S. 60.<br />
BAUMANN MAX [2003], S. 67.<br />
Mit weiterführenden Hinweisen STAUB [1988], S. 10.<br />
26
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
Seit 1451 zählte die Fürstabtei zu den zugewandten Orten der Eidgenossenschaft.<br />
53 Trotz der Bündnisse mit den Eidgenossen blieben die Äbte jedoch stets<br />
mit dem Heiligen Römischen Reich verbundene Reichsfürsten, was der Abtei<br />
eine ungewöhnliche Doppelstellung einbrachte. 54 Alle Äbte hielten de iure an<br />
der Zugehörigkeit zum Reich fest und holten Bestätigungen der Reichslehen<br />
und Regalien ein. Faktisch waren die Bindungen aber lose, leistete das Stift<br />
doch weder Reichssteuer, noch besuchten die Äbte die Reichstage. 55<br />
Im 18. Jahrhundert bestand in der Fürstabtei ein leicht modifiziertes absolutistisches<br />
Feudalsystem. Der Fürstabt war geistlicher und weltlicher Herrscher<br />
zugleich. Doch <strong>aus</strong> früheren Zeiten waren gewisse alte Rechte bestehen geblieben,<br />
die Teilen der Bevölkerung ein sehr bescheidenes Mitwirkungsrecht in administrativen<br />
und juristischen Angelegenheiten ermöglichten. 56 Den Fürstäbten<br />
gelang es nicht, diese Rechte ganz zu beseitigen; der Bevölkerung gelangt es<br />
jedoch auch nicht, sie zu erweitern. 57 Regierungs- und Verwaltungsämter standen<br />
in der Regel nur wenigen vermögenden Magistratsfamilien zu. Im Zuge<br />
barocker Prachtentfaltung fand in der Verwaltung der Alten Landschaft eine<br />
<strong>aus</strong>gesprochene Aristokratisierung der hohen Beamten statt, die vom Abt zu<br />
adligen Gottesh<strong>aus</strong>leuten erhoben wurden. 58<br />
Die Alte Landschaft war zum grössten Teil von Bauern bewohnt und kannte<br />
die dörfliche Dreifelderwirtschaft. 59 Nur im Osten und Westen bestanden schützende<br />
befestigte Städte. 60 Während der Herrschaft des im Jahr 1718 gewählten<br />
Abts <strong>Joseph</strong> 61 erlebte die Alte Landschaft eine friedliche und ruhige Entwicklung.<br />
«Glücklich waret ihr übrigen Bezirke des Landes», schrieb der Ge-<br />
53<br />
54<br />
55<br />
56<br />
57<br />
58<br />
59<br />
60<br />
61<br />
PAHUD DE MORTANGES [2007], S. 38 Rz. 56.<br />
COZZIO [2005], S. 60 f.<br />
MÜLLER, Einleitung [1974], S. X.<br />
HÖHLE [1999], S. 426. ENGENSPERGER [1953] schrieb über jene Zeit in der Fürstabtei,<br />
dass reiner Absolutismus als Staatsprinzip angenommen worden sei, wenn er sich auch,<br />
wie zugestanden werden müsse, in Form einer verhältnismässig milden Monarchie geäussert<br />
habe, S. 45.<br />
HÖHLE [1999], S. 426.<br />
LEMMENMEIER [2003], S. 43.<br />
Zur Landwirtschaft im 18. Jahrhundert siehe LEMMENMEIER [2003], S. 15 ff.<br />
THÜRER, Geschichte, Bd. 2, 1. Halbband [1972], S. 19.<br />
<strong>Joseph</strong> von Rudolphi, geb. 1666, gest. 1740, Abt von 1717 bis 1740, Biographie bei DUFT<br />
ET AL. [1986], S. 170 ff.; HENGGELER [1929], S. 154 ff.<br />
27
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
schichtsschreiber Pater ILDEFONS VON ARX 62 und fuhr fort: «Die Geschichte<br />
scheinet euer über die Toggenburger Händel vergessen zu haben; aber eben das<br />
ist der stärkste Beweis eures glücklichen Zustandes.» 63 Durchgehend glücklich<br />
dürfte sich die Alte Landschaft zwar keineswegs präsentiert haben, litt doch<br />
auch sie etwa unter der schlimmen Hungersnot in den Jahren 1770/71 sowie<br />
unter einer erheblichen Teuerung. Das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben<br />
auf dem ganzen Gebiet des späteren Kantons St. Gallen geriet in eine tiefe<br />
Krise, die vor allem Bauern, Kleinproduzenten und Heimarbeiter traf. 64 Politisch<br />
ereignete sich aber im Fürstenland in jener Zeit bis zur allgemeinen Unrast in<br />
der Eidgenossenschaft und den zugewandten Orten ab den 1790er Jahren 65 wenig.<br />
2.2 Die Zeit Abt Bedas<br />
Im Jahr 1740 wurde Cölestin Gugger von Staudach 66 der Nachfolger von Abt<br />
<strong>Joseph</strong>. Er war sehr geschickt und initiativ und konnte sogar die über 60 Jahre<br />
dauernden Streitigkeiten mit dem Toggenburg beilegen. Von der Geschichtsschreibung<br />
wurde er verschiedentlich gerühmt. So äusserte sich etwa ILDEFONS<br />
VON ARX in seiner St. Galler Geschichte, es sei bewundernswert, «wie ein Prälat<br />
von so <strong>aus</strong>gedehntem Geschäftskreise eine so grosse Versammlung des Geistes<br />
beybehalten konnte». 67 Bei seinem Tod hinterliess Abt Cölestin einen vorbildlich<br />
organisierten Staat mit beachtlichem Stiftsvermögen. 68<br />
62<br />
63<br />
64<br />
65<br />
66<br />
67<br />
68<br />
Geb. 1755, gest. 1833, ab 1827 Stiftsbibliothekar. Biographisches z.B. bei VOGLER WER-<br />
NER, Geschichtsschreibung [1999], S. 389 ff.<br />
VON ARX, Bd. 3 [1813], S. 591.<br />
HÖHLE [1999], S. 427.<br />
Siehe etwa THÜRER, Geschichte, Bd. 2, 1. Halbband [1972], S. 61 ff. und 87 ff. oder VON<br />
ARX, Bd. 3 [1813], S. 633 ff.<br />
Cölestin Gugger von Staudach, geb. 1701, gest. 1767, Abt von 1740 bis 1767, Biographie<br />
bei DUFT ET AL. [1986], S. 172 ff.; HENGGELER [1929], S. 157 ff.<br />
VON ARX, Bd. 3 [1813], S. 612.<br />
STAUB [1988], S. 5.<br />
28
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
Beda Angehrn 69 wurde 1767 zum 72. Abt von St. Gallen gewählt. Er erfreute<br />
sich grosser Beliebtheit. «Heiter und offen war sein Blick, ohne Wolken die<br />
Stirne und weit entfernt von List oder Trug sein Herz» 70 , beschrieb WEIDMANN<br />
im Jahre 1834 Abt Beda «den Gütigen», wie er von seinen Untertanen genannt<br />
wurde. Als Mensch habe er die seligen Gefühle von Freundschaft und Wohltätigkeit<br />
gekannt und süss seien ihm die Augenblicke gewesen, in denen er Leiden<br />
habe trösten können. 71 Sofort nach seiner Wahl zum Abt machte er sich daran,<br />
den von seinem Vorgänger begonnenen Bau der Kathedrale zu vollenden. Darüber<br />
hin<strong>aus</strong> begann er mit dem Bau der Neuen Pfalz, dem Klosterflügel, der<br />
heute das kantonale Regierungsgebäude beherbergt. 72 Bei der Hungersnot, die<br />
im Winter 1770/71 den ganzen Bodenseeraum erfasste, bewahrte er seine Untertanen<br />
durch <strong>aus</strong> Italien importiertes Getreide, das er ihnen gratis oder billig abgab,<br />
vor dem Schlimmsten. 73<br />
Beda, der nach seinem Eintritt in das Stift und den Orden selbst während<br />
mehrerer Jahre Philosophie, «Gottesgelehrtheit» und beide Rechte 74 studiert und<br />
später die «höheren Wissenschaften» gelehrt hatte, 75 setzte sich während seines<br />
Wirkens als Abt nicht nur für die Ausbildung der Mönche ein, sondern bemühte<br />
sich auch um verbesserte Bildung der Bevölkerung, indem er für die Einführung<br />
der österreichischen «Normalschule» 76 und einen neueren, klareren Katechismus<br />
eintrat. Diese Bestrebungen stiessen jedoch auf Widerstand bei den Untertanen<br />
selbst sowie bei konservativen Mönchen, die ein gebildetes Volk als mögliche<br />
Bedrohung der Klosterherrschaft fürchteten. 77 Von den fortschrittlich anmutenden<br />
Bestrebungen um bessere Bildung der Bevölkerung abgesehen, trat der Abt<br />
aufklärerischem Gedankengut freilich kritisch-ablehnend <strong>gegen</strong>über, erlaubte<br />
69<br />
70<br />
71<br />
72<br />
73<br />
74<br />
75<br />
76<br />
77<br />
Beda Angehrn, geb. 1725, gest. 1796, Abt von 1767 bis 1796, Biographie bei DUFT ET<br />
AL. [1986], S. 175 ff.; HENGGELER [1929], S. 160 ff.<br />
WEIDMANN [1834], S. 2.<br />
WEIDMANN [1834], S. 2.<br />
DUFT ET AL. [1986], S. 176.<br />
STAUB [1988], S. 6; WEIDMANN [1834], S. 4 f; BAUMGARTNER [1868], S. 107. Dennoch<br />
stiegen die Todesraten in jenen Jahren an; für Tablat und Rotmonten vgl. MENOLFI, Bevölkerungsentwicklung<br />
[1991], S. 107.<br />
Kanonisches und römisches Recht.<br />
WEIDMANN [1834], S. 2.<br />
Vgl. unten Kap. 6.2.2.2.<br />
STAUB [1988], S. 6.<br />
29
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
aber immerhin die Anschaffung aufklärerischer Werke für die Bibliothek. Abt<br />
Beda trieb zudem den Bau moderner Strassen in den Stiftslanden voran und begünstigte<br />
damit auch Wirtschaft und Handel. 78 Offenbar setzte Beda sich <strong>aus</strong>serdem<br />
für mehr Milde in Strafverfahren und Strafurteilen ein. So verschonte er<br />
manchen Übeltäter vor der Todesstrafe und engagierte sich für dem Staat nützliche<br />
Strafen wie Arbeitshaft oder Galeerenstrafe. 79 Bei allem Lob fehlte Beda<br />
jedoch der h<strong>aus</strong>hälterische Sinn seines Vorgängers; zur Zeit seines Todes hinterliess<br />
der Abt eine Schuldenlast, die eine Million Gulden 80 bei Weitem überstiegen<br />
zu haben scheint. 81<br />
2.3 Rechtssystem<br />
2.3.1 Gerichts- und Verwaltungswesen<br />
2.3.1.1 Grundlagen<br />
Die Gerichtsorganisation der Alten Landschaft ab dem <strong>aus</strong>gehenden 14. Jahrhundert<br />
zeichnet sich <strong>gegen</strong>über der mittelalterlichen Gerichtsverfassung insbesondere<br />
dadurch <strong>aus</strong>, dass den äbtischen Gerichten neu die gesamte Bevölkerung<br />
des Landes unterstand und auf Verschiedenheit der Stände oder der<br />
78<br />
79<br />
80<br />
81<br />
TREMP [2005], S. 130, WEIDMANN [1834], S. 6 f.<br />
PETER, [1997].<br />
Der Gulden ist eine Münze <strong>aus</strong> Gold mit einem Gewicht von 3.54 Gramm. Die erstmals<br />
1252 in Florenz geprägte Münze erscheint in Schweizer Quellen bereits um 1300, erste<br />
Funde stammen <strong>aus</strong> dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts. Eine eigene Prägung setzte<br />
erst später und nur im deutschsprachigen Gebiet ein. Bei seiner Einführung im Spätmittelalter<br />
entsprach der Gulden in der Regel einem Pfund lokaler Währung, Ende des 15. Jahrhunderts<br />
war der Wert jedoch bereits auf zwei Pfund gestiegen. Im 18. Jahrhundert prägten<br />
neben anderen Orten auch Stadt und Fürstabtei St. Gallen Silbermünzen mit der Bezeichnung<br />
Gulden, vgl. SCHMUTZ/ZÄCH, Gulden, e-HLS [2005]. Ein Gulden (fl.=florin)<br />
bestand <strong>aus</strong> 15 Batzen oder 60 Kreuzern und ein Kreuzer entsprach acht (bisweilen sieben)<br />
Hellern; EHRENZELLER ERNST [1988], S. 72 und S. 227; BAUMANN MAX [2003],<br />
S. 134. Ein Pfund war seit dem Frühmittelalter bis zur Einführung des Frankens 1850 in<br />
der Schweiz eine Recheneinheit zu 240 Pfennigen [SCHMUTZ, Pfund (Währung), e-HLS<br />
(2006)].<br />
THÜRER, Geschichte, Bd. 2, 1. Halbband [1972], S. 93. Ildephons von Arx kritisierte Abt<br />
Beda in seiner St. Galler Geschichte wegen der Schuldenwirtschaft und bezeichnete ihn<br />
gar als charakterschwache Persönlichkeit und daher als unfähigen Regenten; VON ARX,<br />
Bd. 3 [1813], S. 640, 642, 646.<br />
30
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
Rechtstitel, unter denen sie unter die äbtische Herrschaft gelangt waren, grundsätzlich<br />
keine Rücksicht mehr genommen wurde. Die Landeshoheit konnte somit<br />
alte Standesunterschiede überwinden und den Weg zum Staatsbürgertum<br />
ebnen. 82<br />
Der jeweilige Abt des Stifts St. Gallen liess die Regierungsgeschäfte teils<br />
durch geistliche, teils durch weltliche Beamte besorgen. Die wichtigsten geistlichen<br />
Beamten waren der Dekan, Vorsitzender des Pfalzrates und Haupt des<br />
Konvents, der Statthalter und der Offizial 83 . An weltlichen Ämtern existierten<br />
neben demjenigen des Landshofmeisters, des Hofkanzlers und des Lehenvogts<br />
in St. Gallen jene des Hofammanns und des Lehenvogts zu Wil sowie mehrerer<br />
Vögte und Obervögte. 84<br />
Im 18. Jahrhundert wies die Alte Landschaft folgende Verwaltungs- und Gerichtsorganisation<br />
auf: Die Ortschaften waren gebietsmässig eingeteilt in ein<br />
Oberamt und in ein Unteramt, das auch Wileramt genannt wurde und <strong>aus</strong> zwölf<br />
Niedergerichten 85 bestand. Das Oberamt gliederte sich in das Landshofmeisteramt,<br />
das Rorschacheramt 86 , das Oberbergeramt 87 und das Romanshorneramt 88 .<br />
82<br />
83<br />
84<br />
85<br />
86<br />
87<br />
88<br />
CAVELTI [1914], S. 81 f.<br />
Der Offizial war der Vertreter des äbtischen Ordinariats, zuständig u.a. für die Überwachung<br />
der Pfarrei und die Sorge für das Schulwesen, vgl. STAERKLE, Geschlecht [1942],<br />
S. 5.<br />
Obervögte zu Rorschach und zu Oberberg; im Toggenburg der Landvogt in Lichtensteig,<br />
der Vogt auf Iberg und der Vogt zu Schwarzenbach; im Rheintal der Vogt auf Rosenberg,<br />
der Vogt zu Blatten, der Gerichtsammann von Altstätten; im Reich der Vogt zu Neuravensburg;<br />
HOLLENSTEIN LORENZ, Oberbeamte [2005], S. 76; GMÜR [1903], S. 1. Zur<br />
Vogtgerichtsbarkeit im Mittelalter vgl. etwa GANAHL [1931], S. 71 ff.<br />
Zuzwil, Lenggenwil-Thurstuden, Niederhelfenschwil, Zuckenriet, Niederbüren, Oberbüren,<br />
Schneckenbund (Bronschhofen, Rossrüti, Trungen), Thurlinden, Rickenbach, Berggericht<br />
(um Wuppenau), Hüttenswil und Wängi (die letzten vier ganz im Thurgau, Thurlinden<br />
zum Teil), vgl. MÜLLER, Einleitung [1974], S. XI.<br />
Bestehend <strong>aus</strong> den vier Niedergerichten Rorschach, Goldach, Steinach und Mörschwil<br />
sowie den Schlössern Wartensee und Sulzberg mit kleinen eigenen Gerichtsbezirken als<br />
Lehen des niederen Adels, vgl. MÜLLER, Einleitung [1974], S. XI.<br />
Bestehend <strong>aus</strong> den sieben Niedergerichten Gossau, Oberdorf, Andwil, Niederwil-Gebhardschwil,<br />
Oberarnegg-Neuandwil, Waldkirch und Sitterdorf (im Thurgau), vgl. MÜL-<br />
LER, Einleitung [1974], S. XI.<br />
Bestehend <strong>aus</strong> den fünf Niedergerichten Romanshorn, Kesswil, Dozwil, Herrenhof und<br />
Zuben, vgl. MÜLLER, Einleitung [1974], S. XI.<br />
31
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
Die Fürstabtei St. Gallen 1468-1798 89<br />
Legende:<br />
Die Ortschaft Tablat 90 , das Zuh<strong>aus</strong>e von <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong>, war dem Landshofmeisteramt<br />
zugehörig. Dieses umfasste das Hofgericht mit den Hauptmannschaften<br />
91 Straubenzell, Gaiserwald, Bernhardzell, Wittenbach, Berg, Rotmonten<br />
und Lömmenschwil sowie Tablat und Muolen und die im Thurgau gelegenen<br />
Niedergerichte Sommeri, Hagenwil, Hefenhofen und Roggwil. 92 Das<br />
89<br />
90<br />
91<br />
92<br />
Quelle: ZANOLI MARCO, 2005, http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/3/3d/<br />
Fuerstabtei_St_Gallen.png, (Datum des letzten Besuchs: 11. Juli 2008).<br />
MAYER MARCEL, Tablat, e-HLS [2005].<br />
Die Hauptmannschaften wurden im Gegensatz zu den Gemeinden nicht von einem Ammann,<br />
sondern von einem Hauptmann regiert und besassen keine eigenen Offnungen;<br />
THÜRER, Staatswesen [1963], S. 57.<br />
MÜLLER, Einleitung [1974], S. XI; HOLLENSTEIN LORENZ, Landshofmeisteramt, e-HLS<br />
[2005].<br />
32
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
Landshofmeisteramt unterstand im Gegensatz zum Rorschacheramt, das von<br />
einem Obervogt und einem geistlichen Statthalter verwaltet wurde, lediglich<br />
einem weltlichen hohen Beamten der äbtischen Regierung, dem Landshofmeister,<br />
der auch den Vorsitz im Hofgericht als Hofammann bzw. Hofmeister führte.<br />
93 Der Landshofmeister war erster Minister des Abts mit Regierungs- und<br />
Richterfunktionen sowie mit diplomatischen Aufgaben wie der Vertretung an<br />
der Tagsatzung. 94<br />
Das äbtische Untersuchungsgefängnis war in einem Turm hinter dem Wirtsh<strong>aus</strong><br />
«Hirschen» in St. Fiden untergebracht, die Richtstätte befand sich auf dem<br />
Espen. 95 Das Wirtsh<strong>aus</strong> diente als Gerichtslokal bei den Einvernahmen der Insassen<br />
des Gefängnisturms. Bei der Kapelle St. Fiden stand zu Zeiten von Abt<br />
Ulrich Rösch <strong>aus</strong>ser der Kaplanei kein anderes H<strong>aus</strong>, weshalb der Abt für die<br />
Gerichtssitzungen das Wirtsh<strong>aus</strong> bauen liess. 96 Auch der Sitz des Niedergerichts<br />
Tablat befand sich im «Hirschen». 97 Der Gefängnisturm wurde unter Abt Bernhard<br />
98 gebaut, der in seinem Rechnungsbuch 1619 festhielt:<br />
«Item hab’ ich ein Thurm und Gefangenschaft mit allen Notwendigkaitten, den Bluottpann<br />
und Malefizgericht desto besser und komlicher zue üben und verrichten, zue St. Fiden an<br />
dem Wirttsh<strong>aus</strong> lassen bauwen, thutt solcher Bauwkosten, laut specificierter Rechnung, in<br />
allem – fl. 829.» 99<br />
2.3.1.2 Hohe und niedere Gerichtsbarkeit<br />
Bei der Gerichtsbarkeit vor 1800 ist zwischen geistlicher und weltlicher zu unterscheiden,<br />
wobei letztere die Einteilung in Hoch- und Niedergerichtsbarkeit<br />
kennt. 100 Die geistlichen Statthalter des Abtes durften nach Kirchenrecht nicht<br />
93<br />
94<br />
95<br />
96<br />
97<br />
98<br />
99<br />
100<br />
GMÜR [1903], S. 295; STAERKLE, Geschlecht [1942], S. 4; STAUB [1988], S. 72; MÜLLER,<br />
Offnungen [1964], S. 74.<br />
HOLLENSTEIN LORENZ, Landshofmeisteramt, e-HLS [2005].<br />
ZIEGLER/SONDEREGGER/STUDER [2004], S. 52.<br />
VON ARX, Bd. 2 [1811], S. 361.<br />
STAERKLE, Geschlecht [1942], S. 3.<br />
Bernhard Müller, geb. 1557, gest. 1630, Abt von 1594 bis 1630, Biographie bei DUFT ET<br />
AL. [1986], S. 161 ff.<br />
StiASG, Bd. 879, S. 143b; Wiedergabe bei WEGELIN, Materialien [1855], S. 43.<br />
DUBLER, Gerichtswesen, Kap. 1.2, e-HLS [2005]; CARLEN, Rechtsgeschichte [1988],<br />
S. 31.<br />
33
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
über Leben und Tod richten, sodass diese Aufgabe den weltlichen Beamten<br />
übertragen wurde. 101<br />
Weil bei der Bestrafung Blut floss, nannte man die Hochgerichtsbarkeit auch<br />
Blutgerichtsbarkeit. 102 Das Hoch- oder Blutgericht war zuständig für die Bestrafung<br />
von Verbrechen <strong>gegen</strong> Leib und Leben wie Tötungs- und schweren Körperverletzungsdelikten<br />
sowie von Sexualverbrechen, Raub, schwerem Diebstahl<br />
und Verbrechen <strong>gegen</strong> die Obrigkeit. 103 Auch Verbrechen <strong>gegen</strong> die Ehre konnten<br />
todeswürdig sein. 104 Seit dem Hochmittelalter war die hohe Gerichtsbarkeit<br />
ein königliches Privileg, das unter anderem durch die Verleihung des hochgerichtlichen<br />
Rechts zum Richten über Leben und Tod, dem sog. Blutbann, lehensrechtlich<br />
übertragen wurde. 105 Grundsätzlich konnte für die Blutgerichtsbarkeit<br />
räumlich auch das Dorfgericht zuständig sein. In diesem Falle hatte ein<br />
Vertreter der Landesherrschaft, der Landvogt oder Amtmann, den Vorsitz. 106<br />
Als Symbol umfassender hoheitlicher Machtbefugnisse einer Herrschaft haftete<br />
dem Blutbann ein enormes Prestige an. 107 Dem Kloster St. Gallen kam 1466<br />
und 1487 die Verbundenheit mit dem Reich zugute: Es erhielt vom Reich für<br />
die Reichsvogtei Rorschach und weitere Vogteien den Blutbann 108 mit der Auflage,<br />
dass die Abtei ihre Untertanen nach Reichsrecht zu beurteilen und zu strafen<br />
habe. Das übrige in der Abtei geltende Recht sollte hiervon nicht betroffen<br />
101<br />
102<br />
103<br />
104<br />
105<br />
106<br />
107<br />
108<br />
«Ecclesia non sitit sanguinem» – die Kirche dürstet nicht nach Blut; SPECKER [1987],<br />
Beitrag vom 31. Juli 1987; STAERKLE, Obervögte [1951], S. 23.<br />
PAHUD DE MORTANGES [2007], S. 106, Rz. 164.<br />
HIRSCH [1922], S. 16 ff., zur Abgrenzung von Hoch- und Niedergericht S. 50 ff.; WIL-<br />
LOWEIT [2005], S. 108.<br />
CARLEN, Rechtsgeschichte [1988], S. 31.<br />
MERZBACHER [1978], Sp. 172 f. Die Überzeugung der Stauferzeit, alle Gerichtsbarkeit<br />
gehe vom König <strong>aus</strong>, hatte sich tief in das Bewusstsein der nachfolgenden Generationen<br />
eingegraben; WILLOWEIT [2005], S. 122.<br />
SIMON, Grundherrschaft [1995], S. 18, sowie zur «Verdorfung» des Gerichts S. 16 f.<br />
GSCHWEND/KRAMER, Gerichtshoheit [2005], S. 18.<br />
Zum Wortlaut des Lehenbriefs Kaiser Friedrichs III. zuhanden des Gottesh<strong>aus</strong>es St. Gallen<br />
betreffend den Blutbann für das Gericht Rorschach StiASG, Bd. 66, S. 87, abgedruckt<br />
bei WEGELIN, Materialien [1855], S. 31; sowie die beiden weiteren Privilegien zum Blutbann<br />
von 1469 und 1487, StiASG, Bd. 66, S. 89 und 98, Auszüge abgedruckt bei WEGE-<br />
LIN, Materialien [1855], S. 32 bis 34; vgl. auch WILLI [1947], S. 149 f.; STAERKLE, Obervögte<br />
[1951], S. 23.<br />
34
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
sein. 109 Die Blutgerichtsbarkeit wurde schliesslich auf das ganze Gebiet des<br />
Landshofmeisteramts <strong>aus</strong>gedehnt. 110<br />
Gemäss einer das Malefiz betreffenden Bestallungurkunde 111 des Landshofmeisters<br />
<strong>aus</strong> dem Jahr 1775 verlieh der Abt dem Landshofmeister<br />
«<strong>aus</strong>s kayserl. gewalt und freiheit in dem ganzen hoffmeister-ambt, und anderen orthen,<br />
dahin wür ihne deputieren wurden, auch den pann mit der hand über das bluet und uebelthäter<br />
zu richten, [sie] zu fangen, auch peinlich zu fragen, und die urthel über sie lassen<br />
zu fellen, nach jedes verdienen [...]». 112<br />
Der Landshofmeister sollte dem Abt die Gefangennahme des Delinquenten<br />
unter Angabe des Grundes anzeigen und schliesslich die Examination und den<br />
ganzen Inquisitionsprozess dem Hofkanzler oder einem vom Abt bestimmten<br />
Vertreter überlassen. 113<br />
Im Gegensatz zur Blutgerichtsbarkeit befasste sich die niedere Gerichtsbarkeit<br />
mit kleineren Delikten wie Raufereien, Übertretung von Marktvorschriften<br />
und Sittenmandaten, in aller Regel Ehrverletzungen und dergleichen. 114 Niedergerichte<br />
deckten sich oft mit den Gemeindebezirken. Sie durften nur leichte<br />
Strafen verhängen, nicht aber schwere Körperstrafen oder gar Lebensstrafen. 115<br />
Verbreitet waren Geldbussen. 116 Neben den erwähnten leichteren Strafsachen<br />
fiel insbesondere bei Klagen betreffend Güterbesitz und Geldschuld auch die<br />
Zivilgerichtsbarkeit in den Zuständigkeitsbereich der Niedergerichte. Weiter<br />
109<br />
110<br />
111<br />
112<br />
113<br />
114<br />
115<br />
116<br />
GRAF [1996], S. 63.<br />
GMÜR [1903], S. 197. Siehe auch ZIEGLER/SONDEREGGER/STUDER [2004], S. 53; WEGE-<br />
LIN, Materialien [1855] , S. 42.<br />
Unter dem Begriff Bestallung wurde die Einsetzung in ein Amt oder in einen Dienst verstanden;<br />
Meyers grosses Konversations-Lexikon, Bd. 2 [1885], S. 818.<br />
Bestallung des fürstl. st. gallischen landshofmeisters das malefiz betreffend, 1775,<br />
Art. 17, StiASG, Rubr. 27, Fasz. 5.<br />
Bestallung des fürstl. st. gallischen landshofmeisters das malefiz betreffend, 1775,<br />
Art. 18, StiASG, Rubr. 27, Fasz. 5.<br />
«Kleiner Frevel», vgl. SIMON, Grundherrschaft [1995], S. 26 f. Gemäss CARLEN betraf die<br />
niedere Gerichtsbarkeit ab dem späten Mittelalter grundsätzlich alle Sachen der bäuerlichen<br />
Bevölkerung <strong>aus</strong>ser die Blutsachen; CARLEN, Rechtsgeschichte [1988], S. 31. Weitere<br />
Beispiele für Fälle niederer Gerichtsbarkeit bei HOLENSTEIN THOMAS [1934], S. 42;<br />
MERZBACHER [1978], Sp. 174.<br />
BLESS-GRABHER, S. 265. Ausführungen mit weiteren Literaturangaben zur Hoch- und<br />
Niedergerichtsbarkeit bei GSCHWEND/KRAMER, Gerichtshoheit [2005], S. 17 f.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 102.<br />
35
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
unterstanden ihnen das Pfandwesen und die Beistandschaften 117 sowie verschiedene<br />
Überwachungs- und Kontrollaufgaben. 118<br />
Eine klare Trennung der Zuständigkeiten von Hoch- und Niedergericht gab<br />
es jedoch nicht; oft umstritten war die Zuordnung der Körperverletzungsdelikte.<br />
119 Vom Niedergericht konnte mithin der ehrliche Totschlag behandelt werden,<br />
wie dies die Offnungen in der Fürstabtei St. Gallen teilweise vorsahen.<br />
Diese Tat wurde in der Regel mit einer Geldstrafe gebüsst. Der Täter wurde nur<br />
dann mit dem Hochgericht bedroht, wenn die gütliche Verständigung mit den<br />
Hinterbliebenen des Erschlagenen nicht gelang. 120 Der unehrliche Totschlag und<br />
der Totschlag über Friedegebot galten als Mord und damit als Fall für das Blutgericht.<br />
121 Dort kamen die Bestimmungen der Constitutio Criminalis Carolina 122<br />
zur Anwendung.<br />
Das Hofgericht des Landshofmeisteramts war als Niedergericht 123 zuständig<br />
für sieben Hauptmannschaften. 124 Es hatte seinen Sitz auf der Pfalz. 125 Bis Mitte<br />
des 15. Jahrhunderts hatte Tablat zur Vogtei Wittenbach und mit dieser zum<br />
Hofgericht gehört. Etwa im Jahre 1458 126 wurde ein eigenes Gericht Tablat geschaffen,<br />
wozu auch St. Fiden und St. Georgen gehörten. Es war wie das Hofgericht<br />
ein Niedergericht. 127 Das Tablater Gericht entschied über kleinere Rechtshändel<br />
und die in der Offnung von Tablat <strong>aus</strong> dem Jahre 1471 genannten Vergehen.<br />
Zudem vertrat es die Interessen der Gemeinde nach innen und <strong>aus</strong>sen. 128<br />
1613 wurde dem Gottesh<strong>aus</strong> St. Gallen für das Gericht Tablat von Kaiser Mat-<br />
117<br />
118<br />
119<br />
120<br />
121<br />
122<br />
123<br />
124<br />
125<br />
126<br />
127<br />
128<br />
DUBLER, Gerichtswesen, Kap. 1.2, e-HLS [2005].<br />
GSCHWEND/KRAMER, Gerichtshoheit [2005], S. 18.<br />
PAHUD DE MORTANGES [2007], S. 106, Rz. 164.<br />
Mit Quellenangaben MÜLLER, Offnungen [1964], S. 88, Fn. 282; siehe auch S. 100 f.<br />
MÜLLER, Offnungen [1964], S. 88, S. 101.<br />
Siehe dazu unten Kap. 2.3.2.2.<br />
STAERKLE, Geschlecht [1942], S. 3; VON ARX, Bd. 2 [1811], S. 605.<br />
Staubenzell, Gaiserwald, Wittenbach, Lömmenschwil, Bernhardzell, Rotmonten und<br />
Berg.<br />
Heutiges Regierungsgebäude, ZIEGLER/SONDEREGGER/STUDER [2004], S. 51.<br />
Siehe zur Unsicherheit über das Entstehungsjahr der Gemeinde Tablat STAERKLE, Tablat<br />
[1991], S. 28; vgl. auch HOLENSTEIN THOMAS [1934], S. 12.<br />
MENOLFI, Hofleute [1991], S. 85.<br />
STAERKLE, Geschlecht [1942], S. 3. Siehe zum Gericht Tablat auch ENGENSPERGER<br />
[1953], S. 29.<br />
36
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
thias 129 der Blutbann verliehen. 130 Abt Bernhard hatte dies beantragt, damit die<br />
Übeltäter nicht mehr auf die «ungefehr zwo stundt» entfernte Urteilsstätte in<br />
Rorschach gebracht werden müssten. 131<br />
2.3.1.3 Der Pfalzrat, das «höchste tribunal der gerechtigkeit» 132<br />
Das oberste fürstäbtische Gericht war der ebenfalls auf der Pfalz ansässige<br />
Pfalzrat. Er ist seit dem 14. Jahrhundert als Pfalzgericht urkundlich erwähnt, ab<br />
dem 16. Jahrhundert bis zum Ende seines Bestehens im Jahre 1799 wurde es als<br />
Pfalzrat bezeichnet. 133<br />
Der Pfalzrat war nicht nur eine Gerichts-, sondern auch eine Verwaltungsbehörde<br />
und bestand <strong>aus</strong> verschiedenen geistlichen Mitgliedern 134 sowie <strong>aus</strong> Mitgliedern<br />
des weltlichen Stands wie dem Hofmarschall, dem Landshofmeister,<br />
dem Kanzler, dem Lehenvogt und den Obervögten der einzelnen Ämter des<br />
Oberamts. 135 Zwischen Pfalzrat und Vögten bestand eine enge Beziehung, was<br />
etwa in der mehr oder weniger intensiven Korrespondenz bei der Führung von<br />
Kriminalprozessen zum Ausdruck kommt. 136 Bei Durchsicht der Protokolle fällt<br />
auf, dass der Pfalzrat jedoch wohl kaum jemals in voller Besetzung tagte.<br />
Bei den Akten des Stiftsarchivs findet sich eine «ordnung, wie die pfaltz-räth<br />
sollen gehalten werden» <strong>aus</strong> dem Jahr 1636. 137 Die Ordnung besteht <strong>aus</strong> zehn<br />
Artikeln. Diese befassen sich insbesondere mit dem von den Parteien vor Gericht<br />
geforderten Verhalten. 138 Weiter legen sie fest, dass «fräffell undt täglich<br />
vorfallende händell alle monat abgestrafft und gericht werden [sollen], damit<br />
129<br />
130<br />
131<br />
132<br />
133<br />
134<br />
135<br />
136<br />
137<br />
138<br />
Matthias, geb. 1557, gest. 1619, war von 1612 bis 1619 Kaiser des Heiligen Römischen<br />
Reichs.<br />
Der kaiserliche Lehenbrief über den Blutbann vom 21. Oktober 1613 ist bei GMÜR<br />
[1903], <strong>aus</strong>zugsweise abgedruckt, S. 238 f.<br />
StiASG, Bd. 66, S. 149. Die entsprechende Vorstellung Abt Bernhards und die kaiserliche<br />
Konzession sind <strong>aus</strong>zugsweise abgedruckt bei WEGELIN, Materialien [1855], S. 42.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 4, Ziff. 1.<br />
GSCHWEND, Pfalzgericht, e-HLS [2006].<br />
Dekan, Statthalter und drei weitere Konventualen, MOSER-NEF, Bd. 1 [1931], S. 341.<br />
MOSER-NEF, Bd. 1 [1931], S. 341.<br />
MEIER ALBERT [1911], S. 133.<br />
StiASG, Bd. 314, S. 202 ff.<br />
StiASG, Bd. 314, Art. 2 bis 5.<br />
37
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
nichts verscheine, und dass bös desto mehr verhüot unndt abgeschafft werde». 139<br />
Aus dem Jahr 1723 ist eine weitere Pfalzratsordnung im Stiftsarchiv erhalten. 140<br />
Diese wurde von Abt <strong>Joseph</strong> 141 erlassen und umfasst neun Punkte. Ein besonderes<br />
Anliegen in dieser Ordnung war dem Abt offensichtlich die Gewährleistung<br />
einer sauberen Aktenführung und -verwaltung. 142 Diese kurze Pfalzratsordnung<br />
erachtete Abt <strong>Joseph</strong> aber nicht als <strong>aus</strong>reichend. Im Jahr 1733 schuf er ein <strong>aus</strong>führliches,<br />
119 handschriftliche Seiten umfassendes «concept hochfürstlicher<br />
st. gallischer pfalzrathsordnung». Darin hält «Wür <strong>Joseph</strong>us von Gottes gnaden<br />
des Heiligen Römischen Reichs fürstabbte zu St. Gallen und St. Johann im<br />
Thurthal ritter des königlichen ordens der jungfräulichen verkündigung Mariae»<br />
143 folgende Kundschaft fest:<br />
«[...] folgsam hoch- und nideren tribunalien und gerichten allermänniglich ein gleiches<br />
recht gehalten, mit pflichtmässigen eifer beförderet und mit unparteischem gemüeth ertheillet<br />
werden möge: zue disem zihl und ende auch, gleich unsern in gott ruhenden herren vorfahren<br />
in der regierung, alle die jenige, welche in unserm nammen und gewalth unsern<br />
fürstlichen pfalzrath allhier zu dirigieren, deme bei zu wohnen, auch dabei urtel und recht<br />
zu sprechen und zu vollziechen haben, mit besonderen ambtsinstructionen und verordnungen,<br />
wie ein jeder derselbe seine obligenheit zu beobachten habe, versehen. [...]» 144<br />
Diese «besondere pfalzrathsordnung» 145 Abt <strong>Joseph</strong>s enthält eine Vielzahl<br />
<strong>aus</strong>führlich dargelegter prozessrechtlicher Regeln für ein Gerichtsverfahren vor<br />
dem Pfalzrat. In der Ordnung wird dieser als «das höchste tribunal der gerech-<br />
139<br />
140<br />
141<br />
142<br />
143<br />
144<br />
145<br />
StiASG, Bd. 314, Art. 7.<br />
StiASG, Bd. 324, S. 877 ff.<br />
Abt <strong>Joseph</strong> wird als «<strong>aus</strong>gezeichneter Regent und Abt» beschrieben, dessen «Regierung<br />
und Wirksamkeit eine wohlgeordnete in allen Richtungen [...]» war, BAUMGARTNER<br />
[1868], S. 104.<br />
So legte Abt <strong>Joseph</strong> etwa Folgendes fest: «Erstlich von nun an alle unsere acta politica,<br />
tam publica, quam privata, sambt allen bissherigen geführten prothocollis, von all denenjenigen,<br />
so dergleichen bey ihren handen haben möchten, unserm hofcantzler in das<br />
cantzley-archiv geliffert, von demselben aber das künfttig einkommende quo ad substantiam<br />
kurzlich rubriciert, nachgehendts auch niemandt keine acta ohne schein und mithin<br />
deren ordentliche restitution, von ihme mehr extradirt»; StiASG, Bd. 324, Punkt 1.<br />
Eine solche Einleitung, die sich in ähnlicher Form etwa auch in Bestallungsurkunden<br />
findet, war in Form und Inhalt ganz und gar charakteristisch für einen fürstlichen Souverän<br />
<strong>aus</strong> der Zeit des Absolutismus; vgl. etwa den Ausschnitt <strong>aus</strong> der Bestallungsurkunde<br />
für <strong>Joseph</strong> Sartory von Rabenstein als Obervogt zu Rorschach bei SPECKER [1987], Beitrag<br />
vom 1. September 1987.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 2.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 3.<br />
38
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
tigkeit in unsern stüfft st. gallischen landen» bezeichnet. 146 Oberstes Haupt und<br />
Richter seien allein «wür 147 und ein jeder regierender fürst, abbt und herr zu<br />
St. Gallen selbst». 148 Wenn der Abt der Verhandlung nicht selbst beiwohnte, so<br />
war der Dekan sein Stellvertreter. War auch dieser verhindert, so hatte der<br />
Landshofmeister beim Abt nachzufragen, wer nun den Vorsitz übernehmen sollte.<br />
Der Abt würde für die Verhandlung «das nöthige verordnen [...] damit keine<br />
saumsal erscheine, noch einige zeit in beförderung der justiz und der partheyen<br />
vernachlässiget werde». 149 Damit der Pfalzratsordnung verlässlich nachgelebt<br />
werden könnte, sollte diese alle zwei Jahre vom Ratssekretär dem versammelten<br />
Rat vorgelesen und dem Präsidenten sowie jedem der Pfalzräte ein Exemplar<br />
<strong>aus</strong>gehändigt werden. 150 Materiell-rechtliche Regeln enthält die Ordnung nicht.<br />
Die Zuständigkeiten des Pfalzrats waren vielfältig. Er nahm die Stellung einer<br />
Appellationsinstanz für alle Gerichte des Oberamts 151 ein. 152 Urteile aller<br />
Niedergerichte konnten an den Pfalzrat weitergezogen werden. 153 In den Protokollen<br />
des Pfalzrats finden sich zahlreiche Prozesse wegen Ehrverletzungen und<br />
übler Nachrede, weitere wegen Kauf- und Erbangelegenheiten oder der «verletzung<br />
der guten nachbarschaft». Wichtigere Fälle wie etwa grössere Vergehen,<br />
die Errichtung von Testamenten o. ä. wurden nicht von den Niedergerichten<br />
behandelt, vielmehr entschied der Pfalzrat (bzw. der «Ledige» Pfalzrat 154 ) darüber<br />
direkt. 155 Der Pfalzrat wachte zudem über die Gemeindeverwaltungen, und<br />
146<br />
147<br />
148<br />
149<br />
150<br />
151<br />
152<br />
153<br />
154<br />
155<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 4, Ziff. 1.<br />
Gemeint ist damit der jeweilige Abt.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 4, Ziff. 1.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 6, Ziff. 3.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 70.<br />
Bestehend <strong>aus</strong> Landshofmeisteramt, Rorschacher Amt, Oberberger Amt und Romanshorner<br />
Amt, siehe Kap. 2.3.1.1.<br />
Für die Gerichte des Unteramtes war der sog. Wiler Pfalzrat Appellationsinstanz, siehe<br />
MÜLLER, Landsatzung [1970], S. 164. Dieser besondere Pfalzrat wurde wohl durch Abt<br />
Ulrich Rösch geschaffen, weil Wil die zweite Residenz des Abtes war, vgl. STAERKLE,<br />
Hofstaat, S. 47 f. Siehe auch THÜRER, Staatswesen [1963], S. 57.<br />
STAERKLE, Geschlecht [1942], S. 3; VON ARX, Bd. 2 [1811], S. 606.<br />
Siehe sogleich.<br />
STAERKLE, Geschlecht [1942], S. 3.<br />
39
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
zwar nicht nur in Verwaltungsstreitigkeiten, sondern auch in reinen Ermessensfragen.<br />
156<br />
Der Pfalzrat war die höchste und damit letzte Gerichtsinstanz. 157 War das Urteil<br />
erst einmal gefällt, so sollte den Parteien nicht mehr viel Gehör erteilt, sondern<br />
der Vollzug des Urteils beförderlich behandelt werden. Sollte eine Partei<br />
jedoch mit neuen, zuvor nicht bekannten Dokumenten oder Zeugen vorstellig<br />
werden oder sonst einen wichtigen rechtsbeständigen Grund geltend machen, so<br />
sollte sie an den Abt gelangen und um Revision ersuchen können. Dieser würde<br />
dann die gebührende Resolution darüber erteilen. 158<br />
Richtete der Pfalzrat über grössere Strafsachen, so nahm er den Charakter eines<br />
Malefizgerichts an. 159 Den Kriminalprotokollen 160 ist zu entnehmen, dass er<br />
in den Fällen der Strafgerichtsbarkeit als «Lediger Pfalzrat» bezeichnet wurde,<br />
der in der Regel nur mit weltlichen Mitgliedern besetzt war. In gewissen Fällen<br />
von weit reichender Bedeutung führte jedoch der Abt den Vorsitz. Die Notwendigkeit<br />
einer eigenen Instanz für Kriminalfälle begründete Abt <strong>Joseph</strong> in der<br />
Pfalzratsordnung 1733 folgendermassen:<br />
«Wann es aber geistliche sachen in ihrer natur, aigenschafft, und rechten anbetrifft, so sollen<br />
solche ad forum ecclesiasticum, die criminalia aber ad forum criminale verwiesen, folgsam<br />
weder die instanzien, die grichten, noch die an einen jeden orth, und richter gehörige<br />
c<strong>aus</strong>ae, personen und sachen vermischt werden.» 161<br />
Die Zuständigkeit des Pfalzrats als Malefizgerichts ist bisher kaum erforscht.<br />
Möglicherweise hatte der Ledige Pfalzrat sich für die einzelnen Strafverfahren<br />
zu den jeweiligen Blutgerichtsstätten – etwa den Obervogteien Rorschach und<br />
Oberberg – zu begeben. Dies würde erklären, weshalb Abt Bernhard 1613 daran<br />
156<br />
157<br />
158<br />
159<br />
160<br />
161<br />
ENGENSPERGER [1953] zitierte diesbezüglich Fr. von Wyss, der sich betreffend die pfalzrätliche<br />
Kontrolle der Gemeinden dahingehend äusserte, dass dies die Art der Rechtsprechung<br />
jener Zeit gewesen sei, die Rechtliches und Administratives nicht genau voneinander<br />
unterschieden und auf Zweckmässigkeit grosse Rücksicht genommen habe, S. 48.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 54 f.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 66 ff.<br />
ZIEGLER/SONDEREGGER/STUDER [2004], S. 52; BAUMANN MAX [2003], S. 58. Betreffend<br />
Zuständigkeiten von Pfalzrat und Hofgericht siehe auch MOSER-NEF, Bd. 1 [1931], S. 341<br />
ff.<br />
Der Fall <strong>Egger</strong> findet sich im Stiftsarchiv St. Gallen in Bd. 1074 der Kriminalprotokolle,<br />
S. 3 bis 77.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 17.<br />
40
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
gelegen war, den Blutbann auch in Tablat <strong>aus</strong>üben lassen zu dürfen; wie WILLI<br />
festhält, war dieses Anliegen mit der günstigeren Lage für die Pfalzräte und damit<br />
der Reduktion der Kosten zu begründen. 162<br />
Im Register zu den im Stiftsarchiv St. Gallen vorhandenen Gerichtsprotokollen<br />
findet sich für den Pfalzrat auch die Bezeichnung «Samstags- und Appellationsrath».<br />
Die Sitzungen fanden jedoch nicht etwa nur samstags statt. Gemäss<br />
Pfalzratsordnung sollten die Verhandlungen einmal wöchentlich jeweils am<br />
Mittwoch abgehalten werden. War dieser ein Feiertag, so sollte der Landshofmeister<br />
nach Rücksprache mit dem Abt einen anderen Wochentag festlegen. 163<br />
Die Gerichtsprotokolle belegen hin<strong>gegen</strong>, dass die Verhandlungen an allen Wochentagen<br />
(selten sogar an Sonntagen) ohne erkennbare Regelmässigkeit stattfanden.<br />
Kriminalprotokolle des Ledigen Pfalzrats sind im Stiftsarchiv St. Gallen<br />
für den Zeitraum von 1555 bis 1799 erhalten.<br />
In der Pfalzratsordnung wurde verankert, dass an den jeweiligen Verhandlungstagen<br />
die Sitzungen der Pfalzräte von Ostern bis Michaeli 164 um acht Uhr<br />
und im Winter um halb neun Uhr vormittags «auf den gloggen streich» zu beginnen<br />
hätten. Auch die Gerichtsferien sind in der Ordnung festgehalten und<br />
dauerten von Weihnachten bis zum 6. Januar 165 , vom Sonntag vor bis Sonntag<br />
nach Aschermittwoch 166 , während der ganzen österlichen Zeit, in der Woche um<br />
Fronleichnam 167 sowie in der Zeit «des würckhlichen heüet, schnitt, und weinlese»<br />
und an «allen ganz, und halben feyrtägen das ganze jahr hindurch», wobei<br />
«auch auf die jahr- und marckt täge zu St. Gallen, Wyll, Liechtensteig, Rorschach,<br />
Altstetten, und Bischoffzell, absonderlich in ansehen der jenigen, welche<br />
solche besuechen, behörige achtung zu haben» sei. 168 Nicht zuletzt vor dem<br />
162<br />
163<br />
164<br />
165<br />
166<br />
167<br />
168<br />
WILLI [1947], S. 150.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 23, Ziff. 15.<br />
Der Tag des Erzengels Michael ist der 29. September. Zu Begriff und Fest siehe Lexikon<br />
der Bräuche und Feste [2007], S. 262 und S. 461.<br />
«Vigilia Nativitatis Domini» bis «ad festum Epiphanie», StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept<br />
S. 26, Ziff. 17; zu den Begriffen und Festen siehe Lexikon der Bräuche und Feste<br />
[2007], S. 417 ff., S. 446, S. 466.<br />
Gemäss StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 26, Ziff. 17 in der «ganzen wochen Quinquagesimae»;<br />
zum Begriff siehe Lexikon der Bräuche und Feste [2007], S. 26 f.<br />
Gemäss StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 26, Ziff. 17 in der «ganzen Corporis<br />
Christi woch»; zu Begriff und Fest siehe Lexikon der Bräuche und Feste [2007], S. 120 ff.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 26 f., Ziff. 17.<br />
41
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
Hintergrund, dass das katholische Jahr auch im 18. Jahrhundert noch viele Feiertage<br />
kannte, wird deutlich, dass der Geschäftsgang an zahlreichen Tagen im<br />
Jahr nicht stattfinden konnte. In Einzel- und Landmandaten der Alten Landschaft<br />
kommt der Feiertagsheiligung eine grosse Bedeutung zu; viele Sätze richten<br />
sich <strong>gegen</strong> die Verletzung der Sonn- und Feiertage. 169 Dass wie erwähnt in<br />
seltenen Fällen sogar Protokolleinträge von Verhandlungen am Sonntag vorhanden<br />
sind, vermag somit zu erstaunen.<br />
Die vor dem Pfalzrat anfallenden Gebühren sind im Konzept von 1733 nicht<br />
geregelt. Es verweist jedoch auf eine Taxenordnung. 170 Im Stiftsarchiv ist eine<br />
am 24. Juli 1783 erstellte Abschrift einer «taxen ordnung» erhalten, «das raths<br />
secretariat betreffend, wie solche in einer alten copia bey der hochfürstl. kanzley<br />
vorgefunden, und auf gnädigsten befehl sr. hochfürstlichen gnaden, dem darmaligen<br />
herrn rats secretario Anton Pankrazius Bossart 171 zu dessen verhalt bestellet<br />
worden.» 172 Aus welchem Jahr das ursprüngliche Exemplar der Taxenordnung<br />
stammte, wurde in der Abschrift von 1783 nicht festgehalten. Die Taxenordnung<br />
führt auf sieben Seiten die Gebühren für verschiedene Handlungen vor<br />
dem Pfalzrat auf, so etwa die Einschreibgebühren, die Appellationsgebühren,<br />
die Gebühren für Rechtsschriften, Urteilsbriefe, Testamente und dergleichen.<br />
Neben solchen Bestimmungen enthält die Ordnung verschiedene Zulassungsvor<strong>aus</strong>setzungen.<br />
So konnte beispielsweise grundsätzlich an den Pfalzrat appelliert<br />
werden, ohne dass man sich vorher beim Landshofmeister oder sonst wo<br />
melden musste, sofern die Appellation «jnnert der gewöhnlichen tage geschehe»<br />
und die Sache «appellabel» sei. 173 Die gewöhnliche Einschreibgebühr betrug<br />
zwölf Kreuzer. Weiter wurde in der Taxenordnung geregelt, in welchen Fällen<br />
169<br />
170<br />
171<br />
172<br />
173<br />
Vgl. die Ausführungen mit Beispielen bei MÜLLER, Landsatzung [1970], S. 242. In der<br />
letzten Fassung des Landmandats sind sämtliche Sonn- und Feiertage aufgelistet, die «alle<br />
Gottsh<strong>aus</strong> Leuth» halten sollten; Landmandat 1761, Art. 2, RQSG (Alte Landschaft),<br />
S. 111. Siehe auch VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 3 [1994], S. 72 f.; MÜNCH [1992], S. 420 ff.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 80.<br />
Anton Pankraz Bossart war von 1783 bis 1797 Sekretär des fürstlichen Pfalzrats, später<br />
Obersekretär der Verwaltungskammer des Kantons Säntis. Er wurde mit allen Mitgliedern<br />
der Kammer am 22. Mai 1799 verhaftet und abgesetzt; Historisch-biographisches Lexikon,<br />
Bd. 2 [1924], S. 319.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Taxen ordnung, S. 1.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Taxen ordnung, S. 1.<br />
42
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
welches Siegel mit welchem Wachs zu verwenden sei. Die Gebühren für Prozesse<br />
vor dem Ledigen Pfalzrat sind nicht explizit erwähnt.<br />
2.3.2 Relevante Gesetzgebung<br />
2.3.2.1 Grundlagen<br />
Die Pfalzratsordnung von 1733 enthält Aussagen über das anwendbare Recht.<br />
So sollten sich die Pfalzräte<br />
«[...] zu unparteilicher und gleicher administration der justiz folgendes zur richtschnur nehmen:<br />
1. Unser fürstl. st. gall. landmandat sambt denen übrigen <strong>aus</strong>struckentlich publicierten und<br />
üeblichen verordnungen der hochen obrigkeit.<br />
2. Unser landt- und erbrecht, sprüch verträge, rechtmässig erlangte privilegia und freiheiten,<br />
wie auch der gemeinden hoch-obrigkeitlich approbierte offnungen und einzüg.<br />
3. die rechtmässige, billiche und von altem wohlhergebrachte guete ordnungen und gewohnheiten.<br />
4. den rechtmässigen besiz- und üebung.<br />
5. die gemeinen beschriben geist- und kayl. weltliche rechten in so weith solche in unsern<br />
landen anschlagen und observiert werden mögen.» 174<br />
Die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Alten Landschaft im hohen Mittelalter<br />
und der frühen Neuzeit weist eine grosse Reichhaltigkeit auf. In der vorliegenden<br />
Studie kann nur auf für den Fall <strong>Egger</strong> relevantes Recht näher eingegangen<br />
werden. Vom übrigen für das Pfalzgericht massgebenden Recht wird ein kurzer<br />
Abriss gegeben.<br />
Durch die Fortentwicklung der Grundherrschaft war das Gebiet der Alten<br />
Landschaft in unzählige neue Gerichts- und Rechtskreise zerfallen, in denen<br />
eine Fülle neuen Rechts, sog. Hofrecht, entstand. 175 Das alemannische Recht<br />
beeinflusste die Rechtsetzung und die Rechtsprechung indirekt und möglicher-<br />
174<br />
175<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 10 f., Ziff. 5 mit Unterziffern 1 bis 5. ENGENSPER-<br />
GER [1953], der die Gemeinden betreffende Pfalzratsurteile untersucht hatte, wies darauf<br />
hin, dass die Urteile weniger auf strengem Recht als der alten Gewohnheit beruhten,<br />
S. 53.<br />
GRAF [1996], S. 54; MÜLLER, Landsatzung [1970], S. 155.<br />
43
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
weise auch direkt weiter. Der 1275/76 entstandene Schwabenspiegel 176 etwa<br />
wurde in der heutigen Ostschweiz offiziell zwar nicht angewendet, wurde aber<br />
als subsidiäres Recht anerkannt und fand fragmentartig Eingang in die Rechte<br />
der Ostschweizer Gebiete. So zeugen beispielsweise die Weistümer von Tablat<br />
und Flawil von starkem Einfluss des Schwabenspiegels. 177<br />
2.3.2.2 Die Constitutio Criminalis Carolina<br />
Bis ins späte Mittelalter kannte die Rechtsprechung im Heiligen Römischen<br />
Reich Elemente wie den Reinigungseid oder das Gottesurteil. Auch die Sühne<br />
durch Geldzahlung war verbreitet. 178 Wie bereits erläutert, entwickelte sich die<br />
Hochgerichtsbarkeit als kaiserliches Privileg mit der Befugnis, über Leib und<br />
Leben von Menschen zu richten, erst im Hochmittelalter. Bestimmungen zum<br />
vom König verliehenen Blutbann finden sich etwa im Schwabenspiegel. 179 Im<br />
Rahmen der Bemühungen um die Bekämpfung der Willkür und um klarere neue<br />
Gesetze einigte man sich am Wormser Reichstag von 1495 auf Reformen auf<br />
der Grundlage eines «Ewigen Landfriedens», der Fehde und Selbstjustiz untersagte,<br />
und gründete zur Unterstützung der Beschlüsse ein ständiges Reichskammergericht.<br />
180 Weiter entstand nach der Vorlage Johann von Schwarzenbergs<br />
181 «Bambergischen Peinlichen Halsgerichtsordnung» von 1507 (CCB) 182<br />
176<br />
177<br />
178<br />
179<br />
180<br />
181<br />
182<br />
Eine Übersicht dazu liefert KÖBLER [1997], S. 530.<br />
GRAF [1996], S. 54 f., MOSEN-NEF, Bd. 5 [1951], S. 23 f.; S. 27.<br />
FRAUENSTÄDT [1881], S. 46 ff.<br />
So Art. 92 des ersten Landrechtsteils des Schwabenspiegels. Dort heisst es u. a.: «[...] Wer<br />
keinen Bann vom König hat, kann nicht richten, <strong>aus</strong>ser zu Haut und Haar [...]», vgl.<br />
Art. 92 LandR I bei DERSCHKA [2002].<br />
BLESS-GRABHER [2003], S. 268; WILLOWEIT [2005], S. 137 f.<br />
In der aktuellen Forschung über die CCB wird der Nichtjurist Schwarzenberg zwar noch<br />
als der politisch führende Kopf der Strafrechtsreform bezeichnet, man geht jedoch davon<br />
<strong>aus</strong>, dass bei der Redaktion die Rolle seiner juristischen Mitarbeiter (etwa die gelehrten<br />
Juristen von Egloffstein und von Rotenhan) wichtiger war, als man bislang glaubte; vgl.<br />
RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 51 f.; WESEL [2006], S. 396; LIEBERWIRTH [2006],<br />
Sp. 886.<br />
Constitutio Criminalis Bambergensis, CCB; siehe statt vieler RADBRUCH, Carolina<br />
[1930], S. 317 ff.; KLEINHEYER, Carolina [1984], S. 15 ff.; TRUSEN [1984], S. 99 ff.; EI-<br />
SENHARDT ULRICH [2004], S. 252 f., Fn. 351 f.<br />
44
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
die im Jahre 1532 verkündete «Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. 183 ». 184<br />
Diese Constitiutio Criminalis Carolina (kurz: Carolina oder CCC) gilt als eines<br />
der wichtigsten Reichsgesetze des Heiligen Römischen Reichs. Sie war das letzte<br />
grosse Werk der Reichsgesetzgebung. 185 Durch sie wurde eine neue Epoche<br />
der deutschen Strafrechtspflege eingeleitet. 186 Die Carolina war kein eigentliches<br />
Strafgesetzbuch, sondern eher eine Prozessordnung, die das «peinliche Verfahren»<br />
erneuern sollte, gleichzeitig aber Grundlage eines allgemeinen deutschen<br />
Strafrechts wurde und vielerorts bis ins <strong>aus</strong>gehende 18. Jahrhundert Anwendung<br />
fand. 187 RADBRUCH bezeichnete die Carolina als Strafprozessordnung, in die ein<br />
Strafgesetzbuch eingeschalten sei. 188 Neben den zahlreichen prozessualen Vorschriften<br />
enthält die Carolina tatsächlich eine Reihe materiell-rechtlicher Bestimmungen<br />
189 , ist aber dennoch kein Strafgesetzbuch im heutigen Sinn. Es geht<br />
nicht um die Begründung der Strafbarkeit durch Festlegung des Straftatbestands<br />
im Gesetz; vielmehr setzt die Carolina das materielle Strafrecht als bestehend<br />
und im Wesentlichen bekannt vor<strong>aus</strong>. 190 Die Carolina bezieht sich nur auf<br />
«peinliche» Strafsachen, also auf mit Pein verursachenden körperlichen Strafen<br />
zu ahndende Taten. Leichtere Verfehlungen sind auf Klage des Verletzten im<br />
Zivilprozess in der Regel mit Geldbusse zu bestrafen. 191 Am eingehendsten werden<br />
Tötungs- und Diebstahlsdelikte behandelt. 192<br />
183<br />
184<br />
185<br />
186<br />
187<br />
188<br />
189<br />
190<br />
191<br />
192<br />
Karl V., geb. 1500, gest. 1558, ab 1519 König des Heiligen Römischen Reichs, 1530 in<br />
Bologna zum Kaiser gekrönt, Thronverzicht im Jahr 1556 zugunsten seines Sohnes Philipp<br />
II. in Spanien und Burgund und zugunsten seines Bruders Ferdinand I. im Reich;<br />
SENN [2007], S. 450.<br />
RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 49 ff.; SCHROEDER [1986], S. 333; EISENHARDT ULRICH<br />
[2004], S. 253 ff.<br />
Zu den voneinander abweichenden Einschätzungen der Bedeutung der Carolina in unterschiedlichen<br />
Zeiten siehe SCHILD, Rechtstag [1984], S. 119 ff.; RÜPING [1984], S. 161 ff.;<br />
GÜNTHER [1889], S. 286 f. Zur Entstehungsgeschichte mit weiteren Literaturhinweisen<br />
PÖLTL [1999], S. 37 ff.; im Weiteren BALDAUF [2004], S. 83 ff.; HATTENHAUER [2004],<br />
S. 424, Rz. 1206.<br />
LIEBERWIRTH [2006], Sp. 889. HENKEL [1968], S. 39, bezeichnet die Carolina als den<br />
ersten grossen Wendepunkt in der deutschen Strafverfahrensentwicklung.<br />
BLESS-GRABHER [2003], S. 268.<br />
RADBRUCH, Carolina [1930], S. 323.<br />
Insbes. Art. 104 bis 180 CCC; siehe auch LIEBERWIRTH [2006], Sp. 887.<br />
KLEINHEYER, Carolina [1984], S. 25.<br />
KLEINHEYER, Carolina [1984], S. 9.<br />
RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 52.<br />
45
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
Die Carolina erlangte auf dem heutigen Gebiet der Schweiz keine direkte Gesetzeskraft,<br />
wurde aber in verschiedenen Regionen 193 als subsidiäres Recht angewendet,<br />
wenn das eigene Recht eine Rechtsfrage nicht entschied. 194 Im Gegensatz<br />
zu den meisten anderen Regionen der heutigen Schweiz verpflichtete<br />
die Fürstabtei St. Gallen ihre Vögte eidlich auf «die Rechtsprechung gemäss des<br />
heiligen Reichs peinlicher Gerichtsordnung». 195 Sie hatten die «mit Druck gefertigte<br />
peinliche Halsgerichtsordnung <strong>gegen</strong>wärtig zu haben und nach derselben<br />
zu handeln». 196 In Zweifelsfällen sollten sie sich beim Landesherrn oder bei<br />
Sachverständigen erkundigen. 197 In der Fürstabtei wurde die Carolina also «systematischer<br />
und mit bedeutend mehr Nachdruck von oben angewendet» als im<br />
restlichen Geltungsgebiet in der heutigen Schweiz. 198 Neben dem Vogt mussten<br />
auch die beisitzenden Räte in ihrer Funktion als Untersuchungskollegium sowie<br />
die Schöffen auf die Carolina beeidigt werden; eine Praxis, die offenbar in der<br />
ganzen Alten Landschaft streng durchgeführt wurde. 199 Im Verfahren machte<br />
sich der grosse Einfluss des Reichsgesetzes grundsätzlich vorteilhaft bemerkbar;<br />
193<br />
194<br />
195<br />
196<br />
197<br />
198<br />
199<br />
So in den drei Bünden des heutigen Graubündens, in Basel, im Gebiet des Fürstbischofs<br />
von Basel, in Schaffh<strong>aus</strong>en, im Wallis und im bernerischen Waadtland. In den Quellen<br />
von Luzern, Schwyz, Zug, Freiburg und dem Fürstentum Neuenburg finden sich Hinweise<br />
auf die Carolina, während sie die Stadt St. Gallen, Uri, Ob- und Nidwalden, Bern, Zürich,<br />
Solothurn und Genf nur unwesentlich beeinflusste; CARLEN, Rechtsgeschichte<br />
[1988], S. 41.<br />
CARLEN, Rechtsgeschichte [1988], S. 41. Zu älteren Lehrmeinungen über die Geltung der<br />
Carolina PFENNINGER HEINRICH [1890], S. 80 f.<br />
CARLEN, Rechtsgeschichte [1988], S. 41; siehe auch BLESS-GRABHER [2003], S. 269;<br />
SPECKER [1987], Beitrag vom 31. Oktober 1987.<br />
Dies sahen etwa die Bestallungsurkunden der Obervögte vor; SPECKER [1987], Beitrag<br />
vom 31. Oktober 1987; MOSER-NEF, Bd. 7 [1955], S. 95 f. Das Stift St. Gallen verfügte<br />
neben Ausgaben der Carolina auch über Kommentarliteratur dazu, vgl. mit Quellenangaben<br />
MÜLLER, Landsatzung [1970], S. 312, insbes. Fn. 92.<br />
Mit Hinweis auf die entsprechendes vorschreibenden Bestallungen der Obervögte<br />
STAERKLE, Obervögte [1951], S. 24.<br />
MEIER ALBERT [1911], S. 145. Dies könnte mit den Bedingungen zum Erhalt des Blutbanns<br />
zusammengehängt sein, vgl. die diesbezüglichen Ausführungen in Kap. 2.3.1.2.<br />
Siehe auch MOSER-NEF, Bd. 5 [1951], S. 30 f.; PAHUD DE MORTANGES [2007], S. 122,<br />
Rz. 189.<br />
MEIER ALBERT [1911], S. 137 und 145; siehe auch SPECKER [1987], Beitrag vom 31. Oktober<br />
1987.<br />
46
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
man führte die Prozeduren vorsichtig <strong>aus</strong> und unterwarf etwa die Anwendung<br />
der Folter den Beschränkungen der Carolina. 200<br />
Das Pfalzgericht hatte gemäss oben zitierter Ziff. 5 der Pfalzratsordnung von<br />
1733 die kaiserlichen Rechte und so auch die Carolina anzuwenden, «in so<br />
weith solche in unseren landen anschlagen und observiert werden mögen». 201 Es<br />
ist anzunehmen, dass dieser Hinweis auf die Anwendung der kaiserlichen Rechte<br />
als expliziter Verweis unter anderem auf die Carolina zu verstehen ist. Indizien<br />
dafür sind jedenfalls die eidliche Verpflichtung der entsprechenden Amtsträger<br />
der Alten Landschaft auf die Rechtsprechung nach der Carolina sowie<br />
etwa die Berufung auf die Carolina in den Akten zum Fall <strong>Egger</strong>. 202<br />
Betreffend materiell-rechtliche Bestimmungen griff man in der Fürstabtei für<br />
gewöhnlich wohl weitgehend auf die Carolina zurück, sind die Vorschriften der<br />
Pfalzratsordnung doch <strong>aus</strong>schliesslich formeller Natur. Die Pfalzratsordnung<br />
enthält im Übrigen eine Reihe von möglicherweise durch die Carolina beeinflussten<br />
formellen Vorschriften betreffend die Rechte der Parteien, so etwa zum<br />
rechtlichen Gehör, zum Beschleunigungsgebot bzw. Verzögerungsverbot und<br />
zur Verschwiegenheitspflicht der Pfalzräte oder deren Unparteilichkeits- und<br />
Unvoreingenommenheitsregeln.<br />
2.3.2.3 Landsatzung und Landmandat der Alten Landschaft<br />
Nach der Neuordnung des Landes durch Abt Ulrich Rösch im 15. Jahrhundert 203<br />
und der Entstehung der Alten Landschaft mit ihrer Verwaltungs- und Gerichtsorganisation<br />
spielte die Vereinheitlichung und schriftliche Fixierung der<br />
Rechtsverhältnisse in den Gerichtsoffnungen eine bedeutende Rolle. 204 Die<br />
gleichförmigen St. Galler Offnungen 205 sind klar auf ein einheitliches, von der<br />
200<br />
201<br />
202<br />
203<br />
204<br />
205<br />
MEIER ALBERT [1911], S. 141; vgl. Kap. 5.5.4.2.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 11, Ziff. 5.5.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 92. Mit der Diskussion in der älteren Lehre, ob<br />
die häufig wiederkehrende Formel des «Richten nach kaiserlichem Recht» als Hinweis<br />
auf die Carolina zu werten ist, befasst hat sich PFENNINGER HEINRICH [1890], S. 81 f.<br />
Vgl. oben Kap. 2.1.<br />
MÜLLER, Ordnung [1973], S. 247; MOSER-NEF, Bd. 5 [1951], S. 24.<br />
Eine beispielhalfte Nennung verschiedener Inhalte der Offnungen findet sich bei HO-<br />
LENSTEIN THOMAS [1934], S. 22 ff.<br />
47
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
Herrschaft gesetztes Ziel <strong>aus</strong>gerichtet. Dennoch beruhen sie auf einer Vereinbarung<br />
zwischen dem Herrn und der Gerichtsgemeinde. 206 Der Inhalt der Weistümer<br />
der Niedergerichte war gewohnheitsrechtlich bestimmt. Die St. Galler<br />
Weistümer äussern sich kaum über das Blutgericht und seine Zuständigkeit. 207<br />
Bereits im 15. Jahrhundert ging das Kloster über die Neuordnung der örtlichen<br />
Rechtsquellen hin<strong>aus</strong> und erliess 1468 eine allgemeine Landesordnung.<br />
Diese Ordnung wurde mit der raschen Verdichtung der Landesherrschaft bald<br />
Landsatzung genannt und nahm die Stelle der überlieferten Rechtsordnung des<br />
Mittelalters ein. 208 In erster Linie war die Landsatzung der Sorge um einheitliche<br />
Rechtsverhältnisse in den Stiftslanden entsprungen, dies schon <strong>aus</strong> Gründen der<br />
Ökonomie und Verkehrssicherheit. 209 Auf den Versuch der Eidgenossen im Jahr<br />
1525, durch die Einführung einer Zustimmungspflicht bei sämtlichen Ergänzungen<br />
der Landsatzung 210 massgeblichen Einfluss auf die Gesetzgebung zu gewinnen,<br />
reagierte die Fürstabtei schliesslich mit der Schaffung eines umfangreichen<br />
Landmandats. 211 Gleichzeitig stoppte sie weitgehend die Weiterentwicklung<br />
der Landsatzung, die dadurch faktisch an Bedeutung verlor. 212 Verschiedene<br />
Inhalte des Landmandats, das immer weiterentwickelt wurde, widerspiegeln<br />
die bevormundende, alle Lebens- und Rechtsbereiche erfassende Tendenz des<br />
absolutistischen Staats. 213 Die Vorschriften zur Wahrung der öffentlichen Ruhe<br />
206<br />
207<br />
208<br />
209<br />
210<br />
211<br />
212<br />
213<br />
MÜLLER, Ordnung [1973], S. 247. Der gleichförmige Wortlaut der im Wesentlichen einheitlich<br />
redigierten Offnungen veränderte sich in den rund drei Jahrhunderten ihrer Geltungsdauer<br />
kaum; MÜLLER, Offnungen [1964], S. 117.<br />
Quellenangaben der wenigen kurzen Hinweise auf das Hochgericht nennt MÜLLER, Offnungen<br />
[1964], S. 87, Fn. 275.<br />
MÜLLER, Ordnung [1973], S. 248; MÜLLER, Landsatzung [1970], S. 174 f.<br />
MÜLLER, Einleitung [1974], S. XV sowie GRAF [1996], S. 57.<br />
GRAF [1996], S. 58 f.<br />
Unter dem Begriff «Mandat» wurde ursprünglich ein Auftrag verstanden, in der Praxis<br />
des Spätmitelalters auch eine Weisung oder ein Befehl. Mittels Mandat machte der Staat<br />
der frühen Neuzeit die obrigkeitlichen Gebote und Verbote allgemein bekannt, MÜLLER,<br />
Landsatzung [1970], S. 185 f. Die einzelnen Mandate (z.B. jene <strong>gegen</strong> das Fleischessen<br />
an Festtagen und den Besuch reformierter Gottesdienste) wurden 1542 samt einigen bis<br />
dahin in der Landsatzung stehenden Artikeln überarbeitet und zu einem Sammelmandat<br />
zusammengefasst, MÜLLER, Landsatzung [1970], S. 187.<br />
MÜLLER, Ordnung [1973], S. 248. Die Terminologie im 18. Jahrhundert unterschied<br />
schliesslich nicht mehr scharf zwischen Landmandat und Landsatzung; MÜLLER,<br />
Landsatzung [1970], S. 185.<br />
MÜLLER, Einleitung [1974], S. XVIII.<br />
48
Die Kulisse: Alte Landschaft<br />
und Sicherheit, die Bestimmungen <strong>gegen</strong> die häufigen Tätlichkeiten und zur<br />
Abwehr von Landstreichern und allem fahrenden Volk sind vielfältig. 214<br />
Dem in Landsatzung und Landmandat geregelten Rechtsstoff fehlt jede systematische<br />
Ordnung; weder wird zwischen materiellem Recht und Prozessrecht<br />
noch zwischen öffentlichem und privatem Recht unterschieden. 215 Strafrechtliche<br />
Vorschriften enthalten Landsatzung und Landmandat nur wenige, sie regeln<br />
zudem weder die hochgerichtliche Zuständigkeit noch das peinliche Verfahren.<br />
Dies liegt zum einen daran, dass der den Niedergerichten zustehende Bereich<br />
durch die <strong>aus</strong>führlichen Bussenkataloge in den Offnungen geregelt war und zum<br />
anderen die Hochgerichte nach der Carolina zu verfahren hatten. 216<br />
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert unterblieb in der Fürstabtei die Anpassung<br />
der Rechtsordnung an die rasch ändernden wirtschaftlichen und sozialen<br />
Verhältnisse weitgehend, was MÜLLER mit der intensiven Traditionsgebundenheit<br />
der Fürstabtei erklärte. 217 Lediglich das Landmandat wurde 1761 ein<br />
letztes Mal überarbeitet. Bereits während der letzten Regierungsjahre Abt Bedas<br />
wurden zahlreiche Forderungen der St. Galler Gottesh<strong>aus</strong>leute laut. Erst 1795<br />
wurde der Druck jedoch so gross, dass schliesslich ein durch den Abt und das<br />
Volk gutgeheissener «Gütlicher Vertrag» 218 zustande kam. 219<br />
214<br />
215<br />
216<br />
217<br />
218<br />
219<br />
MÜLLER, Landsatzung [1970], S. 255. Es finden sich auch Vorschriften zur Feuer- und<br />
Gesundheitspolizei.<br />
MÜLLER, Landsatzung [1970], S. 235.<br />
MÜLLER, Landsatzung [1970], S. 260, siehe dort auch Fn. 83.<br />
MÜLLER, Einleitung [1974], S. XXX.<br />
Gütlicher Vertrag des Fürstlichen Stifts St. Gallen mit desselbigen Angehörigen, und<br />
Gottsh<strong>aus</strong>-Leuten der alten Landschaft, aufgericht und angenommen den 23. Wintermonat<br />
(= November) 1795, RQSG (Alte Landschaft), S. 378 ff. Im Gütlichen Vertrag verfügte<br />
Abt Beda <strong>gegen</strong> den Willen eines Teils des Kapitels die Abschaffung der Leibeigenschaft<br />
samt den damit verbundenen Abgaben. Zudem trat er wichtige obrigkeitliche Rechte, wie<br />
jenes der Richterwahl, ans Volk ab. Der Konvent billigte den Vertrag erst knapp zwei<br />
Monate später; VOGLER WERNER, Gütlicher Vertrag, e-HLS [2006].<br />
MÜLLER, Einleitung [1974], S. XXX f.<br />
49
Vorgeschichte<br />
3 Vorgeschichte<br />
3.1 Der Täter: <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong><br />
«Er haisse <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong> nicht gar 29 jahr alt 220 , verheurathet mit Elisabetha<br />
Germanin [...]» 221 , gab <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> nach seiner Festnahme zu Protokoll.<br />
Sein Vater Michael <strong>Egger</strong> sei 16 Jahre zuvor gestorben, seine Mutter lebe in<br />
zweiter Ehe. Er habe sieben «rechte» und zwei Stiefgeschwister. 222 In seiner<br />
Studie zum Geschlecht <strong>Egger</strong> von Tablat und Rotmonten hatte der ehemalige<br />
Stiftsarchivar PAUL STAERKLE auch Daten zur Familie von Michael <strong>Egger</strong> zusammengetragen,<br />
die sich weitgehend mit den Angaben <strong>Egger</strong>s decken. Demnach<br />
war Michael <strong>Egger</strong> 1700 geboren und 1760 gestorben. Mit seiner Frau<br />
Anna Huber hatte er neun Kinder, wovon <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong>, geboren am 18. November<br />
1746, das zweitälteste war. Nach ihm wurden in den Jahren 1748 und<br />
1749 zwei Mädchen geboren und beide auf den Namen Maria Anna getauft. 223<br />
Vermutlich starb das ältere der beiden Mädchen kurz nach der Geburt, was erklären<br />
würde, weshalb <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong> bei der Einvernahme vom 15. Februar<br />
1775 angab, sieben leibliche Geschwister zu haben.<br />
Die Eltern von Michael <strong>Egger</strong>, also die Grosseltern von <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong>,<br />
hatten offenbar seit 1696 eine Liegenschaft bei der Kapelle St. Peter und Paul in<br />
220<br />
221<br />
222<br />
223<br />
In der vorindustriellen Zeit war es sowohl in den Städten als auch auf dem Land nicht<br />
unüblich, dass die Leute keine genauen Vorstellungen über ihr eigenes Lebensalter hatten,<br />
wie <strong>aus</strong> Gerichtsprotokollen und insbesondere <strong>aus</strong> Zeugeneinvernahmeprotokollen, in denen<br />
die Befragten nach ihrem Alter gefragt wurden, geschlossen werden kann. Oft wurden<br />
lediglich runde Zehnerzahlen genannt; dazu FUCHS, Zeugenverhöre [2001], S. 150.<br />
Die Akten des Falls <strong>Egger</strong> zeigen hin<strong>gegen</strong>, dass die Beteiligten meist eine recht genaue<br />
Vorstellung über das eigene Lebensalter hatten. So wusste <strong>Egger</strong>, dass er sich im Zeitpunkt<br />
der Einvernahmen im 29. Lebensjahr befand. Auch Elisabeth Han (46-jährig; Sti-<br />
ASG, Bd. 1073, S. 613) und <strong>Joseph</strong> Bensegger (36-jährig, Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong><br />
Bensegger, S. 1) wussten ihr Alter genau zu benennen. Johannes Geser und <strong>Joseph</strong><br />
Rüesch gaben an, 30 bzw. 40 Jahre alt zu sein (Dok. 17, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Rüesch,<br />
S. 1; Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Antwort 1), wobei den Akten<br />
nicht entnommen werden kann, ob es sich hierbei um eine exakte Angabe oder eine Näherung<br />
handelt.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 1.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 1.<br />
STAERKLE, Geschlecht [1942], S. 38.<br />
51
Vorgeschichte<br />
Rotmonten bewohnt. 224 1697 hatten sie erstmals die Hintersassen-Steuer von<br />
Rotmonten zu zahlen. 225 Michael <strong>Egger</strong> erschien 1724 im Hintersassen-Rodel<br />
noch als Hintersasse. 226 Am 4. Juni 1743, also gut drei Jahre vor der Geburt von<br />
<strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong>, wurde er in Rotmonten <strong>gegen</strong> eine Gebühr von 30 Gulden eingebürgert.<br />
Der Statthalter des Stifts musste die Einbürgerung bewilligen, wofür<br />
er die Hälfte dieser Gebühr bezog. 227<br />
<strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> <strong>Egger</strong> hatte nach Lage der Akten keine eigenen Kinder. Seit<br />
Advent 1770 war er mit Maria Elisabetha German verheiratet, 228 die zwei Kinder,<br />
Maria Barbara und Anna Maria Veronika, mit in die Ehe brachte. Maria<br />
German war die Witwe des verstorbenen Johannes Furrer <strong>aus</strong> Tablat, dem Vater<br />
von Maria Barbara und Anna Maria Veronika. 229<br />
Weiter äusserte <strong>Egger</strong> beim Verhör, er sei katholischer Religion. Dies war für<br />
die Bevölkerung der Alten Landschaft üblich; nach den Wirren der Reformation<br />
und insbesondere dem aggressiven Vorgehen von Zürich und dessen Reformator<br />
Zwingli 230 ab dem Jahre 1529 war es Abt Diethelm 231 nach dem Zweiten<br />
Kappeler Landfrieden 232 gelungen, im Fürstenland eine strenge Rekatholisierung<br />
durchzuführen. 233 Dies glückte wohl auch deswegen, weil der Bevölkerung des<br />
224<br />
225<br />
226<br />
227<br />
228<br />
229<br />
230<br />
231<br />
232<br />
233<br />
In der Einvernahme bezeichnete <strong>Egger</strong> seinen Vater denn auch als «Michael <strong>Egger</strong> bey<br />
dem kirchele»; Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 1. Zur Kapelle siehe<br />
ZIEGLER ERNST [1977] (ohne Seitenzahl).<br />
STAERKLE, Geschlecht [1942], S. 39.<br />
Als Hintersassen wurden in der frühen Neuzeit Leute bezeichnet, die sich unter einer<br />
Landesobrigkeit niederliessen und dabei als Einwohner minderen Rechts im Gegensatz zu<br />
den alteingesessenen Stadtbürgern bzw. Gemeinde- oder Dorfgenossen nicht über das volle<br />
Bürgerrecht verfügten. Sie waren anders als blosse Aufenthalter (Gesinde, Dienstboten,<br />
Gesellen) dauerhafter in der Gemeinde ansässig und enger in die lokale Gesellschaft und<br />
Wirtschaft eingebunden. Oft verfügten sie über einen eigenen H<strong>aus</strong>halt; HOLENSTEIN<br />
ANDRÉ, Hintersassen, e-HLS [2005]. Da die Hintersassen die Infrastruktur der Gemeinde<br />
mitbenutzten, ohne dass sie selber oder ihre Vorfahren etwas dazu beigetragen hatten,<br />
musstens sie das jährliche «Hintersassengeld» als Gemeindesteuer bezahlen; MENOLFI,<br />
Hofleute [1991], S. 92.<br />
STAERKLE, Geschlecht [1942], S. 39 f.<br />
Dok. 15, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von <strong>Egger</strong>s Stieftöchtern, S. 1.<br />
Dok. 15, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von <strong>Egger</strong>s Stieftöchtern, S. 1.<br />
Ulrich (Huldrych) Zwingli, geb. 1484, gest. 1531.<br />
Diethelm Blarer von Wartensee, geb. 1503, gest. 1564, Abt von 1530 bis 1564, Biographie<br />
bei DUFT ET AL. [1986], S. 156 ff.; HENGGELER [1929], S. 139 ff.<br />
Abgeschlossen im November 1531.<br />
DUFT ET AL. [1986], S. 49; Historisch-biographisches Lexikon, Bd. 6 [1931], S. 39.<br />
52
Vorgeschichte<br />
Fürstenlands das Szepter Zürichs nicht milder schien als der st. gallische<br />
Krummstab. 234 In Nachwirkung des sog. Augsburger Religionsfriedens von 1555<br />
setzte sich auch in der Alten Landschaft das Prinzip «cuius regio, eius religio» 235<br />
durch, wonach der Landesherr die Konfession seiner Untertanen bestimmte. 236<br />
<strong>Egger</strong> war nach Aussage seiner Frau beim Beten jeweils nicht allzu eifrig<br />
gewesen. 237 Während der Verhöre rief <strong>Egger</strong> dennoch sehr häufig Gott an und<br />
benutzte Wendungen wie «in Gottes namen» 238 oder «mein Gott» 239 , weiter gab<br />
er gelegentlich «Gott die ehre» 240 . Nachdem die Einvernahmen bereits mehrere<br />
Tage gedauert hatten, meinte <strong>Egger</strong> sogar, «er seye halt ein von Gott verlassener<br />
mensch». 241<br />
<strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> war Lehensnehmer des Hofes «auf dem Espen». Das Gebiet<br />
Espen war in jener Zeit eine von Wittenbach und Tablat gemeinsam genutzte<br />
Allmend, die sich auf beide Seiten der Steinach erstreckte und auf der einige<br />
Höfe – wohl auch der von <strong>Egger</strong> bewirtschaftete Hof Espen – lagen. 242 Ebenfalls<br />
auf dem Gebiet Espen befand sich an der Stelle der heutigen protestantischen<br />
Heiligkreuzkirche die äbtische Richtstätte. 243 Sämtliche Verhöre <strong>Egger</strong>s wurden<br />
in St. Fiden im Wirtsh<strong>aus</strong> «Hirschen» gehalten, während die meisten Zeugenbefragungen<br />
am Sitz des Pfalzrats im Klosterareal stattfanden. Der Pfalzrat tagte<br />
üblicherweise in der «gewöhnlich[en] pfaltzraths stuben» der «fürstl. residenz<br />
234<br />
235<br />
236<br />
237<br />
238<br />
239<br />
240<br />
241<br />
242<br />
243<br />
STAERKLE, Tablat [1991], S. 33 f.<br />
«Wessen Land, dessen Religion». Während der Reformationszeit gewann dieser Grundsatz<br />
wieder stärker an Bedeutung. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 zwischen<br />
Karl V. und dem Schmalkaldischen Bund war er Leitsatz; er stellte einen Kompromiss<br />
zwischen den katholischen und den protestantischen Landesherren dar, vgl. SENN [2007],<br />
S. 104 f; SENN/GSCHWEND/PAHUD DE MORTANGES [2006], S. 37, Rz. 23 und S. 176,<br />
Rz. 24; KÄSTNER [2006], Sp. 913 ff.; siehe auch AEBI [1914], S. 24; WILLOWEIT [2005],<br />
S. 168.<br />
BAUMANN MAX [2003], S. 37. Zur Repression Andersgläubiger und ihrer Umsetzung in<br />
den Landes- und Polizeiordnungen in der Alten Landschaft MÜLLER, Landsatzung [1970],<br />
S. 238 ff.<br />
Vgl. nachfolgendes Kapitel 4.8.1.<br />
Z.B. Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 2, Antwort 10, Antwort 18 uvm.<br />
Z.B. Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 55.<br />
Z.B. Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 179.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 170.<br />
STAERKLE, Tablat [1991], S. 28.<br />
ZIEGLER/SONDEREGGER/STUDER [2004], S. 52; GMÜR [1903], S. 197.<br />
53
Vorgeschichte<br />
im stüfft St. Gallen», konnte aber je nach Geschäft auch <strong>aus</strong>wärts verhandeln<br />
und urteilen. 244<br />
<strong>Egger</strong> war als Bauer tätig und konnte gemäss seinen eigenen Aussagen sowie<br />
gemäss Bestätigung seiner Gattin weder lesen noch schreiben. 245 Seine Frau berichtete<br />
weiter, dass «er allzeit ein dunckhel m<strong>aus</strong>er gewesen» sei. Er habe sich<br />
auf die Arbeit, auf Pferde und das Vieh verstanden, «sich niemahl recht lustig<br />
gezaiget, bey dem betten zu h<strong>aus</strong>, und in der kirchen sich schläfrig erwiesen,<br />
doch aber jmmerhin früehe, und spath starckh, und vill gearbeitet». 246 Die Zeugin<br />
Maria Catharina Gross betitelte <strong>Egger</strong> zudem später in ihrer Einvernahme<br />
wiederholt als Weibel; 247 weitere Hinweise auf ein derartiges Amt gehen <strong>aus</strong> den<br />
Akten ansonsten jedoch nicht hervor.<br />
Die Beziehung zwischen <strong>Egger</strong> und seiner Ehefrau konnte keineswegs eine<br />
innige gewesen sein; in ihrer Befragung durch das Gericht am 23. Februar 1775<br />
liess sie kaum ein gutes Wort über ihren Mann verlauten. Dies brachte den Autor<br />
der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienenen «Kriminalgeschichten»<br />
dazu, das Verhältnis zwischen den Ehegatten als «sehr kühl» zu bezeichnen,<br />
«da ihre, der Frau, Angaben, das Gepräge grosser Kaltblütigkeit an<br />
sich tragen, gerade so, als hätte sie in fremder, ihr gleichgültiger Sache Zeugnis<br />
abzulegen gehabt». 248 Auf die obrigkeitliche Frage, was ihr an ihrem Mann während<br />
ihrer Ehe missfallen habe, was sie «Tadelhaftes» an ihm nennen könne,<br />
antwortete sie, dass sie von <strong>Egger</strong> bereits bei der Heirat habe wissen wollen, ob<br />
er Schulden habe. Er habe dies geleugnet. Erst im Nachhinein seien «ziemliche<br />
pöstlein» hervorgekommen. 249 Nicht nur wegen seiner Schulden, auch wegen<br />
anderer Sachen habe er ihr öfter nicht die Wahrheit gesagt. 250<br />
<strong>Egger</strong>s Charakter aufgrund der vorhandenen Akten zu fassen, ist schwierig.<br />
Manchmal wirkt er schlau, fast gerissen. Dann wieder erscheint er erstaunlich<br />
244<br />
245<br />
246<br />
247<br />
248<br />
249<br />
250<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 22 f., Ziff. 14.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort auf Frage 220, Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage<br />
der Ehefrau, S. 9.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 8.<br />
Dok. 4, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Maria Gross, S. 1, 2 und 4.<br />
Autor anonym, Kriminalgeschichten, aktengetreu erzählt, [ca. 1860], S. 32. Vgl. zu den<br />
Aussagen von Maria German im Weiteren Kap. 4.8.1.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 4 f.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 6.<br />
54
Vorgeschichte<br />
naiv, um nicht zu sagen beinahe dumm. Grundsätzlich erweckt <strong>Egger</strong> den Eindruck,<br />
ein introvertierter Mensch gewesen zu sein, offenbar ein Einzelgänger.<br />
Gute Bekannte, Freunde oder Vertraute hatte er mit einer kleinen Ausnahme<br />
offenbar keine. Zumindest lässt sich <strong>aus</strong> den Akten nicht auf solche schliessen.<br />
Seine Taten führte <strong>Egger</strong> alleine <strong>aus</strong>. Er vertraute sich lange in keiner Weise<br />
jemandem an.<br />
3.2 Das Opfer: Catharina Himmelberger<br />
Am «montag vor liechtmess» 251 im Jahre 1775, also am 30. Januar 1775, bezog<br />
die etwa 54 Jahre alte 252 Catharina Himmelberger 253 Herberge bei Zunftmeister<br />
Ziegler an der Langgass. Bisher hatte sie bei ihrem Bruder Jacob Himmelberger,<br />
Schuster auf dem Rotmonten, gewohnt. 254 Nun zog sie an die Langgass, betonte<br />
aber <strong>gegen</strong>über Maria Catharina Gross, der Frau des Zunftmeisters, dass sie<br />
nicht etwa wegen «streit oder ohneinigkeit» gegangen sei, sondern um im Alter<br />
einen kürzeren Kirchweg zu haben sowie «auch wegen dem dunckhlen h<strong>aus</strong>». 255<br />
Catharina Himmelberger macht beim Studium der Akten den Eindruck einer<br />
resoluten, selbstständigen und sehr gläubigen Frau. Bis einige Jahre vor der Tat<br />
hatte sie offenbar bei verschiedenen Herren als Bedienstete gearbeitet. 256 Wie<br />
Maria Gross später im Zeugenverhör berichtete, hatte Catharina Himmelberger<br />
am Sonntagabend, 5. Februar 1775, haufenweise Gersten und Bohnen gekocht,<br />
damit sie in den kommenden Wochen einen Vorrat hätte und deshalb an der Ar-<br />
251<br />
252<br />
253<br />
254<br />
255<br />
256<br />
Dok. 4, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Maria Gross, S. 1. Lichtmess wird 40 Tage nach Christi Geburt,<br />
also am 2. Februar, zelebriert. Das Fest beschliesst die Reinigungszeit Marias und<br />
gilt als Darstellungsfeier Jesu im Tempel. Die Lichtsymbolik von Kerzenweihe und Lichterumzügen<br />
bezieht sich auf die Gleichsetzung Christi mit dem ‹Licht der Erleuchtung der<br />
Helden›, vgl. Wörterbuch des Aberglaubens [1989], S. 131 f.; Lexikon der Bräuche und<br />
Feste [2007], S. 220 f.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 1.<br />
Das Geschlecht der Himmelberger stammt offenbar <strong>aus</strong> Appenzell Inner- und Ausserrhoden<br />
und leitet seinen Namen vom im Innerrhodischen liegenden Himmelberg ab; Historisch-biographisches<br />
Lexikon, Bd. 4 [1927], S. 224.<br />
Dok. 12, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Jacob Himmelberger, S. 1.<br />
Dok. 4, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Maria Gross, S. 4.<br />
Dok. 3, erste Befragung <strong>Egger</strong>s und Amtsbericht, S. 1.<br />
55
Vorgeschichte<br />
beit nicht verhindert würde. 257 Da ihr Umzug mit einigen Kosten verbunden gewesen<br />
war, beschloss sie zudem, <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong>, der bei ihr offenbar noch Schulden<br />
hatte, einen Besuch abzustatten und ihr Guthaben einzufordern. Als <strong>Egger</strong><br />
nicht bezahlte und die Schuld offenbar sogar teilweise bestritt, nahm sie kein<br />
Blatt vor den Mund und beschimpfte diesen als «Spizbueb» und «Lieger». 258<br />
Ängstlich wirkte sie in keiner Weise: Sie suchte <strong>Egger</strong> in der Dunkelheit morgens<br />
um 5.30 Uhr auf 259 – und dies obendrein allein, was ihr schliesslich wohl<br />
zum Verhängnis werden sollte.<br />
Über die Beziehung zwischen <strong>Egger</strong> und Catharina Himmelberger ist den<br />
Akten kaum etwas zu entnehmen. Während der protokollierten langen Verhöre<br />
wurde <strong>Egger</strong> erstaunlicherweise nie befragt, woher er Catharina gekannt oder<br />
weshalb er bei ihr Schulden gehabt habe. Er schilderte nur, dass sie ihn mit ihren<br />
Beschimpfungen über Gebühr gereizt habe, weshalb er die Kontrolle verloren<br />
und sie ungewollt totgeschlagen habe.<br />
«Er habe halt just eine furckhen [Mistgabel] in handen gehabt, und seye taub gewesen». 260<br />
3.3 Der Tag der Tat: Montag, 6. Februar 1775<br />
Bereits am Sonntag, 5. Februar 1775, wollte sich Catharina Himmelberger auf<br />
den Weg zu <strong>Egger</strong>s Hof «auf dem Espen» machen, um ihn zur Bezahlung seiner<br />
Schulden anzuhalten, wie sie Maria Gross mitteilte.<br />
«Weillen aber der damahlige starckhe luft ihro die latern vor ihrem garten dr<strong>aus</strong>sen verloschen,<br />
seye selbe wider zurückh, und in die stuben gekommen [...]» 261<br />
An der Messe am selben Tag traf Catharina Himmelberger zwar auf <strong>Egger</strong>,<br />
sie traute sich jedoch nicht, die Begleichung der Schulden bei ihm zu verlangen,<br />
da sie nicht wollte, dass jemand Zeuge davon werden würde und <strong>Egger</strong>s Frau,<br />
257<br />
258<br />
259<br />
260<br />
261<br />
Dok. 4, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Maria Gross, S. 3 f.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 16. Lügner war ein häufig benutztes<br />
Schimpfwort. Es wurde häufig kombiniert mit weiteren Schimpfworten, so etwa Bösewicht<br />
oder Schalk; TOCH [1993], S. 316 ff.<br />
Dok. 4, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Maria Gross, S. 3.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 17.<br />
Dok. 4, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Maria Gross, S. 2.<br />
56
Vorgeschichte<br />
Maria German, Kenntnis von der Bezahlung bekommen könnte. Am nächsten<br />
Morgen ging sie bereits um 5.30 Uhr los in Richtung Espen, wie Maria Gross<br />
später bei Gericht zu Protokoll gab. 262 Erneut wollte Catharina Himmelberger<br />
verhindern, dass Maria German sie sah und von der Sache etwas erfuhr. Es ist<br />
denkbar, dass Catharina Himmelberger wusste, dass <strong>Egger</strong> seine Schulden<br />
grundsätzlich seiner Frau <strong>gegen</strong>über abstritt, 263 und ihn durch ihre Heimlichtuerei<br />
schützen wollte. Möglicherweise wollte sie auch verhindern, dass Fragen<br />
nach der Ursache der Schulden gestellt würden. Wie <strong>Egger</strong> in einer ersten Befragung<br />
am 10. Februar 1775 <strong>aus</strong>sagte, hätten Catharina und er alles über die<br />
Schulden «in der Stille behalten» und niemand hätte davon gewusst. 264 Dies<br />
stimmte offenbar: Catharina hatte auch ihrem Bruder, dem Schuster Jacob<br />
Himmelberger, auf dessen Frage hin, wer ihr noch Geld schuldig wäre, nur zwei<br />
andere Schuldner preisgegeben und von <strong>Egger</strong> nichts erwähnt, «denckhend, er<br />
[ihr Bruder Jacob] müsse nicht alles wissen» 265 . Möglicherweise hatte sie <strong>aus</strong> der<br />
Ursache der Schulden bewusst ein Geheimnis gemacht. Dieses Geheimnis wurde<br />
so gut gehütet, dass Catharina es mit ins Grab nahm und es heute nicht mehr<br />
aufzudecken ist.<br />
Der 6. Februar 1775 verging, ohne dass Catharina Himmelberger zum H<strong>aus</strong><br />
des Zunftmeisters zurückkehrte oder sonst etwas von ihr vernommen wurde.<br />
3.4 Die Zeit bis zur Gefangennahme <strong>Egger</strong>s<br />
3.4.1 Erste Verdachtsmomente<br />
Am folgenden Tag, dem 7. Februar 1775, suchte Catharinas zweiter Bruder, der<br />
Maurer <strong>Joseph</strong> Himmelberger, morgens um 7 Uhr <strong>Egger</strong> auf seinem Hof auf<br />
und erkundigte sich nach dem Verbleib seiner Schwester. Er kehrte auch am<br />
Nachmittag nochmals wieder, erhielt aber von <strong>Egger</strong> jeweils nur die Auskunft,<br />
er habe sie nicht gesehen und mit ihr auch nichts zu schaffen gehabt, abgesehen<br />
262<br />
263<br />
264<br />
265<br />
Dok. 4, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Maria Gross, S. 3.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 4 f.<br />
Dok. 3, erste Befragung <strong>Egger</strong>s und Amtsbericht, S. 1.<br />
Dok. 4, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Maria Gross, S. 4.<br />
57
Vorgeschichte<br />
davon, dass er ihr etwas schuldig gewesen sei, dies aber längst bezahlt habe. 266<br />
Das erste kurze Verhörprotokoll <strong>Egger</strong>s trägt das Datum des 10. Februar 1775.<br />
Wer das Verhör führte, geht <strong>aus</strong> dem Protokoll nicht hervor. <strong>Egger</strong> wurde befragt,<br />
ob er Catharina Himmelberger kenne und wann er sie das letzte Mal gesehen<br />
habe. Er leugnete rundweg, sie am in Frage stehenden Montag, 6. Februar,<br />
oder seither gesehen zu haben. Weiter gab er zwar zu, von ihr vor 4½ Jahren<br />
Geld geliehen zu haben. Dieses habe er jedoch längst zurückbezahlt. 267<br />
Am 11. Februar 1775 wurde Hofweibel Johannes Ackermann von der Obrigkeit<br />
beauftragt, <strong>Egger</strong>s Hof zu durchsuchen, was dieser in Anwesenheit von <strong>Joseph</strong><br />
Himmelberger tat. Trotz angeblich gründlicher Suche fanden die beiden<br />
nicht die «geringste spuehr» von Catharina. 268 Zwar hielt der Weibel fest, vor<br />
dem Tor auf dem Boden sei etwas Blut gewesen. Es habe sich aber deutlich gezeigt,<br />
dass <strong>Egger</strong> unlängst an jener Stelle «gemezget» habe und ein Stück des<br />
geschlachteten Tiers dort aufgehängt gewesen sei. Davon sei das Blut heruntergetropft.<br />
Dies habe auch <strong>Joseph</strong> Himmelberger gesehen. Man habe <strong>Egger</strong> nicht<br />
im geringsten fassen können. 269<br />
Doch Catharinas Brüder gaben sich nicht so rasch zufrieden; am Sonntag,<br />
12. Februar 1775, suchte <strong>Joseph</strong> Himmelberger in Begleitung seiner Ehefrau<br />
einen gewissen Christian Louis auf, der an der Langgasse als Wirt tätig und mit<br />
<strong>Egger</strong> offenbar besser bekannt war. Sie baten Louis, <strong>Egger</strong> mit dem «verdacht<br />
einer mordthat an der Catharina Himmelbergerin» zu konfrontieren in der Hoffnung,<br />
dass dieser, sollte er tatsächlich der Täter sein, gestehen würde. 270<br />
3.4.2 Aussprache mit dem Wirt<br />
Als <strong>Egger</strong> am darauffolgenden Tag, dem 13. Februar 1775, mit einem Fuder<br />
«b’schütte» <strong>aus</strong> der Stadt die Langgass entlang ging, bat Louis ihn auf ein Wort<br />
266<br />
267<br />
268<br />
269<br />
270<br />
Dok. 3, erste Befragung <strong>Egger</strong>s und Amtsbericht, S. 2 f.<br />
Dok. 3, erste Befragung <strong>Egger</strong>s und Amtsbericht, S. 1.<br />
Dok. 3, erste Befragung <strong>Egger</strong>s und Amtsbericht, S. 3.<br />
Dok. 3, erste Befragung <strong>Egger</strong>s und Amtsbericht, S. 3.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 1.<br />
58
Vorgeschichte<br />
in sein H<strong>aus</strong>. Dort konfrontierte er ihn mit dem Verdacht, was er bei einer späteren<br />
Zeugen<strong>aus</strong>sage folgendermassen beschrieb:<br />
«[...] wann er möchte etwa einen fehlstreich im verdruss gethan haben, so solle er es doch<br />
einem vertrauten menschen anzaigen, denn er deponent 271 wüsse, das die obrigkeit nur noch<br />
2 tag ruehe, als dann gehe es wider auf ein neues an: worauf der <strong>Joseph</strong> antwortete, wann er<br />
wüsste, das er nacher S. Fiden 272 müsste, und gezimiget [gefoltert] würde, so gienge er lieber<br />
<strong>aus</strong> dem Land; hienach deponent ihm erwiderte, und solches <strong>aus</strong>redete sagend, wann er<br />
ohnschuldig seye, solle er nicht fort, und wann er schon leyden müsse, so habe ja unser<br />
Gott auch villes umb unschuld gelitten [...].» 273<br />
<strong>Egger</strong> verliess daraufhin den Wirt bald mit den Worten, er müsse arbeiten<br />
gehen, wolle aber nachts mit ihm reden. Den ganzen Tag über fuhr <strong>Egger</strong><br />
«b’schütte» auf sein Lehengut und kehrte abends wie angekündigt zum Wirt<br />
zurück. 274 Dort zeigte er sich sichtlich aufgewühlt und äusserte sich folgendermassen:<br />
«Es seye eine erschröckhliche sach das vatterland zu allen zeiten meyden /: repetendo :/<br />
worüber Christian Louis erwiderte, <strong>Joseph</strong>, was ist dann dis für eine sach, ihr haben ja<br />
nichts, als wie ich höre, ein böses weib und darzu ville schulden, müsse auch tag und nacht<br />
villes werckhen; hin<strong>gegen</strong> <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> erwiderte, er wollte alles bestreitten, und denen<br />
schulden red, und antwort geben können [...].» 275<br />
<strong>Egger</strong> lamentierte weiter über seine Schulden, sagte, er sei seinem Lehnherrn<br />
noch etwas schuldig, habe aber auf der anderen Seite beim Färber noch ein Guthaben,<br />
das er eintreiben könne. Bei diesen Erläuterungen hatte Christian Louis<br />
gemäss seinen später zu Protokoll gegebenen Aussagen den Eindruck,<br />
«dass <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> vast über den stuehl herunter gefallen, und ihme vast ohnmächtig werde;<br />
hienach deponent ihme zugesprochen, sagend, es seye kein sünden so gross, er komme<br />
auch wider zu gnaden auf welchen zuspruch hin <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> deutlich erwideret hat: ja<br />
Gottes namen, ich habe ihro der Catharina mit der furckhen [Mistgabel] einen streich gegeben<br />
[...].» 276<br />
271<br />
272<br />
273<br />
274<br />
275<br />
276<br />
Der Begriff «Deponent» kommt vom Lateinischen «deponere» = ablegen, deponieren.<br />
In St. Fiden befand sich das Gefängnis, vgl. Kap. 2.3.1.1.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 1 f.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 2.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 3.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 3 f.<br />
59
Vorgeschichte<br />
Nun gestand <strong>Egger</strong> auf weitere Fragen des erschrockenen Louis, dass er Catharina<br />
nach der Tat am Montagmorgen den ganzen Tag im Stall liegen lassen<br />
habe und sie in der darauf folgenden Nacht ins Galgentobel 277 getragen und dort<br />
in die Stauden geworfen habe. Er bat den Wirt schliesslich «umb das bluet<br />
Christi willen zu dem fürsten zu gehen» und die ganze Geschichte zu erzählen.<br />
278 Der Wirt erklärte sich dazu bereit, worauf die beiden folgendes vereinbarten:<br />
Wenn nach Louis’ Anzeige Gutes zu hoffen sei, so werde der Wirt ein<br />
weisses Tuch unter sein Fenster hängen als Zeichen, dass <strong>Egger</strong> zu ihm hereinkommen<br />
könne. Wäre Schlechtes zu befürchten, so sollte der Wirt ein rotes<br />
Tuch zur Warnung <strong>aus</strong> dem Fenster hängen lassen. Die Frage des Wirts, ob <strong>Egger</strong><br />
seine Tat beichten wolle, verneinte er. Nachdem der Wirt <strong>Egger</strong> das Versprechen<br />
abgenommen hatte, dass er «sich doch dise nacht nichts leydes<br />
anthuen» werde, gingen die beiden <strong>aus</strong>einander. 279<br />
3.4.3 Gespräch mit Schwager und Stiefvater; Gefangennahme<br />
<strong>Egger</strong>s Schwager <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> Bensegger hatte bereits am 11. Februar 1775<br />
von der erfolglosen H<strong>aus</strong>durchsuchung bei <strong>Egger</strong> gehört und diesen noch am<br />
selben Tag aufgesucht. Nach erfolglosem Drängen, die Wahrheit zu sagen, gab<br />
er vorerst auf, wie er später dem Gericht in der Befragung erläuterte. 280 Seine<br />
Frau sowie <strong>Egger</strong>s Mutter Anna Huber überredeten ihre Männer jedoch, nochmals<br />
eine Aussprache mit <strong>Egger</strong> zu suchen, woraufhin <strong>Joseph</strong> Bensegger und<br />
<strong>Egger</strong>s Stiefvater Johannes Kunz am 13. Februar 1775 abends um neun Uhr <strong>Egger</strong><br />
zuh<strong>aus</strong>e aufsuchten. Dieser wurde also kurz nach seiner Rückkehr von<br />
Christian Louis erneut zum Geständnis aufgefordert. Wenn er es nicht getan<br />
habe, so solle er sich «frisch» der geist- und weltlichen Obrigkeit stellen. 281<br />
277<br />
278<br />
279<br />
280<br />
281<br />
Das Galgentobel ist die «wilde Schlucht», durch die seit 1856 die Eisenbahnlinie St. Gallen-Rorschach<br />
führt. Der Name rührte «unzweifelhaft von dem ehemals in der Nähe befindlichen,<br />
etwa 20 Minuten von der Stadt entfernten Galgen her [...]»; Autor anonym,<br />
Kriminalgeschichten, aktengetreu erzählt, [ca. 1860], S. 1. Siehe auch ZIEGLER ERNST<br />
[1977] (ohne Seitenzahl).<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 5.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 6 f.<br />
Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Bensegger, S. 1 f.<br />
Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Bensegger, S. 3.<br />
60
Vorgeschichte<br />
«Worüber der <strong>Joseph</strong> geantwortet, wie könnte mann sich frisch stellen, wann einer überall<br />
so in dem geschrey ist; er förchte nur dieses, mann nehme ihne nacher S. Fiden, schlage ihne<br />
an die marter, und [er] habe es doch gleichwohlen nicht gethan.» 282<br />
Die drei Männer diskutierten daraufhin weitere anderthalb Stunden lang über<br />
die vorgeworfene Tat und die Marter. Stiefvater und Schwager liessen nicht locker,<br />
bis <strong>Egger</strong> die Tat schliesslich auch ihnen gestand. Aufgrund Catharinas<br />
ungerechtfertigter Geldforderung sei er so in Rage geraten, dass er sie im Kuhstall,<br />
wo sie ihn aufgesucht habe, «zu todt geschlagen, und selbe allda in einen<br />
winckhel geworfen» habe. Später habe er sie in die Stauden hin<strong>aus</strong> getan. 283<br />
Nach dem Geständnis bat <strong>Egger</strong> seinen Schwager und seinen Stiefvater um Verschwiegenheit<br />
und kündigte an, der Wirt Louis werde am kommenden Tag die<br />
Tat anzeigen, «und wann es nicht recht für ihne <strong>aus</strong>falle», so wolle er am Vormittag<br />
in die Kirche und am Nachmittag fort gehen. 284<br />
Daraufhin verliessen <strong>Joseph</strong> Bensegger und Johannes Kunz den Hof <strong>Egger</strong>s<br />
«jammerend und schreckhenvoll» 285 . Während der Stiefvater nachh<strong>aus</strong>e ging,<br />
suchte <strong>Joseph</strong> Bensegger den Schuster Jacob Himmelberger auf. Nachts um ein<br />
Uhr gingen beide gemeinsam mit dem Hatschier Greuter zu Hofweibel Ackermann<br />
und erstatteten Anzeige. 286 Eine Stunde später wurde <strong>Egger</strong> in seinem<br />
H<strong>aus</strong> verhaftet. 287<br />
282<br />
283<br />
284<br />
285<br />
286<br />
287<br />
Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Bensegger, S. 3.<br />
Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Bensegger, S. 3 f.<br />
Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Bensegger, S. 4.<br />
Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Bensegger, S. 4.<br />
Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Bensegger, S. 5; Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s,<br />
S. 1.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 2.<br />
61
Strafverfahren<br />
4 Strafverfahren<br />
4.1 Besetzung des Gerichts<br />
<strong>Egger</strong> wurde in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1775 verhaftet. Am<br />
Mittwoch, 15. Februar 1775, wurde er erstmals dem Untersuchungsgremium<br />
vorgeführt. Er stand unter Verdacht, Catharina Himmelberger getötet und die<br />
Tat zu vertuschen versucht zu haben. Das Gericht war sich zu Beginn der Einvernahmen<br />
nicht darüber im Klaren, ob es sich um die Affekttat eines Totschlags<br />
oder um vorsätzliche Tötung handelte, steckte sie im Rahmen der Verhöre<br />
doch einige Energie in die Klärung dieser Frage.<br />
Die Einvernahmen <strong>Egger</strong>s, die Beratung des Gerichts sowie die Urteilsverkündung<br />
fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Fürstabtei<br />
St. Gallen war bereits 1491 von Kaiser Friedrich III. 288 das dem Inquisitionsprinzip<br />
entsprechende Privileg erteilt worden, das «Hochgericht mit bschlossner<br />
Thür zuhalte». 289 Der jeweilige Abt durfte das Hochgericht durch seine Amtsleute<br />
und Räte bei geschlossener Tür abhalten; die Handlungen und Urteile mussten<br />
ent<strong>gegen</strong> der bisherigen Gewohnheit nicht länger öffentlich ergehen. Der<br />
Kaiser hielt jedoch <strong>aus</strong>drücklich fest, dass der Abt verständige Personen seiner<br />
geschworenen Räte einzusetzen hatte, die unparteiisch und gerecht richten würden.<br />
Weder «gunst, miet, gab, fründtschaft noch veindtschafft» noch anderes<br />
dürfe ihnen anzusehen sein. 290<br />
Das urteilende Gericht, der Ledige Pfalzrat, setzte sich im Fall <strong>Egger</strong> <strong>aus</strong> folgenden<br />
weltlichen Beamten zusammen: Hofkanzler <strong>Joseph</strong> Ignaz Sartory von<br />
Rabenstein, der offenbar den Vorsitz führte; Pfalzrat von Seylern; Geheimrat<br />
Franz Anton Gugger von Staudach, Obervogt zu Rorschach; Franz <strong>Joseph</strong> Mül-<br />
288<br />
289<br />
290<br />
Geb. 1415, gest. 1493, Kaiser von 1440 bis 1493, Habsburger, Vater von Maximilian I.;<br />
SENN [2007], S. 445.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Freyhait von Kayser Friederich dem Dritten Abbt Gotthartt<br />
erthailt, das man das Hochgericht zu beschlossner Thür, und nid offentlich halten mög,<br />
und wie man das besetzen soll, vom 16. August 1491.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Freyhait von Kayser Friederich dem Dritten Abbt Gotthartt<br />
erthailt, 16. August 1491.<br />
63
Strafverfahren<br />
ler von Friedberg, Landvogt im Toggenburg; <strong>Joseph</strong> Ignaz Zweyfel, Obervogt<br />
von Oberberg; und Johann Anton Rudolf Rothfuchs, Obervogt von Blatten.<br />
<strong>Joseph</strong> Ignaz Sartory von Rabenstein, geboren 1721, trat 1743 als Kammerdiener<br />
bei Abt Cölestin in Dienst und wurde ein Jahr später als Sekretär vereidigt.<br />
1749 wurde er Lehenvogt und Richter des Pfalzgerichts, 1753 Obervogt<br />
auf Blatten 291 und Amtmann in Altstätten. Ein Jahr später wurde er auf die wichtigere<br />
Obervogtei Oberberg 292 bei Gossau versetzt, wo er bis 1763 amtete. 293 Er<br />
wurde häufig als äbtischer Gesandter eingesetzt, dies wohl nicht zuletzt aufgrund<br />
seiner guten Französischkenntnisse. 294 Sartory von Rabenstein wurde<br />
1763 zum Geheimrat ernannt und war von 1763 bis 1782 zudem Hofkanzler in<br />
der Fürstabtei. 295 1768 wurden Sartory von Rabenstein und seine Nachkommen<br />
von Abt Beda <strong>aus</strong> der Leibeigenschaft befreit und in die Rechte des in den<br />
Stiftslanden befindlichen Adels eingesetzt. Ein Jahr später erhob Kaiser <strong>Joseph</strong><br />
II. 296 Sartory von Rabenstein in des Heiligen Römischen Reichs erblichen<br />
Adelsstand. Während der Jahre 1772 bis 1775 versah der Kanzler auch das<br />
Landshofmeisteramt. Nach Niederlegung des Kanzleramts wurde er 1783 Obervogt<br />
von Rorschach. Sartory von Rabenstein starb im Dezember 1791. 297 Der<br />
Begriff des Kanzlers bzw. später des Hofkanzlers tauchte erst unter Abt Ulrich<br />
Rösch auf. Der Hofkanzler besorgte das Kanzleiwesen der Fürstabtei. 298 Nach<br />
dem Konzept zur Pfalzratsordnung 1733 hatte er die Verhandlung zu eröffnen,<br />
die Befragung vorzunehmen und sich in der anschliessenden Beratung als «juris<br />
291<br />
292<br />
293<br />
294<br />
295<br />
296<br />
297<br />
298<br />
Abt Ulrich Rösch kaufte die Burg Blatten bei Oberriet 1486. Während der darauffolgenden<br />
über 300 Jahre h<strong>aus</strong>ten dort die äbtischen Obervögte; FELDER [1970], S. 39.<br />
Das Schloss Oberberg ging 1489 nach kurzer Herrschaft der Stadt St. Gallen zurück in<br />
fürstäbtisches Eigentum. Es wurde Sitz des Obervogts, der das Oberbergeramt verwaltete;<br />
BREITENMOSER [1970], S. 127.<br />
STAERKLE, Gossau [1961], S. 121.<br />
Schweizerisches Geschlechterbuch, Band IV [1913], S. 458 f.<br />
StiASG, Rep. 14a, Beamtenverzeichnis, Rubr. «Kanzler», S. 57 ff; Schweizerisches Geschlechterbuch,<br />
Band IV [1913], S. 459.<br />
<strong>Joseph</strong> II., geb. 1741, gest. 1790, war von 1765 bis zum Tod seiner Mutter Maria Theresia<br />
1780 deren Mitregent und danach Kaiser. Er war Monarch im Sinne des aufgeklärten Absolutismus,<br />
förderte das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die Rechtspflege (Abschaffung<br />
der Folter); SENN [2007], S. 449.<br />
Schweizerisches Geschlechterbuch, Band IV [1913], S. 460; STAERKLE, Obervögte<br />
[1951], S. 29; WILLI [1947], S. 310.<br />
StiASG, Rep. 14a, Beamtenverzeichnis, Rubr. «Kanzler», S. 57 ff.<br />
64
Strafverfahren<br />
consultus» zu betätigen. 299 Somit ist anzunehmen, dass Sartory von Rabenstein<br />
die Verhöre im Fall <strong>Egger</strong> führte. Die Akten des Falles enthalten zum Befrager<br />
jedoch keinen expliziten Hinweis. Weiter sollte der Hofkanzler gemäss Pfalzratsordnung<br />
kontrollieren, ob der Ratssekretär das Protokoll ordnungsgemäss<br />
führte. 300<br />
Pfalzrat von Seylern entstammte vermutlich dem alten Wiler Geschlecht Sailer.<br />
Dr. med. <strong>Joseph</strong> Anton von Sailern war fürstlicher Leibarzt in St. Gallen<br />
gewesen und hatte 1728 von Karl VI. die Nobilitierung erhalten. Beim im Verfahren<br />
<strong>Egger</strong> mitwirkenden Pfalzrat von Seylern handelte es sich wahrscheinlich<br />
um <strong>Joseph</strong> Blasius (oder Basil), einen Sohn von <strong>Joseph</strong> Anton von Sailern,<br />
der als Pfalzrat und Fiskal amtete. Er war schliesslich auch Obervogt von Blatten,<br />
Schwarzenbach und von 1745 bis 1753 von Oberberg sowie anschliessend<br />
bis 1762 Landvogt im Toggenburg. 301<br />
Franz Anton Gugger von Staudach stammte <strong>aus</strong> Feldkirch. Er war der Cousin<br />
von Abt Cölestin. Von 1753 bis 1754 amtete er als Obervogt von Oberberg, von<br />
1754 bis 1758 als Obervogt zu Rorschach, von 1758 bis 1763 als Hofkanzler<br />
und von 1763 bis 1772 als Landvogt im Toggenburg. Weil er dort offenbar unbeliebt<br />
wurde, bat er Abt Beda um die Vogtei Rorschach, die er schliesslich von<br />
1772 bis 1783 erneut verwaltete. 302<br />
Franz <strong>Joseph</strong> Müller stammte <strong>aus</strong> Näfels, wurde 1725 geboren und war Arzt.<br />
Er amtete als Zeugherr zu Glarus, bis er 1758 in den Dienst der Fürstabtei<br />
St. Gallen trat. Er wurde Pfalzrat und Obervogt auf Rosenberg, später in Rorschach.<br />
Von 1772 bis 1775 war er Landvogt im Toggenburg, sodann Landshofmeister,<br />
zugleich Geheimer Rat und Minister des Abts. Er erhielt 1768 von<br />
Abt Beda das adelige Gottesh<strong>aus</strong>mannsrecht, 1774 von Kaiser <strong>Joseph</strong> II. für<br />
sich und seine Nachkommen den Reichsritterstand mit dem Prädikat «von<br />
Friedberg». 1791 wurde er von Kaiser Leopold II. in den Freiherrenstand erhoben.<br />
Der Abt entliess den unbeliebten, sehr konservativen Beamten jedoch 1795<br />
299<br />
300<br />
301<br />
302<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 31.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 79 f.<br />
Historisch-biographisches Lexikon, Bd. 5 [1929], S. 786; STAERKLE, Gossau [1961],<br />
S. 121; BÜCHLER [1992], S. 54.<br />
STAERKLE, Gossau [1961], S 121; STAERKLE, Obervögte [1951], S. 28 f.; BÜCHLER<br />
[1992], S. 54.<br />
65
Strafverfahren<br />
als Landshofmeister. Von 1795 bis 1798 war er Hofmarschall, kehrte dann nach<br />
Näfels zurück, wo er 1803 starb. 303 Franz <strong>Joseph</strong> Müller war der Vater des bekannten<br />
st. gallischen Staatsmanns Karl Müller-Friedberg. 304<br />
<strong>Joseph</strong> Ignaz Zweyfel von Schänis war von 1763 bis 1775 Obervogt von<br />
Oberberg und von 1775 bis 1792 Landvogt im Toggenburg. Dann wurde er unfreiwillig<br />
in die Obervogtei Rorschach versetzt, wo er bis Ende 1798 blieb. 305<br />
Die Familie Rothfuchs stammt <strong>aus</strong> der Gemeinde Rorschach. Johann Anton<br />
Rudolf Rothfuchs war ab 1768 Vogt auf Blatten, von 1775 bis 1783 Obervogt<br />
von Oberberg, von 1783 bis 1796 Hofkanzler und zudem 1795 provisorischer<br />
Landshofmeister. 306<br />
Gemäss Protokoll wohnten nur Sartory von Rabenstein und von Seylern den<br />
sich über mehrere Wochen hinziehenden Ermittlungen und Einvernahmen bei.<br />
Am 3. März 1775, also sogar noch vor dem kompletten Abschluss der Verhöre,<br />
wurde der Fall von den erwähnten Mitgliedern des Ledigen Pfalzrats diskutiert.<br />
307 Die Akten liefern keine Hinweise darauf, dass Gugger von Staudach,<br />
Müller von Friedberg, Zweyfel und Rothfuchs <strong>Egger</strong> je persönlich zu Gesicht<br />
bekommen hätten. Zwar ist anzunehmen, dass sie immerhin Kenntnis von den<br />
Verhörakten hatten; dies lässt sich mit den vorhandenen Quellen jedoch nicht<br />
belegen.<br />
Den Einvernahmen im Fall <strong>Egger</strong> wohnte auch Lehenvogt <strong>Joseph</strong> Nikl<strong>aus</strong><br />
Ehrat bei. Als Lehenvogt war er dem Ledigen Pfalzrat grundsätzlich ebenfalls<br />
zugehörig. 308 Bei der Beratung der Pfalzräte am 3. März 1775 war er jedoch offenbar<br />
nicht zu<strong>gegen</strong>; im Protokoll wurde er jedenfalls nicht erwähnt. 309 Denkbar<br />
ist, dass er als Pfalzrat amtete und lediglich bei der Beratung sämtlicher Räte<br />
verhindert war. Die Akten verraten diesbezüglich jedoch nichts. Ehrat, geboren<br />
303<br />
304<br />
305<br />
306<br />
307<br />
308<br />
309<br />
Historisch-biographisches Lexikon, Bd. 5 [1929], S. 185; STAERKLE, Obervögte [1951],<br />
S. 29.<br />
Zu dessen Biographie: Historisch-biographisches Lexikon, Bd. 5 [1929], S. 192.<br />
STAERKLE, Gossau [1961], S. 121; STAERKLE, Obervögte [1951], S. 29; BÜCHLER [1992],<br />
S. 54.<br />
Historisch-biographisches Lexikon, Bd. 5 [1929], S. 720; STAERKLE, Gossau [1961],<br />
S. 121.<br />
Vgl. das «rechtliche gutachten» in Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 91.<br />
MOSER-NEF, Bd. 1 [1931], S. 341.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 91.<br />
66
Strafverfahren<br />
1746, trat 1772 als Fiskal in äbtische Dienste. Ab 1774 war er Lehenvogt zu<br />
St. Gallen. 1789 wurde er äbtischer Vogt auf dem süddeutschen Aussenposten<br />
des Klosters Neuravensburg, dessen Schloss den St. Galler Äbten in Notzeiten<br />
als Refugium diente. Ehrat galt als über<strong>aus</strong> fähiger Vertrauensmann des Abtes.<br />
Für diesen verfasste er auch politische Gutachten und Verfassungsentwürfe. 310<br />
4.2 Weitere am Verfahren beteiligte Beamte<br />
Gemäss Protokoll waren bei den Befragungen <strong>Egger</strong>s in der Regel neben Hofkanzler<br />
Sartory von Rabenstein, Pfalzrat von Seylern und Lehenvogt Ehrat der<br />
Fiskal Zollikofer und der Ratssekretär Gross anwesend. Den ersten beiden Einvernahmen<br />
<strong>Egger</strong>s wohnte auch der äbtische Leibarzt Rogg bei. Am Verfahren<br />
wirkte zudem Hofweibel Johannes Ackermann mit.<br />
Fiskal Zollikofer war bei sämtlichen Einvernahmen <strong>Egger</strong>s zu<strong>gegen</strong>. Ein Fiskal<br />
amtete oftmals als öffentlicher Ankläger, der nicht mehr die Interessen eines<br />
privaten Klägers vertrat. 311 Der Fiskal sollte gemäss dem Konzept zur Pfalzratsordnung<br />
1733 «embsig» darauf achten, dass «in unserm land guete policey, und<br />
ordnung gehalten, das guet gepflanzt, und das böse verhüethet, und abgestrafft<br />
werde», wozu er dem Pfalzrat jederzeit beiwohnen sollte. 312 Er sollte Landsatzung,<br />
Landmandat und Ordnungen fleissig lesen und «allenthalben genuegsamme<br />
aufsicht, und kundtschafften bestellen, damit die übertretter derselbigen<br />
zeitlich entdeckt, selbige an behörde zur verantwortung vorgestellt, und zur genüege<br />
verhört» würden. 313 Die Pfalzratsordnung hielt fest, der Fiskal sei gemäss<br />
seiner Bestallung verpflichtet, alle eingehenden Strafen und Bussen dem Abt<br />
und dem Statthalter getreulich zu verrechnen. Explizit wurde erwähnt, er sei<br />
nicht befugt, jemandem eine Strafe zu erlassen. 314 Der Fiskal war dem Pfalzrat<br />
zwar zugeordnet, amtete aber offenbar nicht als entscheidungsbefugter Teil des-<br />
310<br />
311<br />
312<br />
313<br />
314<br />
HOLLENSTEIN LORENZ, Oberbeamte [2005], S. 77 f; StiASG, Rep. 14a, Beamtenverzeichnis,<br />
Rubr. «Lehenvogt», S. 75.<br />
Auch Schultheiss, vgl. RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 53 Rz. 104; HÄRTER [2000],<br />
S. 463.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 71.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 72.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 73 f.<br />
67
Strafverfahren<br />
selben. So war Zollikofer bei der Beratung des Pfalzrats vom 3. März 1775<br />
nicht zu<strong>gegen</strong>.<br />
Das Verhörprotokoll <strong>Egger</strong>s sowie die meisten übrigen Aktenstücke wurden<br />
vom Ratssekretär Gross verfasst. <strong>Joseph</strong> Anton Gross von Tablat war erst fürstlich<br />
st. gallischer Kammerdiener gewesen, 1763 wurde er Ratssekretär. Ab 1777<br />
nahm er das Amt des Obervogts zu Ravensburg ein. 315 Der Ratssekretär hatte<br />
nach dem Konzept zur Pfalzratsordnung alle Schriften und Akten zu registrieren,<br />
in Ordnung und unter Verschluss zu halten. Er sollte bei allen gerichtlichen<br />
Handlungen und Justizgeschäften anwesend sein, musste die Namen aller jeweils<br />
anwesenden Pfalzräte im Protokoll vermerken, hatte alles 316 im Protokoll<br />
festzuhalten, wobei er nichts weglassen und nichts hinzufügen sollte. Er sollte<br />
dem Reichen wie dem Armen ein gleicher Schreiber sein. Weiter hatte er verschwiegen<br />
zu sein über alles, was er im Rat erfahren sollte. 317 In höheren und<br />
minderen Strafsachen sollte der Sekretär «weder extract, recess, noch urthel<br />
brieff hin<strong>aus</strong> geben, es wäre den sach, dass solches vor pfalzrath erkennt, und<br />
auf geziemendes ainhalten, und anfragen erlaubt wurde». 318<br />
Dr. Gerold Bernhard Rogg stammte <strong>aus</strong> Frauenfeld und amtete als äbtischer<br />
Leibarzt und Hofrat. Zum Leibarzt berufen wurde er 1760 unter Abt Cölestin.<br />
Bereits 1771 hatte das Pfalzgericht seinen Rat in zwei Streitfällen zwischen Chirurgen<br />
und enttäuschten Patienten in Anspruch genommen. 319 1789 musste Rogg<br />
sein Amt als Leibarzt wegen Krankheit aufgeben, zwei Jahre später starb er. 320<br />
Im Fall <strong>Egger</strong> war er als Sachverständiger zwar teilweise auch bei den Einvernahmen<br />
<strong>Egger</strong>s anwesend, von der Beratung der Pfalzräte am 3. März 1775 war<br />
er jedoch <strong>aus</strong>geschlossen.<br />
315<br />
316<br />
317<br />
318<br />
319<br />
320<br />
Historisch-biographisches Lexikon, Bd. 3 [1926], S. 757.<br />
In der Ordnung aufgezählt sind «klag, antwort, red, und widerred, schlüss, und recht säz,<br />
sambt denen augenscheinen kundtschafften, bericht, und rathschlägen, beschaidt, erkantnussen,<br />
und urthlen», StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 75. Zu den Anforderungen<br />
an die Protokollierung vgl. etwa KLEINSCHROD, Richter [1798], Bd. 1, St. 2, § 32, S. 106<br />
ff.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 76 f.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 82.<br />
STAERKLE, Leibärzte [1968], S. 101; StiASG, Rep. 14a, Beamtenverzeichnis, Rubr. «Medici»,<br />
S. 162 ff.<br />
STAERKLE, Leibärzte [1968], S. 101, 103.<br />
68
Strafverfahren<br />
Im Rahmen seines Amts befasste sich Hofweibel Ackermann eingehend mit<br />
dem Fall <strong>Egger</strong>. Ein Weibel nahm mannigfaltige Aufgaben in Verwaltung und<br />
Gerichtswesen wahr. So war er u.a. Gerichtsdiener (auch Frondiener, Büttel),<br />
der die Parteien vorlud und Termine und Urteile verkündete. Er trat beim Malefizgericht<br />
als Kläger auf und amtete als Gefangenenwärter. Allgemeine Ordnungs-<br />
und Polizeifunktionen des Weibels bestanden etwa in der Fahndung<br />
nach Delinquenten, der Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie<br />
im Einziehen der Steuern. 321 Gemäss der Pfalzratsordnung 1733 sollte der<br />
Hofweibel ein «glaubhaffter, frommer, redlicher» Mann sein. Er sollte Vorladungen,<br />
Bescheide, Befehle und weiteres je nach den Umständen schriftlich<br />
oder mündlich verkünden, wobei er dazu auch «ehrbare leüth», nicht aber «weiber<br />
oder kinder» beiziehen durfte. 322 Der Weibel und sein Knecht sollten an den<br />
Orten, an denen sie «gebott <strong>aus</strong>richten, schazungen, pfand, und executiones<br />
vornehmen, sich der gebühr, und gueter bescheidenheit gebrauchen, und niemandt<br />
mit wortten, oder wercken beschwären, oder beleydigen». 323<br />
In den Akten des Stiftsarchivs findet sich eine etwa <strong>aus</strong> dem Jahr 1750 stammende<br />
«bestallung eines ambtsdieners des Gottsh<strong>aus</strong> St. Gallen». 324 Sie regelt<br />
detailliert die Aufgaben des Amtsdieners. Es ist davon <strong>aus</strong>zugehen, dass der<br />
Amtsdiener identisch ist mit dem in der Pfalzratsordnung erwähnten Hofweibel.<br />
Der Amtsdiener hatte im Amtsh<strong>aus</strong> zu St. Fiden zu wohnen und durfte <strong>aus</strong>ser zu<br />
Amtsgeschäften «ohne der obrigkeit oder eines herrn fiskal vorwüssen nirgendeshin<br />
verreisen». 325 Er hatte die Verdächtigen zu verhaften und die Gefangenschaft<br />
zu überwachen. Gaben und Geschenke durfte er «bey höchster ohngnad<br />
nid annemmen», sondern musste alles offenbaren und anzeigen, «was zur vollführung<br />
der justiz, und erhaltung obrigkeitlicher authorität, und rechten gereichen<br />
mag». 326 In der Bestallung sind die Kosten, die der Amtsdiener für seine<br />
321<br />
322<br />
323<br />
324<br />
325<br />
326<br />
HOLENSTEIN ANDRÉ, Weibel, e-HLS [2005]; KONRAD/HERIBERT [2004], S. 1717.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 112 f.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 116 f. Vgl. auch MÜLLER, Offnungen [1964], S.<br />
75; STAUB [1988], S. 72; MOSER-NEF, Bd. 7 [1955], S. 159.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 1.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 1, Ziff. 1. Weder rauhes<br />
Wetter noch die finstere Nacht noch sonst etwas, «<strong>aus</strong>sert Gottes gewalt und ehehafte<br />
not» sollten ihn von seiner Verantwortung entlasten; S. 1, Ziff. 2.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 5, Ziff. 12.<br />
69
Strafverfahren<br />
Arbeit in Rechnung stellen durfte, detailliert nach Tätigkeitsbereich aufgelistet.<br />
327<br />
4.3 Untersuchungshandlungen und erste Einvernahme <strong>Egger</strong>s<br />
4.3.1 Zeugen<strong>aus</strong>sage der Näherin Elisabeth Schafh<strong>aus</strong>er<br />
am 13. Februar 1775<br />
Die Näherin Elisabeth Schafh<strong>aus</strong>er machte am Montag, 13. Februar, eine Anzeige,<br />
die kurz und etwas wirr protokolliert wurde. Sie sei am Samstag zuvor,<br />
also am 11. Februar 1775, bei einem Johannes Bersinger Ziegler in Wittenbach<br />
am Nähen gewesen, als abends um halb fünf Uhr der Knecht der Tobel-Mühle,<br />
<strong>Joseph</strong>, angekommen sei und berichtet habe, er sei mit dem Pferd durch den<br />
Wald gefahren, 328 als er es «ohngemein» r<strong>aus</strong>chen gehört habe. Der Knecht habe<br />
sich nicht getraut nachzuschauen, «was daselbst wäre», da es schon fast Nacht<br />
gewesen sei und ihn «ein gr<strong>aus</strong>en» überkommen habe. 329 Die Näherin fügte an,<br />
der Knecht werde mehr sagen können.<br />
4.3.2 Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> Bensegger und Bestätigung von<br />
Johannes Kunz am 14. Februar 1775<br />
Die Aussage von <strong>Egger</strong>s Schwager <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> Bensegger, der am Dienstag,<br />
14. Februar 1775, also am Tag der Gefangennahme <strong>Egger</strong>s, «auf obrigkeitliches<br />
fürfordern» hin zur Zeugen<strong>aus</strong>sage auf der Pfalz erschien, wurde bereits in<br />
Kap. 3.4.3 wiedergegeben. Bensegger berief sich nach Ende seiner Schilderung<br />
der Begegnung mit <strong>Egger</strong> am Abend des 13. Februar 1775 auf <strong>Egger</strong>s Stiefvater<br />
Johannes Kunz, der dem Gespräch ebenfalls beigewohnt hatte. Nachdem die<br />
Angaben von Bensegger protokolliert worden waren, bestätigte Kunz diese nach<br />
abgelegtem Handgelübde. 330<br />
327<br />
328<br />
329<br />
330<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 6 f.<br />
Gemeint ist wohl ein Pferdewagen.<br />
Dok. 5, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Elisabeth Schafh<strong>aus</strong>er.<br />
Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Bensegger, S. 5.<br />
70
Strafverfahren<br />
4.3.3 Bergung der Leiche <strong>aus</strong> dem Galgentobel am 14. Februar 1775<br />
Das Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s enthält zu Beginn eine kurze Schilderung des<br />
Sachverhalts, soweit er dem Gericht bis vor dem ersten Verhör <strong>Egger</strong>s nach dessen<br />
Festnahme bekannt war. Nachdem <strong>Joseph</strong> Bensegger in der Befragung mitgeteilt<br />
hatte, sein Schwager habe die Leiche von Catharina Himmelberger im<br />
Galgentobel in die Stauden geworfen, machten sich Fiskal Zollikofer, Leibarzt<br />
Rogg und Chirurg Wolff am Dienstag, 14. Februar 1775, dem Morgen nach der<br />
Festnahme <strong>Egger</strong>s, auf, die Leiche zu bergen. Sie fanden in der Nähe des Leichnams<br />
von Catharina zwei weitere in ein Leintuch gewickelte Leichen, die sie<br />
begutachteten. Am Abend desselben Tages holte der Totengräber die Leichen<br />
ab und beerdigte sie bei «den ohnschuldigen kinder[n]». 331<br />
4.3.4 Berichte des Fiskals Zollikofer vom 14. und 15. Februar 1775<br />
Zusammen mit Leibarzt Rogg und Chirurg Wolff untersuchte Fiskal Zollikofer<br />
die Leiche Catharina Himmelbergers nach deren Bergung, um das «visum et<br />
repertum» 332 zu erstatten. Der Fiskal verfasste am Mittwoch, 15. Februar 1775,<br />
einen Bericht über die Besichtigung. Er beschrieb, wo und in welcher Lage man<br />
Catharina gefunden und was sie getragen hatte:<br />
«[...] die kleidung bestunde in einem guetten hemmet, rothem leib-rockh, oder leibschorzzen,<br />
rothgetrucktem kragen mit weissen strichlein (der fast am anfang des tobels gelegen)<br />
grünem muader, blauem unter- und aschenfarbigem oberrockh, der auch etwa 4 schritt von<br />
ihro entfehrnet gelegen, die strümpf waren roth, die schuhe aber mit gelb-kleinen schnallen<br />
eingethan». 333<br />
Der Fiskal berichtete auch über Wunden an Kopf und Genick. Wie diese beschaffen<br />
seien, würden jedoch Rogg und Wolff mitteilen. In einem weiteren<br />
Bericht, den der Fiskal offenbar bereits am Dienstag, 14. Februar 1775, verfasst<br />
331<br />
332<br />
333<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 2, Ziff. 2. Die Leichen wurden wohl in einem<br />
Teil des Friedhofs beerdigt, in dem die Erde ungeweiht war. Dort wurden auch ungetauft<br />
gestorbene Kinder, andere «Nichtchristen» und Selbstmörder bestattet; siehe auch KNOTT<br />
[2006], S. 58 ff.; HAUSER ALBERT, Tod [1994], S. 56.<br />
Medizinischer Befund. In der Stadt St. Gallen tauchte dieser Ausdruck offenbar erstmals<br />
1759 auf; mit Quellenangabe MOSER-NEF, Bd. 7 [1955], S. 153.<br />
Dok. 8, Amtsbericht von Fiskal Zollikofer, S. 2.<br />
71
Strafverfahren<br />
hatte, hielt er fest, dass man «circa 19 schritt» unterhalb von Catharinas Körper<br />
ein Bündel erblickt und untersucht habe. Darin habe man zwei weitere tote Körper<br />
gefunden, wobei einer keinen Kopf mehr gehabt habe. Man habe diesen<br />
Fund «[...] dann der obrigkeit pflichtmässig anzuzeigen für nöthig erachtet, umb<br />
von selbiger weitere befehle zu<strong>gegen</strong>wärthigen [...]» 334 . Diese habe zur Erstellung<br />
eines visum et repertum angehalten, das noch am selben Tag durch Rogg,<br />
Wolff und Zollikofer vorgenommen worden sei. Die toten Körper seien weiblich<br />
gewesen. Der eine Körper sei «unzerrissen» gewesen, habe jedoch keine<br />
Eingeweide mehr gehabt und sei stattdessen mit Laub von Birn- und Kirschbäumen<br />
gefüllt gewesen. Vom anderen seien nur der untere Leib, eine Hand<br />
sowie die Haut vorhanden gewesen. 335 Nach Vornahme des zweiten visum et<br />
repertum wurden die Leichen vom Totengräber abgeholt und beerdigt. 336<br />
4.3.5 Das «visum et repertum» von Leibarzt Rogg vom 15. Februar 1775<br />
Der Leibarzt Rogg gab seine Beobachtungen bei der Untersuchung der Leiche<br />
von Catharina Himmelberger vom Dienstag, 14. Februar 1775, nicht zu Protokoll,<br />
sondern verfasste tags darauf selbst ein Gutachten. Er beschrieb, in welcher<br />
Stellung die Leiche im Galgentobel gelegen habe, als er eingetroffen sei. Da die<br />
«schlimme laag des orths nicht gestattete nächeres und gründlicheres visum et<br />
repertum vorzunemmen», habe man den Körper ins H<strong>aus</strong> von <strong>Joseph</strong> Himmelberger<br />
an der Langgass gebracht. 337 Ihm, Rogg, sei <strong>aus</strong>drücklich aufgetragen<br />
worden zu untersuchen, ob eine oder mehrere Wunden am Körper zu finden<br />
seien und ob diese an und für sich selbst tödlich oder «aber nur zu fälliger weis<br />
tödtlich geworden seyn möchten». 338 Er habe vom Chirurgen Wolff, der ihm von<br />
der Obrigkeit zur Seite gestellt worden sei, und dessen Sohn den Leichnam entkleiden<br />
lassen und die Brust und den vorderen Leib visitiert, aber kein Merkmal<br />
<strong>aus</strong>geübter Gewalt bemerkt. Dann habe er den Körper von hinten untersuchen<br />
lassen. Dort habe er gesehen, dass durch einen fürchterlich gewaltsamen Streich<br />
334<br />
335<br />
336<br />
337<br />
338<br />
Dok. 8, Amtsbericht von Fiskal Zollikofer, S. 3.<br />
Dok. 8, Amtsbericht von Fiskal Zollikofer, S. 4 f.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 2.<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 1.<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 1 f.<br />
72
Strafverfahren<br />
die Wirbelsäule beim fünften und sechsten Halswirbel völlig entzwei geschlagen<br />
worden sei, «so dass der kopf vor- und hinterwerths gewacklet». 339 Der Arzt<br />
untermalte diese Beschreibung mit einer Skizze. Jene Verletzung allein könne<br />
als für jedermann tödlich erachtet werden. Von dieser Wunde zum «os occipity»<br />
340 , wo sich dieser unterhalb mit dem «os petroso» 341 und oberhalb mit dem<br />
Oberhauptbein vereinige, bemerkte Rogg eine «starcke quantitet <strong>aus</strong>getrettenen<br />
und gestockten gebluots unter der haut». 342<br />
Rogg berichtete von weiteren Wunden, einer oberhalb des linken Ohrs, einer<br />
beim Hauptwirbel und einer mittleren, bei der man nach Abschälen der Haut<br />
und Abwaschen der Stelle den eingedrückten Hirnschädel habe erkennen können.<br />
343 Auch dies skizzierte der Arzt. Ob jene Wunden von wiederholter Gewalttätigkeit<br />
her stammten oder beim Hinunterrollen in die Stauden des Tobels entstanden<br />
seien, lasse sich eigentlich nicht bestimmen. Sicher sei jedoch, dass die<br />
drei Wunden am Kopf nicht vom aufs Genick geführten, für sich allein tödlichen<br />
Streich herrühren könnten, da die Entfernung zu gross sei. 344 Das Gutachten<br />
des Arztes hält das Beobachtete <strong>aus</strong>führlich unter Benennung der verschiedenen<br />
Knochen mit den lateinischen Fachbegriffen fest.<br />
4.3.6 Stellungnahme des Chirurgen Wolff vom 15. Februar 1775<br />
Auch der Chirurg Wolff, der als Hofbarbier amtete, verfasste am Mittwoch,<br />
15. Februar 1775, einen kurzen Bericht über die zusammen mit Rogg durchgeführte<br />
Untersuchung der Leiche. Die Sektion habe gezeigt, dass das Hinterhaupt<br />
der Untersuchten lädiert, eingeschlagen, gespalten und zersplittert worden sei.<br />
Auch sei sie am Genick verwundet gewesen. Auf dieses «töttliche, und gewalt-<br />
339<br />
340<br />
341<br />
342<br />
343<br />
344<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 2.<br />
Der Os occipitale (Hinterhauptbein) ist Bestandteil der hinteren Schädelgrube und des<br />
Schädeldachs am Hinterhaupt, PSCHYREMBEL [2004], S. 1327.<br />
Der Os petroso (Felsenbein) ist Teil des Schläfenbeins und bildet die knöcherne Hülle für<br />
das Innenohr, PSCHYREMBEL [2004], S. 558.<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 2.<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 2 f.<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 3.<br />
73
Strafverfahren<br />
same verfahren» könne nichts anderes folgen «als der schmertz, und bittere tott<br />
selbst». Dies attestierten die Hofbarbiere Vater und Sohn. 345<br />
4.3.7 Erste Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 15. Februar 1775<br />
Die erste Einvernahme <strong>Egger</strong>s erfolgte einen Tag nach seiner Festnahme am<br />
Mittwoch, 15. Februar 1775, in St. Fiden. Gleich zu Beginn des Verhörs gab er<br />
an, es «seye ihm leyd, dass er das ding gethan habe». 346 Er gestand sogleich, der<br />
Catharina Himmelberger mit einer Mistgabel einen «streich in das knick gegeben»<br />
347 zu haben. In seinem Schrecken habe er nicht gewusst, was er mit ihr machen<br />
sollte. So habe er sie in den hinteren Teil des Stalls gelegt. Dort sei sie von<br />
Montag, 6. Februar, bis Freitag, 10. Februar, gelegen. Am Freitag habe er sie<br />
um vier Uhr morgens «auf die achsel genohmen», in den Tiergarten getragen<br />
und sie ins Tobel hinunter geworfen. 348 Das Gericht befragte <strong>Egger</strong> daraufhin<br />
detailliert, wie er den Schlag <strong>aus</strong>geführt habe. Ihm wurde sogar die Mistgabel<br />
gebracht, damit er dem Gericht den Schlag demonstriere. Auf die Frage, was für<br />
Wunden er dem Opfer beigebracht habe, antwortete er kaum. Er blieb bei seiner<br />
Aussage, mit nur einem Schlag «den kopf, wo die zöpf seyen» getroffen zu haben.<br />
349 Daraufhin wurde er mit dem Ergebnis des visum et repertum konfrontiert:<br />
Man habe eine Wunde am Genick gefunden sowie zwei weitere auf der<br />
linken Kopfseite zwischen Ohr und Genick. Die eine dieser beiden Wunden sei<br />
nicht tief gewesen, die zweite hin<strong>gegen</strong> sei «bis auf das hirn hinein gegangen».<br />
350 Trotz dieser Ausführungen hielt <strong>Egger</strong> an seiner Darstellung fest, nur<br />
einmal zugeschlagen zu haben.<br />
Zum Grund des Besuchs von Catharina Himmelberger befragt, sagte <strong>Egger</strong><br />
<strong>aus</strong>, er sei ihr noch etwas schuldig gewesen. Er verneinte die Frage, ob er sie<br />
aufgefordert habe, ihn im Dunkeln zu so früher Stunde im Stall aufzusuchen. 351<br />
345<br />
346<br />
347<br />
348<br />
349<br />
350<br />
351<br />
Dok. 10, Stellungnahme des Chirurgen und Hofbarbiers Wolff und dessen Sohns.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 1.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antworten 2 und 3.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 3.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 8.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 10.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 13.<br />
74
Strafverfahren<br />
Sie habe zuviel gefordert und mit ihm «gezancket» 352 , habe gesagt, er sei ein<br />
«spizbueb» und ein «lieger» 353 weshalb er sie mit der Mistgabel zum Stall hin<strong>aus</strong><br />
habe jagen wollen. Er wisse nicht, weshalb er zugeschlagen habe. Er sei «taub»<br />
gewesen. 354 Catharina Himmelberger habe 20 Batzen von ihm gefordert, er aber<br />
sei ihr nur noch einen Gulden schuldig gewesen. Daraufhin konfrontierte ihn<br />
das Gericht damit, dass er «anderwerths» vorgegeben habe, Catharina habe einen<br />
Gulden gefordert, während er ihr nur 30 Kreuzer geschuldet habe. 355 Am<br />
Freitag bei der ersten Befragung vor der Festnahme habe er sogar behauptet, ihr<br />
keinen Kreuzer mehr schuldig gewesen zu sein, sondern ihr alles bezahlt zu haben.<br />
Mit diesen Widersprüchen konfrontiert, sagte <strong>Egger</strong> <strong>aus</strong>,<br />
«[...] sie habe 20 bazen geforderet, und er habe anstatt des kantlichen ein gulden ihro wollen<br />
damahlen ½ gulden geben und das er der obrigkeit vorgegeben, er seye ihro gar nichts<br />
schuldig, habe er gedenckt, er wolle sich damit <strong>aus</strong>reden.» 356<br />
Daraufhin erwiderten die Verhörenden, es zeige sich also, dass er schon letzten<br />
Freitag entschlossen gewesen sei, sich auf das Leugnen zu verlegen, woraufhin<br />
<strong>Egger</strong> um Verzeihung bat. Er behauptete, sonst nie gelogen zu haben. 357<br />
Weiter wurde <strong>Egger</strong> gefragt, warum er die Tat, die ihm – wie er sage – leid tue,<br />
«niemandem angezaigt, oder gleich darüber lermen gemacht» habe. Er habe in<br />
Gottes Namen nicht gewusst, was er tue, es habe ihm aber trotzdem leid getan,<br />
antwortete der Angeschuldigte. 358 Das Verhör dieses Tages schloss mit ein paar<br />
Fragen zur Kleidung, die die Getötete angehabt hatte, und der Notiz, <strong>Egger</strong> sei<br />
«in das blockh<strong>aus</strong> wider verwahret worden». 359<br />
<strong>Egger</strong> hatte sich also nach anfänglich widersprüchlichen Angaben darauf<br />
festgelegt, der Catharina Himmelberger einen Gulden geschuldet zu haben, was<br />
15 Batzen oder 60 Kreuzern entspricht. Weiter sagte er <strong>aus</strong>, seine Gläubigerin<br />
habe 20 Batzen von ihm gefordert. Der Streit zwischen den beiden brach offen-<br />
352<br />
353<br />
354<br />
355<br />
356<br />
357<br />
358<br />
359<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 14.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 16.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 17.<br />
Wann und wo <strong>Egger</strong> sich dahingehend geäussert haben soll, verschweigen die Akten.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 19.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 20.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 21.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 13.<br />
75
Strafverfahren<br />
bar wegen eines Betrags von lediglich fünf Batzen bzw. 20 Kreuzern <strong>aus</strong>. Dies<br />
entsprach grob geschätzt dem Einkommen eines unqualifizierten Tagelöhners. 360<br />
4.4 Weitere Untersuchungshandlungen und zweite<br />
Einvernahme <strong>Egger</strong>s<br />
4.4.1 Anzeige des Strumpfwebers Pankraz Rietmann<br />
am 16. Februar 1775<br />
Am Donnerstag, 16. Februar 1775, zwei Tage nach der Verhaftung <strong>Egger</strong>s, erstattete<br />
ein gewisser Pankraz Rietmann 361 auf der Pfalz Anzeige. Er war Bürger<br />
der Stadt St. Gallen und von Beruf Strumpfweber. Er gab zu Protokoll, dass sein<br />
Bruder Hansulrich Rietmann vor eindreiviertel Jahren an einem Samstag im<br />
Frühling während des Jahrmarktes die Stadt abends verlassen habe. Seither habe<br />
man nichts mehr von ihm gehört. <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> hatte offenbar auf seinem Hof<br />
Most <strong>aus</strong>geschenkt. Da Hansulrich Rietmann auf dem Land in einem abgelegenen<br />
Mosth<strong>aus</strong> bisweilen gerne ein Glas Most getrunken habe, äusserte Pankraz<br />
Rietmann nun die «muethmassung», sein Bruder könnte zu <strong>Egger</strong> auf den Hof<br />
gegangen und «allda ohnglückhlich geworden seyn». 362<br />
4.4.2 H<strong>aus</strong>durchsuchung am 16. Februar 1775<br />
Vor Beginn der erneuten Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 17. Februar 1775 wurde im<br />
Protokoll festgehalten, Hofweibel Ackermann sei nach dem Verhör vom 15. Februar<br />
1775 beauftragt worden, das H<strong>aus</strong> <strong>Egger</strong>s und den Stall samt Miststöcken<br />
genau zu durchsuchen, was er am 16. Februar getan habe. Im Stall fand Ackermann<br />
eine Schürze und ein mit Blut besprengtes Halstuch. Seit dem Fund des<br />
Bündels mit den zwei noch unbekannten Leichen in der Nähe der Leiche von<br />
Catharina Himmelberger hatte sich der Verdacht «gemehret», einige von Catha-<br />
360<br />
361<br />
362<br />
Ein Pfund Brot kostete im 17. Jahrhundert im Durchschnitt etwa drei Kreuzer; BAUMANN<br />
MAX [2003], S. 135.<br />
Geb. 1706, gest. 1775, Weber, Fähnrich, Hauptmann; ALTHER [2004], S. 103, 107.<br />
Dok. 11, Anzeige von Pankraz Rietmann.<br />
76
Strafverfahren<br />
rinas Kleidern, insbesondere die «ermelschluten», könnten sich im Bündel mit<br />
den beiden Leichen befunden haben. 363 So beschloss man, nicht nur Catharinas<br />
Bruder nach ihren Kleidern und «ermelschluten» zu befragen, sondern befahl<br />
zudem dem Totengräber, die beiden bereits wieder beerdigten fremden toten<br />
Körper samt Kleidern und den ominösen «ermelschuten» in der Nacht vom 16.<br />
auf den 17. Februar 1775 erneut <strong>aus</strong>zugraben und die Kleider dem Gericht zu<br />
bringen. Dies geschah, worauf die Kleider Jacob Himmelberger gezeigt wurden.<br />
364<br />
4.4.3 Aussage von Jacob Himmelberger am 17. Februar 1775 und dessen<br />
förmliche Zeugeneinvernahme am 18. Februar 1775<br />
Am Samstag, 18. Februar 1775, wurde Catharinas Bruder Jacob Himmelberger,<br />
Schuster in Rotmonten, als Zeuge vorgeladen. Diese Einvernahme fand in<br />
St. Fiden im Wirtsh<strong>aus</strong> statt und nicht auf der Pfalz. Bei ihrem Bruder Jacob<br />
Himmelberger hatte Catharina in den anderthalb Jahren bis zum Umzug an die<br />
Langgasse zu Zunftmeister Ziegler gewohnt. Deswegen vermutete das Gericht,<br />
er werde ihre Kleider kennen. Er gab denn auch zu Protokoll, die «ermelschlutten»,<br />
die er tags zuvor, am 17. Februar 1775 vormittags, beim Totengräber gesehen<br />
habe, klar als diejenigen seiner Schwester zu erkennen. 365 Dasselbe galt<br />
für ein Hemd und eine blaue Schürze, die ihm ebenfalls am Vortag im Wirtsh<strong>aus</strong><br />
gezeigt worden waren. Die Schürze habe sich Cathrina in der Stadt St. Gallen<br />
extra färben lassen. Auch Jacobs Tochter Maria Anna, die am Vortag bei der<br />
Besichtigung der Kleider zu<strong>gegen</strong> gewesen war, hatte die «ermelschlutten» offenbar<br />
sogleich erkannt. 366 Am Ende der Befragung beteuerte Jacob Himmelberger,<br />
er wäre bereits am Vortag vor der Obrigkeit erschienen, wenn nicht der<br />
Herr Fiskal ihm gesagt hätte, er solle nachh<strong>aus</strong>e gehen. 367<br />
Da das Gericht bei der zweiten Befragung <strong>Egger</strong>s am 17. Februar 1775 bereits<br />
darüber informiert war, dass der Bruder die Kleidung hatte identifizieren<br />
363<br />
364<br />
365<br />
366<br />
367<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 14 f.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokolle <strong>Egger</strong>s, S. 15.<br />
Dok. 12, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Jacob Himmelberger, S. 1.<br />
Dok. 12, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Jacob Himmelberger, S. 1 f.<br />
Dok. 12, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Jacob Himmelberger, S. 3.<br />
77
Strafverfahren<br />
können, wurde bei einer entsprechenden Notiz im Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s<br />
wahrscheinlich auf die informellen Äusserungen Jacob Himmelbergers am<br />
Vormittag des 17. Februar 1775 abgestellt, die er wohl im Wirtsh<strong>aus</strong> auf Vorzeigen<br />
der Kleider <strong>gegen</strong>über Fiskal Zollikofer gemacht hatte. Die vereidigte<br />
Zeugeneinvernahme erfolgte jedoch gemäss Protokoll erst am 18. Februar 1775.<br />
4.4.4 Zweite Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 17. Februar 1775<br />
Nach Wiedergabe der erwähnten Untersuchungshandlungen und Hinweis auf<br />
die Aussagen von Jacob Himmelberger im Protokoll wurde das Verhör <strong>Egger</strong>s<br />
am Freitag, 17. Februar 1775, wieder aufgenommen. Einleitend wurde der Verdächtige<br />
gefragt, ob er auf seinen Ausführungen in der ersten Befragung beharre<br />
oder ob er etwas abzuändern habe. <strong>Egger</strong> fiel daraufhin auf die Knie und beteuerte,<br />
es tue ihm leid, der Catharina einen «streich» gegeben zu haben. «Er wüsse<br />
nicht anderes, und beharre darauf.» 368 Auch nach nochmaliger Frage blieb er bei<br />
seiner Aussage, dass er der Catharina nur einen Streich versetzt habe «[...] auf<br />
das orth, wo die zöpf seyen, [...] und das sie sogleich umbgefallen, und<br />
m<strong>aus</strong>todt gewesen» sei. 369 Daraufhin konfrontierten ihn die Befragenden damit,<br />
man habe bei einer zweiten Visitation festgestellt, dass am Kopf drei Wunden<br />
und auf dem Nacken eine weitere Wunde seien. Diese könnten gemäss den Aussagen<br />
der beigezogenen erfahrenen Ärzte und Barbiere unmöglich von einem<br />
einzigen Streich stammen. 370 <strong>Egger</strong> beharrte weiter auf seiner Darstellung. Die<br />
Untersuchenden wurde deswegen noch deutlicher und führten <strong>aus</strong>, die eine<br />
Wunde gehe auf dem Nacken grad über den Hals, als ob man dem Opfer den<br />
Kopf hätte abschlagen wollen, während die drei Wunden auf dem Kopf zu weit<br />
entfernt seien, um vom gleichen Schlag her zu rühren. 371 Als <strong>Egger</strong> noch immer<br />
beteuerte «in Gottes namen nur einen einzigen straich gefüehret, und sonsten<br />
seiner lebtag nichts dergleichen getan» 372 zu haben, merkte die Obrigkeit an,<br />
368<br />
369<br />
370<br />
371<br />
372<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 26.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 28.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 29.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 30.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 30.<br />
78
Strafverfahren<br />
«mann sage ihme rund her<strong>aus</strong>, er lüege ohnverschambt» 373 , liess die Sache dann<br />
aber vorerst auf sich beruhen.<br />
Weitere Fragen betrafen die Kleidung Catharinas. Zudem fragte man <strong>Egger</strong>,<br />
weshalb er sein Opfer nach der Tat so lange unbedeckt im Stall liegen gelassen<br />
habe; ob er nicht befürchtet habe, jemand könne es bemerken. Dies verneinte<br />
<strong>Egger</strong>. Catharina sei zuhinterst im Stall gelegen hinter einer Tür, die das ganze<br />
Jahr geschlossen sei. 374 Weitere Fragen drehten sich um die Fortschaffung der<br />
Leiche sowie das allfällige Vorhandensein von Eingeweihten oder Gehilfen.<br />
<strong>Egger</strong> sagte <strong>aus</strong>, niemand habe etwas gewusst oder ihm geholfen. 375 Schliesslich<br />
wurde er wieder abgeführt.<br />
Post prandium 376 ging die Einvernahme weiter. Wieder wurde <strong>Egger</strong> ergebnislos<br />
nach Ergänzungen zu den bereits gemachten Äusserungen gefragt. Erneut<br />
wollte man wissen, «was ihn bewogen, solche [gr<strong>aus</strong>ame that] zu begehen».<br />
<strong>Egger</strong> wusste keine andere Antwort, als dass er es «halt im zorn gethan» habe. 377<br />
Wenn es ihm tatsächlich leid tue, wie er sage, so hätte er die Tat doch jemandem<br />
angezeigt, das Opfer nicht so lange im Stall liegen lassen und es schliesslich<br />
nicht auf seinen Schultern fort getragen, mutmasste die Obrigkeit. Darauf<br />
wusste <strong>Egger</strong> nichts zu antworten.<br />
Schliesslich fragte man ihn, ob er <strong>aus</strong>ser dem Opfer sonst noch etwas an jenen<br />
Ort im Tobel getragen habe. Dies verneinte er «in instanti». Er sei sonst nie<br />
an diesem Ort gewesen und habe seiner Lebtag auch niemandem Leid zugefügt.<br />
378 Erneut wurde er ermahnt, er «solle sich wohl bedenckhen, was er rede,<br />
die obrigkeit könnte mehr wüssen, als er sich einbildet». 379 Als <strong>Egger</strong> dazu noch<br />
immer nichts gestehen wollte, fragte man ihn nach Catharinas «ermelschluten».<br />
Die müsse er wohl auf dem Weg verloren und jemand anderes sie gefunden haben,<br />
war <strong>Egger</strong>s Antwort. 380 Der Befragende beschrieb schliesslich die «er-<br />
373<br />
374<br />
375<br />
376<br />
377<br />
378<br />
379<br />
380<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 31.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 41.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Fragen und Antworten 48 und 49.<br />
Prandium: lat. für «zweites Frühstück».<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 54.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 60.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 61.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 62.<br />
79
Strafverfahren<br />
melschluten» und fragte <strong>Egger</strong>, ob ihm «das herz noch nicht schlotere». <strong>Egger</strong><br />
verneinte. 381 Schliesslich zeigte man ihm die «ermelschluten» und fragte ihn,<br />
was er dazu sage. Darauf stellte <strong>Egger</strong> die Gegenfrage, «in was er dann gelogen».<br />
382 Das wolle man ihm sagen: darin, dass er vorgebe, nicht zu wissen, wohin<br />
er die «ermelschluten» getan habe. So ging es noch einige Male hin und her;<br />
<strong>Egger</strong> stellte sich weiter unwissend. Offenbar setzte ihm das Verhör aber zu,<br />
äusserte er doch plötzlich, er wisse wohl, dass die Wahrheit ihm zu Heil- und<br />
Seligkeit verhelfe 383 und jammerte schliesslich:<br />
«Ach: sterben seye schwehr, schwehr; wolte gern alles, was er hätte, der obrigkeit überlassen,<br />
und dem allmosen nach, oder auf die gallery gehen, auch 4 finger sich abhauen lassen,<br />
wann er nur nicht sterben müsste [...].» 384<br />
Auf diese Äusserung hin wurde ihm gesagt, Gott habe für uns auch den Tod<br />
gelitten, er solle Mut und Herz fassen und alles reumütig bekennen. So gestand<br />
<strong>Egger</strong> schliesslich, bei den «ermelschluten» werde noch ein Mensch gewesen<br />
sein und korrigierte sogleich: Es seien zwei Menschen gewesen. 385 Unter erneuter<br />
Ermahnung zur Wahrheit gab <strong>Egger</strong> an, einer der toten Menschen komme<br />
vom Kirchhof zu St. Fiden, der andere sei unter dem Galgen auf dem Espen gewesen.<br />
Der Befrager antwortete «solches seye durch<strong>aus</strong> nicht glaubwürdig, solle<br />
die obrigkeit nicht affen». 386 <strong>Egger</strong> erwiderte, man solle den Totengräber an den<br />
angegebenen Stellen graben lassen und werde feststellen, dass es wahr sei. Bei<br />
den Toten handle es sich um «weibs persohnen». 387 Die eine Tote habe er am<br />
Donnerstag nach der letzten Weihnacht <strong>aus</strong>gegraben, die andere gleich nach<br />
deren Enthauptung. Er wisse nicht, wie die Frau geheissen habe, die er auf dem<br />
Friedhof <strong>aus</strong>gegraben habe, meine aber, sie sei <strong>aus</strong> Guggeien und zwischen 30<br />
und 40 Jahre alt gewesen. Er habe sie abends um sieben Uhr mit einer mitgebrachten<br />
Schaufel <strong>aus</strong>gegraben und auf den Schultern nachh<strong>aus</strong>e getragen. 388<br />
Die andere Tote sei jene gewesen, die vor zwei Jahren hingerichtet worden<br />
381<br />
382<br />
383<br />
384<br />
385<br />
386<br />
387<br />
388<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 64.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 68.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 72.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 73.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 74.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antworten 75, 76, Frage 77.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antworten 77, 78.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antworten 79, 80.<br />
80
Strafverfahren<br />
sei. 389 Nach dem Motiv für diese Taten gefragt, antwortete <strong>Egger</strong>, er wisse es<br />
nicht, es sei ihm gewesen, als ob er dazu gezwungen worden sei. Die Enthauptete<br />
habe er fünf oder sechs Tage nach der Hinrichtung zuerst in seinen Stall gebracht,<br />
dann ins Tobel getragen und ihr mit einem Messer Hände und Füsse abgeschnitten<br />
und diese mit nachh<strong>aus</strong>e genommen. Die Frau vom Kirchhof habe<br />
er seit Weihnachten zuhinterst im Stall gehabt. Mit diesem zweiten Körper habe<br />
er gar nichts gemacht, er habe in den Weihnachtsfeiertagen weder Rast noch<br />
Ruhe gehabt, sei gezwungen gewesen, ihn <strong>aus</strong>zugraben. 390 Er habe die Leiche<br />
dann am vorletzten Donnerstag, also wenige Tage nach dem Totschlag der Catharina<br />
Himmelberger, hin<strong>aus</strong>getragen weil er gefürchtet habe, man würde den<br />
Stall durchsuchen. 391<br />
4.5 Weitere Untersuchungshandlungen und dritte<br />
Einvernahme <strong>Egger</strong>s<br />
4.5.1 Öffnung des Grabs von Maria Baumann am 18. Februar 1775<br />
Auf dieses Geständnis hin befahl man dem Totengräber und dem Hatschier <strong>Joseph</strong><br />
Hofstetter, das von <strong>Egger</strong> beschriebene Grab auf dem Kirchhof zu öffnen<br />
und zu besichtigen. Der Hatschier berichtete am Samstag, 18. Februar 1775,<br />
post prandium auf der Pfalz über das Vorgefundene. Vor der Graböffnung habe<br />
er <strong>Egger</strong> gefragt, ob er den Körper mit oder ohne den Totenbaum 392 her<strong>aus</strong>genommen<br />
habe. <strong>Egger</strong> habe geantwortet, er habe den Deckel des Totenbaums mit<br />
einem Schroteisen hochgestemmt, den Körper her<strong>aus</strong>genommen, das Eisen im<br />
Grab liegen lassen und es wieder geschlossen. 393 Daraufhin sei er, Hofstetter, mit<br />
389<br />
390<br />
391<br />
392<br />
393<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 81. Hingerichtete wurden insbesondere<br />
dann häufig in der ungeweihten Erde unter dem Galgen vergraben, wenn neben der Leibund<br />
Lebensstrafe eine Ehrenstrafe oder die Exkommunikation verhängt worden waren,<br />
ILLI [1992], S. 63.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 83.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 84.<br />
Während die Toten in der Schweiz des Spätmittelalters häufig in Leinwand eingenäht<br />
bestattet wurden, fand insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert eine deutliche Verlagerung<br />
zugunsten des Holzsargs, des Totenbaums statt, vgl. HAUSER ALBERT, Tod [1994],<br />
S. 25.<br />
Dok. 14, Amtsbericht von Hatschier Hofstetter und Zeugeneinvernahme Etters, S. 1.<br />
81
Strafverfahren<br />
dem Totengräber auf den Friedhof gegangen und habe beide Türen desselben<br />
verschlossen. Der Totengräber habe das bezeichnete Grab, das ziemlich eingefallen<br />
gewesen sei, geöffnet. Der Leichnam sei nicht darin gewesen. Nach<br />
Schliessung des Grabes habe man noch das Nachbargrab geöffnet und «deutlich<br />
wahrgenohmen, das der cörper sich ordentlich darinnen befinde, sohin dieses<br />
wider zugemacht, und jhre verrichtung vollendet». 394 Der Totengräber habe <strong>aus</strong>gesagt,<br />
die <strong>aus</strong>gegrabene Tote sei Carl Etters Frau gewesen, eine Kindbetterin,<br />
die am letzten Stephanstag begraben worden sei. 395 Nach der Vesper hielt Ratssekretär<br />
Gross noch weitere, hier nicht weiter relevante Details der Grabbesichtigung<br />
fest.<br />
4.5.2 Zurückkommen auf Zeugen<strong>aus</strong>sagen vom August 1773<br />
Nachdem <strong>Egger</strong> gestanden hatte, eine vor zwei Jahren enthauptete und unter<br />
dem Galgen begrabene Frau <strong>aus</strong>gegraben zu haben, erinnerte man sich offenbar<br />
an eine Zeugen<strong>aus</strong>sage, die anderthalb Jahre zuvor am 23. August 1773 auf der<br />
Pfalz zu Protokoll gegeben worden war. Der Sattlermeister Kaspar Wettach <strong>aus</strong><br />
der Langgass hatte damals <strong>aus</strong>gesagt, er habe etwa am 13. August 1773 im Galgentobel<br />
Weiden geschnitten, als er zwischen den Stauden einen toten weiblichen<br />
Körper bemerkt habe. Da kein Kopf dabei gewesen sei, habe er gleich gemutmasst,<br />
es handle sich um den Leichnam der enthaupteten Elisabeth Han.<br />
Beide Arme sowie die Füsse bis an die Knie seien weggehauen und fortgenommen<br />
gewesen. Er sei gleich nachh<strong>aus</strong>e gelaufen und habe einen Nachbarn mit<br />
zur Leiche genommen. Dieser habe tags darauf dem Scharfrichter Anzeige erstattet,<br />
der seinen Knecht zum Leichnam geschickt habe. 396<br />
Das Protokoll war am 25. August 1773 weitergeführt worden. Der Körper<br />
war tatsächlich jener der hingerichteten Elisabeth Han. Das Gericht hatte dem<br />
Knecht des Scharfrichters, Fideli Burckhard, befohlen, die Leiche wieder unter<br />
dem Galgen zu vergraben. Anschliessend hatte man ihn einvernommen. Auch er<br />
394<br />
395<br />
396<br />
Dok. 14, Amtsbericht von Hatschier Hofstetter und Zeugeneinvernahme Etters, S. 3.<br />
Dok. 14, Amtsbericht von Hatschier Hofstetter und Zeugeneinvernahme Etters, S. 3.<br />
Dok. 1, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von Sattlermeister Wettach und den Knechten des Scharfrichters,<br />
S. 1 f.<br />
82
Strafverfahren<br />
hatte bestätigt, dass der Körper von Elisabeth Han weder Füsse noch Arme gehabt<br />
habe und das Fleisch bereits verwest gewesen sei. Auf Befehl des Scharfrichters<br />
habe er mit einem Nebenknecht die Überreste der Leiche abends unter<br />
dem Galgen «bey 3½ schuehe tief verlochet» 397 , wobei er festgestellt habe, dass<br />
der Kopf der Leiche noch im Loch gelegen sei. In jenem Loch befanden sich<br />
zudem zwei weitere Geköpfte. Der Knecht hatte gemutmasst, Elisabeth Han<br />
könne das Herz <strong>aus</strong> dem Körper genommen worden sein, da «spizbueben allerhand<br />
abergläubische sachen damit trieben». 398 Dies war 1773 jedoch nicht überprüft<br />
worden.<br />
Auch der Nebenknecht Franz <strong>Antoni</strong> Ritter war 1773 beeidigt zum Ganzen<br />
befragt worden. Er hatte die Angaben von Fideli Burckhard bestätigt. 399<br />
4.5.3 Exkurs: Das Schicksal der Elisabeth Han<br />
Die handschriftlichen Protokolle des Ledigen Pfalzrats <strong>aus</strong> dem Jahr 1773 offenbaren<br />
die Geschichte von Elisabeth Han, die am 26. Juni 1773 auf dem<br />
Richtplatz auf dem Espen geköpft worden war. Hofkanzler Sartory von Rabenstein,<br />
Fiskal Zollikofer und Ratssekretär Gross waren am 22. April 1773 zu Gericht<br />
gesessen, nachdem am 18. April 1773 abends im «schenckh<strong>aus</strong> zu Stockhen»<br />
Elisabeth Han, Melchior Burckard und Johann <strong>Joseph</strong> Demmer wegen eines<br />
bei Degersheim 400 verübten Diebstahls von den Hatschieren verhaftet worden<br />
waren. 401 Das <strong>aus</strong>führliche Verhör der 46-jährigen, <strong>aus</strong> Waldkirch stammenden<br />
Elisabeth Han brachte folgendes zu Tage: Bereits 23 Jahre zuvor war Elisabeth<br />
Han wegen eines begangenen Kleiderdiebstahls im Rath<strong>aus</strong> zu Rheineck<br />
«gefänglich eingesezet» und schliesslich «neben den pranger gestellet, auch mit<br />
397<br />
398<br />
399<br />
400<br />
401<br />
Dok. 1, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von Sattlermeister Wettach und den Knechten des Scharfrichters,<br />
S. 3.<br />
Dok. 1, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von Sattlermeister Wettach und den Knechten des Scharfrichters,<br />
S. 4.<br />
Dok. 1, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von Sattlermeister Wettach und den Knechten des Scharfrichters,<br />
S. 5.<br />
Im Protokoll wird der alte Ortsname Degerschen verwendet; StiASG, Bd. 1073, S. 613.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 613. Stocken ist heute ein Ortsteil im Westen der Stadt St. Gallen<br />
nahe Bruggen.<br />
83
Strafverfahren<br />
ruthen <strong>aus</strong>gehauwen» worden. 402 Kurze Zeit später wurde sie in St. Margrethen<br />
und in Lustenau wieder beim Kleiderdiebstahl ertappt. Nach der erneuten Verhaftung<br />
gestand sie, auch in Vaduz, Frastanz und Waldkirch gestohlen zu haben,<br />
weswegen sie 1751 in Hohenems nach abgeschworener Urfehde vom Scharfrichter<br />
eine Stunde lang an den Pranger gestellt und mit Ruten <strong>aus</strong>gehauen und<br />
schliesslich auf ewig <strong>aus</strong> dem Gebiet verwiesen worden sei. Das Gericht verifizierte<br />
diese Angaben durch das Einholen des Protokolls des damaligen Verfahrens.<br />
403<br />
Trotz dieser Strafen besserte sich Elisabeth Han nicht. Das Protokoll zum<br />
Verhör vom April 1773 listet auf neun Seiten weitere von ihr begangene Diebstähle<br />
auf. Sie hatte über zwei Dutzend Mal unter anderem in folgenden Orten<br />
gestohlen: Schaan, Dornbirn, Frastanz, Batschuns, Näfels, am Triesener Berg, in<br />
Triesen, Sargans, Werdenberg, Wangs, Trimmis, Wartau, Berschis, Salez, Sevelen,<br />
Buchs und Altendorf. Entwendet hatte sie häufig Kleider, etwa einen «weiber<br />
rockh, und weiber ermel» 404 , «hemmeter, und bethgewand» 405 , Hosen, dann<br />
aber auch Leintuch und Garn, Hemdsknöpfe und Hosenschnallen 406 , Tischtücher,<br />
Schuhe und «schnupftüecher» 407 und eine Kupferpfanne. 408 Immer häufiger<br />
hatte sie auch Geld gestohlen; weit über 100 Gulden gestand sie ein. Vielfach<br />
entwendete sie auch Esswaren, etwa Mehl, Salz, Schmalz und Speck sowie<br />
Zwetschgen und Kirschen. 409 Bei vielen Einbrüchen in Häuser suchte sie nach<br />
dem regelmässig in der Nähe der H<strong>aus</strong>tür versteckten Schlüssel, mehrmals<br />
drückte sie Bretter beiseite oder riss solche weg, 410 einmal habe sie «an der hinderen<br />
thür so lang gerottlet, bis der inwendig hölzerne nagel weeg gefallen»<br />
sei. 411 Nicht selten sei sie oder ihr Sohn durch irgendein Loch ins Innere des<br />
H<strong>aus</strong>es gekrochen. 412 Ihr Sohn half oftmals bei den Einbrüchen. Auch spannte<br />
402<br />
403<br />
404<br />
405<br />
406<br />
407<br />
408<br />
409<br />
410<br />
411<br />
412<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 614, Ziff. 1.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 614 f., Ziff. 2.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 615, Ziff. 3.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 616, Ziff. 8.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 621, Ziff. 23.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 622, Ziff. 25.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 622, Ziff. 26.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 617, Ziff. 10; S. 619, Ziff. 17 f.; S. 620, Ziff. 19; S. 622, Ziff. 25.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 620, Ziff. 19, 22 und 23.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 617, Ziff. 13; auch S. 620, Ziff. 21.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 618, Ziff. 16; S. 619, Ziff. 17.<br />
84
Strafverfahren<br />
sie mehrfach mit Hans Melchior zusammen und teilte nach dem gemeinsamen<br />
Einbruch mit ihm das Diebesgut. 413 Die Beute verbrauchten oder verkauften sie<br />
jeweils.<br />
Offenbar bemühte sich Elisabeth Han, 1773 <strong>aus</strong> der Gefangenschaft <strong>aus</strong>zubrechen.<br />
Sie habe mit dem Holz des Tischschragens und ihren Schuhen ein etwa<br />
zwei Schuhe hohes und einen halben Schuh breites und tiefes Loch in die Mauer<br />
gehauen, «seye aber einfältig gewesen, jndeme sie die kettenen noch an dem<br />
fues gehabt, und nicht hätte entrinnen können, gleichwohlen aber vermeinet sie<br />
könne alsdann gleich forth». 414<br />
Schliesslich wurde Elisabeth Han unter Hinweis auf die «<strong>aus</strong>weisung des<br />
Kayser Caroli des 5, und des heiligen reichs halsgerichtsordnung» wegen der<br />
vielen von ihr begangenen kleinen und grossen Diebstähle und weil die an ihr<br />
vollzogene «scharfe züchtigung» ihr keine Warnung gewesen sei, dem Scharfrichter<br />
übergeben. 415 Von diesem wurde sie über die gewöhnliche Richtstrasse<br />
auf die Richtstatt geführt und «allda durch das schwerdt von dem leben zum<br />
dodt hingerichtet [...], ihro selbst zu wohlverdienter straf, anderen aber zu einem<br />
abscheuwen und exempel». 416 Der Sohn von Elisabeth Han, Johann <strong>Joseph</strong><br />
Demmer, wurde an den Pranger gestellt 417 und mit Ruten gestrichen. Der Komplize<br />
Hans Melchior erlitt ebenfalls den Tod durch das Schwert.<br />
Die beiden Hinrichtungen fanden am 26. Juni 1773 statt. 418 Abt Beda erwähnte<br />
in seinem Tagebuch die Hinrichtungen und wies darauf hin, ein 17- oder 18-<br />
jähriger Bub sei «pardoniert, und mit ruthen <strong>aus</strong>gehauen worden» und schliesst<br />
den Eintrag mit «fiat sancta justitia!». 419<br />
413<br />
414<br />
415<br />
416<br />
417<br />
418<br />
419<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 619, Ziff. 17; S. 620, Ziff. 19 und Ziff. 23; S. 622, Ziff. 25; S. 623,<br />
Ziff. 27; S. 624, Ziff. 29.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 623, Ziff. 28.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 625.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 625.<br />
Es war Sache des Amtsdieners, den Verurteilten an den Pranger, in die Trülle oder die<br />
Foltergeige zu stellen, StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 3<br />
Ziff. 8. Dafür sollte er 30 Kreuzer bekommen; S. 7. Abbildungen von Pranger, Geige und<br />
Trülle bei HINCKELDEY [1989], S. 312, 345, 461, 477.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 626.<br />
Tagebuch Abt Bedas, Eintrag vom 26. Juni 1773, StiASG, Bd. 283, S. 17.<br />
85
Strafverfahren<br />
4.5.4 Befragung des Knechts Franz <strong>Antoni</strong> Ritter am 18. Februar 1775<br />
Am Samstag, 18. Februar 1775, also nach den Enthüllungen <strong>Egger</strong>s zur Leiche<br />
von Elisabeth Han in der zweiten Einvernahme am 17. Februar, wurde Franz<br />
<strong>Antoni</strong> Ritter, der bei der Hinrichtung von Elisabeth Han als Nebenknecht des<br />
Scharfrichters tätig gewesen war, in den Zeugenstand berufen. Im Protokoll ist<br />
vermerkt, man habe den im August 1773 bereits an der Sichtung und Bergung<br />
des Leichnams beteiligten Knecht Fideli Burckhard nicht vorladen können, da<br />
sich dieser nicht mehr in des hiesigen Scharfrichters Dienst befinde. Ritter wurde<br />
das Protokoll vom 25. August 1773 vorgelesen. Er äusserte nach abgelegtem<br />
Handgelübde, die Deposition sei durch<strong>aus</strong> richtig, er wisse nichts abzuändern.<br />
Er könne sich noch gar wohl erinnern, dass der gefundene Körper von Elisabeth<br />
Han <strong>aus</strong> nichts anderem bestanden habe als <strong>aus</strong> dem Leib selbst. Der Körper sei<br />
«von dem fleisch, haut, und jnngeweyd vollkommen ledig» gewesen, und es sei<br />
nichts anderes zu sehen gewesen als Rippen und Rückgrat. 420<br />
4.5.5 Anzeige des Wirts Christian Louis am 18. Februar 1775<br />
Wie der Wirt Christian Louis am 13. Februar 1775 nach <strong>Egger</strong>s Geständnis in<br />
Louis’ Wirtsh<strong>aus</strong> an der Langgasse mit <strong>Egger</strong> besprochen hatte, erstattete er am<br />
14. Februar 1775 Anzeige, in der er «nach abgelegtem Handgelübd» 421 sein Wissen<br />
wiedergab. 422 Am Samstag, 18. Februar 1775, meldete Louis sich erneut bei<br />
der Obrigkeit mit folgender Anzeige: Am Vorabend, also offenbar am 17. Februar,<br />
habe er von dem «hafner Sylvester Blanckh» 423 gehört, <strong>Egger</strong> habe «umb<br />
das neue jahr herumb an einem donnerstag hafner geschirr nacher Herisaw gefüehret»<br />
424 . Der Sohn dieses Blanckh hatte <strong>Egger</strong> offenbar begleitet. Auf dem<br />
Heimweg habe dieser den Buben angewiesen, alleine weiterzugehen mit dem<br />
420<br />
421<br />
422<br />
423<br />
424<br />
Dok. 1, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von Sattlermeister Wettach und den Knechten des Scharfrichters,<br />
S. 5 f.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 1.<br />
Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen in Kap. 3.4.2.<br />
Dok. 13, zweite Anzeige von Christian Louis. Unter «Hafner» wird heute ein Ofenbauer<br />
verstanden. In früheren Zeiten wurde die Bezeichnung Hafner allgemein für Töpfer verwendet.<br />
Dok. 13, zweite Anzeige von Christian Louis.<br />
86
Strafverfahren<br />
Hinweis, er müsse noch in die Vorstadt. Erst «nach verfluss ohngefähr 2 stunden»<br />
sei <strong>Egger</strong> mit einem Bündel über den Schultern die Langgasse entlang gekommen.<br />
425<br />
4.5.6 Zeugeneinvernahme von Carl Etter am 20. Februar 1775<br />
Am 20. Februar 1775 wurde Carl Etter in St. Fiden als Zeuge unter Eid einvernommen.<br />
Er gab zu Protokoll, seine Frau Maria Baumann sei am letzten heiligen<br />
Weihnachtstag 31-jährig im Kindbett gestorben und am St. Johannestag 426<br />
auf dem Friedhof in St. Fiden beerdigt worden. Etter wurde nach Kleidung und<br />
Grabbeigaben seiner Frau befragt. Verschiedene Kleidungsstücke wurden ihm<br />
vorgezeigt, er äusserte sich darüber aber etwas unsicher und verwies auf die<br />
Frau seines Bruders <strong>Antoni</strong> Etter. Diese habe seine verstorbene Frau zusammen<br />
mit der Magd angekleidet. Er selbst sei damals «in vollem schreckhen gewesen».<br />
427 Befragt nach ihrem Gebiss, gab er zu Protokoll, er meine, sie habe «in<br />
dem oberen mund die vorderste 2 zähn zu kurz gehabt». 428<br />
4.5.7 Dritte Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 20. Februar 1775<br />
Am Montag, 20. Februar 1775, ging die Einvernahme <strong>Egger</strong>s in St. Fiden weiter.<br />
An jenem Vormittag war Leibarzt Rogg nicht anwesend. Man fragte <strong>Egger</strong><br />
einleitend, ob er seinen Aussagen betreffend die zwei von ihm <strong>aus</strong>gegrabenen<br />
Leichen noch etwas hinzuzufügen habe, was er verneinte. Man liess ihn erneut<br />
beschreiben, wie er Maria Baumanns Leichnam <strong>aus</strong>gegraben und fortgeschafft<br />
hatte. Er sagte weiter <strong>aus</strong>, den Körper während 14 Tagen in seinem Stall liegengelassen<br />
und nicht mehr angeschaut zu haben. Auf die Frage, was er anschliessend<br />
gemacht habe, antwortete er, er habe den Körper nur angeschaut und anschliessend<br />
wieder mit Stroh zugedeckt. Danach habe er nichts mehr gemacht,<br />
425<br />
426<br />
427<br />
428<br />
Dok. 13, zweite Anzeige von Christian Louis.<br />
Der Gedenktag des Apostels Johannes ist der 27. Dezember, zum Fest siehe Lexikon der<br />
Bräuche und Feste [2007], S.173 f.<br />
Dok. 14, Amtsbericht von Hatschier Hofstetter und Zeugeneinvernahme Etters, S. 7.<br />
Dok. 14, Amtsbericht von Hatschier Hofstetter und Zeugeneinvernahme Etters, S. 6 f.<br />
87
Strafverfahren<br />
bis er «der Catharina den streich gegeben» 429 . Er habe das Bündel mit dem toten<br />
Körper, den Körperteilen der Geköpften und den «ermelschluten» von Catharina<br />
schliesslich ins Galgentobel getragen. 430 Man fragte ihn nochmals eindringlich,<br />
ob er nie etwas mit dem Körper der Wöchnerin gemacht habe. Da gestand <strong>Egger</strong><br />
schliesslich, dass er am Donnerstag, als er das Bündel weggeschafft hatte, mit<br />
einem Messer der Leiche von Maria Baumann den Hals aufgeschnitten habe. 431<br />
Er wurde in der Folge angehalten zu demonstrieren, wie er den Schnitt gemacht<br />
habe. Die Frage, ob er noch andere Schnitte am Körper vorgenommen habe,<br />
verneinte <strong>Egger</strong>. 432 Nach dem Grund für den Schnitt am Hals befragt, sagte <strong>Egger</strong><br />
<strong>aus</strong>, «er habe halt wollen sehen, ob sie noch bluete, oder ob alles jnnwendig<br />
schon verfaulet seye». 433 Man fragte ihn, warum er dies habe wissen wollen, dies<br />
sei eine Torheit, worauf <strong>Egger</strong> antwortete, «er wüsse sonsten nicht das geringste».<br />
434 Wieder wurde <strong>Egger</strong> aufgefordert, nicht so «ohnverschambt» zu lügen,<br />
und er erfuhr, dass man den Körper begutachtet habe. Dies zeigte Wirkung: <strong>Egger</strong><br />
gestand, er habe dem Leichnam<br />
«von dem herzgrüeble an bis ohngefähr zu dem, oder etwas unter den nabel den bauch aufgeschnitten,<br />
umb zu wüssen, ob schon alles faul seye, und wann noch etwas vorhanden wäre,<br />
das solches im stall und nicht auf dem weg <strong>aus</strong>rünne.» 435<br />
Wieder wurde <strong>Egger</strong> gefragt, ob er sonst noch etwas am Leichnam gemacht<br />
habe, worauf er schliesslich zugab, man werde das Herz dr<strong>aus</strong>sen gefunden haben;<br />
es sei her<strong>aus</strong>gefallen, als er die Leiche das Tobel «herunter trohlen» lassen<br />
habe. 436 Ihm wurde daraufhin vorgehalten, solches sei unmöglich und eine Lüge,<br />
worauf er bekannte, das Herz noch im Stall her<strong>aus</strong>geschnitten zu haben, «und<br />
damit es in dem tragen nicht über ihne herunter rünne, habe er solches in den<br />
429<br />
430<br />
431<br />
432<br />
433<br />
434<br />
435<br />
436<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 95.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 97 f.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 99.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 101.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 102.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 103.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 104.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 106.<br />
88
Strafverfahren<br />
händen hin<strong>aus</strong> getragen». 437 Weiter musste <strong>Egger</strong> genau beschreiben, wie er das<br />
Herz <strong>aus</strong> dem Körper her<strong>aus</strong>geholt hatte. 438<br />
Nach einem Unterbruch wurde das Verhör post prandium fortgesetzt. Man<br />
fragte <strong>Egger</strong> erneut, ob er die Wahrheit gesagt habe und bei seiner Aussage<br />
bleibe. Da gab er zu, an der Leiche von Maria Baumann noch einen Schnitt vom<br />
Bauchnabel zu den Schenkeln vorgenommen zu haben, damit «es <strong>aus</strong>laufe». 439<br />
Man diskutierte weiter über die verschiedenen Schnitte, weil <strong>Egger</strong>s Aussagen<br />
offenbar nicht mit den Ergebnissen der Begutachtung des Leichnams übereinstimmten.<br />
Schliesslich gab <strong>Egger</strong> an, neben dem Herz auch die Brust «her<strong>aus</strong><br />
genohmen» zu haben. 440 Diese habe <strong>aus</strong> Rippen bestanden. Er habe sie zusammen<br />
mit dem Herz und dem Bündel den Abhang hinunterrollen lassen. Die Haut<br />
habe er am Körper gelassen. 441 Das Gericht schenkte seiner Schilderung keinen<br />
Glauben und forderte ihn auf, er solle «mit der wahrheit umbgehen», es sei nicht<br />
möglich, ihm zu glauben. 442 Doch <strong>Egger</strong> beharrte auf seiner Darstellung. Man<br />
drang weiter in ihn, wollte Gründe wissen, warum er die Leiche so «grewlich<br />
misshandelt» habe. 443 <strong>Egger</strong> sagte nach einigem Hin und Her <strong>aus</strong>, auch «den<br />
rückhengrath» her<strong>aus</strong>geschunden zu haben, um den Körper zusammenlegen und<br />
besser wegschaffen zu können. 444 Auf die Frage, woran Maria Baumann gestorben<br />
sei, gab <strong>Egger</strong> an, es nicht zu wissen, er habe aber gehört, sie solle eine<br />
«Kindbetterin» gewesen sein. 445 Der Verhörende hakte nach und fragte, ob <strong>Egger</strong><br />
für sein Vorhaben eine Kindbetterin gebraucht habe, worauf er sagte, keine<br />
Antwort geben zu können, er wisse selbst nicht, was er für ein Vorhaben gehabt<br />
habe. 446<br />
Das Verhör schritt weiter zur zweiten Leiche, der geköpften Elisabeth Han.<br />
<strong>Egger</strong> sagte <strong>aus</strong>, er habe sie am ersten Donnerstag nach der Hinrichtung unter<br />
437<br />
438<br />
439<br />
440<br />
441<br />
442<br />
443<br />
444<br />
445<br />
446<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 106.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Fragen und Antworten 107 bis 110.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 113 f.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 118.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 121.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 122.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 127.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 132.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 142.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 143.<br />
89
Strafverfahren<br />
dem Galgen <strong>aus</strong>gegraben, ihr Hände und Füsse abgeschnitten und die Haut abgezogen<br />
und diese «zu oberst unter das stadeldach auf das strohe getragen und<br />
auch damit gedeckhet». 447 Die Obrigkeit las ihm daraufhin die Aussage von<br />
Franz <strong>Antoni</strong> Ritter vom 18. Februar 1775 und schliesslich auch die Zeugenprotokolle<br />
mit den Aussagen von Wettach, Burckhard und Ritter vom 23. und<br />
25. August 1773 vor, doch <strong>Egger</strong> beharrte darauf, das Fleisch und die Eingeweide<br />
des Leichnams nicht entfernt zu haben. 448 Nach der mitgenommenen<br />
Haut, den Füssen und Armen befragt, gab <strong>Egger</strong> an, er habe alles unter seinem<br />
Stadeldach aufs Stroh gespannt. Die Mäuse hätten die Haut dann ziemlich zerfressen.<br />
449 Erneut fragte man <strong>Egger</strong> unter Anrufung Gottes mehrmals nach dem<br />
Grund für diese Tat, ohne eine nachvollziehbare Antwort zu erhalten. So wurde<br />
beschlossen,<br />
«mann wolle nun [...] mit examinieren aufhören, und ihme bedenckzeit geben, und gewärtig<br />
seyn, ob er künftig im längern noch so halsstarrig seyn werde». 450<br />
4.6 Vierte Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 21. Februar 1775<br />
Das Gericht kam am nächsten Tag wiederum in Abwesenheit von Gerold Rogg<br />
zusammen. Man fiel gleich mit der Tür ins H<strong>aus</strong> und fragte <strong>Egger</strong>, ob er noch<br />
immer so wie am Tag zuvor lügen wolle. <strong>Egger</strong> bat die «gnädige obrigkeit» daraufhin<br />
um Vergebung, er wolle nun die Wahrheit sagen. 451 Er habe sich halt gewundert,<br />
wie lange Menschenhaut unverwest bleiben könne. Vor etwa 14 Jahren<br />
habe ihm ein Zimmermann gesagt, die Haut des St. Bartholomäi liege noch ganz<br />
im St. Catharina Klösterli 452 in der Stadt. Deswegen habe er dem Leichnam von<br />
447<br />
448<br />
449<br />
450<br />
451<br />
452<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 147.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Fragen und Antworten 149 bis 153.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antworten 154 f.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 158.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 159.<br />
Im Jahr 1228 vermachten zwei angesehene Männer <strong>aus</strong> der Stadt St. Gallen ihre Hofstatt<br />
am Brühl einer Gemeinschaft von Beginen. St. Katharina wurde 1266 durch die Annahme<br />
der Regel des heiligen Augustinus eine klösterliche Gemeinschaft, VOGLER MARIA THO-<br />
MA [1938], S. 4 und 7. 1368 traten die Frauen in den Dominikanerorden über. Im Zuge<br />
der Reformation wurde das Kloster 1527 unterdrückt und sein Vermögen eingezogen.<br />
1555 mussten die Dominikanerinnen die reformiert gewordene Stadt verlassen. Erst 1605<br />
90
Strafverfahren<br />
Elisabeth Han die Haut abgezogen. 453 Die Frage, weshalb er Carl Etters Frau<br />
<strong>aus</strong>gegraben habe, beantwortete <strong>Egger</strong> noch immer nicht. Er sagte nur, er habe<br />
weder Frieden noch Ruhe gefunden, habe es tun müssen. 454 Die Untersuchenden<br />
meinten daraufhin, Gott oder der Schutzengel hätten ihm dies gewiss nicht angetan,<br />
es müsse etwas Böses dahinter stecken. Dies bestritt <strong>Egger</strong>. Es stecke<br />
nichts Böses dahinter, er habe auch seiner Lebtag sonst niemandem was getan. 455<br />
Man fragte erneut, warum er sich <strong>aus</strong>gerechnet diese Körper <strong>aus</strong>gesucht habe,<br />
was <strong>Egger</strong> nicht beantwortete. Danach gefragt, warum er Catharina die «ermelschluten»<br />
<strong>aus</strong>gezogen und in den Sack mit den Leichenüberresten gesteckt<br />
habe, meinte er, «er wüsse es nicht, denckhe wohl <strong>aus</strong> verhängnus Gottes, damit<br />
alles an den tag komme». 456<br />
Das Verhör kam auf die Tötung zurück. Es stellte sich her<strong>aus</strong>, dass <strong>Egger</strong> Catharina<br />
Himmelberger den Hieb mit der Mistgabel verpasst hatte, als diese bereits<br />
im Gehen begriffen gewesen war. Er habe sie fortjagen wollen und ihr «in<br />
der täube» von hinten den Hieb verpasst. 457 Nachgelaufen sei er ihr aber nicht.<br />
Noch immer beharrte er darauf, nur einmal zugeschlagen zu haben. Die Obrigkeit<br />
wies ihn wiederum an, nicht mehr zu lügen. Er habe bereits zuvor so unverschämt<br />
gelogen und sich nicht anders verantworten können, als dass er ein von<br />
Gott verlassener Mensch sei. Nun solle er in sich gehen und die Wahrheit bekennen.<br />
Man zählte ihm die vier bei der Begutachtung gefundenen Wunden auf,<br />
doch <strong>Egger</strong> sagte, «er bitte umb das jüngste gericht willen umb verzeihung, er<br />
habe nicht mehr als einen streich gethan». 458 Schliesslich fragte man ihn, ob man<br />
ihn durch den Henker zur Wahrheit bringen müsse, worauf <strong>Egger</strong> antwortete, er<br />
könne selbst dann nichts anderes sagen, wenn ihn des Schafrichters Knecht in<br />
vier Teile zerreisen würde. 459<br />
453<br />
454<br />
455<br />
456<br />
457<br />
458<br />
459<br />
wurde für sie ein Neubeginn in Wil möglich, JAKOBER [1991], S. 4; THÜRER, Geschichte,<br />
Bd. 1 [1953], S. 123 ff.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 160.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 161.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 162.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 167.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Fragen und Antworten 173 f.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 181.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 183.<br />
91
Strafverfahren<br />
Die Befragenden führten schliesslich <strong>aus</strong>, man könne nicht ersehen, dass es<br />
<strong>Egger</strong> «gerüehret» hätte, sonst hätte er Catharina nach dem Hieb nicht gleich für<br />
tot gehalten, sondern sich um Hilfe bemüht. Doch <strong>Egger</strong> beteuerte erneut, es<br />
habe ihm Leid getan, er habe ungeschickt gehandelt, und es sei ihm am Donnerstag<br />
und Freitag gar nicht wohl gewesen. 460<br />
4.7 Weitere Untersuchungshandlungen und fünfte<br />
Einvernahme <strong>Egger</strong>s<br />
4.7.1 Zeugeneinvernahme von <strong>Egger</strong>s Stieftöchtern am 22. Februar 1775<br />
Post prandium am Mittwoch, 22. Februar 1775, erschienen auf der Pfalz Maria<br />
Barbara und Anna Maria Veronica, die Töchter von <strong>Egger</strong>s Ehefrau Maria<br />
German und somit dessen Stieftöchter. Ihr leiblicher Vater, Johannes Furrer <strong>aus</strong><br />
Tablat, war verstorben. Die Akten enthalten keine Angaben über das Alter der<br />
Töchter. Bei der Einvernahme vom 22. Februar 1775 wurden sie befragt, ob sie<br />
Kleidungsstücke vermissten. Der Hatschier Hofstetter zeigte ihnen eine alte<br />
Schürze, Strümpfe und alte Schuhe. Die Schürze war ihnen nicht bekannt, die<br />
Strümpfe und Schuhe hin<strong>gegen</strong> erkannte Maria Barbara als die ihren. Die<br />
Strümpfe habe sie schon seit einem halben Jahr vermisst und gesucht, die Schuhe<br />
«unter einen trog, oder in einen winckhel gestellet», weil sie unbrauchbar<br />
gewesen seien. Nach dem Verbleib der Strümpfe habe sie ihre Mutter und ihren<br />
Stiefvater ergebnislos befragt. 461<br />
4.7.2 Fünfte Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 22. Februar 1775<br />
Ebenfalls post prandium wurde am 22. Februar 1775 das Verhör <strong>Egger</strong>s in<br />
St. Fiden weitergeführt. Neben dem Schreiber waren Hofkanzler Sartory von<br />
Rabenstein, Pfalzrat von Saylern, Lehenvogt Ehrat und Fiskal Zollikofer anwesend.<br />
Auf die einleitende Frage, wie es ihm in Gefangenschaft ergehe, antwortete<br />
<strong>Egger</strong>, «das ihme herzlich, und schmerzlich leyd seye, dass er müsse darinnen<br />
460<br />
461<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 188.<br />
Dok. 15, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von <strong>Egger</strong>s Stieftöchtern, S. 2 f.<br />
92
Strafverfahren<br />
sizen». 462 Was ihm «im gemüeth gewesen» sei, als er der Catharina den Hieb<br />
verpasst habe? Nichts, antwortete <strong>Egger</strong>, sie hätten halt miteinander gezankt. 463<br />
Der Streit habe etwa eine Viertelstunde gedauert, wobei die Scheltworte gleich<br />
am Anfang geflossen seien. 464 Die Frage, ob die Scheltworte Catharinas 465 ihm<br />
weh getan hätten und die Ursache für seinen starken Zorn gewesen seien, bejahte<br />
<strong>Egger</strong> mit dem Hinweis darauf, dass sie zudem mehr gefordert habe, als er ihr<br />
schuldig gewesen sei. 466 Er habe ihr vor dem Hieb weder gedroht noch ihr etwas<br />
antun wollen. Wenn er gewusst hätte, dass es so käme, hätte er ihr sicher nicht<br />
einen solchen Hieb gegeben, er habe ja seiner Lebtag niemandem etwas zu Leide<br />
getan. 467 Diese Aussage griff das Gericht auf und mutmasste «<strong>aus</strong> deme zeige<br />
sich, das er den streich nicht im zorn gethan, sondern geglaubt, es werde nicht<br />
disen weg kommen». Doch <strong>Egger</strong> beharrte darauf, zornig gewesen zu sein. 468<br />
Daraufhin konfrontierte man ihn damit, die Schimpfworte seien doch gleich am<br />
Anfang des viertelstündigen Streits geflossen; bis zum Hieb müsse sein Zorn<br />
vergangen gewesen sein. Dies bestritt <strong>Egger</strong>. 469 Weitere Fragen, warum er mit<br />
einem so gefährlichen Gegenstand auf die sensible Stelle am Genick geschlagen<br />
habe, brachten keine neuen Erkenntnisse.<br />
«Wie er bescheinen, und beweisen könne, dass er den streich im zorn gethan, und nichts<br />
böses im gemüeth gehabt habe? Auf dises komme es an: ansonsten könte jeder den anderen<br />
ohnbestraft todtschlagen, und sagen, er habe nichts böses im gemüeth gehabt, oder seye<br />
zornig gewesen.» 470<br />
Darauf antwortete der Befragte:<br />
«Er könne solches weder bescheinen, noch beweisen, wünschte, das jemand sich <strong>gegen</strong>wärthig<br />
befunden, oder [dass es] späther gewesen wäre, es wäre alsdann der werckhmann<br />
462<br />
463<br />
464<br />
465<br />
466<br />
467<br />
468<br />
469<br />
470<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 195.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 196.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 198.<br />
Sie hatte ihn Lügner und Spitzbub genannt, Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage<br />
198; vgl. vorne Kap. 4.3.7.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 199.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 201.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 202.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 203.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 208.<br />
93
Strafverfahren<br />
allda gewesen, und der zorn hätte ihne aber gleichwohlen übernohmen, und diser hätte alsdann<br />
es gesehen, wie es zugegangen wäre.» 471<br />
Das Gericht war durch diese Antwort nicht befriedigt. Es sah in den Tatsachen,<br />
dass <strong>Egger</strong> die Leiche nach der Tat versteckt und später fortgeschafft hatte<br />
sowie unmittelbar nach dem Hieb ins H<strong>aus</strong> gegangen war, Hände gewaschen<br />
und gefrühstückt hatte, einen Hinweis darauf, dass er ein böses Gemüt habe.<br />
<strong>Egger</strong>s Protest half wenig. Man sagte ihm, seine wilde und böse Natur zeige<br />
sich auch darin, dass ihm ein Mensch oder viele Menschen egal seien, habe er<br />
doch die Leichname unter dem Galgen und auf dem Friedhof <strong>aus</strong>gegraben und<br />
<strong>aus</strong>geschunden. 472 Wieder beteuerte <strong>Egger</strong> Reue und präzisierte, betreffend den<br />
Körper vom Friedhof sei er gezwungen gewesen, den unter dem Galgen habe er<br />
jedoch <strong>aus</strong> freiem Willen <strong>aus</strong>gegraben und <strong>aus</strong>geschunden. 473<br />
Man liess die geäusserten Vorwürfe vorerst stehen und fragte <strong>Egger</strong>, ob er<br />
um Neujahr herum für den Hafner an der Langgass Geschirr nach Herisau gefahren<br />
habe. Dies bejahte <strong>Egger</strong> und sagte <strong>aus</strong>, dessen Sohn sei bei ihm gewesen.<br />
Auf der Heimfahrt habe er beim Friedhof St. Fiden Halt gemacht und den<br />
Leichnam von Maria Baumann <strong>aus</strong>gegraben. 474 Man liess auch dieses Thema<br />
bald fallen und wollte wissen, ob <strong>Egger</strong> lesen und schreiben könne, was dieser<br />
verneinte. Er könne auch sonst keine «andere[n] künste». 475 Mangels Erkennbarkeit<br />
eines anderen Motivs vermutete die Obrigkeit schliesslich, <strong>Egger</strong> habe mit<br />
der Ausgrabung der Leichen und deren weiterer Behandlung abergläubische<br />
Zwecke verfolgt. Sie fragte ihn, ob er nie von Segensprechereien reden gehört<br />
habe, was <strong>Egger</strong> verneinte. Die <strong>aus</strong>gegrabenen und <strong>aus</strong>geschundenen Körper<br />
würden aber doch vermuten lassen, es stecke etwas anderes hinter der Sache,<br />
worauf <strong>Egger</strong> antwortete, «es steckhe gewüss nichts darhinter». 476 Wieder und<br />
wieder befragte man ihn ergebnislos nach dem Motiv für die Leichenschändungen.<br />
Schliesslich wollte man wissen,<br />
471<br />
472<br />
473<br />
474<br />
475<br />
476<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 208.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Fragen 209 f.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 210.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Fragen und Antworten 215 bis 217.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 221.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 223.<br />
94
Strafverfahren<br />
«ob er nicht gewust, dass das todtschlagen im göttlichen und menschlichen gesazen unter<br />
leib- und lebens-straff verbotten, und was er für eine entschuldigung habe» 477 .<br />
Darauf antwortete <strong>Egger</strong>:<br />
«Ja, das habe er gewust; könne aber keine endtschuldigung sagen, alss dass er nicht gewust,<br />
dass der streich so angehe, und wann er es gewust, so hätte er es nicht gethan, und seye in<br />
dem zorn gewesen». 478<br />
Was für eine Strafe er glaube, für die Leichenschändungen verdient zu haben?<br />
Dies wisse er nicht, er müsse es der gnädigen Obrigkeit überlassen. 479 Damit<br />
endete die Einvernahme jenes Tages.<br />
4.8 Weitere Untersuchungshandlungen und letzte Einvernahme<br />
<strong>Egger</strong>s<br />
4.8.1 Zeugeneinvernahme der Ehefrau am 23. Februar 1775<br />
Offenbar entschloss man sich erst nach all diesen Verhören, Einvernahmen und<br />
Abklärungen, <strong>Egger</strong>s Ehefrau Maria Elisabetha German zu befragen. Sie erschien<br />
am Donnerstag, 23. Februar 1775, auf der Pfalz und sagte <strong>aus</strong>, seit vier<br />
Jahren mit <strong>Egger</strong> verheiratet zu sein. Im ersten Ehejahr sei er oft abends spät<br />
nachh<strong>aus</strong>e gekommen und morgens sehr früh gegangen. Sie habe ihm dies<br />
schliesslich nicht mehr gestattet. Vor ein paar Monaten habe sie bemerkt, dass<br />
er zweimal eine halbe Stunde länger im Stall geblieben sei als er «hätte sollen».<br />
Er habe vorgegeben, das Ross und die Kühe geputzt und das Geschirr versorgt<br />
zu haben. 480 Sie gab an, sich an einen Abend kurz nach der Hinrichtung von drei<br />
Menschen im Juli 1773 erinnern zu können. Es habe stark geregnet, und ihr<br />
Mann habe vorgegeben, er müsse das Pferd ins Trockene bringen. Sie sei ihm<br />
gefolgt, weil sie ihm habe helfen wollen. Da seien ihr jedoch die Hingerichteten<br />
eingefallen und sie habe «eine forcht überfallen». 481 Sie sei schnell ins H<strong>aus</strong> zu-<br />
477<br />
478<br />
479<br />
480<br />
481<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 232.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 232.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 234.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 1 f.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 4.<br />
95
Strafverfahren<br />
rückgegangen. Als ihr Mann nachh<strong>aus</strong>e gekommen sei, habe er vorgegeben, auf<br />
der Suche nach dem Pferd durch alle Tobel gegangen zu sein.<br />
Weiter fragte man sie, was ihr während der Ehe mit <strong>Egger</strong> an ihrem Mann<br />
missfallen habe, wie er sich aufgeführt habe und was sie «tadelhaftes» an ihm<br />
bemerkt habe. 482 Als sie ihn geheiratet habe, habe sie von ihm wissen wollen, ob<br />
er Schulden habe. Dies habe er verneint. Es seien dann jedoch «zimbliche<br />
pöstlein» hervorgekommen, die er heimlich habe bezahlen wollen. Einmal habe<br />
sie Catharina Himmelberger ums H<strong>aus</strong> herum zu ihrem Mann in den Stall wandeln<br />
sehen. Als sie daraufhin ihren Mann gefragt habe, ob er ihr was schuldig<br />
sei, habe er dies abgestritten und behauptet, sie habe Holz von ihm verlangt. Die<br />
Ehefrau fügte gleich an, dies habe sie ihrem Mann nicht geglaubt und ihn aufgefordert,<br />
es ihr doch um Gotteswillen zu sagen, wenn er der Catharina Himmelberger<br />
was schuldig sei, sie wolle ihm gern helfen, es zu bezahlen. Doch ihr<br />
Mann habe nicht zugegeben, Schulden bei Catharina gehabt zu haben. Wenn er<br />
es zugegeben hätte, wäre wegen «disem bizle geldt damahlen dis ohnglückh<br />
nicht erfolget». 483<br />
Maria German beschwerte sich schliesslich, ein von ihren Eltern geerbtes<br />
Tischtuch sei <strong>aus</strong> dem Kasten verschwunden. Sie habe ihren Mann danach befragt,<br />
aber er habe sich unwissend gestellt. Weiter gab sie an, weder sie noch<br />
ihre Töchter seien im Stall am Vieh vorbei weiter nach hinten gegangen. 484 Dann<br />
sagte sie <strong>aus</strong>, dass ihr Mann an jenem Tag um die Jahreswende herum, als er des<br />
Hafners Geschirr nach Herisau gefahren habe, schmutzige Schuhe, Strümpfe<br />
und Hosen gehabt habe, obwohl der Schlittenweg gut und hart gewesen sei. Ihre<br />
Frage nach dem Grund habe er nicht beantwortet. Ungeschminkt gab Maria<br />
German schliesslich an, ihr Mann sei «allzeit ein dunckhel m<strong>aus</strong>er» gewesen, er<br />
habe immer viel gearbeitet, sei nie «recht lustig» gewesen und habe sich beim<br />
Beten zu H<strong>aus</strong>e und in der Kirche als schläfrig erwiesen. 485<br />
Weiter wollte das Gericht von der Ehefrau wissen, was für Schriften, Bücher<br />
oder anderes sie im H<strong>aus</strong> hätten und was für Leute <strong>Egger</strong> beherbergt oder ihnen<br />
482<br />
483<br />
484<br />
485<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 4.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 5 f.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 7.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 8.<br />
96
Strafverfahren<br />
Unterschlupf gewährt habe. Maria Germann antwortete, sie wisse nur von einigen<br />
Lehenbriefen, Güterzetteln oder Quittungen sowie drei Gebetbüchlein ihrer<br />
Töchter. Ihr Mann könne weder schreiben noch lesen. Im letzten Januar habe<br />
ein Maurer <strong>aus</strong> der Fremde bei ihnen im Stall übernachtet. Abends in der Stube<br />
habe dieser ihnen allerhand vom Krieg und von der Galeere, auf der er gewesen<br />
sei, erzählt, «sonsten aber nichts ohnrechtes von ihme gewahret, noch gehöret».<br />
486 Am Frühlingsjahrmarkt habe ein fremder «wurzengraber» 487 mit seiner<br />
Frau vier oder fünf Nächte bei ihnen im Heu übernachtet. Ihr Mann habe morgens<br />
und abends dort die Tiere gefüttert, sie wisse aber nicht, was sie miteinander<br />
geredet hätten. Sie habe nichts Unrechtes bemerkt. 488<br />
Am Tag des Totschlags sei ihr Mann «gleich andere mahl» vom Füttern zum<br />
Morgenessen gekommen. Niemand habe ihm etwas angemerkt. Dies gelte auch<br />
für die Tage oder Zeiten, an denen er die toten Körper dem Hörensagen nach ins<br />
Tobel getragen habe. Nur als er letzthin mit ihr zum Herrn Hofkanzler gegangen<br />
sei, habe er gesagt, es sei ihm, als ob ihm Hände und Füsse abgeschlagen seien.<br />
Übrigens habe er die ganze Woche am Haag im Gut gearbeitet und «gebüschelet».<br />
489<br />
4.8.2 Zeugeneinvernahme von <strong>Joseph</strong> Rüesch am 23. Februar 1775<br />
Gleichentags fand eine weitere Zeugeneinvernahme auf der Pfalz statt. Vorgeladen<br />
war der Tablater <strong>Joseph</strong> Rüesch, 40 Jahre alt und in Diensten beim Müller<br />
im Obertobel. Nach erstattetem Handgelübde sagte er <strong>aus</strong>, er sei von seiner früheren<br />
Dienststelle <strong>aus</strong> öfters zu <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> gegangen und habe bei ihm im<br />
Beisein anderer Leute ein Glas Most getrunken. Sonst habe er keinen Umgang<br />
mit ihm gehabt. Er habe nie geglaubt, dass <strong>Egger</strong> auch nur einen Vogel töten<br />
könnte. 490 Auf die Frage, ob er einmal in <strong>Egger</strong>s Stall gewesen sei und was dort<br />
vor sich gegangen sei, antwortete Rüesch, er sei im letzten Herbst zweimal in<br />
486<br />
487<br />
488<br />
489<br />
490<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 9.<br />
Wurzengraber sammelten insbesondere Enzianwurzeln, um dar<strong>aus</strong> Enzianbranntwein<br />
herzustellen; VON HÖRMANN [1870], S. 360.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 10.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 10 f.<br />
Dok. 17, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Rüesch, S. 1.<br />
97
Strafverfahren<br />
jenem Stall gewesen. Das erste Mal, weil <strong>Egger</strong> ihn aufgefordert habe, ein Ross<br />
anzuschauen, das er in Staubenzell gekauft habe. Das zweite Mal habe er Heu<br />
angeschaut, das er <strong>Egger</strong> abgekauft habe. Beide Male sei über nichts anderes<br />
gesprochen worden als über Ross, Vieh, Heu und dergleichen. Er habe nichts<br />
Verdächtiges bemerkt, und <strong>Egger</strong> habe kein ungebührliches Wort zu ihm gesagt.<br />
491<br />
4.8.3 Sechste und letzte Einvernahme <strong>Egger</strong>s am 7. März 1775<br />
Am Dienstag, 7. März 1775, führten die Herren Sartory von Rabenstein, von<br />
Seylern, Zollikofer und der Ratssekretär Gross die letzte Einvernahme des Angeschuldigten<br />
durch. Seit der fünften Einvernahme waren also beinahe zwei<br />
Wochen vergangen. Man sagte <strong>Egger</strong> einleitend, er habe seit dem letztem Examen<br />
Zeit und Platz gehabt, in sich zu gehen, und werde nun hoffentlich die<br />
Wahrheit sagen. Da entschloss er sich, doch endlich zu sprechen.<br />
«Nichts anders, als das ihme ein Geyserwalder gesagt, er habe <strong>aus</strong> dem kirchhof einen todtenschedel<br />
in seinem taubenschlag gehabt, umb die tauben dar<strong>aus</strong> trinckhen zu lassen, und<br />
in der meinung andere damit zu fangen; es habe aber in der nacht starckh gerumplet, mithin<br />
er solchen wider auf den kirchhof gethan, wo alsdann das rumplen aufgehöret. Inquisiten<br />
habe gewunderet, ob es deme so seye, und so rumple, folgsamb gedenckhet, er wolle es mit<br />
einem todten cörper <strong>aus</strong> dem kirchhof probieren; habe aber nichts gespüheret, noch vermerckhet;<br />
auch ihne nachwerths gereuet; und wann er wider nacher Herisaw gefahren wäre,<br />
so hätte er disen cörper wider an sein voriges orth zurück gethan; das er aber ein solches<br />
unterlassen, seye die ursach weillen er sonsten nächtlicher weil niemahlen <strong>aus</strong> dem h<strong>aus</strong><br />
gegangen.» 492<br />
Er wurde daraufhin gefragt, ob er den Körper nicht, wie er gesagt habe, gezwungenermassen,<br />
sondern freiwillig und <strong>aus</strong> Wunder <strong>aus</strong>gegraben habe, worauf<br />
er <strong>aus</strong>sagte, es sei ihm in den Weihnachtsfesttagen doch gewesen, als ob er<br />
es tun müsse. Man konfrontierte ihn damit, dass er den unter dem Galgen <strong>aus</strong>gegrabenen<br />
Körper von Elisabeth Han ja bereits im Stall gehabt habe und die<br />
Probe wegen des Rumpelns mit diesem hätte machen können, weswegen es<br />
nicht nötig gewesen wäre, den zweiten Körper <strong>aus</strong>zugraben. <strong>Egger</strong> meinte dar-<br />
491<br />
492<br />
Dok. 17, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Rüesch, S. 2.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 236.<br />
98
Strafverfahren<br />
auf, er habe vom Galgen her nur die Haut gehabt, er könne keine andere Ursache<br />
angeben, man möchte sich darin doch nicht weiter aufhalten. 493 Damit gab<br />
sich das Gericht nicht zufrieden, worauf <strong>Egger</strong> schliesslich berichtete, der Gaiserwalder<br />
habe vor seinen Leuten in der Stube gesagt, etwas vom Kirchhof in<br />
seinem H<strong>aus</strong> zu haben bedeute, dass man keine Rast noch Ruhe mehr habe, bis<br />
der Gegenstand wieder an seinem Ort sei. Dies habe er, <strong>Egger</strong>, nicht geglaubt<br />
und habe es <strong>aus</strong>probieren wollen. Die Befragenden wurde ungeduldig, sagten,<br />
dies sei nicht wahrscheinlich, er solle nicht so unverschämt lügen und es nicht<br />
darauf ankommen lassen, die Wahrheit mit anderen Mitteln her<strong>aus</strong>zubringen.<br />
<strong>Egger</strong> bat darum, ihm zu glauben. Er würde sich sonst ja zugrunde richten wollen<br />
und mit Leib und Seele auf die Hölle zu gehen, wenn er die Obrigkeit beständig<br />
so anlügen würde. 494 Der Gaiserwalder heisse Johannes Geser. 495 <strong>Egger</strong><br />
verneinte die Frage, ob ihm sonst jemand derartige Sachen erzählt habe; auf<br />
wiederholte Nachfrage sagte er, er habe mit niemandem sonst Umgang gehabt,<br />
sei allzeit bei seinen Leuten zuh<strong>aus</strong>e gewesen.<br />
Die übrigen Fragen waren Vergewisserungen früherer Aussagen, die zu keinen<br />
neuen Erkenntnissen führten. So wurde das Verhör geschlossen.<br />
<strong>Egger</strong> wurde dem Scharfrichter vorgeführt mit der Ermahnung, die Wahrheit<br />
zu bekennen. Ein letztes Mal wurde er gefragt, ob er der Catharina Himmelberger<br />
nur einen Hieb verpasst und nicht geglaubt habe, es würde so kommen.<br />
Weiter wollte man erneut wissen, ob er die anderen beiden Leichname in keiner<br />
anderen als der angegebenen Absicht <strong>aus</strong>gegraben habe. Auch im Angesicht des<br />
Scharfrichters blieb <strong>Egger</strong> bei seinen Aussagen, «wolle darauf leben, und sterben».<br />
496<br />
4.8.4 Zeugeneinvernahme von Johannes Geser am 8. März 1775<br />
Als letzter Zeuge wurde Johannes Geser «<strong>aus</strong> der hüthen in Geyserwald» am<br />
Mittwoch, 8. März 1775, auf die Pfalz geladen und einvernommen. Der ledige,<br />
493<br />
494<br />
495<br />
496<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Fragen und Antworten 238 und 240.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 242.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 245.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 90.<br />
99
Strafverfahren<br />
30 Jahre alte Sohn von <strong>Joseph</strong> Geser besass mit seinem Bruder Michael zusammen<br />
ein Gut. Er gab an, <strong>Egger</strong> sei um letzten Jacobi 497 mit seiner Stieftochter<br />
Barbara zum Wein bei ihm gewesen. Er habe sie nachh<strong>aus</strong>e begleitet und sei<br />
danach wegen Barbara noch zweimal bei <strong>Egger</strong> gewesen. 498 Die Frage, ob eine<br />
besondere Unterredung mit <strong>Egger</strong> stattgefunden habe, verneinte Geser. Er sei<br />
nur dreimal in <strong>Egger</strong>s H<strong>aus</strong> gewesen, habe nicht mit ihm geredet und wisse<br />
nicht einmal, ob er sein Freund oder Feind sei. 499<br />
Das Gericht fragte Geser, ob er Tauben habe, was dieser verneinte. Sein Bruder<br />
habe aber welche. Ob er nicht mit <strong>Egger</strong> über die Tauben einen Diskurs geführt<br />
habe? Nein, er wisse nichts von einer solchen Unterhaltung, <strong>aus</strong>ser es sei<br />
in der Trunkenheit geschehen. 500 Geser wurde aufgefordert, dies nochmals zu<br />
überdenken, die Obrigkeit sei eines ganz anderen überzeugt. Doch der Befragte<br />
blieb dabei, höchstens betrunken im Beisein aller «h<strong>aus</strong>leuth» etwas geredet zu<br />
haben, zumal er nie nüchtern in <strong>Egger</strong>s H<strong>aus</strong> gewesen sei. 501 Als sieben Jahre<br />
alter Knabe habe er von einem Mann, der in St. <strong>Joseph</strong>en beim Mesmer in Arbeit<br />
gestanden habe, gehört, es sei im Württembergerlande ein Mann gewesen,<br />
der einen Kopf vom Galgen weggenommen und seinen Tauben dar<strong>aus</strong> zu trinken<br />
gegeben habe. Dadurch habe er andere Tauben in seinen Schlag locken und<br />
an sich bringen können. Als der Mann jedoch über ein Leiterchen in seinen Taubenschlag<br />
habe hinaufklettern wollen, habe er seinen Kopf verloren und sei<br />
schliesslich ohne Kopf gefunden worden. Als Knabe habe Geser dies auch <strong>aus</strong>probieren<br />
wollen und habe von einem Grab auf dem Kirchhof zu St. <strong>Joseph</strong>en<br />
ein kleines Totenbein genommen, dieses im Taubenschlag ins Trinkgeschirr<br />
gelegt in der Meinung, dadurch mehr Tauben zu bekommen. Stattdessen hätten<br />
Raubvögel seine eigenen Tauben geholt und seither habe er kein Glück mehr<br />
mit ihnen gehabt und sie schliesslich aufgegeben. Das Totenbein habe er etwa<br />
ein halbes Jahr lang in seinem Taubenschlag gelassen. Während dieser Zeit habe<br />
er nachts unruhige Stunden gehabt, da er immer gemeint habe, er sehe den Geist<br />
497<br />
498<br />
499<br />
500<br />
501<br />
Der Gedenktag des Apostels Jakobus dem Älteren ist der 25. Juli; Lexikon der Bräuche<br />
und Feste [2007], S. 171 f.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Fragen und Antworten 1 und 3.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Frage und Antwort 4.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Fragen und Antworten 5.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Frage und Antwort 7.<br />
100
Strafverfahren<br />
des Toten vor sich. Beim Tenntor 502 habe er einmal einen grossen Geist gesehen<br />
und sich gefürchtet, weshalb er das Totenbein danach sofort wieder auf den<br />
Kirchhof an den Ort gebracht habe, von wo er es genommen gehabt habe. 503<br />
Er wurde daraufhin gefragt, ob er etwas gemerkt habe während der Zeit, in<br />
der das Gebein im Taubenschlag gewesen sei. Er habe nichts gemerkt, <strong>aus</strong>ser in<br />
den letzten acht Tagen, «da es starckh gerumplet, als ob thier oder kazen herumb<br />
laufeten», und selbst wenn man ihm 1000 Gulden gegeben hätte, so wäre<br />
er in diesen Tagen nachts nicht mehr zum Taubenschlag hinauf gegangen. 504 Er<br />
habe schliesslich gebeichtet, und der Beichtvater habe ihm auferlegt, das Gebein<br />
wieder zurückzubringen. 505 Auf die Frage, ob er sich nicht erinnere, <strong>Egger</strong> diese<br />
Begebenheit erzählt zu haben, meinte Geser, davon wisse er nichts, hätte er aber<br />
etwas davon gesagt, so hätte er beigefügt, man solle keine solchen abergläubischen<br />
Sachen treiben. 506<br />
4.9 Beratung und «Rechtsgutachten»<br />
Das Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s verweist nach den letzten Befragungen auf<br />
ein «rechtliches guetachten», das am 3. hujus 507 von mehreren Herren «ministris»,<br />
Obervögten und Räten verfasst worden sei. Beteiligt waren neben Hofkanzler<br />
Sartory von Rabenstein und Pfalzrat von Seylern der Rorschacher Obervogt<br />
Franz Anton Gugger von Staudach, der Toggenburger Landvogt Franz <strong>Joseph</strong><br />
Müller von Friedberg und die Obervögte <strong>Joseph</strong> Ignaz Zweyfel von Oberberg<br />
und Johann Anton Rudolf Rothfuchs von Blatten. Obwohl im Einvernahmeprotokoll<br />
festgehalten wurde, das rechtliche Gutachten sei «abgefasset» worden,<br />
ist ein solches leider nicht (mehr) aktenkundig. Immerhin lässt sich der offenbar<br />
zusammengefassten Wiedergabe im Protokoll entnehmen, dass diskutiert<br />
502<br />
503<br />
504<br />
505<br />
506<br />
507<br />
Die Tenne ist die Diele in der Scheune, worauf gedroschen wird. Oft wird der Begriff –<br />
wie hier – für die Scheune selbst verwendet; KRÜNITZ, Bd. 182 [1843], S. 67, Stichwort<br />
«Tenne in der Landwirtschaft».<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Antwort 7.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Frage und Antwort 8.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Antwort 8.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Frage und Antwort 9.<br />
Gemeint ist der 3. dieses (Monats), also der 3. März 1775.<br />
101
Strafverfahren<br />
worden war, ob <strong>Egger</strong> zu foltern sei, um verlässlichere Antworten auf die Fragen<br />
zu erhalten, ob er beim Totschlag «animum occidendi» 508 gehabt und mit<br />
welchem Motiv er die beiden Leichname <strong>aus</strong>gegraben habe. Da jedoch keine<br />
Indizien auf ein weiteres begangenes Verbrechen vorhanden waren, beschloss<br />
man, <strong>Egger</strong> nicht «ad torturam» zu nehmen, zumal er sich bereits eines «homicidium<br />
dolosum» 509 schuldig gemacht und somit die «poenam gladii» 510 , die Todesstrafe<br />
durch das Schwert, ohnehin schon auf sich gezogen habe. 511 Nach<br />
Hinweis auf dieses «gutachten» wurde der Prozess<br />
«für beschlossen gehalten, und gleichwie von dem gericht Tablath, der gemeind Rothmonten,<br />
und der eggerischen freundschaft durch einige <strong>aus</strong>schüss seiner hochfürstlichen gnaden<br />
umb entlassung der todesstraff underthänigst und demüethigst erbeten worden [...]». 512<br />
508<br />
509<br />
510<br />
511<br />
512<br />
Tötungsabsicht; Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 91.<br />
Vorsätzliche Tötung.<br />
Gladius = Schwert.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 91.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 91.<br />
102
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
5 Prozessrechtliche Beurteilung<br />
5.1 Der Inquisitionsprozess und seine Grundlagen<br />
5.1.1 Abgrenzung zum Akkusationsprozess<br />
Im Mittelalter herrschte eine privatrechtliche Auffassung des Strafrechts vor.<br />
Ein Verbrechen wurde als Verletzung der Rechtsgüter der geschädigten Privatperson<br />
betrachtet, die Strafe war im Wesentlichen ein Recht des Verletzten und<br />
nicht ein Interesse des höchstens ansatzweise existierenden Staates. 513 Nach dem<br />
Grundsatz «Wo kein Kläger, da kein Richter» war folglich die Einleitung von<br />
zivil- und strafrechtlichen Verfahren, die materiell noch nicht getrennt waren, 514<br />
Sache des Privatklägers. 515 Der Kläger war zumindest für die zur Folterung notwendigen<br />
Indizien beweispflichtig, der Beklagte konnte Gegenbeweise anbringen.<br />
516 Beim Akkusationsprozess wurden die Parteien vom Gericht prinzipiell<br />
als gleichwertig betrachtet, was etwa in der Pflicht des privaten Anklägers zur<br />
Hinterlegung einer Kaution zum Ausdruck kam. 517 Ziel des Verfahrens war die<br />
Feststellung der Schuld oder Unschuld des Beklagten, nicht etwa die rationale<br />
Aufklärung des wahren Sachverhalts oder die Suche nach anderen möglichen<br />
Tätern. Konnte die Schuld nicht zweifelsfrei geklärt werden, so griff man auf<br />
formal-irrationales Beweisrecht zurück: etwa den Reinigungseid oder das Gottesurteil.<br />
518<br />
Der sächsisches Gewohnheitsrecht enthaltende Sachsenspiegel 519 EIKE VON<br />
REPGOWS 520 , der zwischen 1220 und 1235 entstand und das wohl bedeutendste<br />
und berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters ist, kannte weder Offi-<br />
513<br />
514<br />
515<br />
516<br />
517<br />
518<br />
519<br />
520<br />
HENSEL [1979], S. 68.<br />
PAHUD DE MORTANGES [2007], S. 118, Rz. 182.<br />
KABUS [2000], S. 29, KLEINHEYER, Carolina [1984], S. 10 f.<br />
SCHMIDT EBERHARD, Strafrechtspflege [1965], § 191, S. 198.<br />
KLEINHEYER, Akkusationsprozess [1971], S. 39.<br />
KABUS [2000], S. 29; vgl. zu Reinigungseid und Gottesurteil zudem VON KRIES [1878],<br />
S. 3, MITTERMAIER [1834], S. 9, JANSEN [2004], S. 52 f.; SCHILD, Gottesurteile [1989],<br />
S. 230; BALDAUF [2004], S. 49 f.; SCHMOECKEL [2000], S. 232 und 450 ff.; VON HENTIG,<br />
Strafe, Bd. 1 [1954], S. 95.<br />
Eine Übersicht bei KÖBLER [1997], S. 515.<br />
Geb. um 1180, gest. ca. 1235; KÖBLER [1997], S. 120.<br />
103
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
zialprinzip noch Untersuchungsgrundsatz noch Ermittlungsverfahren (inquisitio).<br />
Der Prozess war ein Akkusationsverfahren, Eid und Gottesurteil oder unter<br />
bestimmten Vor<strong>aus</strong>setzungen auch der Zweikampf waren als Beweismittel anerkannt.<br />
521<br />
Auch dreihundert Jahre später regelte die Carolina neben dem im Folgenden<br />
zu erläuternden Inquisitionsprozess noch immer das Akkusationsverfahren, und<br />
zwar als die ordentliche Prozessform. 522 Noch im 16. Jahrhundert war der Streit<br />
um die Vorherrschaft zwischen den beiden Prozessformen nicht endgültig <strong>aus</strong>gefochten.<br />
523 Selbst wenn ein privater Kläger auftrat, wurde das Verfahren zunehmend<br />
inquisitorisch. 524 In der Praxis wurde das Inquisitionsverfahren nach<br />
vollkommener Rezeption <strong>aus</strong> dem italienischen Recht zur dominierenden Prozessform.<br />
525 Die neuere Forschung geht davon <strong>aus</strong>, dass der Akkusationsprozess<br />
bereits bei Erlass der Carolina keine nennenswerte Rolle mehr spielte. 526 Dies<br />
dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass die erheblichen Sicherheitsleistungen,<br />
die dem privaten Kläger auferlegt wurden – ansonsten er sich gefangen<br />
setzen lassen und für den Ausgang des Verfahrens zivilrechtlich haften<br />
musste –, eine Anklageerhebung in den meisten Fällen verhinderten. 527<br />
5.1.2 Entstehung und Entwicklung des Inquisitionsprozesses<br />
Der Her<strong>aus</strong>bildung des peinlichen Strafrechts waren gesamtgesellschaftliche<br />
Entwicklungstendenzen vor<strong>aus</strong> gegangen, die die Ausbreitung des Inquisitionsprozesses<br />
überhaupt erst ermöglichten. Die Gesellschaft gewann an Komplexi-<br />
521<br />
522<br />
523<br />
524<br />
525<br />
526<br />
527<br />
IGNOR [2002], S. 56 f.<br />
RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 53, Rz. 104. Eine Vermischung von Akkusations- und<br />
Inquisitionsprozess kennt die Carolina noch nicht, TRUSEN [1984], S. 116. Die Carolina<br />
nennt den Akkusationsprozess als Regelfall, den Inquisitionsprozess als Ausnahme, RÜ-<br />
PING [1984], S. 168; HÄRTER [2000], S. 463 f.; LIEBERWIRTH [2006], Sp. 887; siehe ferner<br />
auch BIENER [1827], S. 153, 158.<br />
BRUNS [1994], S. 23.<br />
Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen und Literaturangaben bei HOFFMANN [1991],<br />
S. 29 f.<br />
MICHELS [2000], S. 16; JANSEN [2004], S. 51 m.w.H.; PÖLTL [1999], S. 40 f., S. 50 f.;<br />
EISENHARDT ULRICH [2004], S. 251, Fn. 350.<br />
JEROUSCHEK, Akkusationsprozess [2004], Sp. 127.<br />
LIEBERWIRTH [2006], Sp. 887 f.<br />
104
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
tät, die nach neuen, nicht-privaten Ordnungs- und Rechtskonzepten verlangte. 528<br />
Mit dem Fernhandel weitete sich die Effizienz kapitalistischen Wirtschaftens<br />
<strong>aus</strong>, die «face-to-face-Gesellschaft» mit engem sozialem Verhältnis der Beteiligten,<br />
in dem Ordnung durch gemeinschaftlichen Druck erhalten werden konnte,<br />
begann sich zu öffnen und wurde dadurch aufgeweicht. Der unmittelbar gelebte<br />
Glaube an das Eingreifen des rechtliebenden Gottes verlor an Kraft. 529 Der<br />
Einsatz des Rechts zur Schaffung rationaler Organisationsstrukturen in der<br />
kirchlichen, kommunalen und mitunter auch territorialen Verwaltung gewann an<br />
Bedeutung.<br />
Bei schweren Friedbrüchen, die sich im Rahmen der Fehde 530 ereigneten,<br />
wurde im entstehenden frühneuzeitlichen Staat mit den Landfrieden 531 das im<br />
frühabsolutistischen Selbstverständnis zwingende Einschreiten der Landeshoheit<br />
eingeführt. Durch inquisitorisches Verfahren sollte die Fehde nach und<br />
nach effizient eingedämmt werden. Mit dem Schwerpunkt auf der materiellen<br />
Wahrheitsfindung gelangte die Verfahrensführung samt dessen Einleitung nun<br />
allmählich in die Hände der Obrigkeit. 532 Diese neue Form der rationalen Untersuchung<br />
sollte auch der Bekämpfung der Armutsdelinquenz der landschädlichen<br />
Leute 533 dienen. 534<br />
Die Carolina bildete bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die massgebliche<br />
Rechtsquelle des Inquisitionsprozesses. 535 Der Inquisitionsprozess leitet seinen<br />
Namen vom lateinischen Wort «inquisitio» (Untersuchung) ab und bezeichnet<br />
nichts anderes als eine bestimmte Strafverfahrensart, einen Typus des Strafverfahrens.<br />
536 Neu kamen im Inquisitionsprozess drei Verfahrensgrundsätze zum<br />
Tragen: das Offizialprinzip, das Untersuchungsprinzip und das Prinzip der ma-<br />
528<br />
529<br />
530<br />
531<br />
532<br />
533<br />
534<br />
535<br />
536<br />
BLAUERT [2000], S. 163.<br />
SCHILD, Frag [2002], S. 25.<br />
Zur Fehde unten Kap. 7.1.4, Fn. 1076.<br />
Siehe etwa PAHUD DE MORTANGES [2007], S. 32, Rz. 43; S. 121, Rz. 188; SENN [2007],<br />
S. 77 f.<br />
PAHUD DE MORTANGES [2007], S. 125, Rz. 194; SENN [2007], S. 217.<br />
Dazu gehörten etwa Bettler, Diebe und dergleichen.<br />
PAHUD DE MORTANGES [2007], S. 125, Rz. 194.<br />
PÖLTL [1999], S. 40.<br />
IGNOR [2002], S. 16.<br />
105
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
teriellen Wahrheit. 537 Bei der Offizialmaxime 538 wird das Strafverfahren nicht<br />
wie beim Akkusationsprozess durch Klage eines Verletzten einer Straftat in<br />
Gang gesetzt, sondern von Amtes wegen durch die zuständigen Behörden bei<br />
Vorliegen des Verdachts einer Straftat. Das Untersuchungsprinzip besagt, dass<br />
sich die Untersuchenden über alle Umstände einer Straftat zu informieren haben,<br />
«so zu erfindung der warheyt dinstlich» 539 . Hier setzt auch das Prinzip der<br />
materiellen Wahrheit an: Es geht darum, Schuld oder Unschuld des Verdächtigen<br />
zu belegen, wobei das Gericht der Sache selbst auf den Grund zu gehen<br />
hat. 540<br />
Mittels der neuen Prinzipien wurde es möglich, Straftaten wirkungsvoller zu<br />
verfolgen. Die formellen Beweismittel des Eids und des Gottesurteils wurden<br />
zurückgedrängt. An ihre Stelle traten insbesondere der Zeugenbeweis 541 und vor<br />
allem die Folter. 542 Das Ermittlungsverfahren war ein wesentlicher Teil des Inquisitionsprozesses.<br />
Zur Bestrafung war das Geständnis des Angeklagten konstitutiv,<br />
543 <strong>aus</strong>ser er wurde durch zwei Tatzeugen überführt. 544 Aus einsichtigen<br />
Gründen kam es beim Inquisitionsprozess weit häufiger zur Anwendung der<br />
Folter als beim Akkusationsprozess. Im mittelalterlichen Parteiprozess führte<br />
das Geständnis nicht als Beweismittel, sondern als rechtsgestaltende Prozesshandlung<br />
des Beklagten zu dessen Verurteilung, weil es ihm die Führung des<br />
Entlastungsbeweises verunmöglichte. Dies änderte sich erst allmählich mit der<br />
– allerdings wohl auch diesbezüglich unterschiedlich konsequent angewendeten<br />
– Carolina, die erstmals auch die Überprüfung eines freiwillig abgelegten<br />
Geständnisses vorschrieb. 545 Es kam durch<strong>aus</strong> vor, dass im Wissen um die To-<br />
537<br />
538<br />
539<br />
540<br />
541<br />
542<br />
543<br />
544<br />
545<br />
IGNOR [2002], S. 17; JANSEN [2004], S. 55.<br />
Art. 6 CCC trägt die Überschrift «Annemen der angegeben übelthetter von der oberkeyt<br />
vnnd von ampts wegen».<br />
Art. 8 CCC.<br />
Ausführungen zu den drei Prinizpien bei IGNOR [2002], S. 17 f.<br />
Vgl. Kap. 5.3.2.<br />
POPPEN [1984], S. 10, § 2; GSCHWEND, Geständniszwang [2006], S. 166; vgl. Kap.<br />
5.5.4.2.<br />
VAN DÜLMEN, Theater [1995], S. 23 f. .<br />
Vgl. Kap. 5.3.1.<br />
Art. 54 CCC; KLEINHEYER, Geständnis [1979] weist darauf hin, dass der Nachdruck und<br />
die Sorgfalt, mit der die Carolina die Wahrheitskontrolle verlange, deutlich zeige, dass<br />
damit keineswegs Selbstverständliches <strong>aus</strong>gesprochen worden sei, S. 381, siehe auch<br />
S. 373 und 376.<br />
106
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
desstrafe freiwillig ein unrichtiges Geständnis gemacht wurde, weil allein diese<br />
Strafe Trost und Erlösung zu versprechen schien und daher angestrebt wurde. 546<br />
5.2 Zur Zweiteilung des Verfahrens<br />
Die Carolina regelt das Verfahren ab Verhaftung des Beklagten. Ab dem<br />
16. Jahrhundert wurden im juristischen Schrifttum und in der Praxis die Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />
für die Verhaftung und das Tätigwerden der Untersuchungsorgane<br />
näher bestimmt. Im ersten Verfahrensabschnitt, der sog. Generalinquisition, hatte<br />
die Obrigkeit festzustellen, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden<br />
war. Diejenigen äusseren Anzeichen eines Verbrechens, die zu besonderen Verfolgungmassnahmen<br />
berechtigten, nannte man das corpus delicti. Nach heutigem<br />
Verständnis war corpus delicti also ein prozessualer Begriff. 547 Die Lehre<br />
vom corpus delicti wurde schliesslich bei der Wendung des Blicks vom Prozessualen<br />
(was ist als geschehen anzunehmen?) zum Materiellen (wie ist Geschehenes<br />
zu werten?) vom Begriff des Tatbestands verdrängt. 548 Erst seit den<br />
1830er-Jahren erhielt die Lehre vom corpus delicti einen wissenschaftlichen<br />
Boden im modernen Sinn. 549<br />
Im Rahmen der Generalinquisition mussten die Untersuchenden also das corpus<br />
delicti beweisen, erste Zeugen und Verdächtige summarisch einvernehmen<br />
und den mutmasslichen Täter festnehmen. Gelang dies, so folgte auf die Generalinquisition<br />
die Spezialinquisition. 550 Sie diente dazu, den dingfest gemachten<br />
Verdächtigen der festgestellten Tat zu überführen. 551<br />
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts begannen Rechtsgelehrte 552 , sich <strong>gegen</strong> die<br />
Zweiteilung des Verfahrens in General- und Spezialinquisition und für ein einheitliches<br />
Verfahren einzusetzen, und schafften die Basis für die freie Beweis-<br />
546<br />
547<br />
548<br />
549<br />
550<br />
551<br />
552<br />
SCHNABEL-SCHÜLE, Ego-Dokumente [1996], S. 300.<br />
JAKOBS [1993], S. 153.<br />
JAKOBS [1993], S. 154.<br />
GSCHWEND, Geständniszwang [2006], S. 168.<br />
HÄRTER [2000], S. 468.<br />
POPPEN [1984], S. 73; HÄRTER [2000], S. 468; SENN [2007], S. 217.<br />
Allen voran AUGUSTIN LEYSER, geb. 18. Oktober 1683, gest. 3. Mai 1752, <strong>aus</strong>führliche<br />
Biographie bei EISENHART AUGUST [1883], Bd. 18, S. 519 ff.<br />
107
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
würdigung. Auf die Praxis des 18. Jahrhunderts hatten diese Ansichten jedoch<br />
keinen Einfluss. 553<br />
5.3 Der Beweis im Inquisitionsprozess<br />
5.3.1 Der Indizienbeweis<br />
5.3.1.1 Rechtshistorische Einordnung<br />
Die Carolina kennt eine <strong>aus</strong>führliche gesetzliche Beweistheorie; die Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />
für die Verurteilung sind genau umschrieben. 554 Das Beweisrecht war<br />
insoweit formalisiert, als dass das Verhältnis der Beweismittel zueinander und<br />
ihr individueller Beweiswert festgelegt waren. Es bestanden damit gesetzliche<br />
Beweisregeln. Das Gericht musste eine Tatsache unter bestimmten Bedingungen<br />
als wahr annehmen. Neben Haupttatsachen, die unmittelbar auf die Tatbegehung<br />
bezogen sind, kennt die Carolina Hilfstatsachen oder Indizien, die indirekt<br />
den Schluss auf die Tatbegehung durch eine bestimmte Person zulassen. 555<br />
Die Indizienlehre hat in der Carolina grosses Gewicht. 556 Sie wird bisweilen<br />
als gesetzgeberische Meisterleistung ihrer Zeit bezeichnet. 557 In Art. 22 CCC 558 ,<br />
der mithin als die entscheidende Vorschrift des carolinischen Beweissystems<br />
angesehen wird, 559 hält die Carolina fest, niemand dürfe auf Anzeigung 560 , Argwohn,<br />
Wahrzeichen oder Verdacht hin verurteilt werden. Eine peinliche Strafe<br />
dürfe nur « <strong>aus</strong> eigen bekennen, oder beweisung [...] beschehen» werden. Der<br />
reine Indizienbeweis als Grundlage für einen Schuldspruch wurde durch die<br />
553<br />
554<br />
555<br />
556<br />
557<br />
558<br />
559<br />
560<br />
POPPEN [1984], S. 86 f.<br />
Hinweise dazu bei PÖLTL [1999], S. 41; GSCHWEND, Geständniszwang [2006], S. 168.<br />
JANSEN [2004], S. 56 mit weiteren Literaturangaben; RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 53<br />
f. Zur Entwicklung der Indizienlehre KLEINHEYER, Carolina [1984], S. 17 f.<br />
Mit den Indizien befassen sich die Art. 18 bis 44 CCC.<br />
PÖLTL [1999], S. 48.<br />
Ausführlich und mit weiteren Literaturangaben zu Art. 22 CCC PÖLTL [1999], S. 44 f.<br />
PÖLTL [1999], S. 44.<br />
Anzeigung = Indiz, Verdacht, Vermutung; mit dem Titel «Von begreiffung des wörtlins<br />
anzeygung» umschreibt Art. 19 CCC den Begriff folgendermassen: «Item wo wir nachmals<br />
redlich anzeygen melden, da wöllen wir alwegen, redlich warzeichen, argkwon, verdacht,<br />
vnd vermutung auch gemeynt haben, vnd damit die überigen wörter abschneiden».<br />
108
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Carolina also <strong>aus</strong>geschlossen. 561 Nur die Unschuld oder Milderungsgründe<br />
konnten durch Indizien bewiesen werden, Art. 22 CCC bezieht sich also nur auf<br />
den Anschuldigungsbeweis. 562 Weiter konnte auch die K<strong>aus</strong>alität zwischen<br />
Handlung und Erfolg durch Indizien bewiesen werden, wenn eine Handlung und<br />
ein tatbestandlicher Erfolg durch Geständnis, Zeugnis oder richterlichen Augenschein<br />
bewiesen waren. 563<br />
Die Indizienlehre der Carolina ist detailliert, wobei die Aufzählung der Indizien<br />
beispielhaften Charakter hat. 564 Die Indizien werden in zwei Gruppen unterteilt:<br />
in gemeine Indizien, die sich auf alle Straftaten beziehen, 565 und in besondere<br />
Indizien, die bestimmte Delikte betreffen. 566 Bei der ersten Gruppe unterscheidet<br />
das Gesetz weiter, ob das Indiz für sich allein (nahe Anzeige) oder nur<br />
zusammen mit anderen Indizien (entfernte Anzeige) zur Folter <strong>aus</strong>reichte. 567 Für<br />
sich alleine genügte etwa das Auffinden eines dem Verdächtigen gehörenden<br />
Gegenstandes am Tatort, 568 die Aussage eines Tatzeugen 569 oder ein <strong>aus</strong>sergerichtliches<br />
Geständnis des Verdächtigen. 570 Entfernte Anzeigen waren beispielsweise<br />
ein schlechter Leumund des Beschuldigten, der von redlichen und<br />
unparteiischen Leuten herrühren musste, 571 ein besonderes Motiv 572 oder das Gesehenwerden<br />
am Tatort oder in unmittelbarer Nähe desselben. 573 War ein Indiz<br />
nicht offenkundig und damit gerichtsnotorisch, durfte das Gericht von einem<br />
561<br />
562<br />
563<br />
564<br />
565<br />
566<br />
567<br />
568<br />
569<br />
570<br />
571<br />
572<br />
573<br />
GLASER [1883], S. 90; RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 54; m.w.H. MICHELS [2000],<br />
S. 21, Fn. 125.<br />
MICHELS [2000], S. 21, vgl. auch Art. 143 CCC betreffend den Rechtfertigungsgrund der<br />
Notwehr.<br />
Art. 147 CCC, MICHELS [2000], S. 21; KRÖNER [1958], S. 21.<br />
Art. 18 CCC.<br />
Art. 25 CCC.<br />
MICHELS [2000], S. 17; RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 55.<br />
PÖLTL [1999], S. 45 f.; MICHELS [2000], S. 17.<br />
Art. 29 CCC.<br />
Art. 30 CCC.<br />
Art. 32 CCC.<br />
Art. 25 § 1 CCC. Zur Bedeutung des Leumunds siehe JEROUSCHEK, Inquisitionsprozess<br />
[1992], S. 357 f.<br />
Z.B. Neid oder Feindschaft, Art. 25 § 5 CCC.<br />
Art. 23 § 2 CCC.<br />
109
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Beweis der «anzeygung» nur <strong>aus</strong>gehen, wenn der den Indizien zugrunde liegende<br />
Sachverhalt durch zwei vollgültige Zeugen bestätigt wurde. 574<br />
Der Indizienbeweis war eines der Beweismittel zur Feststellung, ob der Tatbestand<br />
eines Verbrechens gegeben war, was wiederum Vor<strong>aus</strong>setzung für die<br />
Anwendung der Folter war. 575 Bei Vorliegen eines nahen, eines besonderen oder<br />
mehrerer entfernter Indizien, die nach Ansicht des Gerichts 576 dieselbe Stärke<br />
wie ein nahes oder besonderes Indiz erreichten, durfte gefoltert werden, wobei<br />
dem Angeklagten zuvor die Möglichkeit einzuräumen war, Entlastungsbeweise<br />
anzubringen. 577 Auf normativer Ebene vermitteln die strenge Beweistheorie und<br />
die Regeln zur Anwendung der Folter jedoch ein etwas irreführendes Bild. Insbesondere<br />
bei der Handhabung der Folter hatte der Richter ein nicht unbeachtliches<br />
Ermessen. Er konnte entscheiden, ob die vorhandenen Indizien einen Übergang<br />
von der General- in die Spezialinquisiton 578 zuliessen, und so den Weg zur<br />
Folter ebnen. 579<br />
Die Anforderungen an Indizien waren je nach zu beurteilendem Delikt unterschiedlich.<br />
580 Für die Verurteilung aufgrund eines Tötungsdelikts musste der<br />
Tod eines Menschen durch das «corpus mortuum» bewiesen werden. Die strengen<br />
Beweisregeln konnten zu unbefriedigenden Ergebnissen führen. Gelang es<br />
etwa einem Täter, die Leiche unbemerkt zu beseitigen, konnte er nämlich trotz<br />
seines Geständnisses nicht mit der ordentlichen Strafe belegt werden. 581<br />
Beeinflusst von der damals herrschenden italienischen Doktrin, die den Ausgleich<br />
zwischen der dem Schutz des Beschuldigten dienenden Lehre vom corpus<br />
delicti 582 und dem Strafinteresse des Staates durch Zulassung von Indizien<br />
als subsidiärem Beweismittel erlaubte, sprach sich im deutschsprachigen Raum<br />
schliesslich BENEDIKT CARPZOV ebenfalls für den Beweis durch schwerwie-<br />
574<br />
575<br />
576<br />
577<br />
578<br />
579<br />
580<br />
581<br />
582<br />
Art. 22 CCC; MICHELS [2000], S. 16, vgl. unten Kap. 5.3.2.<br />
Art. 22 CCC bestimmte, dass die Folter nur zur Anwendung kommen durfte, wenn entsprechende<br />
Indizien vorlagen, vgl. PÖLTL [1999], S. 44.<br />
Hier handelte es sich um eine Ermessensfrage; PÖLTL [1999], S. 47.<br />
Art. 27 CCC, MICHELS [2000], S. 19.<br />
Vgl. oben Kap. 5.2<br />
GSCHWEND, Geständniszwang [2006], S. 169.<br />
PÖLTL [1999], S. 47 f.<br />
KRÖNER [1958], S. 18.<br />
Vgl. oben Kap. 5.2.<br />
110
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
gende Indizien als subsidiäres Beweismittel <strong>aus</strong>. Nach und nach wurde dieser<br />
Indizienbeweis allgemein anerkannt. 583 Nach CARPZOVS Lehre berechtigten die<br />
Indizien auch zur Anwendung eines Reinigungseids oder der poena extraordinaria<br />
584 , wodurch der Anwendungsbereich des Indizienbeweises <strong>gegen</strong>über der<br />
Carolina klar erweitert wurde. Auch CARPZOV gestand den Indizien hin<strong>gegen</strong><br />
keine vollständige Beweiskraft zu. 585 Erst im Zuge der Aufklärung erlangte der<br />
Indizienbeweis einen neuen Stellenwert, wobei sich die Erfolge im Strafprozessrecht<br />
überwiegend erst im 19. Jahrhundert einstellten. 586<br />
5.3.1.2 Indizien im Fall <strong>Egger</strong><br />
An die Obrigkeit wurde bereits kurz nach dem Verschwinden von Catharina<br />
Himmelberger der Verdacht herangetragen, sie könnte von <strong>Egger</strong> umgebracht<br />
worden sein. Dabei handelte es sich um eine «anzeygung» im Sinne von Art. 19<br />
CCC, die freilich für sich alleine keine peinliche Bestrafung erlaubt hätte (Art.<br />
22 CCC). Eine «nahe Anzeige» im oben erläuterten Sinne, die zur Folter gerechtfertigt<br />
hätte, wäre etwa in der Aussage eines Tatzeugen oder einem <strong>aus</strong>sergerichtlichen<br />
Geständnis zu erblicken gewesen. Einen Tatzeugen gab es nicht.<br />
Der erste Verdacht <strong>gegen</strong> <strong>Egger</strong> war also eine «entfernte Anzeige», die nur zusammen<br />
mit anderen Indizien die Anwendung der Folter erlaubt hätte. Ein solches<br />
weiteres Indiz wäre etwa ein besonderes Motiv für die Tat gewesen. Das<br />
Motiv <strong>Egger</strong>s lag möglicherweise in der Umgehung seiner Zahlungspflicht <strong>gegen</strong>über<br />
Catharina Himmelberger. Da jedoch weder Bestand noch Höhe der<br />
Schuld <strong>aus</strong>gewiesen waren, liess sich in jenem Stadium des Verfahrens nicht<br />
zuverlässig beurteilen, ob <strong>Egger</strong> tatsächlich ein Motiv für die Tötung hatte.<br />
Weitere Indizien, wie etwa ein schlechter Leumund, lagen nach den Akten nicht<br />
vor.<br />
Die Zeugen<strong>aus</strong>sage von Elisabeth Schafh<strong>aus</strong>er 587 erfolgte am 13. Februar<br />
1775, also noch vor <strong>Egger</strong>s Verhaftung. Die Näherin berichtete jedoch nur vom<br />
583<br />
584<br />
585<br />
586<br />
587<br />
KRÖNER [1958], S. 18 f.<br />
Vgl. unten Kap. 7.1.1.<br />
PÖLTL [1999], S. 56.<br />
PÖLTL [1999], S. 59 ff.; GSCHWEND, Geständniszwang [2006], S. 172 f.<br />
Dok. 5, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Elisabeth Schafh<strong>aus</strong>er.<br />
111
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Hörensagen, gab wieder, was ein ihr bekannter Knecht ihr geschildert hatte. Ihre<br />
Aussage konnte deshalb höchstens ein entferntes Indiz dafür darstellen, dass im<br />
Wald etwas vorgefallen sein könnte. Rückschlüsse auf <strong>Egger</strong> und das von ihm<br />
gemäss ersten Vermutungen verübte Verbrechen liess die Aussage hin<strong>gegen</strong><br />
nicht zu. Da <strong>Egger</strong> noch in der Nacht auf den 14. Februar 1775 verhaftet wurde<br />
und sein Schwager <strong>Joseph</strong> Bensegger die Ermittelnden über den Verbleib der<br />
Leiche Catharinas aufklärte, erübrigte es sich, dem sehr vagen Indiz, das Elisabeth<br />
Schafh<strong>aus</strong>er geliefert hatte, nachzugehen. 588<br />
Gegenüber dem Wirt sowie <strong>gegen</strong>über seinem Schwager und seinem Stiefvater<br />
gestand <strong>Egger</strong> die Tat am 13. Februar 1775. Von diesem Zeitpunkt an wäre<br />
demnach von einer «nahen Anzeige» <strong>aus</strong>zugehen gewesen. Unabhängig davon,<br />
ob <strong>Egger</strong> auch <strong>gegen</strong>über dem Gericht ein Geständnis abgeben würde, hätte er<br />
ab dem 13. Februar 1775 rechtmässig gefoltert werden dürfen. Die Leiche Catharina<br />
Himmelbergers fand die Obrigkeit am 14. Februar 1775. Rasch konnte<br />
nachgewiesen werden, dass sie eines gewaltsamen Todes gestorben war. Am<br />
15. Februar 1775 wurde <strong>Egger</strong> zu Beginn des ersten Verhörs nach seiner Gefangennahme<br />
vom Gericht gefragt, was er getan habe, worauf er sogleich zugab,<br />
Catharina Himmelberger einen «streich in das knickh» gegeben zu haben. 589<br />
Nach diesem Schlag habe sie sich nicht mehr geregt, sei gleich tot gewesen. 590<br />
Das Gericht verfügte also ab diesem Zeitpunkt im Verfahren über ein gerichtliches<br />
Geständnis, dass <strong>Egger</strong> das Opfer mit einem Schlag niedergestreckt hatte,<br />
und mit der Leiche über das corpus delicti. Eine Verurteilung wegen Totschlags<br />
der Catharina Himmelberger wäre damit grundsätzlich bereits am 15. Februar<br />
1775 möglich gewesen.<br />
Die Anzeige des St. Galler Stadtbürgers Pankraz Rietmann 591 vom 16. Februar<br />
1775, wonach sein Bruder bisweilen bei <strong>Egger</strong> ein Glas Most getrunken<br />
habe und vor eindreiviertel Jahren während des Jahrmarkts verschwunden sei,<br />
war derart vage, dass sie für das Gericht nicht einmal als entferntes Indiz taug-<br />
588<br />
589<br />
590<br />
591<br />
Dies hätte etwa durch die Befragung des Knechts <strong>Joseph</strong> von der Tobler-Mühle und<br />
schliesslich durch eine Durchsuchung des Walds an der von diesem angegebenen Stelle<br />
geschehen können.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 2.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 4.<br />
Dok. 11, Anzeige von Pankraz Rietmann.<br />
112
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
lich war. Es sah offenbar keine Veranlassung, das Verschwinden von Hansulrich<br />
Rietmann mit <strong>Egger</strong> in Zusammenhang zu bringen; sie konfrontierte <strong>Egger</strong><br />
nicht einmal mit der Aussage Rietmanns. Auch betreffend die aufgefundenen<br />
verstümmelten Leichen vermochte die Anzeige kein Indiz zu begründen, zumal<br />
Fiskal Zollikofer bereits in seinem Bericht vom 14. Februar 1775 festgehalten<br />
hatte, es handle sich bei den beiden zusätzlich gefundenen Leichen um Frauen.<br />
592 Da <strong>Egger</strong> den Totschlag der Catharina Himmelberger bereits gestanden<br />
hatte, war sein guter Leumund im Übrigen ohnehin bereits zerstört, sodass die<br />
Aussage Rietmanns auch diesbezüglich nichts mehr zu beeinflussen vermochte.<br />
Während eine Verurteilung wegen Totschlags wie erwähnt grundsätzlich bereits<br />
nach der ersten Einvernahme <strong>Egger</strong>s möglich gewesen wäre, konnte das<br />
Delikt der Leichenschändungen nicht so rasch aufgeklärt werden. Hier fehlte<br />
anfänglich ein Geständnis von <strong>Egger</strong>. Deswegen bemühten sich die Untersuchenden,<br />
<strong>gegen</strong> ihn sprechende Indizien zu finden. Weil auch nach der H<strong>aus</strong>durchsuchung<br />
vom 16. Februar 1775 nicht alle Kleidungsstücke Catharinas aufgefunden<br />
worden waren – es fehlten insbesondere ihre «ermelschluten» –,<br />
musste der Totengräber die bereits begrabenen, noch nicht identifizierten, verstümmelten<br />
Leichen wieder <strong>aus</strong>graben und die mit den Leichen begrabenen<br />
Kleider der Obrigkeit übergeben. So stellte sich her<strong>aus</strong>, dass das Bündel mit den<br />
Leichen(-teilen) von Elisabeth Han und Maria Baumann Kleidungsstücke beinhaltete,<br />
die Catharina Himmelberger am Tag des Totschlags getragen hatte. Dies<br />
war eine «nahe Anzeige», ein Indiz, das für sich allein die Folterung <strong>Egger</strong>s gerechtfertigt<br />
hätte, selbst wenn er weiterhin geleugnet hätte, mit den beiden zusätzlichen<br />
Leichen etwas zu schaffen gehabt zu haben. Dazu kam es jedoch<br />
nicht, weil <strong>Egger</strong>, durch das starke Indiz in die Enge getrieben, bereits bei der<br />
gütlichen zweiten Einvernahme vom 17. Februar 1775 die Entwendung der Leichen<br />
und die Verstümmelungen zumindest teilweise gestand. 593<br />
592<br />
593<br />
Dok. 8, Amtsbericht von Fiskal Zollikofer, S. 4.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antworten 74 ff.<br />
113
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
5.3.2 Der Zeugenbeweis<br />
5.3.2.1 Rechtshistorische Einordnung<br />
Eine Verurteilung sollte erfolgen, wenn der Beschuldigte die Haupttatsachen<br />
gestand oder zwei Tatzeugen <strong>gegen</strong> ihn <strong>aus</strong>sagten. 594 Da die Ermittlungsorgane<br />
nur sehr beschränkte Möglichkeiten hatten, einen Täter aufzuspüren und ihn<br />
anzuklagen, war das Zeugenverhör das wichtigste Mittel, <strong>aus</strong>reichende Verdachtsmomente<br />
<strong>gegen</strong> einen Beschuldigten für die Durchführung eines Inquisitionsprozesses<br />
hervorzubringen. 595 Die Carolina setzt für die Tauglichkeit des<br />
Zeugenbeweises vor<strong>aus</strong>, dass die Aussagen der Zeugen auf deren eigenen<br />
Wahrnehmungen von Tatsachen beruhen. Werturteile, Meinungen, Rückschlüsse<br />
oder Informationen vom Hörensagen genügten zum wirksamen Zeugenbeweis<br />
somit nicht. 596 In der Carolina sind einfache Zeugen<strong>aus</strong>sagen – abgesehen<br />
von den selten vorhandenen zwei klassischen Tatzeugen – lediglich von sekundärer<br />
Bedeutung. Sie dienten somit in der Regel nur als Hilfsmittel für die Zulässigkeit<br />
der Folter, konnten aber keine Grundlage für eine Verurteilung bilden.<br />
Bei jedem Angeschuldigten, der nicht durch zwei Tatzeugen überführt werden<br />
konnte, war das Geständnis für eine Verurteilung also zwingend notwendig. 597<br />
Der Stellenwert der Zeugen<strong>aus</strong>sage definierte sich auch über das zu untersuchende<br />
Delikt. Bei Straftatbeständen, bei denen der Gegenstand des Verbrechens<br />
physisch vorhanden war, war man auf Zeugen<strong>aus</strong>sagen freilich viel weniger<br />
angewiesen als bei Delikten wie etwa Gotteslästerung oder Majestätsbeleidigung,<br />
die allein in der mündlichen Äusserung des Delinquenten bestanden. 598<br />
Die Carolina enthält Regeln zu Vor<strong>aus</strong>setzungen und Form des Zeugenbeweises.<br />
Grundsätzlich bestand eine Zeugnispflicht. 599 Über ein Zeugnisverweigerungsrecht<br />
etwa von Familienangehörigen enthält die Carolina keine Angaben.<br />
Die Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507 (CCB) verlangte noch, dass<br />
ein Zeuge nicht unter 20 Jahren und kein «Weibsbild» sein solle. 600 Auf diese<br />
594<br />
595<br />
596<br />
597<br />
598<br />
599<br />
600<br />
Art. 67 CCC.<br />
WITTKE, Alltag [2002], S. 295.<br />
FISCHER [1998], Sp. 1686. Vgl. Art. 65 und 67 CCC.<br />
HAUSER ROBERT [1974], S. 7; HENKEL [1968], S. 42.<br />
SCHNABEL-SCHÜLE, Ego-Dokumente [1996], S. 299.<br />
JANSEN [2004], S. 57.<br />
Art. 76 CCB.<br />
114
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Einschränkung verzichtet die Carolina ebenso wie auf den Ausschluss von Angehörigen<br />
des Beschuldigten vom Zeugnis. 601 KARITZKY geht jedoch davon <strong>aus</strong>,<br />
die Carolina habe mit Zeugen wohl nicht strenger verfahren wollen, als dies in<br />
den Prozessen jener Zeit ohnehin allgemein üblich gewesen sei. 602 Der Klagspiegel<br />
von 1425 und die Wormser Reformation von 1498 schliessen etwa<br />
Frauen und Jugendliche sowie gewisse Kategorien von Verwandten vom Zeugnis<br />
<strong>aus</strong>. 603 Mit KARITZKY kann angenommen werden, dass die dort geforderte<br />
Rücksichtnahme auf Verwandte und H<strong>aus</strong>genossen durch die Vorschriften der<br />
Carolina nicht berührt werden sollte. 604 Mitunter wurde dafür plädiert, Verwandte<br />
nur dann mittels Folter zur Aussage <strong>gegen</strong> den Angeschuldigten zu zwingen,<br />
wenn man die Wahrheit nicht auf andere Weise ergründen könnte oder kein anderer<br />
Zeuge vorhanden wäre. 605 Dies dürfte sich freilich mitunter als schwacher<br />
Schutz der Verwandten erwiesen haben.<br />
Wurde die Richtigkeit von Zeugen<strong>aus</strong>sagen bestritten, so wurden unbekannte<br />
Zeugen nur zugelassen, wenn derjenige, der die Zeugen stellte, ihre Redlichkeit<br />
und ihren guten Leumund dartun konnte. 606 Auch bekannte Zeugen mussten über<br />
einen guten Leumund verfügen. 607 Bezahlte Zeugen waren unzulässig und sollten<br />
bestraft werden. 608 Die Zeugeneinvernahme erfolgte unter Ausschluss des<br />
Beschuldigten und der Öffentlichkeit und war zu protokollieren. 609 Ihr Resultat<br />
war dem Beschuldigten später zu eröffnen. 610<br />
Auch das Konzept zur Pfalzratsordnung 1733 verlangte von den Zeugen, sie<br />
sollten gut, ehrbar und tüchtig sein und über einen guten Leumund verfügen.<br />
601<br />
602<br />
603<br />
604<br />
605<br />
606<br />
607<br />
608<br />
609<br />
610<br />
HAUSER ROBERT [1974], S. 8. Das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht von Familienangehörigen<br />
führte jedoch längst nicht immer zu Aussagen, die den Verdächtigen schützen<br />
oder schonen sollten. Im Gegenteil wurde der Verdächtige oft durch einen Familienangehörigen<br />
belastet, etwa mit der Intention, einen allenfalls lästigen Miterben <strong>aus</strong>zuschalten;<br />
SCHNABEL-SCHÜLE, Ego-Dokumente [1996], S. 300.<br />
KARITZKY [1959], S. 21.<br />
KARITZKY [1959], S. 18 f.<br />
KARITZKY [1959], S. 21.<br />
ZEDLER [1751], Bd. 62, S. 101, Sp. 176.<br />
Art. 63 CCC.<br />
Art. 66 CCC.<br />
Art. 64 CCC.<br />
Neben den Aussagen sollten auch die Gebärden des Zeugen protokolliert werden, Art. 71<br />
CCC.<br />
GLASER [1883], S. 90 f.<br />
115
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Weiter sollten sie nicht mit der Gegenpartei befreundet oder verwandt sein.<br />
Sollten aber keine anderen Zeugen beigebracht werden können, so konnten diese<br />
doch genannt werden, wobei es schliesslich in der richterlichen Erkenntnis<br />
lag zu entscheiden, in wieweit solche Zeugen<strong>aus</strong>sagen zulässig wären. Die Advokaten<br />
sollten die Zeugen nicht «zur ungebühr verführen, oder mit muth, gelt,<br />
gab, oder versprechen, was anders zu sagen verleithen, als was die liebe wahrheit<br />
erforderet». 611<br />
Die einvernommenen Zeugen mussten vor der Aussage in der Regel ein Gelübde<br />
ablegen. Dieses war ein feierliches Versprechen, das mit dem Einsatz der<br />
Ehre der gelobenden Person, im Gegensatz zum Eid jedoch ohne religiöse Bindung,<br />
gegeben wurde. Der Eid war dem<strong>gegen</strong>über eine Anrufung Gottes als<br />
Zeuge der Wahrheit einer Aussage oder eines Versprechens. 612 Er war oft als<br />
bedingte Selbstverfluchung <strong>aus</strong>gestaltet, die in ritueller Gebundenheit und<br />
Form, etwa mit feierlichem Erheben der Hand oder mit Berührung von heiligen<br />
Gegenständen oder Körperteilen, geleistet wurde. 613 Das Landmandat der Alten<br />
Landschaft von 1761 regelt beispielsweise die Gestik samt Bedeutung sowie die<br />
Worte der Selbstverfluchung <strong>aus</strong>führlich. 614<br />
Im Falle des Eidbruchs lieferte man sich den Kräften <strong>aus</strong>, auf die man den<br />
Eid geleistet hatte, so etwa Blitz, Feuer oder Wasser. 615 Verletzte man das Gelöbnis,<br />
so machte man sich zwar auch strafbar. Im Gegensatz zum Eid jedoch,<br />
der vor Gott und dem eigenen Gewissen bestehen musste, hatte das Gelöbnis<br />
nur vor dem eigenen Gewissen zu bestehen. 616 Da die Landeshoheit ihre Amtsleute<br />
und Untertanen nur in beschränktem Masse kontrollieren konnte, diente<br />
der Eid zu Gott als willkommene Möglichkeit, die Untergebenen an ihre Pflichten<br />
zu binden, die Zeugen zur wahren Aussage zu bringen und bei Beamten<br />
Amtsmissbrauch vorzubeugen. 617 Gerade bei Zeugenbefragungen diente die<br />
611<br />
612<br />
613<br />
614<br />
615<br />
616<br />
617<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 99.<br />
LUMINATI, Eidverweigerung [2008], S. 199.<br />
Es wurden etwa der Bart oder die Brust berührt; MUNZEL-EVERLING [2007], Sp. 1249.<br />
Vgl. die «Erklärung des Aydtschwurs» im Anhang zum Landmandat 1761, RQSG (Alte<br />
Landschaft), S. 149 f.<br />
SCHILD, Verfahren [1989], S. 130.<br />
ZIEGLER STEPHAN [1997], S. 24.<br />
ZIEGLER STEPHAN [1997], S. 24.<br />
116
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
mahnende Erinnerung an den geleisteten Eid als wichtige Waffe. 618 Der Eid<br />
wurde durch Eidtafeln in Gerichtsräumen, abschreckende Geschichten über<br />
Eidbruch, Predigten und erbauliche Literatur popularisiert. Im Laufe der frühen<br />
Neuzeit wurde die Schwurpraxis jedoch allmählich eingedämmt. 619 Im Strafverfahren<br />
blieb weitgehend nur der Zeugeneid oder – wie im Fall <strong>Egger</strong> – das<br />
Handgelübde erhalten. 620<br />
Der Eid war in verschiedenen Lebenslagen zu leisten. Es wird zwischen dem<br />
gelobenden Eid 621 und dem bekundenden, verpflichtenden Eid 622 unterschieden.<br />
Der Eid war ein etwa von Zeugen, von Angeschuldigten, aber auch von den verschiedenen<br />
Pflichtenträgern des Staatswesens feierlich <strong>aus</strong>gesprochenes Versprechen<br />
<strong>gegen</strong>über dem Staatswesen und der Obrigkeit, gleichzeitig eine Bindung<br />
an Gott und eine Unterwerfung unter seine Gebote und Verbote. 623 Das<br />
Landmandat von 1761 beispielsweise kannte explizit den «Amman- und Richter<br />
Aydt», der diese Amtsträger verpflichtete, ihre Arbeit rechtsgleich, unbestechlich,<br />
unparteiisch und «umb des blossen Rechten willen, alles getreulich und<br />
ungefährde» <strong>aus</strong>zuführen. 624<br />
Einen Eid leisten mussten auch die Pfalzräte in der Fürstabtei. Das Konzept<br />
der Pfalzratsordnung 1733 erinnert die Pfalzräte daran, dass sie in allen Rechts-<br />
618<br />
619<br />
620<br />
621<br />
622<br />
623<br />
624<br />
FUCHS, Gott [2000], S. 326, ferner S. 323.<br />
Die im 18. Jahrhundert lauter werdenden Forderungen nach Toleranz stellten den Eid als<br />
religiös fundiertes Zwangsmittel allmählich in Frage. Schliesslich erklärte etwa der Philosoph<br />
Immanuel Kant (geb. 1724, gest. 1804) den Eid als mit der menschlichen Freiheit<br />
unvereinbar. Insbesondere nach 1800 verlangten Kritiker wenn nicht die vollständige Abschaffung<br />
des Eids, so doch seine Umwandlung in einen vernunftrechtlich begründeten,<br />
auf der Pflicht zur Wahrhaftigkeit beruhenden «bürgerlichen» Eid; LUMINATI, Eidverweigerung<br />
[2008], S. 204.<br />
LUMINATI, Eid, Kap. 2, e-HLS [2005].<br />
Der gelobende Eid nimmt die Form eines Treueschwurs an und gründet bzw. festigt<br />
Rechtsverhältnisse verschiedenster Art; MUNZEL-EVERLING [2007], Sp. 1250 ff.<br />
Der bekundende Eid ist etwa der Reinigungseid im Beweisrecht; MUNZEL-EVERLING<br />
[2007], Sp. 1253.<br />
ZIEGLER STEPHAN [1997], S. 23; SCHMIDT HANS-JOACHIM [2006], S. 84. Eine (<strong>aus</strong>nahmsweise)<br />
ein Amt bekleidende Frau durfte oftmals keinen Eid schwören, sondern nur<br />
ein Gelübde ablegen. In der Fürstabtei St. Gallen mussten alle männlichen Untertanen einen<br />
allgemeinen Eid zu Gehorsam, Treue und Wahrheit <strong>gegen</strong>über dem Abt schwören,<br />
vgl. Anhang zum Landmandat 1761, RQSG (Alte Landschaft), S. 147 f.<br />
Anhang zum Landmandat 1761, RQSG (Alte Landschaft), S. 148. Der Anhang kennt<br />
weiter den «Ammann-, Weibel- und Würthen-Aydt».<br />
117
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
sachen und was diesen zugehörig sei «allzeit ihrer zu der Gott geheilligten justiz<br />
leiblich geschwohrnen eyd, und dessen veranthwortung am jüngsten tag wohl in<br />
acht behalten, und darwider von keiner ley ursachen wegen wissentlich nicht<br />
handlen» sollten. 625<br />
Im 18. Jahrhundert gewann der Zeugenbeweis allmählich an Bedeutung. Im<br />
Zuge der Aufklärung wurden Stimmen <strong>gegen</strong> die Folter immer lauter. 626 Ein gewisses<br />
Misstrauen begann sich zu entwickeln <strong>gegen</strong> dieses «Instrument der<br />
Wahrheitsfindung», was zu einer stärkeren Betonung der anderen Beweismittel<br />
führte. 627 Man bemühte sich immer stärker darum, möglichst umfassende Verdachtsgründe<br />
schon zusammenzutragen, bevor man zum Instrument der Folter<br />
griff. Zu diesem Zweck begann man, vom Gesetz wegen Unglaubwürdigkeit<br />
<strong>aus</strong>geschlossene Zeugen zur Information des Gerichts zu vernehmen. 628 Der<br />
Richter sollte alle Personen verhören können, von denen irgendeine Aufklärung<br />
zu erwarten war, wobei auch das Verhör der nächsten Angehörigen zugelassen<br />
bzw. gemäss dem im 18. Jahrhundert publizierenden Carolina-Kommentator<br />
FRÖLICHSBURG 629 sogar empfohlen wurde. 630<br />
5.3.2.2 Zeugen im Fall <strong>Egger</strong><br />
Von <strong>Egger</strong>s Verbrechen gab es keine direkten Tatzeugen. Er erschlug Catharina<br />
Himmelberger frühmorgens unbemerkt in seinem Stall. Die Leiche von Maria<br />
Baumann grub er kurz nach Weihnachten abends um sieben, also in der Dunkelheit,<br />
<strong>aus</strong>. Er hatte an jenem Tag mit dem Schlitten Geschirr für den Hafner<br />
der Langgasse nach Herisau gefahren, wobei ihn der Sohn des Hafners begleitet<br />
hatte. Auf dem Rückweg hatte <strong>Egger</strong> diesen vor<strong>aus</strong>geschickt mit der Bemerkung,<br />
in der Vorstadt noch etwas erledigen zu müssen. Erst zwei Stunden später<br />
wurde er wieder gesehen, wie er mit einem Bündel über den Schultern die<br />
625<br />
626<br />
627<br />
628<br />
629<br />
630<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 68.<br />
Vgl. Kap. 5.5.4.2.<br />
KARITZKY [1959], S. 30.<br />
KARITZKY [1959], S. 31.<br />
Johann Christoph Frölich von Frölichsburg (gest. 1776) war Rechtsprofessor an der Universität<br />
Freiburg im Breisgau.<br />
FRÖLICHSBURG [1759], 1. Buch, 18. Titel, Nr. 4 und 5.<br />
118
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Langgasse entlang kam. 631 Offenbar schöpfte deswegen jedoch niemand den<br />
Verdacht, <strong>Egger</strong> könnte eine strafbare Handlung begangen haben. Einen direkten<br />
Zeugen des Leichenraubs gab es nicht. Niemand bemerkte, dass das Grab<br />
von Maria Baumann leer war, obwohl es nach jenem Tag etwas eingefallen<br />
war. 632 Auch die Leichenteile von Elisabeth Han transportierte <strong>Egger</strong> unbemerkt<br />
zu sich nachh<strong>aus</strong>e.<br />
Im Laufe des Verfahrens wurden viele Zeugen befragt. Dies lässt darauf<br />
schliessen, dass das Gericht bestrebt war, den Fall ohne Folterung <strong>Egger</strong>s, sondern<br />
durch andere Formen der Sachverhaltsabklärung aufzuklären. Man schien<br />
sich Mühe gegeben zu haben, von den Personen im Umfeld <strong>Egger</strong>s die eigenen<br />
Wahrnehmungen von Tatsachen erzählt zu bekommen. Wurde eine Information<br />
vom Hörensagen an die Untersuchenden herangetragen, vernahmen diese wenn<br />
möglich die Person, die eine direkte Wahrnehmung vom Erzählten haben konnte,<br />
zusätzlich ein. So begnügte man sich nicht mit der Aussage von Kaspar Wettach<br />
vom 23. August 1773, der berichtete, die Überreste des Leichnams von Elisabeth<br />
Han gefunden zu haben, sondern befragte zwei Tage später noch Fideli<br />
Burckhard, den Knecht des Scharfrichters, nach seinen Wahrnehmungen im Zusammenhang<br />
mit dem Auffinden der Leiche. Sogar der Nebenknecht Franz <strong>Antoni</strong><br />
Ritter wurde beeidigt zu seinen Wahrnehmungen befragt, obwohl er erst<br />
abends «zu dem verlochenden cörper» dazugekommen war. 633 Obwohl die Zeugen<strong>aus</strong>sagen<br />
von Wettach, Burckhard und Ritter am 23. und 25. August 1773<br />
bereits genau protokolliert worden waren, stellte das Gericht beim Aufrollen des<br />
Falles im Februar 1775 nicht unbesehen auf dieses Protokoll ab, sondern beorderte<br />
Ritter nochmals in den Zeugenstand. Er bestätigte die ihm vorgelesenen<br />
Aussagen vom August 1773. 634 Dieses Verhör verdeutlicht, dass das Gericht sich<br />
anstrengte, den Sachverhalt möglichst detailliert und sauber abzuklären. Freilich<br />
zeigt dieses Beispiel auch ein Problem der damaligen Zeugenbefragung: Was,<br />
wenn eine Tat schon längere Zeit zurück lag und der Zeuge weitergezogen, die<br />
631<br />
632<br />
633<br />
634<br />
Dok. 13, zweite Anzeige von Christian Louis; Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s,<br />
Antworten 79, 80.<br />
Dok. 14, Amtsbericht von Hatschier Hofstetter und Zeugeneinvernahme Etters, S. 2.<br />
Dok. 1, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von Sattlermeister Wettach und den Knechten des Scharfrichters.<br />
Dok. 1, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von Sattlermeister Wettach und den Knechten des Scharfrichters,<br />
S. 5 f.<br />
119
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Alte Landschaft vielleicht sogar verlassen hatte? Da es kaum Möglichkeiten<br />
gab, den Verbleib einer Person nach deren Fortgang mit verhältnismässigem<br />
Aufwand abzuklären, waren der Zeugeneinvernahme, die nicht in relativ kurzer<br />
Zeit nach einer Straftat erfolgt war, wohl enge Grenzen gesetzt.<br />
Allen Hinweisen scheint das Gericht im Fall <strong>Egger</strong> aber trotz der breit angelegten<br />
Zeugenbefragungen nicht auf den Grund gegangen zu sein. So wurde die<br />
Anzeige des Strumpfwebers Pankraz Rietmann vom 16. Februar 1775, in der<br />
dieser gemutmasst hatte, <strong>Egger</strong> könnte beim vor eindreiviertel Jahren erfolgten<br />
spurlosen Verschwinden seines Bruders seine Finger im Spiel gehabt haben, 635<br />
weder kommentiert noch scheint sie sonst irgendwie verwertet worden zu sein.<br />
<strong>Egger</strong> wurde erstaunlicherweise offenbar nicht mit Rietmanns Mutmassung<br />
konfrontiert. Da er selbst nicht lesen konnte, ist anzunehmen, dass ihm die recht<br />
detaillierte Aussage Rietmanns überhaupt nicht zur Kenntnis gelangt war. Auch<br />
der etwas wirren Aussage der Näherin Elisabeth Schafh<strong>aus</strong>er vom 13. Februar<br />
1775, wonach der Knecht <strong>Joseph</strong> von der Tobel-Mühle am 11. Februar 1775 auf<br />
dem Heimweg im Wald etwas Unheimliches gehört haben sollte, 636 folgten offenbar<br />
keine konkreten näheren Abklärungen. Ungewiss ist, ob es sich beim von<br />
der Näherin erwähnten Knecht <strong>Joseph</strong> um den am 23. Februar 1775 einvernommenen<br />
<strong>Joseph</strong> Rüesch handelte. Dieser war beim Müller im Obertobel in<br />
Diensten. Die Untersuchenden nahmen jedoch bei der Befragung von <strong>Joseph</strong><br />
Rüesch mit keiner Silbe auf die Näherin und ihre Aussage Bezug, sondern fragten<br />
Rüesch nur, ob er <strong>Egger</strong> kenne, ob er einmal in dessen Stall gewesen sei und<br />
ob er dort etwas Verdächtiges bemerkt habe. 637 Dies lässt vermuten, dass der von<br />
Elisabeth Schafh<strong>aus</strong>er erwähnte Knecht <strong>Joseph</strong> nicht mit dem einvernommenen<br />
<strong>Joseph</strong> Rüesch identisch war.<br />
Die Protokolle enthalten nicht in allen Fällen Hinweise darauf, ob dem jeweiligen<br />
Zeugen ein Handgelübde oder ein Eid abgenommen wurde. Bei den Aussagen<br />
von Kaspar Wettach, Fideli Burckhard und Franz <strong>Antoni</strong> Ritter im August<br />
1773 sowie bei der Befragung Ritters am 18. Februar 1775 sind abgelegte<br />
635<br />
636<br />
637<br />
Dok. 11, Anzeige von Pankraz Rietmann.<br />
Aus diesem Protokoll geht nicht klar hervor, was der Knecht gesehen und wovor er sich<br />
gefürchtet hatte; Dok. 5, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Elisabeth Schafh<strong>aus</strong>er.<br />
Dok. 17, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Rüesch.<br />
120
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Handgelübde wörtlich erwähnt. 638 Dasselbe gilt für das Protokoll der Aussagen<br />
von Christian Louis vom 14. Februar 1775 639 und jenes der Aussagen von <strong>Joseph</strong><br />
Rüesch vom 23. Februar 1775. 640 Keine explizite Erwähnung eines Handgelübdes<br />
oder Eids findet sich bei den Aussagen von Maria Gross vom 10. Februar<br />
1775 641 und Jacob Himmelberger vom 18. Februar 1775 642 , wobei immerhin<br />
darauf hingewiesen wird, sie hätten «bey gueten treuen» angezeigt bzw. seien<br />
«bey gueten treuen befraget» worden. Keinerlei Hinweis auf Gelübde, Eid<br />
oder «guete treuen» enthalten die Aussagen von Pankraz Rietmann vom 16. Februar<br />
1775 643 , die zweite Aussage von Christian Louis vom 18. Februar 1775 644 ,<br />
die Befragung von <strong>Egger</strong>s Stieftöchtern vom 22. Februar 1775 645 sowie von dessen<br />
Ehefrau vom 23. Februar 1775 und erstaunlicherweise auch nicht die Einvernahme<br />
von Johannes Geser am 8. März 1775 646 .<br />
In den Akten zum Fall <strong>Egger</strong> finden sich keine Anhaltspunkte für ein Zeugnisverweigerungsrecht<br />
oder darauf, dass die Angehörigen <strong>Egger</strong>s auf ein solches<br />
hingewiesen worden wären. So wurden seine Ehefrau, seine Stieftöchter und<br />
sein Schwager ohne erkennbare Einschränkungen einvernommen. Sie blieben<br />
gemäss den Protokollen nie die Beantwortung einer Frage schuldig. Immerhin<br />
ist jedoch unklar, wie detailliert die Protokolle das tatsächlich Gesprochene<br />
wiedergeben. Sollte eine Antwort nur zögerlich und stockend gegeben worden<br />
sein, wurde darauf im Protokoll jedenfalls nicht hingewiesen. Möglich ist auch,<br />
dass keiner der Angehörigen <strong>Egger</strong>s gewillt war, ihn zu schonen und dem Gericht<br />
etwas zu verschweigen. Insbesondere die Ehefrau gab <strong>aus</strong>führlich und unverblümt<br />
Auskunft über ihren Gatten, zu dem sie offensichtlich kein herzliches<br />
Verhältnis hatte. Auch sein Schwager und seine Stieftöchter scheinen ihm nicht<br />
sonderlich nahe gestanden zu sein.<br />
638<br />
639<br />
640<br />
641<br />
642<br />
643<br />
644<br />
645<br />
646<br />
Dok. 1, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von Sattlermeister Wettach und den Knechten des Scharfrichters.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 1.<br />
Dok. 17, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Rüesch, S. 1.<br />
Dok. 4, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Maria Gross.<br />
Dok. 12, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Jacob Himmelberger.<br />
Dok. 11, Anzeige von Pankraz Rietmann.<br />
Dok. 13, zweite Anzeige von Christian Louis.<br />
Dok. 15, Zeugen<strong>aus</strong>sagen von <strong>Egger</strong>s Stieftöchtern.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser.<br />
121
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Den Akten ist nicht zu entnehmen, dass der Leumund der Zeugen oder ihre<br />
Redlichkeit abgeklärt worden wären. Jedenfalls fehlen entsprechende schriftliche<br />
Hinweise. Unklar ist zudem, ob und gegebenenfalls wie die Identität der<br />
einzelnen Zeugen überprüft wurde. Immerhin dürften die meisten Zeugen dem<br />
Gericht persönlich bekannt gewesen sein.<br />
5.3.3 Der Sachverständigenbeweis<br />
5.3.3.1 Rechtshistorische Einordnung<br />
Solange den Gerichten die Erforschung der materiellen Wahrheit noch nicht so<br />
wichtig war und die zu beurteilenden Verhältnisse überschaubar waren, 647 war<br />
die Hilfe von Sachverständigen im Strafverfahren nicht nötig. Mit dem Aufkommen<br />
der materiellen Beweistheorie, der Verkomplizierung der Lebensverhältnisse<br />
und den Fortschritten auf dem Gebiet der Naturwissenschaften erlebte<br />
die Sachverständigentätigkeit einen Aufschwung. Die Richter konnten nicht mit<br />
der Entwicklung der Wissenschaft Schritt halten, ihnen fehlten immer mehr<br />
Kenntnisse zur Sachverhaltsfeststellung. 648 Die Entwicklung der Naturwissenschaften<br />
und der gerichtlichen Medizin erlaubte eine Überprüfung, Widerlegung<br />
oder Erhärtung zumindest einiger Indizien. 649 So wurde es ab dem 16. Jahrhundert<br />
allmählich üblich, Gutachten einzuholen. In erster Linie wurden Rechtsgelehrte<br />
und Mediziner um Beurteilungen ersucht. Generell kamen als Sachverständige<br />
sowohl öffentlich als auch privat Bestellte in Betracht; erforderlich war<br />
nur die Sachkunde. Diese musste nicht zwangsläufig durch ein Zeugnis nachgewiesen<br />
werden, da sie unter den Parteien häufig auch ohne ein solches unstreitig<br />
war. 650 Die medizinischen Sachverständigen als «nicht-staatliche» Spezialisten<br />
und freie Gewerbetreibende konnten freilich zumindest bei gewissen De-<br />
647<br />
648<br />
649<br />
650<br />
MASTRONARDI [1936], S. 3.<br />
BERNET [1967], S. 1.<br />
GSCHWEND, Geständniszwang [2006], S. 169.<br />
OLZEN [1980], S. 186.<br />
122
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
likten das Verfahren nicht unerheblich beeinflussen. 651 Ihre Beurteilungen fassten<br />
sie häufig selbst ab und schrieben sie nieder. 652<br />
Die Begutachtung durch Sachverständige wird in der Carolina <strong>aus</strong>drücklich<br />
erwähnt bei den Delikten der Kindstötung 653 , der fahrlässigen Tötung durch einen<br />
Arzt 654 , der Verletzung mit Todesfolge 655 und der Frage der Geisteskrankheit<br />
656 . Bei Körperverletzung mit Todesfolge nach Art. 147 CCC sollen sachverständige<br />
Wundärzte beigezogen werden, bei Verdacht auf Kindstötung Hebammen.<br />
657 Die Carolina kennt in Art. 149 658 den gemischten Augenschein an einem<br />
Toten durch Richter, Schöffen und Ärzte. Danach sind Teile der Entscheidung<br />
an den Sachverständigen zur Vorbeurteilung zu delegieren, sodass sie vom<br />
Richter ungeprüft übernommen werden können. 659<br />
Art. 147 CCC 660 trägt den Titel «So eyner geschlagen wirdt vnd stirbt, vnd<br />
man zweiffelt ob er an der wunden gestorben sei» und erwähnt erstmals den<br />
Begriff der sachverständigen Person, den er mit der prozessualen Position des<br />
Zeugen in Verbindung bringt. 661 Die Unterscheidung zwischen Sachverständigen<br />
651<br />
652<br />
653<br />
654<br />
655<br />
656<br />
657<br />
658<br />
659<br />
660<br />
661<br />
HÄRTER [2000], S. 472.<br />
Entsprechend für Zürich BERNET [1967], S. 58.<br />
Art. 35 und 36 CCC.<br />
Art. 134 CCC.<br />
Art. 147 und 149 CCC.<br />
Art. 179 CCC.<br />
Art. 35 f. CCC. Zur Funktion der Hebamme als Gutachterin FISCHER-HOMBERGER<br />
[1983], S. 53 ff.<br />
Art. 149 CCC geht auf Art. 229 CCB zurück, der jedoch lediglich von Richtern und<br />
Schöffen verlangte, «von dem erschlagenen oder ermördten von stund an, wo der begraben<br />
würde, leibzeichen nehmen [zu] lassen», ohne <strong>aus</strong>drücklich Sachverständige zu erwähnen.<br />
Ausführlich hierzu POPPEN [1984], S. 65 ff.; vgl. auch BERNET [1967], S. 57.<br />
TOEPEL [2002], S. 260; GLASER [1883], S. 677.<br />
Art. 147 CCC lautet: «Item so eyner geschlagen wirt, vnnd über etlich zeit darnach stürb,<br />
also das zweiffelich wer, ob er der geklagten streych halb gestorben wer oder nit, in solchen<br />
fellen mögen beyde theyl (wie von weisung gesatzt ist,) kundtschafft zur sach<br />
dienstlich stellen, vnd sollen doch sonderlich die wundtärtzt der sach verstendig vnnd andere<br />
personen, die da wissen, wie sich der gestorben nach dem schlagen vnd rumor gehalten<br />
hab, zu zeugen gebraucht werden, mit anzeygung wie lang der gestorben nach den<br />
streychen gelebt hab, vnd inn solchen vrtheylen, die vrtheyler bei den rechtuerstendigen,<br />
vnd an enden vnd orten wie zu end diser vnser ordnung angezeygt, radts pflegen.»<br />
TOEPEL [2002], S. 260 f. Zur Kontroverse der Einordnung des Sachverständigen ins Beweismittelsystem<br />
und zum Verhältnis von Richter und Sachverständigem ebenda S. 261;<br />
GLASER [1883], S. 678; MASTRONARDI [1936], S. 10 und 12 ff.<br />
123
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
und Zeugen war lange unklar, Sachverständige wurden oftmals als «gelehrte<br />
Zeugen» angesehen. 662<br />
Auf der Grundlage der Carolina wurde in der frühen Neuzeit die priesterlichautoritäre<br />
Rechtsprechung nach und nach einget<strong>aus</strong>cht <strong>gegen</strong> eine Rechtsprechung,<br />
die der technisch-spezialistischen Vervollkommnung zugänglich und<br />
bedürftig ist. 663 Solange jedoch die religiöse Scheu vor Obduktionen 664 bestand,<br />
machte die Gerichtsmedizin nur langsam Fortschritte. Erste Leichenöffnungen<br />
finden sich <strong>gegen</strong> Ende des 16. Jahrhunderts, ein halbes Jahrhundert später setzten<br />
sie sich allmählich durch. 665 Die Aufgabe des medizinischen Sachverständigen<br />
im Strafverfahren lag darin festzustellen, ob überhaupt ein Verbrechen begangen<br />
worden war und wenn ja, welches. Schloss der Sachverständige auf ein<br />
Delikt, so bildete sein Gutachten die Grundlage für weitere Verhöre des Beschuldigten.<br />
Beim geständigen Täter spielten Gutachten für die Strafzumessung<br />
etwa dann eine Rolle, wenn unklar war, ob das Opfer an den Folgen der vom<br />
Täter zugefügten Verletzungen gestorben war. 666 Der Entscheid über den Beizug<br />
des Sachverständigen lag im Ermessen des Richters. 667<br />
Dem Einfluss der Lehren CARPZOVS ist es zu verdanken, dass der Beizug von<br />
Sachverständigen ab dem 17. Jahrhundert wesentlich aufgewertet wurde. Seiner<br />
Ansicht nach durfte beim Delikt der Tötung die Todesstrafe nur verhängt werden,<br />
wenn das Opfer von einem medizinischen Sachverständigen untersucht<br />
worden war. CARPZOV betrachtete die Todesstrafe nur als zulässig, wenn die<br />
dem Opfer vom Beschuldigten zugefügten Verletzungen per se tödlich waren,<br />
was ein Laie nicht beurteilen konnte. Die ärztliche Begutachtung wurde damit<br />
Bestandteil jedes Prozesses <strong>gegen</strong> Totschläger. 668 Diese strenge Praxis wurde ab<br />
dem 18. Jahrhundert wieder gelockert: Es setzte sich die Ansicht durch, die Begutachtung<br />
sei im Falle der nicht von Art. 147 CCC erfassten vorsätzlichen Tötung<br />
keine unverzichtbare Vor<strong>aus</strong>setzung für eine Verurteilung, solle aber nach<br />
662<br />
663<br />
664<br />
665<br />
666<br />
667<br />
668<br />
MASTRONARDI [1936], S. 20.<br />
FISCHER-HOMBERGER [1983], S. 26.<br />
Zur geschichtlichen Entwicklung der Obduktion siehe CRAMER [1885], S. 17 ff.<br />
VON FABRICE [1868], S. 247 f.<br />
BERNET [1967], S. 70 f. Zur Entwicklung einer rationalen gerichtsmedizinischen Lehre<br />
von den Wunden FISCHER-HOMBERGER [1983], S. 311 ff.<br />
Mit weiteren Literaturhinweisen POPPEN [1984], S. 74 f.<br />
POPPEN [1984], S. 77.<br />
124
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Möglichkeit durchgeführt werden. Der Sachverständigenbeweis wurde schliesslich<br />
zu einem vom Richter gezielt einsetzbaren Mittel. 669<br />
Als medizinische Sachverständige kamen neben Ärzten auch Handwerkschirurgen<br />
in Betracht. Dieser Berufsgattung gehörten die handwerklich <strong>aus</strong>gebildeten,<br />
weniger geachteten Bader, Barbierchirurgen, Wundärzte, Feldscher, Scherrer<br />
und Geburtshelfer an, 670 die das Gebiet der Chirurgie und gleichzeitig des<br />
Barbierberufs bis ins 18. Jahrhundert als Domäne zu verteidigen vermochten. 671<br />
In das Arbeitsgebiet der Chirurgen fielen unter anderem einfache Wundversorgungen,<br />
Amputationen, Trepanationen (Schädelöffnungen), Brennen und Ätzen,<br />
Einrenken verrenkter Glieder, Behandlung von Knochenbrüchen sowie Hautund<br />
Geschlechtskrankheiten. Die Berufsgruppen der gelehrten Ärzte und der<br />
Chirurgen arbeiteten oftmals zusammen, so etwa in verschiedenen Kommissionen<br />
des öffentlichen Gesundheitswesens. Dazu zählte auch die Gerichtsmedizin.<br />
Im <strong>aus</strong>gehenden 18. Jahrhundert begannen akademisch <strong>aus</strong>gebildete Ärzte zunehmend,<br />
das Fachgebiet der Chirurgie zu übernehmen. 672 In einer Schrift <strong>aus</strong><br />
dem Jahr 1797 hält der Mediziner PLOUCQUET fest, die Pflichten des gerichtlichen<br />
Arztes reduzierten sich im Allgemeinen darauf,<br />
«dass der Arzt bey allen jenen Functionen, und in Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen,<br />
im Ausstellen der Zeugnisse u.s.w. mit Geschiklichkeit und Geradheit verfahre, damit<br />
der Zwek, Wahrheit zu entdeken, so viel möglich, erreicht werde.» 673<br />
Neben medizinischen Sachverständigen erlangte auch der rechtliche Sachverstand<br />
an Bedeutung. Die Carolina hielt die oft mit juristischen Laien besetzten<br />
Gerichte in Art. 219 an, bei ihren Appellationsinstanzen, den Oberhöfen<br />
oder Schöppenstühlen, bei der juristischen Fakultät einer nahe gelegenen Universität<br />
674 oder bei der territorialen Obrigkeit 675 Rechtsgutachten einzuholen. 676<br />
669<br />
670<br />
671<br />
672<br />
673<br />
674<br />
675<br />
POPPEN [1984], S. 87 ff. und 92.<br />
Zur Abgrenzung der Aufgaben der verschiedenen frühneuzeitlichen Medizinalberufe<br />
PLOUCQUET [1797], § 405 ff., S. 204 ff.; FISCHER-HOMBERGER [1983], S. 31 ff.; HAR-<br />
DEGGER [1987], S. 3.<br />
MÖRGELI, Handchirurgen, e-HLS [2005].<br />
MÖRGELI, Handchirurgen, e-HLS [2005]; FISCHER-HOMBERGER [1983], S. 43 ff., HAR-<br />
DEGGER [1987], S. 5 f. Zur Verwissenschaftlichung der Medizin bzw. zur Entwicklung<br />
des Berufswissens von Ärzten und Chirurgen BRÄNDLI [1990], S. 118.<br />
PLOUCQUET [1797], § 398, S. 203.<br />
SCHNABEL-SCHÜLE, Territiorialstaat [1997], S. 54 ff.<br />
HÄRTER [2000], S. 465.<br />
125
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Damit war der Grundstein gelegt für das Institut der Aktenversendung, das bis<br />
ins 19. Jahrhundert hinein Bestand hatte. 677 Da die gelehrten Juristen oftmals ein<br />
spruchreifes Urteil zurücksandten, schlüpften sie auf diese Weise faktisch indirekt<br />
in die Rolle der eigentlichen Urteilsinstanzen; 678 die Voten der Rechtsgelehrten<br />
nahmen den Charakter von instanzgerichtlichen Weisungen mit Bindungscharakter<br />
an. 679 Nachteilig dabei war, dass die Gelehrten in der Regel nicht<br />
vor Ort waren und lediglich aufgrund der ihnen zugeschickten Akten «urteilten»,<br />
deren Auswahl zudem nicht immer willkürfrei getroffen worden war. So<br />
entstanden zwar bisweilen Gutachten von theoretisch hochstehendem Rechtsdenken,<br />
die aber zu im Einzelfall ungerechten Lösungen führen konnten. 680<br />
5.3.3.2 Sachverständige im Fall <strong>Egger</strong><br />
Die Obrigkeit nahm im Verfahren <strong>Egger</strong> ihre Begutachtungspflicht für die vermutete<br />
Tötung im Sinne des Beweisdenkens von CARPZOV ernst: Zur Bergung<br />
der Leiche von Catharina Himmelberger schickte sie neben dem Fiskal Zollikofer<br />
den äbtischen Leibarzt Rogg persönlich sowie den Chirurgen und Hofbarbier<br />
Wolff ins Galgentobel. Wenn auch nicht gerade das ganze Gericht die Leiche<br />
und den Fundort besichtigte, so nahm mit Zollikofer doch immerhin ein Vertreter<br />
des Gerichts am Augenschein teil. Die Hierarchie zwischen Rogg und Wolff<br />
war eindeutig: Der Chirurg wurde dem Leibarzt als Hilfe mitgegeben. Rogg<br />
hielt zwar fest, er habe Wolff und dessen Sohn den Körper der Leiche entblössen<br />
und die Rückseite des Leichnams untersuchen lassen, diese aber auch noch<br />
selbst untersucht. 681 Er erstattete seinen Bericht im Singular und machte deutlich,<br />
dass sein medizinischer Sachverstand für eine zuverlässige Beurteilung<br />
vollkommen <strong>aus</strong>reichte und er in dieser Hinsicht der Unterstützung des Chirurgen<br />
nicht bedurft hätte. Das Ansehen des Barbierchirurgen war deutlich kleiner<br />
676<br />
677<br />
678<br />
679<br />
680<br />
681<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 36, SCHMIDT EBERHARD, Strafrechtspflege [1965],<br />
§ 118, S. 135.<br />
SCHMIDT EBERHARD, Strafrechtspflege [1965], § 118, S. 135; BALDAUF [2004], S. 93 f.;<br />
OESTMANN [2004], Sp. 128 ff.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 36.<br />
RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 55.<br />
SUTER [1990], S. 2 f.<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 2.<br />
126
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
als dasjenige des Leibarztes. Ihre «Zusammenarbeit» auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin<br />
war aber wie erwähnt nicht ungewöhnlich.<br />
Als Sachverständige hatten sowohl Rogg als auch Wolff im Verfahren keine<br />
Zeugenstellung und wurden auch nicht wie Zeugen behandelt, was sich etwa<br />
darin zeigt, dass sie ihre Gutachten selbst verfassten und sich nicht einer Befragung<br />
durch das Gericht unterzogen. Während Rogg seine Untersuchung im Bericht<br />
ziemlich detailliert festhielt und sogar mit – zumindest <strong>aus</strong> heutiger Sicht<br />
allerdings wenig <strong>aus</strong>sagekräftigen – Skizzen unterlegte, ist der Bericht von<br />
Wolff kurz und knapp, wobei auch er medizinische Fachbegriffe verwendete<br />
und insbesondere den «Os occipitio» 682 erwähnte. 683 Den beiden medizinischen<br />
Berichten ist nicht zweifelsfrei zu entnehmen, ob tatsächlich eine Obduktion,<br />
eine Leichenöffnung, stattgefunden hatte oder ob die Wunden von Catharina nur<br />
äusserlich besichtigt worden waren. Wolff schrieb in seinem Bericht, sie hätten<br />
eine «section» gemacht. 684 Aus dem Bericht von Rogg geht solches jedoch nicht<br />
eindeutig hervor. Er berichtete lediglich davon, die Haut an einer Wunde abgeschält<br />
und die Stelle abgewaschen zu haben, woraufhin er habe erkennen können,<br />
dass der Schädel eingedrückt gewesen sei. 685<br />
Freilich ist eine damalige Untersuchung der Leiche kaum mit einer heutigen<br />
Obduktion in einem modernen gerichtsmedizinischen Institut zu vergleichen.<br />
Der Leichnam wurde wenn möglich gleich (und oft <strong>aus</strong>schliesslich) am Tatort<br />
besichtigt. Dies war bei der Leiche von Catharina Himmelberger aufgrund ihrer<br />
Lage zwischen den Stauden an einem Abhang im Galgentobel nicht möglich,<br />
weshalb man sie ins H<strong>aus</strong> ihres Bruders <strong>Joseph</strong> an die Langgasse transportierte<br />
und dort begutachtete. Da <strong>Egger</strong> geständig war, interessierte das Gericht für die<br />
Beurteilung, ob tatsächlich eine Affekttat im Zorn stattgefunden hatte, insbesondere<br />
die Anzahl der Wunden und deren Auswirkungen, was sich auf die<br />
Strafzumessung bzw. die Art der Bestrafung <strong>aus</strong>wirken konnte. Dem Sachverständigen<br />
Rogg wurden deshalb konkrete Untersuchungsaufgaben erteilt. So<br />
sollte er abklären, ob nur eine oder mehrere Wunden am Körper zu finden und<br />
682<br />
683<br />
684<br />
685<br />
Hinterhauptbein, PSCHYREMBEL [2004], S. 1327.<br />
Dok. 10, Stellungnahme des Chirurgen und Hofbarbier Wolff und dessen Sohn.<br />
Dok. 10, Stellungnahme des Chirurgen und Hofbarbier Wolff und dessen Sohn.<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 3.<br />
127
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
ob diese zwingend oder eher zufällig tödlich gewesen sei(en). 686 In Beantwortung<br />
dieser Fragen hielt der Leibarzt in seinem Gutachten klar fest, die durch<br />
einen fürchterlich gewaltsamen Streich zwischen dem fünften und sechsten<br />
Halswirbel eingetretene Verletzung könne für sich alleine bereits als tödlich<br />
erachtet werden. Die weiteren am Kopf der Toten gefundenen Wunden konnte<br />
Rogg weder menschlicher Gewalt noch dem Hinunterrollen ins Galgentobel<br />
eindeutig zuordnen. 687<br />
Aus dem Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s geht hervor, dass auch über die Leichen<br />
bzw. Leichenreste von Maria Baumann und Elisabeth Han, die bei der Leiche<br />
von Catharina Himmelberger gefunden wurden, ein visum et repertum eingeholt<br />
wurde. 688 Entsprechende schriftliche Gutachten finden sich bei den Akten<br />
jedoch nicht. Über den Zustand der Leichen war das Gericht jedenfalls relativ<br />
gut informiert, konfrontierte man <strong>Egger</strong> doch wiederholt mit entsprechenden<br />
Einzelheiten.<br />
Eine eigentliche rechtliche Begutachtung des Falles durch sachverständige<br />
Rechtsgelehrte fand augenscheinlich nicht statt. Vor Bekanntgabe des Urteils im<br />
Protokoll verwies der Schreiber Gross zwar auf ein am 3. März 1775 von «ministry,<br />
obervögten, und räthen» erstelltes «rechtliches guetachten». 689 Bei den als<br />
Pfalzräten amtierenden Herren handelte es sich um hohe weltliche Beamte der<br />
Fürstabtei, die – soweit nachvollziehbar – nicht über eine juristische Ausbildung<br />
verfügten. Das erwähnte «rechtliche guetachten» war offenbar vielmehr eine<br />
eigentliche Urteilsberatung der Richter und kein vom Gericht beigezogenes<br />
Sachverständigengutachten im eigentlichen Sinn.<br />
Eine schriftliche Beurteilung der Herren liegt nicht bei den Akten. Immerhin<br />
wurde im Protokoll deren Beurteilung zusammengefasst. Obwohl die von <strong>Egger</strong><br />
behaupteten Motive für den Totschlag und insbesondere die Leichenschändungen<br />
möglicherweise nicht restlos glaubwürdig erschienen, beschloss man unter<br />
dem Hinweis, bereits ein «homicidium dolosum» reiche für die Todesstrafe<br />
durch das Schwert <strong>aus</strong>, auf weitere Abklärungen, insbesondere auf die Anwen-<br />
686<br />
687<br />
688<br />
689<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 1 f.<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 2 f.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 2, Ziff. 2.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 91.<br />
128
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
dung der Folter, zu verzichten und den Fall abzuschliessen. Das wiedergegebene<br />
Gutachten ist nicht umfangreich. Es beinhaltet neben «homicidium dolosum»<br />
weitere lateinische Rechtsbegriffe wie «animum occidendi» und «poenam gladii»<br />
690 , ist aber ansonsten nicht rechtlich eingebettet. Erst beim Urteilsspruch<br />
erfolgte ein Bezug auf die Carolina, was vermuten lässt, dass die Rechtsgrundlage<br />
für eine Verurteilung zum Tod im Rahmen der rechtlichen Begutachtung<br />
zwar diskutiert, bei der kurzen Zusammenfassung des Gutachtens im Protokoll<br />
aber nicht eigens erläutert wurde. Weil den Gutachtern wohl ohnehin klar gewesen<br />
sein dürfte, dass ein Totschlag mit dem Tod bestraft werden musste, machte<br />
man sich offenbar nicht die Mühe, Leichenraub und Leichenschändungen rechtlich<br />
sauber zu verorten und zu klassifizieren. Da strafschärfende Arten der Todesstrafe<br />
wie das Rädern und Vierteilen, das Lebendig-Vergraben oder -Verbrennen<br />
und dergleichen in der Zeit des Falls <strong>Egger</strong> ohnehin praktisch nicht<br />
mehr angewendet wurden, sondern die Todesstrafe vornehmlich durch das<br />
Schwert zu vollstrecken war, war eine juristisch zuverlässigere Qualifikation der<br />
Delikte nicht notwendig. Eine solche wäre wohl nur durch die Einholung eines<br />
richtigen rechtlichen Gutachtens auf dem Weg der Aktenversendung möglich<br />
gewesen.<br />
5.4 Generalinquisition<br />
5.4.1 Erste Schritte in der Verbrechensaufklärung<br />
Bestätigten die offiziellen Untersuchungen, dass ein Verbrechen verübt worden<br />
war, begann die Suche nach dem Täter, bei der oft auch das Volk mitwirkte.<br />
Wurde ein Täter nicht gerade auf frischer Tat ertappt oder gestand die Tat, besassen<br />
die Ermittler nur sehr wenige Instrumente, ihn aufzuspüren, den Tathergang<br />
zu rekonstruieren und für eine Anklage <strong>aus</strong>reichende Verdachtsmomente<br />
zusammenzutragen. 691 Das Zeugenverhör war wie erwähnt nicht selten das zentrale<br />
Element der Generalinquisition. Die Verhöre wurden in diesem Verfahrensstadium<br />
in der Regel summarisch durchgeführt. Meist fehlten die im ordentli-<br />
690<br />
691<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 91. Siehe auch Kap. 4.9.<br />
WITTKE, Alltag [2002], S. 295.<br />
129
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
chen Prozess üblichen Angaben zur Person fast vollständig, und es wurde nur<br />
der Name des Aussagenden notiert. 692 Eine Vereidigung des Zeugen fand auf der<br />
Stufe der Generalinquisition kaum je statt. Auch Aussagen «vom Hörensagen»<br />
hatten grösseres Gewicht als im Rahmen der Spezialinquisition. 693<br />
War eine Person als Täter bekannt oder dringend verdächtig, so war es im Inquisitionsprozess<br />
Aufgabe der Obrigkeit, sie <strong>aus</strong>findig zu machen. Das Volk<br />
war zur Anzeige verpflichtet. Gasthäuser und andere mögliche Verstecke des<br />
Verdächtigen wurden durchsucht, und oftmals wurden Torwachen angehalten,<br />
die hin<strong>aus</strong>gehenden Personen zu kontrollieren. Nicht selten machte man die<br />
Fahndung unter Trommelschlag öffentlich bekannt und beschrieb den Verdächtigen.<br />
694 War einem Verdächtigen die Flucht <strong>aus</strong> der Stadt oder dem Territorium<br />
gelungen, war er also in ein anderes Herrschaftsgebiet übergewechselt, so wurde<br />
seine Verhaftung und Auslieferung aufgrund der dazu notwendigen aufwändigen<br />
Verhandlungen unwahrscheinlich. Eine Ausnahme bildete die Jagd nach<br />
steckbrieflich gesuchten 695 und vielerorts berüchtigten Mördern oder Räubern,<br />
wenn auf ihre Gefangennahme eine hohe Prämie <strong>aus</strong>gesetzt war. 696<br />
692<br />
693<br />
694<br />
695<br />
696<br />
WITTKE, Alltag [2002], S. 297 und 299.<br />
WITTKE, Alltag [2002], S. 299.<br />
VAN DÜLMEN, Theater [1995], S.13 f.<br />
Zur Bedeutung von Steckbriefen und Fahndungsakten als Quelle zur Alltagsgeschichte im<br />
17. und 18. Jahrhunder VALENTINITSCH [1992], S. 74 f.; siehe auch SCHWERHOFF, Aktenkundig<br />
[1999], S. 37, 110. STAERKLE gibt einen Fall <strong>aus</strong> dem Jahr 1632 wieder, in dem<br />
ein gewisser Ulrich Juppli einen Johann <strong>Egger</strong> in Rotmonten erschlagen habe. Da Juppli<br />
flüchtig war, verlangten die Angehörigen Johann <strong>Egger</strong>s, dass der Verdächtige öffentlich<br />
<strong>aus</strong>geschrieben werde, und zwar am Klosterhof zu St. Gallen und an den Wirtshäusern zu<br />
St. Fiden und zum Weissen Rössli an der Langgasse. Die Ausschreibung wurde im Namen<br />
des Hofmeisters und der weltlichen Pfalzräte erlassen und richtete sich als offener<br />
Brief in direkter Rede an Juppli. Darin wurde der ihm vorgeworfene Totschlag beschrieben,<br />
und er wurde aufgefordert, zum auf den 5. Juli 1632 angesetzten Rechtstag im Wirtsh<strong>aus</strong><br />
zu St. Fiden zu erscheinen; STAERKLE, Geschlecht [1942], S. 32 ff.<br />
VAN DÜLMEN, Theater [1995], S. 16. Vor der Reformation war das Kloster St. Gallen<br />
bekanntes Asyl; CARLEN, Rechtsgeschichte [1988], S. 40. Das Asylrecht, das vor allem in<br />
Kirchen und Klöstern, teilweise aber auch in Gasthäusern bestand, beschränkte sich meistens<br />
auf sog. «ehrliche Sachen» wie etwa den Totschlag im Affekt und war entstanden,<br />
um einen Missetäter vor der unmittelbaren (Blut-)Rache durch die Angehörigen zu schützen<br />
und ihm die Möglichkeit zu Sühneverhandlungen zu eröffnen. Mit der Monopolisierung<br />
der Strafverfolgung durch die Landeshoheit wurde das Asylrecht immer stärker eingeschränkt;<br />
im 16. Jahrhundert holte man die geflohenen Verdächtigen teilweise sogar<br />
gewaltsam <strong>aus</strong> Kirchen und Klöstern her<strong>aus</strong>; VAN DÜLMEN, Theater [1995], S. 19; HO-<br />
130
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
In der Fürstabtei war es gemäss Bestallung Aufgabe des Amtsdieners, jemanden<br />
auf Befehl der Obrigkeit gefangenzunehmen, und zwar «bey tag oder<br />
nacht ohne unterschied wohlbedacht, fleissig und getreülich», wozu er nötigenfalls<br />
Gehilfen benennen durfte. 697 Falls solche nicht gleich zur Verfügung standen,<br />
konnte er auch Gottesh<strong>aus</strong>leute, also gewöhnliche Bürger, zur Hilfe aufbieten.<br />
Bei grösseren Verbrechen war der Verhaftete nach St. Fiden zu bringen;<br />
dasselbe galt für verdächtige landsfremde Personen und Gaunergesindel. 698 Der<br />
Amtsdiener hatte für gute Verwahrung zu sorgen, sodass kein Entfliehen möglich<br />
wäre. Er musste die Gefangengenommenen durchsuchen und ihnen alles<br />
abnehmen, womit sie sich selbst Gewalt antun oder sich befreien könnten. Auch<br />
Geld und dergleichen hatte er ihnen abzunehmen und alles dem Fiskal zu übergeben.<br />
699<br />
5.4.2 Vorgehen bis zu <strong>Egger</strong>s Verhaftung<br />
Das Verfahren um den Totschlag und die Leichenschändungen von <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong><br />
ist deutlich von der Inquisitionsmaxime geprägt. Dennoch kam das Verfahren<br />
erst durch die Hartnäckigkeit der Familien von Opfer und Täter richtig ins<br />
Rollen. Bereits einen Tag nach dem Verschwinden seiner Schwester, am 7. Februar<br />
1775, suchte <strong>Joseph</strong> Himmelberger <strong>Egger</strong> auf dessen Hof auf und äusserte<br />
den Verdacht, dieser könnte seine Schwester umgebracht haben. 700 Am 10. Februar<br />
1775, also vier Tage nach dem Verschwinden Catharina Himmelbergers,<br />
wurde <strong>Egger</strong> erstmals offiziell einvernommen. Dieses erste Verhör war jedoch<br />
nicht sehr ergiebig. Die Befragung weist gemäss Protokoll summarischen Charakter<br />
auf. Immerhin wurde <strong>Egger</strong> nach seinem Namen gefragt und gab zu Beginn<br />
der Befragung seinen Bürgerort, sein Alter und den Namen seiner Ehefrau<br />
an. Ansonsten enthält das Verhörprotokoll jedoch nur die Fragen, ob <strong>Egger</strong> die<br />
697<br />
698<br />
699<br />
700<br />
LENSTEIN THOMAS [1934], S. 46; FRAUENSTÄDT [1881], S. 53 ff. Das alte verbriefte<br />
Stadtrecht von Lichtensteig kennt eine Bestimmung zum Asylrecht für Totschläger, siehe<br />
StiASG, Bd. 80, S. 209. Eine interessante Studie zum frühneuzeitlichen Asylrecht für Totschläger<br />
in Coesfeld liefert WITTKE, Asylrecht [1996], S. 109 bis 133.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 1, Ziff. 3.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 2, Ziff. 4.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 2, Ziff. 4.<br />
Dok. 3, erste Befragung <strong>Egger</strong>s und Amtsbericht, S. 2 f.<br />
131
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
vermisste Catharina Himmelberger kenne, wann er sie das letzte Mal gesehen<br />
habe und ob er sie am Montag zuvor in der Frühe gesehen habe. 701 Da <strong>Egger</strong><br />
bestritt, mit Catharinas Verschwinden etwas zu tun zu haben, nahm Hofweibel<br />
Ackermann am 11. Februar 1775, also einen Tag nach der ersten Befragung,<br />
eine Durchsuchung von <strong>Egger</strong>s Hof vor, die aber ergebnislos verlief. 702 Auch<br />
wenn die Befragung <strong>Egger</strong>s nicht eindringlich gewesen war, war sich die Obrigkeit<br />
ihrer Untersuchungspflicht doch bewusst und ging der Sache nach.<br />
Den Fortgang der Ermittlungen gewährleistete daraufhin nicht die Obrigkeit,<br />
sondern die Familie Himmelberger, die insistierte und sich auf andere Weise zu<br />
helfen versuchte. <strong>Joseph</strong> Himmelberger bat den Wirt Christian Louis, auf <strong>Egger</strong><br />
einzuwirken und ein Geständnis von ihm zu erlangen. Auch <strong>Egger</strong>s eigene Familie<br />
war misstrauisch geworden, sodass schliesslich sein Schwager <strong>Joseph</strong><br />
Bensegger und sein Stiefvater Johannes Kunz ihn mit ihrem Verdacht konfrontierten.<br />
Als <strong>Egger</strong> ihnen die Tat gestand, informierte <strong>Joseph</strong> Bensegger Catharinas<br />
Bruder, Jacob Himmelberger, und beide zusammen suchten den Hatschier<br />
und mit diesem den Hofweibel auf. Dieser schritt zur Tat und verhaftete <strong>Egger</strong><br />
noch in derselben Nacht, am 14. Februar 1775. Die Akten verraten nicht, ob er<br />
nach der Verhaftung durchsucht wurde.<br />
Zwar waren es letztlich die Familien des Opfers und des Täters, die den Ausschlag<br />
zur Verhaftung <strong>Egger</strong>s gaben, und es lässt sich darüber spekulieren, ob<br />
die Obrigkeit nicht zu früh hätte aufgeben wollen, anstatt bereits vor der Verhaftung<br />
generalinquisitorisch eine umfassendere Untersuchung mit Zeugeneinvernahmen<br />
einzuleiten. Da nach der H<strong>aus</strong>durchsuchung bis zur Verhaftung jedoch<br />
nur zwei Tage vergingen, ist durch<strong>aus</strong> möglich, dass die offizielle Untersuchung<br />
noch nicht eingestellt worden wäre. Darauf deutet auch ein Hinweis des Wirts<br />
Louis hin, der <strong>Egger</strong> beim Gespräch vom 12. Februar 1775 mitteilte, dass «die<br />
obrigkeit nur noch 2 tag ruehe, als dann gehe es wider auf ein neues an». 703<br />
Nach der Verhaftung war die aktive Rolle der Familienangehörigen insoweit<br />
zu Ende, als die Inquisitionsmaxime voll zum Tragen kam und für die Fortfüh-<br />
701<br />
702<br />
703<br />
Dok. 3, erste Befragung <strong>Egger</strong>s und Amtsbericht, S. 1 und 2.<br />
Dok. 3, erste Befragung <strong>Egger</strong>s und Amtsbericht.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 2.<br />
132
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
rung der Untersuchung kein Kläger benötigt wurde. Die Familienmitglieder<br />
nahmen fortan «lediglich» noch Zeugenstellung ein.<br />
Weder Jacob Himmelberger noch <strong>Joseph</strong> Bensegger oder Johannes Kunz,<br />
noch der Wirt Louis kamen offenbar auf die Idee, <strong>Egger</strong> selbst überwältigen und<br />
einsperren zu wollen. Während insbesondere der Wirt gar nicht handelte – und<br />
damit seine ihm aufgrund der Landsatzungen obliegende Anzeigepflicht verletzte<br />
–, wandten sich <strong>Joseph</strong> Bensegger und Jacob Himmelberger gemeinsam an<br />
Hatschier Greuter. Auch dieser schritt erst zur Verhaftung <strong>Egger</strong>s, nachdem er<br />
Hofweibel Ackermann informiert und von ihm wohl einen «Haftbefehl» ent<strong>gegen</strong>genommen<br />
hatte. Nach Lage der Akten hatte das Verhalten des Wirts für<br />
diesen offenbar keine Folgen. Dies, obwohl Louis am 14. Februar 1775 freimütig<br />
<strong>aus</strong>sagte, er habe sich <strong>Egger</strong>s nach dessen Geständnis annehmen wollen und<br />
mit ihm vereinbart, dass er nach seiner Anzeige ein weisses Tuch an sein Fenster<br />
hänge, falls Gutes zu hoffen sei. Diesfalls könne <strong>Egger</strong> zu ihm ins H<strong>aus</strong><br />
kommen. Würde er jedoch etwas Schlechtes befürchten, hänge er etwas Rotes<br />
ans Fenster, und <strong>Egger</strong> dürfe nicht eintreten. 704 Louis gab also unumwunden zu,<br />
dass er die Absicht gehabt hatte, <strong>Egger</strong> zur Flucht zu verhelfen. Obwohl er damit<br />
die offizielle Strafverfolgung vereitelt oder zumindest erschwert hätte, wurde<br />
er deswegen offenbar nicht einmal getadelt, geschweige denn bestraft.<br />
<strong>Egger</strong> war vor seiner Festnahme grundsätzlich bereit zur Flucht, schien er<br />
doch die Folter über alle Massen zu fürchten und rechnete für den Fall einer<br />
Verurteilung wohl mit der Todesstrafe. Gegenüber dem Wirt Louis äusserte er<br />
jedoch, es sei eine schreckliche Sache, das Vaterland für alle Zeit meiden zu<br />
müssen. 705 Ihm war also bewusst, dass er sich durch eine Flucht <strong>aus</strong> dem Untertanengebiet<br />
der Fürstabtei mit grosser Wahrscheinlichkeit der Verhaftung und<br />
der Bestrafung würde entziehen können.<br />
704<br />
705<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 6.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 2.<br />
133
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
5.5 Spezialinquisition<br />
5.5.1 Entwicklung und Stellenwert der Verfahrensrechte<br />
Der Inquisitionsprozess mit seinem Bestreben, der «Wahrheit» auf den Grund<br />
zu gehen, bot dem Angeschuldigten zumindest die Chance, seine Unschuld darzulegen.<br />
Art. 47 CCC gewährte dem Angeschuldigten die Möglichkeit der Führung<br />
eines Entlastungsbeweises, der bei entsprechenden Indizien zugelassen<br />
werden musste. 706 Die Prüfung von Beweismitteln oder Indizien, die der Angeschuldigte<br />
als Entlastungsmaterial nannte, lag also nicht im völlig freien Ermessen<br />
des Richters. 707 Um eine wirkungsvolle Verteidigung zu gewährleisten, sollten<br />
dem Angeschuldigten alle Verdachtsgründe mitgeteilt werden. 708 Er sollte<br />
gemäss Carolina mit den Zeugen<strong>aus</strong>sagen konfrontiert werden und schriftlich<br />
«einrede und schutzrede» einreichen dürfen. 709 Wenn auch das Ausmass der Akteneinsicht<br />
bei den Rechtsgelehrten der frühen Neuzeit längere Zeit umstritten<br />
war, so war man sich doch weitgehend darüber einig, dass dem Angeschuldigten<br />
Einsicht zu gewähren war. 710 Diese Schutzrechte wurden freilich bei Weitem<br />
nicht immer eingeräumt; gerade im Zusammenhang mit der Anwendung der<br />
Folter kam es oftmals zu Missbrauch. 711<br />
Der Angeschuldigte hatte gemäss Regelung der Carolina im Übrigen auch ein<br />
Recht auf formelle Verteidigung durch den Beizug eines mit speziellen Rechten<br />
<strong>aus</strong>gestatteten Beistands, dessen Kosten sogar von der Obrigkeit getragen wurden,<br />
wenn der Beschuldigte arm war und niemanden hatte, der ihn unterstützen<br />
konnte. 712 Ein solcher Verteidiger musste aber nicht von Amtes wegen, sondern<br />
nur auf entsprechendes Verlangen des Angeklagten beigegeben werden. 713 Seit<br />
dem 18. Jahrhundert waren sich jedoch zumindest die Rechtsgelehrten darüber<br />
706<br />
707<br />
708<br />
709<br />
710<br />
711<br />
712<br />
713<br />
IGNOR [2002], S. 79 f.; PÖLTL [1999], S. 48. KLEINSCHROD, Richter [1798] betrachtete es<br />
als heiligste Pflicht des Richters, «eben so für die Feststellung der Unschuld, wie für jene<br />
der Schuld zu sorgen», Bd. 1, St. 1, § 14, S. 31.<br />
IGNOR [2002], S. 79.<br />
HENSCHEL [1972], S. 28.<br />
Art. 73 CCC.<br />
IGNOR [2002], S. 80 f.; HENSCHEL [1972], S. 46 f.<br />
HENSCHEL [1972], S. 30 f.; WESEL [2006], S. 397.<br />
Art. 73 und 154 CCC.<br />
HENSCHEL [1972], S. 38.<br />
134
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
einig, dass die formelle Verteidigung bei schweren und schwersten Verbrechen<br />
714 vor Anwendung der Folter und vor dem Urteilsspruch zwingend notwendig<br />
sei. 715 Mitunter wurde aber die Ansicht vertreten, dass beim Verhör kein<br />
Anwalt zuzulassen sei, da es nicht um rechtliche Fragen, sondern um die Handlungen<br />
des Verdächtigen gehe. 716<br />
Laiengerichte wehrten sich oftmals <strong>gegen</strong> juristisch gebildete Parteivertreter<br />
mit dem Argument, eine einseitige Interessenvertretung führe zu unnötigen Prozessen<br />
und überlaste die Gerichte. 717 Die Advokaten, die nicht unter hoheitlicher<br />
Kontrolle standen, würden durch ihr einseitiges und rücksichtsloses Eintreten<br />
für die Interessen einer Partei der Verwirklichung des objektiven Rechts schaden,<br />
so die bisweilen vertretene Meinung. 718 Hinter solchen Argumenten steckte<br />
wohl nicht zuletzt die Sorge, durch Juristen überfordert zu werden. 719<br />
Das Konzept der Pfalzratsordnung von 1733 hielt für alle vor dem Pfalzgericht<br />
stattfindenden Prozesse (also nicht nur für Strafsachen) fest, den Parteien<br />
sei von Anfang an mitzuteilen, dass sie sich nicht<br />
«nur zum rechtstandt im pfaltzrath selbsten, sondern auch zu vorläufiger information an<br />
behörigen orthen mit geschickthen, und erfahrenen advocaten oder beyständen versehen<br />
sollen, wobey dann auch auf alle weis zu trachten ist, dass keine unbekante, verläumbde,<br />
übel berüchtigte oder suspecte personen zu disem ambt gezogen, oder gelassen [werden]».<br />
720<br />
Dass diese «erfahrenen advocaten» aber juristisch geschult sein sollten, ist<br />
wenig wahrscheinlich. Dem Pfalzrat gehörten wohl nur selten Juristen an, weshalb<br />
man den Beizug von fachlich überlegenen Parteivertretern kaum begrüsst<br />
hätte.<br />
714<br />
715<br />
716<br />
717<br />
718<br />
719<br />
720<br />
Nicht darunter fielen geringere Straftaten, die keine Leibesstrafe nach sich ziehen könnten;<br />
HENSCHEL [1972], S. 40.<br />
Mit weiteren Hinweisen IGNOR [2002], S. 117.<br />
Die Anwesenheit eines Anwalts wurde bisweilen nicht nur als überflüssig, sondern sogar<br />
als schädlich betrachtet; KLEINSCHROD, Richter [1798], Bd. 1, St. 2, § 31, S. 105.<br />
PAHUD DE MORTANGES [2007], S. 117, Rz. 181, siehe auch S. 116, Rz. 179.<br />
BAUMANN ROBERT [2008], S. 45.<br />
PAHUD DE MORTANGES [2007], S. 117, Rz. 181.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 20, Ziff. 11; vgl. auch S. 85 f.<br />
135
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Im Weiteren sah die Pfalzratsordnung eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung<br />
vor, damit «niemandt armueth halber rechtloss gelassen werde». 721 Die<br />
Armen mussten ihre Armut kundtun und zur Anzeige bringen, wobei das Gericht<br />
bei der Bewilligung der unentgeltlichen Verbeiständung nicht zu mild sein<br />
sollte. Die Bedürftigen hatten ihre Armut mit einem Eid zu bezeugen, wenn ihre<br />
Not und Mittellosigkeit nicht «von selbsten kundtbahr» war. 722 Sollte eine bedürftige<br />
Partei mutwillig zu einem Prozess Anlass geben, so konnte diese mit<br />
Gefangenschaft oder auf andere Weise durch den Pfalzrat gestraft werden. 723<br />
Auch in der Stadt St. Gallen kannte und begrüsste man den Beizug eines Fürsprechers<br />
im Prozess. Gemäss einer im Jahr 1701 gedruckten 16-seitigen Anleitung<br />
eines anonymen Autors zum St. Galler Malefizprozess forderte der Reichsvogt<br />
jene, die vor Gericht zu klagen oder zu antworten hatten, auf, sich «verfürsprechen»<br />
zu lassen. 724 So kam erst der Fürsprecher des Klägers und danach<br />
derjenige des «Antworters» zu Wort. 725 Daraufhin konnten die Fürsprecher um<br />
Zuteilung von einem oder zwei der Urteilssprecher «zu Rathgeberen und<br />
Beyständeren» ersuchen. Bei schweren Verbrechen, wenn «die Sach hoch und<br />
schwär und das Blut betreffen mag», wurden dem Kläger und dem Antworter je<br />
zwei der Rechtsprecher als Berater zugewiesen. 726 Sie sollten unter Eid den Parteien<br />
beistehen, so oft diese es wünschten, und ihnen das nach ihrem Verständnis<br />
Beste raten. 727 Der Kläger hatte schliesslich mit Hilfe der Beistände eine<br />
Klage zu verfassen und zu verlesen und der Antworter Stellung zu nehmen. 728<br />
721<br />
722<br />
723<br />
724<br />
725<br />
726<br />
727<br />
728<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 108.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 108.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 109.<br />
Autor anonym, Process[1701], S. 5. Die Schrift beinhaltet eine genaue Beschreibung des<br />
Ablaufs eines Strafprozesses.<br />
Autor anonym, Process [1701], S. 5 f.<br />
Autor anonym, Process [1701], S. 7.<br />
Autor anonym, Process [1701], S. 8.<br />
Autor anonym, Process [1701], S. 8 f.<br />
136
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
5.5.2 Exkurs: Fürstäbtische Verhaltensvorschriften für Anwälte und<br />
Pfalzräte<br />
Das Konzept der Pfalzratsordnung von 1733 gab klare Verhaltensanweisungen<br />
an die Anwälte und Beistände. Sie sollten den Pfalzräten in aller Ehrerbietigkeit<br />
<strong>gegen</strong>übertreten 729 und sich in ihren Reden und Schriften gebührender Bescheidenheit<br />
befleissen. 730 Der Advokat hatte dem Klienten seinen Rat und seine Bedenken<br />
mitzuteilen, ihn nach Recht und Billigkeit zu unterrichten und unnötige,<br />
mutwillige oder vergebliche Prozesse zu verhindern versuchen. 731 Die Beistände<br />
sollten gleichmässig mit der Vertretung betraut werden und entsprechende Aufträge<br />
ohne Widerrede annehmen und ebenso fleissig behandeln wie andere Fälle.<br />
732 Weiter wollte das Konzept der Pfalzratsordnung ein unparteiisches Verfahren<br />
garantieren, indem es den Pfalzräten vorschrieb, sich vor Parteien und Zeugen<br />
neutral zu verhalten und sich allfällige Ungunst und Widerwillen nicht anmerken<br />
zu lassen. Sie durften Vorurteile ebensowenig zeigen wie Vertrautheit oder<br />
besondere Zuneigung zu den Parteien, Advokaten, Vögten und Beiständen.<br />
Vermutete jemand eine Voreingenommenheit, so hatte er den Hofkanzler darüber<br />
zu informieren. Dieser sollte die Betroffenen kurz «und ohne ein unordnung<br />
zu machen» dazu befragen und das Weitere beobachten. 733 War einer der<br />
Pfalzräte mit einer Partei blutsverwandt, verschwägert oder stand mit ihr «in<br />
würckhlicher fründtschafft», so hatte er dies dem Präsidenten anzuzeigen und in<br />
den Ausstand zu treten, musste «also gleich ohne auffschub abtretten, und sich<br />
deren berathschlagung gänzlich enthalten». 734 War das Pfalzgericht als Appellationsinstanz<br />
tätig, galt dasselbe, wenn einer der Pfalzräte in derselben Sache in<br />
729<br />
730<br />
731<br />
732<br />
733<br />
734<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 86.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 92. Die Anwälte sollten «[...] sich auch aller unnöthigen<br />
weitläuffigkeit, und ohnanständiger hiz enthalten, auch alle schimpfflichangreiffliche,<br />
und ohnnüze reden so wohl <strong>gegen</strong> dem richter, als ihrem <strong>gegen</strong>theill, und<br />
beystände vermeyden [...]», Konzept S. 93.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 88.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 108 f.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 32.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 39.<br />
137
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
der ersten Instanz als Richter oder Advokat oder in sonst einer Form tätig gewesen<br />
war. 735<br />
Von den Pfalzräten wurde gewünscht, dass sie den Verhandlungen fleissig<br />
beiwohnten. Die Ordnung erwähnte <strong>aus</strong>drücklich, dass auch die Obervögte der<br />
Vogteien, in denen sich die zu beurteilende Angelegenheit zugetragen hatte,<br />
anwesend zu sein hatten, damit sie über alles gründliche Information erteilen<br />
und umso nachdrücklicher «pro justitia» mitwirken könnten. Die Pfalzräte sollten<br />
sich in den Stifts- und Landrechten, Sprüchen, Verträgen, Offnungen, alten<br />
löblichen Gewohnheiten, Observanzen und Übungen «wohl fundiert machen»,<br />
um insbesondere der «administration der lieben justiz mit ruhm, und nuzen»<br />
dienen zu können, sodass «nach bestem vermögen hülff, recht, rath, und trost<br />
verschafft werden möge». 736 Es war also der erklärte Wille, möglichst umfassend<br />
informierte und sachkundige Pfalzräte einzusetzen. Da die juristische Bildung<br />
in der Schweiz erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts an Ansehen zu gewinnen<br />
begann, 737 ist davon <strong>aus</strong>zugehen, dass die Pfalzräte meist juristische Laien<br />
waren.<br />
Nach <strong>aus</strong>reichender Befragung und Anhörung der Parteien sollten die Pfalzräte<br />
gemäss ihrem Rang ordentlich aufgerufen werden. Jeder war gehalten, sein<br />
Votum kurz, gründlich und substantiiert wiederzugeben, wobei er seinen Vorredner<br />
nicht wiederholen sollte. 738 Die Räte sollten einander ruhig <strong>aus</strong>reden lassen<br />
und gut zuhören. Sollte jemand eine Frage an den Referierenden haben oder<br />
diesen an etwas erinnern wollen, so hatte er sich dies zu notieren und zu warten,<br />
bis es an ihm war, sein Votum vorzubringen. 739<br />
735<br />
736<br />
737<br />
738<br />
739<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 39. Dies war zumindest bei schwereren Straftaten<br />
oftmals nicht relevant, da diese nicht von einem Niedergericht, sondern direkt vom Pfalzrat<br />
beurteilt wurden.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 21 f., Ziff. 12.<br />
BAUMANN ROBERT [2008], S. 45.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 33.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 42.<br />
138
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
5.5.3 Die Verfahrensrechte <strong>Egger</strong>s<br />
Im Rahmen des Verhörs hatte <strong>Egger</strong> wiederholt Gelegenheit zur materiellen<br />
Verteidigung. Das Verhör war umfassend. Das Gericht setzte immer wieder aufs<br />
Neue bei denselben Punkten an und forschte nach Erklärungen für <strong>Egger</strong>s Verhalten.<br />
Man bemühte sich nach Kräften, <strong>Egger</strong>s Taten zu verstehen, und scheute<br />
kaum einen Aufwand, den Sachverhalt und die Motive <strong>Egger</strong>s genau abzuklären.<br />
Darauf deuten nicht nur die eingeholten medizinischen Berichte von Leibarzt<br />
Rogg, Chirurg Wolff und dessen Sohn sowie die Amtsberichte des Hofweibels,<br />
des Fiskals und des Hatschiers hin, sondern insbesondere auch die zahlreichen<br />
Zeugenbefragungen, die mit vielen Menschen <strong>aus</strong> dem Umfeld <strong>Egger</strong>s<br />
durchgeführt wurden. Auch dem Hinweis auf seine «Experimente» mit den Leichen<br />
von Maria Baumann und Elisabeth Han ging man so gut als möglich nach,<br />
indem man Johannes Geser <strong>aus</strong>findig machte und <strong>aus</strong>führlich einvernahm. 740<br />
Offenbar gab es keine Rechtsverbeiständungen, weder auf Seiten des Angeklagten<br />
noch auf Seiten der Zeugen. <strong>Egger</strong> hätte nach Meinung der Rechtsgelehrten<br />
des 18. Jahrhunderts zwingend ein Beistand zugeordnet werden müssen,<br />
da er Straftaten begangen hatte, für die er mit der Lebens- oder zumindest mit<br />
einer Leibesstrafe rechnen musste. Auch nach dem Konzept der Pfalzratsordnung<br />
von 1733 wäre der Beizug eines erfahrenen Advokaten vorgesehen gewesen.<br />
741 Die <strong>aus</strong>führlichen Protokolle enthalten jedoch keinen Hinweis darauf,<br />
dass <strong>Egger</strong> ein Berater zur Seite gestanden hätte, oder auch nur darauf, dass sich<br />
je einer der am Verfahren Beteiligten überlegt hätte, <strong>Egger</strong> einen Beistand zu<br />
gewähren. Wahrscheinlich wurde er über dieses grundsätzlich bestehende Recht<br />
gar nicht informiert, enthält doch das Protokoll dazu trotz seiner Ausführlichkeit<br />
und Genauigkeit keine Angaben. Jedenfalls ist auch aufgrund von <strong>Egger</strong>s unstrukturierten,<br />
sich teilweise widersprechenden und die Wahrheit nur zögerlich<br />
ans Licht bringenden Aussagen unwahrscheinlich, dass <strong>Egger</strong> in irgendeinem<br />
Schritt des Verfahrens ein Beistand zur Verfügung gestanden hatte.<br />
Ohne einen Beistand, der lesen konnte, nützte <strong>Egger</strong> das Recht auf Akteneinsicht<br />
im engeren Sinne nichts, war er selbst des Lesens doch nicht mächtig. Das<br />
Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s lässt darauf schliessen, dass man ihm nicht alle<br />
740<br />
741<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser.<br />
StiASG, Rubr. 28, Fasz. 3, Konzept S. 20, Ziff. 11.<br />
139
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
protokollierten Zeugen<strong>aus</strong>sagen und Amtsberichte vorlas. Im Verhörprotokoll<br />
explizit erwähnt ist nur, dass ihm die Zeugen<strong>aus</strong>sage des Scharfrichterknechts<br />
Franz <strong>Antoni</strong> Ritter vom 18. Februar 1775 vorgelesen wurde. 742 Während der<br />
Einvernahme bezog sich der Befrager zwar ab und zu auf Erkenntnisse, die im<br />
Rahmen des Verfahrens gewonnen worden waren. Insbesondere die Aussagen<br />
im Bericht von Leibarzt Rogg wurden <strong>Egger</strong> nach und nach mitgeteilt, als er<br />
kontinuierlich bestritt, mehr als einmal mit der Mistgabel auf Catharina Himmelberger<br />
eingeschlagen zu haben. Das Gericht forderte <strong>Egger</strong> nach einigen<br />
Fragen zum Tathergang auf, er solle nicht so unverschämt lügen, man habe den<br />
Körper visitiert. 743 In verschiedenen Verhöretappen wurde er mit den Erkenntnissen<br />
des Leibarztes über den Zustand der drei Leichen konfrontiert. 744 Er blieb<br />
jedoch in Unkenntnis darüber, wer den Körper begutachtet hatte, und erhielt nie<br />
ein umfassendes Bild von den Feststellungen Roggs. Zu keinem Zeitpunkt des<br />
Verfahrens schien <strong>Egger</strong> darüber informiert worden zu sein, wer als Zeuge vernommen<br />
wurde, welche Fragen den Zeugen gestellt worden waren und welche<br />
Antworten die Einvernehmenden darauf erhalten hatten.<br />
5.5.4 Das Verhör<br />
5.5.4.1 Befragung des Angeschuldigten ohne Folter<br />
Im Rahmen der Spezialinquisition war das zentrale Beweismittel, das glaubwürdige<br />
Geständnis des Inquisiten, durch das artikulierte Verhör, die Konfrontation<br />
oder als ultima ratio durch Folter zu erlangen. 745 Da im Zuge der Aufklärung<br />
die Folter kritischer beäugt und im 18. Jahrhundert schliesslich immer seltener<br />
angewendet wurde, 746 erreichte die Fragetechnik im Verhör einen grösseren<br />
Detaillierungsgrad und wurde immer <strong>aus</strong>gefeilter. Vorformuliertes wurde<br />
zurückgedrängt, dafür wurden im Verhör unmittelbar gewonnene Informationen<br />
742<br />
743<br />
744<br />
745<br />
746<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 149.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 104.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Fragen 117, 123 f., 126.<br />
HÄRTER [2000], S. 469.<br />
Siehe sogleich Kap. 5.5.4.2.<br />
140
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
genutzt, um den Inquisiten während der oft lange dauernden Verhöre stärker<br />
unter Druck zu setzen.<br />
Neben der konkreten Tat wurde das Leben des Verdächtigen vermehrt beachtet.<br />
Man forschte nach dem Lebenswandel und dem sozialen Status, früheren<br />
Strafen und Verfahren und allfälligen weiteren Taten, von denen die Untersuchenden<br />
noch keine Kenntnis hatten. 747 Sollten sich im Laufe des Verfahrens<br />
Anzeichen für ein weiteres Verbrechen finden, so wurde mitunter empfohlen,<br />
zur Erforschung jenes Verbrechens ein separates Verhör durchzuführen. Bei<br />
einigermassen beträchtlichen Verbrechen sei es nicht zweckmässig, diese zusammen<br />
zu untersuchen; der Ordnung halber seien vielmehr getrennte Prozesse<br />
mit eigenen Aktenfaszikeln durchzuführen. 748 Im Mittelpunkt der Fragen stand<br />
jeweils die Rekonstruktion des Verbrechens; die Ergründung der Motive war in<br />
der Regel zweitrangig. Die Befragung zielte auf die Überführung des Verdächtigen<br />
ab und nicht etwa auf seine mögliche Entlastung. 749<br />
Selbst wenn auf körperliche Gewalt im Verhör verzichtet wurde, waren die<br />
Verhörenden häufig einfallsreich bei der Herbeiführung eines Geständnisses.<br />
Obwohl die Amtsleute und Untersuchungsrichter keine geschulten Kriminalbeamten<br />
im heutigen Sinn waren, verfügten sie oft über grosse praktische Erfahrung<br />
im Umgang mit Untersuchungsgefangenen. Sie hatten den Machtvorteil<br />
auf ihrer Seite und verstanden es nicht selten, erheblichen psychischen Zwang<br />
<strong>aus</strong>zuüben. 750 Sie ermahnten zur Wahrheit 751 , schritten erforderlichenfalls zur<br />
Wiederholung des Verhörs, versuchten, den leugnenden Beschuldigten in Widersprüche<br />
zu verwickeln und vorhandene Widersprüche <strong>gegen</strong> ihn zu verwenden.<br />
Über das Ergebnis der Ermittlungen liess man den Inquisiten im Dunkeln<br />
oder teilte ihm Beweisergebnisse jedenfalls nur mit grösster Zurückhaltung mit.<br />
Die eigentliche Zermürbungstaktik enthielt neben den Wiederholungen der Be-<br />
747<br />
748<br />
749<br />
750<br />
751<br />
HÄRTER [2000], S. 469.<br />
KLEINSCHROD, Richter [1798], Bd. 1, St. 1, § 12, S. 26 f.<br />
VAN DÜLMEN, Theater [1995], S. 25.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 62.<br />
Die Ermahnung zur Wahrheit sollte nicht nur zu Beginn des Verhörs erfolgen. KLEIN-<br />
SCHROD hielt 1798 beispielsweise fest, die Ermahnung zur Wahrheit «muss aber im Fortgange<br />
des Processes so oft wiederholt werden, als sich eine specielle Gelegenheit dazu<br />
darbietet [...]; wenn z.B. der Inquisit in Rührung geräth, wenn ihm Lügen und Widersprüche<br />
vorgehalten werden»; KLEINSCHROD, Richter [1798], Bd. 1, St. 1, § 3, S. 5.<br />
141
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
fragung Überraschungs- und Überrumplungsmanöver, etwa in Form von unerwarteten<br />
Gegenüberstellungen. 752 Die Konfrontation des Inquisiten mit Zeugen<br />
konnte den psychologischen Druck bedeutend erhöhen und wurde damit ein<br />
wichtiger Bestandteil des Verhörs. 753<br />
KLEINSCHROD empfahl in seinem 1798 gedruckten Leitfaden für Richter unter<br />
anderem, man solle den Verdächtigen im Allgemeinen merken lassen, dass<br />
man <strong>gegen</strong> ihn Beweise und Gründe in Händen habe, die es ihm schwer machen<br />
würden, sich mit Lügen durchzuhelfen, und dass am Ende die Wahrheit doch<br />
her<strong>aus</strong>kommen werde. 754 Der Inquisit sollte in eine Gemütsverfassung versetzt<br />
werden, die ihn eher geständig machen würde, was etwa erreicht werden könne,<br />
indem man ihn erschüttere, in Schrecken oder Rührung versetze. 755 . Der Richter<br />
sollte im Weiteren das Verhör der Gemütsart oder Hauptleidenschaft des Angeklagten<br />
anpassen: Den Geizigen sollte er mit einer Geldstrafe, den Wohllüstling<br />
mit körperlicher Unbequemlichkeit bedrohen. 756 Den Trägen und Weichlichen<br />
sollte er durch öftere Verhöre in seiner Gemächlichkeit stören und ihn bewegen,<br />
lieber zu gestehen. Den Stolzen sollte er sich durch eine herablassende Handlung<br />
annähern und ihn vertraulich machen. 757<br />
Im Rahmen des artikulierten Verhörs sollte der Spruchstelle bzw. dem allenfalls<br />
begutachtenden Rechtsgelehrten oder der Universität ein möglichst genauer<br />
Einblick in den Gang der Untersuchung gewährt werden. Die Frageartikel waren<br />
derart aneinanderzureihen, dass sie im Falle der Bejahung durch den Beschuldigten<br />
ein volles Geständnis der Täterschaft ergeben würden. 758 Seit dem<br />
752<br />
753<br />
754<br />
755<br />
756<br />
757<br />
758<br />
HENKEL [1968], S. 49. In vielen Protokollen wird der Leser Zeuge davon, wie der Widerstand<br />
des Verhörten erschlafft und sein Leugnen an Entschiedenheit verliert, bis er plötzlich<br />
zusammenbricht, SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 62 f.<br />
HÄRTER [2000], S. 470.<br />
KLEINSCHROD, Richter [1798], Bd. 1, St. 1, § 3, S. 6.<br />
KLEINSCHROD, Richter [1798], Bd. 1, St. 2, § 21, S. 78.<br />
KLEINSCHROD, Richter [1798], Bd. 1, St. 1, § 3, S. 6.<br />
KLEINSCHROD, Richter [1798], Bd. 1, St. 2, § 16, S. 68 f. Ebenda führt der Autor weiter<br />
<strong>aus</strong>, der Richter müsse den Inquisiten aber immer mit Güte und Herablassung behandeln<br />
und nur dann Schärfe gebrauchen, wenn sie unumgänglich sei. Sei der Richter gleich zu<br />
Beginn rau und scharf, so mache er den Inquisiten gewiss stutzig und hartnäckig und entferne<br />
ihn auf immer von sich.<br />
HENKEL [1968], S. 47.<br />
142
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
18. Jahrhundert gab es Praxishandbücher und juristische Literatur mit Verhörund<br />
Frageschemata, die «psychologische» Verhörtechniken schulen sollten. 759<br />
War der Widerstand erst einmal gebrochen, so entstand oftmals ein wahrer<br />
Bekennungsdrang des Beschuldigten, der in einer Art Lebensbeichte mündete. 760<br />
Ein Beispiel dafür ist vorliegend der Fall von Elisabeth Han. Sie gestand<br />
schliesslich detailliert eine ganze Reihe von über Jahre hinweg <strong>aus</strong>geübten<br />
Diebstählen, von denen die Obrigkeit ohne ihr Geständnis wohl nichts erfahren,<br />
geschweige denn sie ihr zugeordnet hätte. 761<br />
5.5.4.2 Folter und weitere Druckmittel<br />
Zur Einhaltung der erläuterten strengen Beweisregeln der Carolina wurde die<br />
Folter lange Zeit als notwendig erachtet. Sie war ein von Staat und Kirche anerkanntes<br />
Mittel zur Wahrheitsfindung, das nach der Logik des Inquisitionsprozesses<br />
konsequenterweise notwendig war. 762 War das Geständnis des Angeschuldigten<br />
nicht durch das gewöhnliche Verhör zu erlangen, so konnte unter<br />
gewissen Vor<strong>aus</strong>setzungen 763 die Folter angewendet werden, wobei sie umso<br />
weiter gehen durfte, je stärker die Verdachtsmomente <strong>gegen</strong> den Inquisiten waren.<br />
764 Die Folter kam erst im Rahmen der Spezialinquisition zur Anwendung. 765<br />
Die Carolina führte zur Folterfrage eine Reihe von Bestimmungen zugunsten<br />
des Angeklagten ein. 766 So war diesem vor dem Entscheid, ob peinlich befragt<br />
759<br />
760<br />
761<br />
762<br />
763<br />
764<br />
765<br />
766<br />
So etwa KLEINSCHRODS «Über die Rechte, Pflichten und Klugheitsregeln des Richters<br />
bey peinlichen Verhören und der Erforschung der Wahrheit in peinlichen Fällen» [1798],<br />
Bd. 1, St. 1, S. 1 ff. und Bd. 2, St. 2, S. 67 ff.; BRUNS [1994], S. 124; HÄRTER [2000],<br />
S. 470.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 63.<br />
StiASG, Bd. 1073, S. 613 ff.<br />
VAN DÜLMEN, Theater [1995], S. 29.<br />
Vgl. Art. 20 CCC. Insbesondere mussten schwerwiegende Verdachtsgründe <strong>gegen</strong> die<br />
Schuld des leugnenden Angeklagten sprechen; vgl. die Ausführungen zum Indizienbeweis<br />
in Kap. 5.3.1 sowie BALDAUF [2004], S. 90 f.<br />
PÖLTL [1999], S. 42.<br />
GSCHWEND, Geständniszwang [2006], S. 166.<br />
Übersichtliche Darstellung bei BALDAUF [2004], S. 90 ff.; mit pointierten Hinweisen auf<br />
die Notwendigkeit einer Reglementierung QUANTER, Folter [1900], S. 166. Siehe auch<br />
SCHILD, Verfahren [1989], S. 198 f.<br />
143
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
werden durfte, die Gelegenheit zu geben, sich zu entlasten und namentlich ein<br />
Alibi beizubringen, das der Richter überprüfen musste. 767 Gefoltert werden durfte<br />
nur, wenn die Indizien <strong>gegen</strong> den Angeklagten schwerer wogen als die Hinweise<br />
auf seine Unschuld. 768 Suggestivfragen waren verboten. 769 Ein unter Folter<br />
abgelegtes Geständnis durfte nicht protokolliert oder verwertet werden. 770 Vielmehr<br />
musste das Geständnis dem Angeklagten vom Richter in Gegenwart von<br />
zwei Schöffen einen oder mehrere Tage nach der Folterung nochmals vorgehalten<br />
und auf seine Glaubwürdigkeit hin überprüft werden. 771 Widerrief der Angeklagte<br />
ein glaubhaftes Geständnis, so war entweder die peinliche Befragung zu<br />
wiederholen oder der Beweis zuzulassen, «dass der gefangen solch bekantnuss<br />
<strong>aus</strong>s irrsal gethan, alssdann mag der Richter den selben gefangen, zu <strong>aus</strong>sfürung<br />
vnd beweisung solchs irrsals zulassen». 772 Wurden die Vorschriften der Carolina<br />
bei Anwendung der Folter nicht eingehalten, so sollte dies zur Bestrafung der<br />
Richter durch ihr Obergericht führen, während die rechtmässige, aber ergebnislose<br />
Folter straffrei blieb. 773<br />
Trotz dieser Reglementierungen bleibt als Mangel der Carolina zu erwähnen,<br />
dass die Folter in Art, Intensität und Dauer nicht geregelt wurde, sondern ins<br />
Ermessen des Richters gestellt blieb. 774 Immerhin dürfte durch die erwähnten<br />
Einschränkungen zugunsten des Angeklagten die vor Geltung der Carolina herrschende<br />
Willkürpraxis erheblich eingeschränkt worden sein. 775<br />
Die Folter wurde einem Angeklagten in der Regel zuerst angedroht. So wurde<br />
im Rahmen einer verbalen Androhung dem Angeklagten oftmals der Folter-<br />
767<br />
768<br />
769<br />
770<br />
771<br />
772<br />
773<br />
774<br />
775<br />
Art. 47 CCC.<br />
Art. 28 CCC.<br />
Art. 56 CCC. Das Ziel, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, wird gemäss diesem Artikel<br />
«[...] etwa damit verderbt, wenn den gefangen jn annemen oder fragen, die selben<br />
vmbstende der missethat vorgesagt vnd darauff gefragt werden. [...]». Vgl. auch KLEIN-<br />
SCHROD, Richter [1798], Bd. 1, St. 1, § 13, S. 28.<br />
Art. 58 CCC.<br />
Art. 56 CCC.<br />
Art. 57 CCC.<br />
Art. 61 CCC; BALDAUF [2004], S. 93.<br />
Art. 58 CCC; RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 54; GSCHWEND, Geständniszwang [2006],<br />
S. 166.<br />
BALDAUF [2004], S. 94.<br />
144
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
meister vorgestellt. 776 Er zeigte dem Angeklagten die Folterkammer und die Folterinstrumente<br />
und erklärte ihm detailliert deren Verwendung. 777 Erfolgte im<br />
Anschluss daran kein Geständnis, wurden die Instrumente in Bereitschaft versetzt<br />
oder dem Angeklagten ohne Schmerzzufügung angelegt. Allenfalls wurden<br />
bereits leichte Schmerzen zugefügt. Zur eigentlichen Folter kam es erst, wenn<br />
der Angeklagte nach diesem Prozedere noch immer nicht gestehen wollte. 778<br />
Das Schicksal der Folter drohte nicht nur dem Angeschuldigten, sondern<br />
auch den Zeugen. Die Folterung eines Zeugen war etwa dann gerechtfertigt,<br />
wenn bei einem schweren Verbrechen vermutet wurde, der Zeuge verfüge über<br />
entscheidendes Wissen darüber, weigere sich aber «<strong>aus</strong> purer Hartnäckig- und<br />
Halsstarrigkeit», dieses mitzuteilen. 779 Der die Aussage verweigernde Zeuge<br />
konnte auch mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe belegt werden. Ein gewisser<br />
Schutz vor unverhältnismässiger Folter sollte den Zeugen etwa dadurch zukommen,<br />
dass nur gefoltert werden sollte, wenn hinreichend erwiesen war, dass<br />
überhaupt ein Verbrechen begangen worden war; 780 dies schloss die Folterung<br />
eines möglichen Zeugen bei der Generalinquisition <strong>aus</strong>. Weiter mussten genügend<br />
starke Indizien dafür bestehen, dass der Zeuge über das Verbrechen etwas<br />
Wichtiges wusste. Die Schwelle konnte jedoch je nach Delikt sogar tiefer angesetzt<br />
werden als beim Angeschuldigten selbst: So konnte bereits eine widersprüchliche<br />
Aussage, ein gestammeltes Bekenntnis oder die Aussage eines anderen,<br />
für glaubwürdiger befundenen Zeugen, der andere Zeuge sei bei der Tat<br />
zu<strong>gegen</strong> gewesen, zur Folter rechtfertigen. 781 Hatte der Angeschuldigte selbst<br />
bereits gestanden, sollte der Zeuge eher von der Tortur verschont werden. Würde<br />
der Zeuge sich durch eine Aussage selbst belasten, so sollte die Folter eben-<br />
776<br />
777<br />
778<br />
779<br />
780<br />
781<br />
In St. Gallen trug dieser dabei oftmals einen beeindruckenden roten Mantel; BLESS-<br />
GRABHER [2003], S. 269.<br />
Nach der «territio verbalis», der blossen Schreckung, schritt man zu «territio realis».<br />
Meist war dies jedoch nicht mehr notwendig, weil der Angeklagte bereits bei der Schreckung<br />
ein Geständnis ablegte; SCHILD, Gerichtsbarkeit [1980], S. 160, 162.<br />
BALDAUF [2004], S. 167. Der Scharfrichter setzte dem Angeklagten etwa die Daumenschrauben<br />
an, vorerst ohne Schmerzen zu verursachen. Blieb das Geständnis <strong>aus</strong>, wurden<br />
die Daumenschrauben immer weiter angezogen, BLESS-GRABHER [2003], S. 270. Siehe<br />
auch Z’GRAGGEN [1999], S. 78.<br />
ZEDLER [1751], Bd. 62, S. 101, Sp. 175 f.<br />
ZEDLER [1751], Bd. 62, S. 101, Sp. 176.<br />
ZEDLER [1751], Bd. 62, S. 102, Sp. 177.<br />
145
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
falls nicht erlaubt sein. 782 Wie letzteres in der Praxis umgesetzt wurde, ist jedoch<br />
schwer vorstellbar. Wenig wahrscheinlich ist, dass die Aussage, sich nicht selbst<br />
belasten und deshalb schweigen zu wollen, den Zeugen langfristig vor der Folter<br />
bewahrte, lieferte eine solche Aussage doch allenfalls ein <strong>aus</strong>reichend starkes<br />
Indiz zur Eröffnung eines Verfahrens <strong>gegen</strong> den Zeugen selbst.<br />
Nicht allein die durch die Folter zugefügten körperlichen Schmerzen machten<br />
dieses Instrument «wirkungsvoll». Für viele Inquisiten, wohl auch für gefolterte<br />
Zeugen, war sein infamierender, sozial stigmatisierender Effekt erheblich, sodass<br />
in vielen Fällen die Androhung der Folter genügte, um – zumindest beim<br />
einheimischen Angeklagten bzw. Zeugen – ein Geständnis bzw. eine Aussage<br />
zu erhalten. Der Gefolterte war mit dem Stigma des Unehrlichen, Unreinen versehen<br />
und wurde, unabhängig von der letztlich erfolgenden Bestrafung, oftmals<br />
<strong>aus</strong> der Gesellschaft <strong>aus</strong>geschlossen. 783<br />
Vor allem in der Epoche der Aufklärung äusserten sich zahlreiche Gelehrte<br />
umfassend zur Frage der Berechtigung der Folter. Den Juristen fiel es insgesamt<br />
schwer, auf dieses Beweishilfsmittel zu verzichten. 784 Kritische Stimmen zur<br />
Folter gab es dennoch – insbesondere bei Aufklärern und Reformphilosophen –<br />
viele. 785 Ab Mitte des 18. Jahrhunderts konnten diese nicht länger überhört werden.<br />
Die Rechtswissenschaft anerkannte allmählich die Achtung des Individuums<br />
durch den Staat, wie sie von den rationalen Naturrechtlern schon lange<br />
gefordert wurde, und den Anspruch der Verdächtigen auf körperliche Integrität.<br />
786 Am Ende der frühen Neuzeit brach nach und nach auch der Widerstand<br />
782<br />
783<br />
784<br />
785<br />
786<br />
ZEDLER [1751], Bd. 62, S. 102, Sp. 177.<br />
HÄRTER [2000], S. 471. Die Unehre, die ein Delinquent auch durch Urteil oder Strafe<br />
erlangen konnte, war äusserst folgenreich. Der Betroffene konnte nicht mehr auf sozialen<br />
Umgang hoffen, noch war er etwa in ein Amt wählbar; KNOTT [2006], S. 21.<br />
GSCHWEND, Geständniszwang [2006], S. 170.<br />
Als bedeutender Folterkritiker bekannt wurde der italienische Jurist Cesare Beccaria (geb.<br />
1738, gest. 1794), der mit seinem Werk «Dei delitti e delle pene», das weltweite Verbreitung<br />
fand, <strong>gegen</strong> die Folter ankämpfte und sich für deren Abschaffung einsetzte; BECCA-<br />
RIA [1766], XVI. S. 92 ff. Siehe auch SCHMOECKEL [2000], S. 180 ff.; RÜPING/JEROU-<br />
SCHEK [2007], S. 84 f.; BALDAUF [2004], S. 197; JEROUSCHEK, Beccaria [1998], insbes.<br />
S. 667, 670; HETTENHAUER [2004], S. 597, Rz. 1620 ff. Eine Übersicht über die Äusserungen<br />
weiterer bedeutender Folterkritiker liefern GSCHWEND, Geständniszwang [2006],<br />
S. 166 f.; SCHILD, Frag [2002], S. 138 ff.; BRUNS [1994], S. 48 ff.; BALDAUF [2004],<br />
S. 179 ff. Eingehend dazu SCHMOECKEL [2000], S. 112 ff.<br />
GSCHWEND, Geständniszwang [2006], S. 170.<br />
146
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
der Obrigkeiten <strong>gegen</strong> die Abschaffung der Folter sowohl in deutschen Landen<br />
als auch im übrigen Europa. 787 Die Abschaffung der Folter erforderte grundlegende<br />
Veränderungen des Prozessrechts; die Bestrafung aufgrund des gut begründeten<br />
Verdachts, der Würdigung zwingender Indizien, begann sich durchzusetzen.<br />
788 Bevor die freie richterliche Beweiswürdigung 789 jedoch endgültig<br />
Oberhand gewann, verhängten viele Gerichte in der Übergangsphase in Ermangelung<br />
eines (erzwungenen) Geständnisses und beim Fehlen von Zeugen Ungehorsams-,<br />
Lügen- und Verdachtsstrafen. Diese wurden etwa als Prügelstrafen<br />
vollzogen und waren oftmals kaum weniger gr<strong>aus</strong>am als die Folter. 790 In der Zeit<br />
unmittelbar nach Abschaffung der Folter verfügte der Angeschuldigte noch<br />
nicht über das Recht zu schweigen. Verweigerte er die Aussage, so wurde er<br />
bestraft. Aus dem Schweigen her<strong>aus</strong> entstand bisweilen gar die Fiktion eines<br />
Geständnisses. 791<br />
5.5.4.3 Verhöre <strong>Egger</strong>s nach Gefangennahme<br />
Nachdem <strong>Egger</strong> <strong>gegen</strong>über seinem Schwager <strong>Joseph</strong> Bensegger und seinem<br />
Schwiegervater den Totschlag von Catharina gestanden hatte und wenige Stunden<br />
darauf verhaftet worden war, dachte er offenbar nicht daran, diese Tat später<br />
<strong>gegen</strong>über dem Gericht zu leugnen. Dies dürfte auch mit dem Auffinden der<br />
Leiche von Catharina im Galgentobel vor Beginn des ersten Verhörs in Zusammenhang<br />
stehen. Über den Verbleib der Leiche hatte <strong>Joseph</strong> Bensegger im Rahmen<br />
seiner Anzeige informiert, nachdem <strong>Egger</strong> ihm und seinem Schwiegervater<br />
am 11. Februar 1775 gestanden hatte, diese in die Stauden des Galgentobels<br />
transportiert zu haben. 792 Bei dieser Sachlage dürfte <strong>Egger</strong> jedes Leugnen sinnlos<br />
vorgekommen sein.<br />
787<br />
788<br />
789<br />
790<br />
791<br />
792<br />
IGNOR [2002], S. 163; VON HIPPEL [1941], S. 39.<br />
SCHILD, Frag [2002], S. 147.<br />
Vgl. dazu BALDAUF [2004], S. 212 f.; JEROUSCHEK, Inquisitionsprozess [1992], S. 344;<br />
GSCHWEND, Geständniszwang [2006], S. 171 ff.<br />
SCHILD, Verfahren [1989], S. 202. In Frage kam auch strenger Arrest.<br />
HOLZHAUSER [1971], Sp. 1640.<br />
Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Bensegger, S. 3; vgl. Kap. 3.4.3 und 4.3.3.<br />
147
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Zu den einzelnen Verhören, die alle im Wirtsh<strong>aus</strong> in St. Fiden stattfanden,<br />
wurde <strong>Egger</strong> offenbar von Hofweibel Ackermann gebracht. Gemäss Bestallung<br />
war es Sache des Amtsdieners, den Gefangenen in die Verhörstube oder auf Befehl<br />
gar auf die Pfalz zu bringen und ihn nach dem Verhör wieder einzusperren.<br />
Während der Verhöre hatte er sich für allfällige Befehle jederzeit zur Verfügung<br />
zu halten. 793<br />
Gleich zu Beginn des ersten Verhörs nach der Gefangennahme am 15. Februar<br />
1775 erfolgte eine «ernstliche [...] erinnerung die reine, und klare wahrheit an<br />
tag zu geben, und nichts zu verheelen». 794 Die Befragung, die sich über mehrere<br />
Wochen erstreckte, war sehr detailliert. In etlichen Punkten wurde das Verhör<br />
wiederholt. Öfters nahm der Befrager <strong>Egger</strong>s Antwort wieder auf oder fasst sie<br />
kurz zusammen, bevor er die nächste, mit der unmittelbar gewonnenen Information<br />
verbundene Frage anknüpfte. 795 Immer wieder und wieder ermahnte man<br />
<strong>Egger</strong>, die Wahrheit zu sagen. 796 Manchmal bezog sich der Befrager auf das letzte<br />
Examen und versuchte, <strong>Egger</strong> in Widersprüche zu verwickeln, ihn mit angeblichen<br />
oder tatsächlichen Widersprüchen zu konfrontieren und in die Enge zu<br />
treiben. 797 Das Gericht bemühte sich, Druck <strong>aus</strong>zuüben und liess das Vorhandensein<br />
von Beweisen durchblicken, über die <strong>Egger</strong> aber zumindest vorerst<br />
nicht aufgeklärt wurde. Er wurde etwa aufgefordert, er «solle sich wohl bedenckhen,<br />
was er rede, die obrigkeit könnte mehr wüssen, als er sich einbildet».<br />
798<br />
Auch wenn es den Befragenden nicht gelang, Suggestivfragen ganz zu vermeiden,<br />
waren die meisten Fragen doch offen formuliert. Während bei den ersten<br />
Einvernahmen praktisch keine suggestiven Formulierungen vorkamen, fin-<br />
793<br />
794<br />
795<br />
796<br />
797<br />
798<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 3, Ziff. 7. Es war auch Sache<br />
des Amtsdieners, den Gefangenen auf Befehl dem Scharfrichter zu übergeben; S. 5,<br />
Ziff. 11.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokolle <strong>Egger</strong>s, Antwort 1.<br />
Siehe etwa Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Fragen 4, 9, 19, 21, 27 und weitere.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, z.B. Fragen 5, 6, 8, 29, 60, 72, 75, 104, 108, 112,<br />
122, 139, 151, 156, 160, 180, 224, 227, 235, 236 und 248.<br />
Siehe etwa Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 37, 38.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 61.<br />
148
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
den sich einige wenige in den späteren Verhören. 799 Die handschriftlich protokollierten<br />
Verhöre waren oft recht lang. Man forschte <strong>gegen</strong>über <strong>Egger</strong> wie<br />
auch <strong>gegen</strong>über verschiedenen Zeugen nach Gegebenheiten <strong>aus</strong> <strong>Egger</strong>s Leben.<br />
So wurde beispielsweise die Frage gestellt, ob er lesen und schreiben könne. 800<br />
Von <strong>Egger</strong>s Ehefrau erhielt man Aussagen über den Charakter ihres Mannes. 801<br />
Das Gericht führte betreffend Totschlag und Leichenschändungen nicht etwa<br />
zwei getrennte Verfahren bzw. getrennte Verhöre durch. Vielmehr mischte es in<br />
den einzelnen Verhöretappen immer wieder Fragen nach den Umständen des<br />
Totschlags mit Fragen nach den Leichenschändungen. Auch mit den rechtlichen<br />
Grundlagen für die einzelnen Delikte befasste es sich nicht getrennt. 802<br />
Mit dem Geständnis <strong>Egger</strong>s betreffend den Totschlag von Catharina Himmelberger<br />
gaben sich die Untersuchenden nicht ohne weiteres zufrieden. Sie<br />
zweifelten offensichtlich an der Glaubwürdigkeit der Angaben. Insbesondere<br />
aufgrund der von Leibarzt Rogg gefundenen Verletzungen an der Leiche schlossen<br />
sie nicht <strong>aus</strong>, dass <strong>Egger</strong> mehr als nur einen Schlag mit der Mistgabel <strong>aus</strong>geteilt<br />
hatte. Wieder und wieder befragte man <strong>Egger</strong> zu diesem Punkt. 803 Ebenso<br />
forschte man immer wieder nach dem Motiv für seine Tat. Das Gericht zweifelte<br />
am Affekt, an der für <strong>Egger</strong> unkontrollierbaren Wut, mit der er den Schlag<br />
gemäss seinen Aussagen <strong>aus</strong>geführt hatte. Doch in diesen Punkten blieb <strong>Egger</strong><br />
trotz aller Fragen und Rückfragen bei seiner ursprünglichen Aussage, in rasender<br />
Wut nur einmal zugeschlagen zu haben.<br />
Das Verhör vom 20. Februar 1775 nachmittags wurde mit der Begründung<br />
geschlossen, man wolle <strong>Egger</strong> Bedenkzeit geben und sehen, ob er noch länger<br />
so halsstarrig sein werde. 804 Während des Verhörs wies das Gericht im Zusam-<br />
799<br />
800<br />
801<br />
802<br />
803<br />
804<br />
<strong>Egger</strong> wurde beispielsweise gefragt, ob er der Catharina Himmelberger nach dem ersten<br />
Streich nicht noch mehrere gegeben habe oder wenigstens noch einen (Frage 176), ob er<br />
sie nicht auch zum Stall hin<strong>aus</strong> habe jagen wollen (Frage 201), ob er um Neujahr herum<br />
nicht hätte Geschirr nach Herisau fahren müssen (Frage 215).<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 220; Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau,<br />
S. 9.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sage der Ehefrau, S. 8 f.<br />
Zum Wechsel des Befragungsthemas vgl. z.B. die Fragen 58 und 59.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 6, 8, 10, 27, 29, 174, 176, 179, 180, 181,<br />
253.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 158.<br />
149
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
menhang mit der Anzahl Schläge, die <strong>Egger</strong> dem Opfer verpasst hatte, auf die<br />
Möglichkeit der peinlichen Befragung hin. Man fragte <strong>Egger</strong> am 21. Februar<br />
1775 etwa, ob er es wirklich darauf ankommen lassen wolle, durch den Henker<br />
zur Wahrheit gebracht zu werden. Darauf antwortete er, selbst wenn des Scharfrichters<br />
Knecht wirklich da wäre und ihn in vier Teile zerreissen würde, könnte<br />
er nichts anderes sagen. 805 Am 7. März 1775 glaubte man ihm nicht, was er über<br />
die angeblichen Äusserungen des Geiserwalders Geser sagte, und wies ihn an,<br />
nicht so unverschämt daherzulügen und es nicht darauf ankommen zu lassen,<br />
die Wahrheit mit anderen Mitteln her<strong>aus</strong>zubringen. 806<br />
Mit <strong>Egger</strong>s Geständnis, die Leichen von Elisabeth Han und Maria Baumann<br />
<strong>aus</strong>gegraben und zumindest teilweise zerlegt zu haben, begnügte sich das Gericht<br />
lange Zeit nicht. Es bemühte sich sehr, das wahre Motiv zu ergründen. <strong>Egger</strong><br />
gab wiederholt an, er habe es halt tun müssen, habe sich gezwungen gefühlt.<br />
Die Befrager hakten auch in diesem Punkt immer wieder nach. Nach dreiwöchiger<br />
Gefangenschaft entschloss sich <strong>Egger</strong> endlich, seine Motive vollends offen<br />
zu legen und erzählte, was er von Johannes Geser gehört hatte und dass er beschlossen<br />
hatte, die Versuche selbst durchzuführen, um so den Gerüchten auf<br />
den Grund zu gehen. Als Johannes Geser schliesslich bestätigte, es sei nicht<br />
<strong>aus</strong>geschlossen, dass er <strong>Egger</strong> in der Trunkenheit von gewissen abergläubischen<br />
Sachen erzählt habe, 807 verzichtete das Gericht auf weitere Einvernahmen <strong>Egger</strong>s.<br />
Ganz zufrieden gab sich das Gericht damit jedoch noch nicht und führte <strong>Egger</strong><br />
nach dem Verhör vom 7. März 1775 dem Scharfrichter vor. Er musste in<br />
dessen Angesicht ein letztes Mal bestätigen, der Catharina Himmelberger nur<br />
einen Schlag verpasst zu haben und die Leichen von Maria Baumann und Elisabeth<br />
Han <strong>aus</strong> keinem anderen Grund und mit keiner anderen Absicht <strong>aus</strong>gegraben<br />
zu haben als der, die er angegeben habe. Daraufhin wurde er vom Scharfrichter<br />
noch «in den abstand» geführt und auf «leibsachen» durchsucht. Als dieser<br />
nichts fand, war die Aufgabe des Scharfrichters beendet. 808 Die Frage, ob<br />
<strong>Egger</strong> nun noch gefoltert werden solle, war bereits im Rahmen der Beratung der<br />
805<br />
806<br />
807<br />
808<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 183.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 242.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Antwort 9.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 90.<br />
150
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
Pfalzräte vom 3. März 1775 aufgegriffen und verneint worden mit der Begründung,<br />
er habe sich ohnehin schon eines «homicidii dolosi» schuldig gemacht<br />
und damit die Todesstrafe durchs Schwert auf sich gezogen. 809 Dies war denn<br />
wohl auch der Grund, dass nicht mittels Folter nach weiteren Straftaten, die <strong>Egger</strong><br />
in der Vergangenheit vorgenommen haben könnte, geforscht wurde.<br />
Die Vorführung beim Scharfrichter machte auf <strong>Egger</strong> zweifellos Eindruck,<br />
hatte er doch grosse Angst vor der Folter gehabt. Gegenüber dem Wirt Louis<br />
hatte <strong>Egger</strong> vor seiner Festnahme am 12. Februar 1775 gesagt, wenn er wüsste,<br />
dass er nach St. Fiden müsste und «gezimiget» würde, so gehe er lieber <strong>aus</strong> dem<br />
Land. 810 Der Wirt hatte darauf erwidert, wenn <strong>Egger</strong> unschuldig sei, so solle er<br />
nicht fort gehen. Schliesslich habe Gott auch unschuldig gelitten. 811 Sowohl <strong>Egger</strong><br />
als auch Louis waren offenbar davon <strong>aus</strong>gegangen, dass man <strong>Egger</strong> früher<br />
oder später festnehmen und der Folter <strong>aus</strong>setzen würde, wenn er die Tötung<br />
nicht gestehen würde. Auch <strong>gegen</strong>über seinem Schwager und seinem Schwiegervater<br />
hatte <strong>Egger</strong> zu Beginn des Gesprächs vom 13. Februar 1775 und vor<br />
seinem Geständnis geäussert, weil er überall so im Geschrei sei, fürchte er nur,<br />
dass man ihn nach St. Fiden bringe und an die Marter schlage, obwohl er nichts<br />
getan habe. Während anderthalb Stunden war dann über die Marter diskutiert<br />
worden, wobei <strong>Egger</strong> offenbar stets betont hatte, er wolle sich dem nicht <strong>aus</strong>setzen,<br />
weil er unschuldig sei. 812<br />
5.5.5 Zeugeneinvernahmen<br />
Die Zeugenbefragungen fanden mehrheitlich auf der Pfalz statt. Aus den Akten<br />
kann nicht auf einen strikten formellen Ablauf der Einvernahmen geschlossen<br />
werden. Die meisten Zeugenbefragungen sind nicht im Frage-und-Antwort-Stil<br />
formuliert, sondern haben die Form eines durchgehenden Textes, der die Aussagen<br />
der Zeugen in indirekter Rede wiedergibt. Die Fragen selbst sind den meisten<br />
Protokollen nicht zu entnehmen. Ausnahmen bilden die Befragungen von<br />
809<br />
810<br />
811<br />
812<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, S. 91.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 2.<br />
Dok. 6, erste Anzeige von Christian Louis, S. 2.<br />
Dok. 7, Zeugen<strong>aus</strong>sage von <strong>Joseph</strong> Bensegger, S. 3.<br />
151
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
<strong>Egger</strong>s Ehefrau Maria German, des Tablaters <strong>Joseph</strong> Rüesch und des Geiserwalders<br />
Johannes Geser. Weshalb in den Protokollen dieser Zeugen die Fragen<br />
explizit festgehalten wurden und bei allen übrigen nicht, ist nicht ersichtlich.<br />
Die Protokolle mit den Aussagen der Ehefrau und von <strong>Joseph</strong> Rüesch weisen<br />
einen neutralen Fragestil auf. Es finden sich keine Suggestivfragen. Wie <strong>aus</strong> fast<br />
allen übrigen Zeugeneinvernahmeprotokollen hervor geht, scheint das Gericht<br />
dem jeweiligen Zeugen in der Befragung nicht kritisch <strong>gegen</strong>übergetreten zu<br />
sein.<br />
Auch Versuche, Druck auf die Zeugen <strong>aus</strong>zuüben, sind nicht erkennbar. Die<br />
einzige Ausnahme bildet die Befragung von Johannes Geser vom 8. März 1775.<br />
Dieses Protokoll gleicht mit seinen durchnummerierten Fragen viel eher dem<br />
Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s als den übrigen Zeugenbefragungen. Das Verhör<br />
wirkt deutlich förmlicher und beginnt als einziges Zeugenverhör wie das Einvernahmeprotokoll<br />
<strong>Egger</strong>s mit der Frage «wie er heisse?». 813 Mehrere Fragen<br />
wirken wie beim Verhör <strong>Egger</strong>s anklagend. Auf die Behauptung Gesers, er habe<br />
nur <strong>Egger</strong>s Stieftochter Barbara gekannt, mit <strong>Joseph</strong> <strong>Antoni</strong> keine Bekanntschaft<br />
gehabt und mit ihm nie geredet, 814 sagte man ihm gerade her<strong>aus</strong>, «es wolle<br />
ganz anders verlauten [...]». 815 Als er schliesslich leugnete, mit <strong>Egger</strong> einen Diskurs<br />
über Tauben geführt zu haben, riet ihm der Befragende, er «solle sich wohl<br />
bedenckhen, dann die obrigkeit seye eines ganz anderen überzeugt». 816 Letztlich<br />
sagte Geser offenbar, was er wusste, worauf das Verhör bald geschlossen wurde.<br />
Dieses Verhör zeigt unverholen, dass man Johannes Geser mit Skepsis und<br />
Misstrauen, ja sogar mit Ablehnung <strong>gegen</strong>übertrat. Immerhin ging man allem<br />
Anschein nach nicht so weit, seine abergläubischen Reden selbst unter einen<br />
Straftatbestand subsumieren und ihm den Prozess machen zu wollen.<br />
Die Zeugeneinvernahmen wurden getreu den Vorgaben der Carolina unter<br />
Ausschluss des Angeklagten durchgeführt: Da <strong>Egger</strong> gewisse Zeugen<strong>aus</strong>sagen<br />
vorgelesen wurden 817 oder sich die Befrager beim späteren Verhör <strong>Egger</strong>s darauf<br />
813<br />
814<br />
815<br />
816<br />
817<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Frage 1.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Antwort 2.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Frage 4.<br />
Dok. 18, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Johannes Geser, Frage 7.<br />
So etwa die Aussagen des Scharfrichters Knecht Franz <strong>Antoni</strong> Ritter vom 18. Februar<br />
1775; siehe Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 149.<br />
152
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
bezogen, ist davon <strong>aus</strong>zugehen, dass er den Zeugeneinvernahmen nicht beiwohnen<br />
durfte. Ob auch die Öffentlichkeit bei den Zeugeneinvernahmen (konsequent)<br />
<strong>aus</strong>geschlossen wurde, ist den Akten nicht zu entnehmen.<br />
Die von der Carolina gewünschten Hinweise in den Protokollen auf die Gebärden<br />
der Zeugen 818 oder auf sonstige nonverbale Äusserungen wie etwa Tonfall<br />
oder dergleichen finden sich nicht. In den Zeugeneinvernahmeprotokollen<br />
ist nicht vermerkt, wer die Befragung vorgenommen hatte und wer dabei anwesend<br />
war. Auch über sonstige Anwesende enthalten die Protokolle keine Angaben.<br />
Während der Einvernahme von Catharinas Bruder Jacob Himmelberger<br />
meldete sich offenbar spontan dessen Tochter Maria Anna zu Wort, deren Beisein<br />
am Verhör bis dahin <strong>aus</strong> den Akten nicht ersichtlich gewesen war. 819<br />
5.5.6 Haftbedingungen<br />
Im frühneuzeitlichen Strafprozess wurden zur Überführung des Angeschuldigten<br />
nicht nur Verhör und Folter als Druckmittel eingesetzt, sondern häufig auch<br />
die Unterbringung im Untersuchungsgefängnis unter prekären Bedingungen.<br />
Dauerte eine Untersuchung Wochen bis Monate an, konnten mangelhafte Nahrung,<br />
fehlende Beheizung und Feuchtigkeit der Zellen den Inquisiten mürbe<br />
machen und seine Zunge lockern. 820<br />
Nach seiner Gefangennahme und während der Untersuchung war <strong>Egger</strong> im<br />
Gefängnisturm in St. Fiden hinter dem Wirts- und Gerichtsh<strong>aus</strong> «Hirschen» untergebracht.<br />
Über die konkreten Bedingungen der Haft schweigen die Verfahrensakten.<br />
Die Bestallung des Amtsdieners <strong>aus</strong> der Zeit um 1750 gewährt jedoch<br />
eine gewisse Vorstellung über die Haft. Der Amtsdiener war für den Umgang<br />
mit den Gefangenen zuständig. Er musste diese «binden und lösen», ihnen<br />
Stroh bringen, einheizen und sie dreimal täglich mit Essen versorgen. Dabei<br />
musste er jeweils «visitieren», ob die Gefangenen noch «wohl verwahrt» waren.<br />
821 Ohne offizielle Spezialbewilligung durfte er den Gefangenen «nichts ext-<br />
818<br />
819<br />
820<br />
821<br />
Siehe Art. 71 CCC.<br />
Dok. 12, Zeugen<strong>aus</strong>sage von Jacob Himmelberger, S. 2.<br />
HÄRTER [2000], S. 471 f.; SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 62.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 2, Ziff. 5.<br />
153
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
ra an speis, trankh, tabac oder dergleichen» geben. Er durfte auch niemandem<br />
Zutritt zu den Gefangenen gewähren. Wurde ein Besuch bewilligt, so hatte der<br />
Amtsdiener dem Treffen beizuwohnen und fleissig zuzuhören, was gesprochen<br />
wurde. Dies hatte er getreulich der Obrigkeit zu berichten. 822<br />
Über die Gegenstände, die mit der Gefangenschaft zu tun hatten, wie Schlüssel,<br />
Schlösser, Ketten, «band, bettgeräth» und dergleichen hatte der Amtsdiener<br />
ein ordentliches Inventar zu erstellen und zu allem Sorge zu tragen. Er musste<br />
die Leinlaken waschen und die Zelle «buzen», sobald der Gefangene entlassen<br />
wurde, damit das Holz nicht verfaule. 823 Für die Kosten der Haft hatten die Gefangenen<br />
selbst aufzukommen, es sei denn, dass sie nicht in der Lage wären,<br />
diese zu bezahlen. 824<br />
Einige weitere Hinweise auf die Haftbedingungen finden sich in einer im<br />
Jahr 1688 unter Abt Cölestin Sfondrati 825 erlassenen «würdtsordnung» 826 in Bezug<br />
auf die im Gefängnisturm inhaftierten Untersuchungsgefangenen. Der Erlass<br />
der Ordnung wurde als nötig erachtet, weil die Kosten der Gefangenschaften<br />
und der Gefangenentransporte <strong>aus</strong> den Vogteien nach St. Fiden offenbar zu<br />
Beschwerden des sog. Bussenamts, das für die Kosten aufzukommen hatte, geführt<br />
hatten. Die Rechnungen des Wirts hatten wiederholt Streit und Missverständnisse<br />
<strong>aus</strong>gelöst. 827 Die Kosten sollten nun strenger unter Kontrolle gehalten<br />
werden, wozu die Wirtsordnung verschiedene Vorschriften machte. So sollte<br />
der Wirt etwa den Weibeln und Gerichtsdienern, die Gefangene <strong>aus</strong> den Vogtei-<br />
822<br />
823<br />
824<br />
825<br />
826<br />
827<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 3, Ziff. 6. Dem Amtsdiener<br />
war es im Übrigen verboten, dem Gefangenen etwas von einer Drittperson <strong>aus</strong>zurichten<br />
und umgekehrt; er hatte über alles «ein getreuliches und genaues stillschweigen» zu halten,<br />
S. 3, Ziff. 6.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 4, Ziff. 9. Sollte der Amtsdiener<br />
Mängel feststellen, hatte er dies dem Fiskal zu melden, der für die Veranlassung<br />
der Ausbesserung zuständig war; S. 4, Ziff. 9.<br />
StiASG, Rubr. 42, Fasz. 17, Bestallung eines Amtsdieners, S. 4 f., Ziff. 10. Eine detaillierte<br />
Zusammenstellung der während der Haft der beiden Gefangenen Sebastian Meyer<br />
und Jacob Holtz in St. Fiden angefallenen Kosten ist im Stiftsarchiv erhalten, StiASG,<br />
Rubr. 42, Fasz. 17. Die beiden befanden sich vom 9. bzw. 10. August 1723 an in Gefangenschaft<br />
und wurden am 10. September 1723 durch den Strang hingerichtet.<br />
Cölestin Sfondrati, geb. 1644, gest. 1696, Abt von 1687 bis 1696; HENGGELER [1929],<br />
S. 149 ff.<br />
StiASG, Würdtsordnung, Rubr. 42, Fasz. 17.<br />
StiASG, Würdtsordnung, Rubr. 42, Fasz. 17, S. 5.<br />
154
Prozessrechtliche Beurteilung<br />
en brachten, nur noch <strong>gegen</strong> Barzahlung und nicht mehr auf Rechnung des Bussenamts<br />
Speis und Trank geben. Die jeweiligen Vögte sollten den Überbringern<br />
das Geld zur Verfügung stellen. 828 Dem Wirt, der für die leibliche Versorgung<br />
der Gefangenen zuständig war, wurde verboten, dem Gefangenen während des<br />
Verhörs Essen oder Trinken zu bringen, wenn dies nicht vom Befragenden erlaubt<br />
wurde. 829 Der Wirt sollte die Gefangenen mit seiner H<strong>aus</strong>kost und einem<br />
Trunk verpflegen, durfte dafür aber nicht mehr als 15 Kreuzer täglich verlangen.<br />
830 Im kalten Winter sollte der Wirt das Gefangenenstüblein beheizen, wobei<br />
er das Holz in Rechnung stellen durfte. 831 Vor dem Inkrafttreten der Wirtsordnung<br />
hatten sich die amtlichen Beteiligten bei den Gerichtsverhandlungen, die<br />
im Wirtsh<strong>aus</strong> zu St. Fiden stattfanden, offenbar «jeder bald da bald dort bald<br />
früehe bald spath nach gefallen an speis und tranckh ohne noth sich bedienen»<br />
lassen, sodass die Kosten sich zu einer «über<strong>aus</strong> grosse[n] summe» anhäuften.<br />
Die Wirtsordnung legte nun fest, dass der Wirt pro Mahlzeit einer Person nicht<br />
mehr als 48 Kreuzer berechnen durfte und die Kosten «proporzioniert und gebührend»<br />
sein sollten. 832<br />
Die Einvernehmenden fragten <strong>Egger</strong> am 22. Februar 1775, also gut acht Tage<br />
nach der Festnahme, wie er sich in der Gefangenschaft befinde. Darauf antwortete<br />
<strong>Egger</strong>, «das ihme herzlich, und schmerzlich leyd seye, das er müsse darinnen<br />
sizen». 833 Das Verhör vom 7. März 1775 begann mit dem Hinweis, <strong>Egger</strong><br />
habe seit dem letzten Examen vom 22. Februar 1775 Zeit und Platz gehabt, in<br />
sich zu gehen, und werde nun hoffentlich die Wahrheit sagen. 834 Die Akten enthalten<br />
keine Hinweise darauf, dass <strong>Egger</strong> während der Haft Besuch von seiner<br />
Familie oder von Bekannten bekommen hätte.<br />
828<br />
829<br />
830<br />
831<br />
832<br />
833<br />
834<br />
StiASG, Würdtsordnung, Rubr. 42, Fasz. 17, S. 1.<br />
StiASG, Würdtsordnung, Rubr. 42, Fasz. 17, S. 2, Ziff. 3.<br />
StiASG, Würdtsordnung, Rubr. 42, Fasz. 17, S. 2, Ziff. 4.<br />
StiASG, Würdtsordnung, Rubr. 42, Fasz. 17, S. 2, Ziff. 5.<br />
StiASG, Würdtsordnung, Rubr. 42, Fasz. 17, S. 3 f., Ziff. 7. Begann die Verhandlung erst<br />
am Nachmittag, so sollte nur noch eine Vesper serviert werden, die <strong>aus</strong> Wein, Brot, Konfekt<br />
und kalter Küche bestehen und nicht mehr als 30 Kreuzer pro Person kosten sollte;<br />
S. 4, Ziff. 8.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage und Antwort 195.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 235.<br />
155
Materielle Beurteilung<br />
6 Materielle Beurteilung<br />
6.1 Totschlag<br />
6.1.1 Historisch-kriminologische Grundlagen<br />
Mord und Totschlag sind wohl so alt wie die Menschheit selbst. Sie üben eine<br />
zwiespältige Faszination auf die Menschen <strong>aus</strong> und haben seit jeher starke Emotionen<br />
<strong>aus</strong>gelöst. Das leidenschaftliche Interesse, das die Menschheit dem Mord<br />
ent<strong>gegen</strong>bringe, könne keine andere Erklärung finden, als dass das Töten und<br />
Getötetwerden an den innersten Kern der Instinkte der Menschen heranreiche,<br />
so VON HENTIG. Berührt, aufgestört würden die machtvollen Triebe, die der Erhaltung<br />
der Gattung und des einzelnen Wesens dienten. 835<br />
Um den gewaltsamen Tod ist ein breites Feld an abergläubischem Gedankengut<br />
entstanden. So findet etwa der Ermordete im Grab keine Ruhe, bis er gerächt<br />
ist. Ebenso gilt der verstorbene Mörder als ruheloses Wesen, das als Spuk<br />
erscheint oder umgeht. Das Blut des Ermordeten soll besondere magische Kraft<br />
besitzen. Wer träumt, einen Mord begangen zu haben, hat angeblich ein<br />
schlechtes Gewissen. 836<br />
Zum Verständnis der im Affekt <strong>aus</strong>geführten Totschläge ist ein Blick auf das<br />
in jener Zeit vorherrschende Gewaltverständnis notwendig. Diese Gewalttat, die<br />
in der frühneuzeitlichen Gesellschaft nicht selten vorkam, stand oft im Zusammenhang<br />
mit als ehrverletzend empfundenen Streitigkeiten. Neckereien und<br />
Beleidigungen konnten sich zu körperlichen Auseinandersetzungen verschiedenster<br />
Intensität steigern. 837 Besonders häufig dürften Gewaltakte in Wirtshäusern<br />
sowie auf rege besuchten Strassen und Plätzen mit «öffentlichem» Charakter<br />
vorgekommen sein, wurden Beleidigungen oder Drohungen dort doch als<br />
besonders schwerwiegend und rufschädigend empfunden. Freilich kam es aber<br />
835<br />
836<br />
837<br />
VON HENTIG, Psychologie [1956], S. 1.<br />
Handbuch des Aberglaubens [1999], Bd. 2, S. 588.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 121 f.<br />
157
Materielle Beurteilung<br />
auch nicht selten «unter vier Augen» zur Gewaltanwendung, hatten die strengen<br />
Regeln der Achtungsmoral schliesslich auch dort Geltung. 838<br />
In einer Studie über strafrechtliche Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg<br />
gelangte HELGA SCHNABEL-SCHÜLE im Jahr 1997 zur Erkenntnis, dass<br />
verbale Äusserungen, <strong>aus</strong> denen der einer Gewalttat vorangegangene Streit entstanden<br />
sei, oftmals von grosser sprachlicher Kargheit seien, wobei vor allem<br />
eine argumentative sprachliche Ebene bei den untersuchten Quellen völlig gefehlt<br />
habe. 839 Verbale Konfliktlösungsmuster seien noch keine wirkliche Alternative<br />
zu physischer Gewalt gewesen. Aufgrund eines Mangels an argumentativen<br />
Diskursen hätten verbale Reaktionen meist im Ausstossen aneinandergereihter<br />
Schimpfwörter bestanden, so die Studie. Diese wirkten in der ganzen<br />
Tragweite ihrer Wortbedeutung. Viele Schimpfwörter seien ehrenrührig gewesen,<br />
weshalb sie nicht ohne weiteres hätten hingenommen werden können und<br />
nicht selten den Auftakt für eine gewalttätige Auseinandersetzung bildeten. 840<br />
Die Ehre war mindestens ebenso wichtig wie die körperliche Integrität, sie<br />
wird mitunter sogar als Bestandteil dieser körperlichen Integrität betrachtet. 841<br />
Bei der einem Streit folgenden Gewalttat wurde in der Regel unbändige Kraft<br />
angewandt. Dies sei, so SCHNABEL-SCHÜLE, nicht immer mit Trunkenheit zu<br />
erklären. Die alltäglichen Verrichtungen forderten insgesamt wohl grosse Kraftanstrengungen,<br />
sodass in Konfliktfällen eine Beschränkung des Krafteinsatzes<br />
838<br />
839<br />
840<br />
841<br />
SCHWERHOFF, Gewaltkriminalität [2006], S. 65 f.<br />
Dasselbe gilt für verbale Äusserungen, mit denen gegebenenfalls der der Gewalttat vor<strong>aus</strong>gegangene<br />
Streit zu schlichten versucht worden war; SCHNABEL-SCHÜLE, Territorialstaat<br />
[1997], S. 244. SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999] beobachtete ebenfalls eine erstaunlich<br />
schmale Varianz der gebräuchlichen Schmähworte über etliche Jahrhunderte<br />
hinweg, weist aber auf die zahlreichen Optionen für kreative Erweiterungen und Kombinationen<br />
hin, S. 124. Auch MICHAEL TOCH gelangte in einer Studie über Schimpfwörter<br />
im Dorf des Spätmittelalters zur Erkenntnis, dass die Beleidigungsworte stereotyp gebraucht<br />
wurden und die Ausdrücke eine relativ enge Bandbreite aufwiesen. Ähnliches erkennt<br />
er für weite Teile Mittel- und Westeuropas in späterer Zeit; wenn auch tentativ und<br />
mit Bereicherungen und Auffächerungen; TOCH [1993], S. 324.<br />
SCHNABEL-SCHÜLE, Territorialstaat [1997], S. 245; SCHWERHOFF, Gewaltkriminalität<br />
[2006], S. 66.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 122 f.; KNOTT [2006], S. 18. Für den sozialen Status<br />
des Einzelnen (insbesondere in der Dorfgemeinschaft) war in erster Linie dessen Ehre<br />
und erst in zweiter Linie Besitz und Stellung massgebend; VAN DÜLMEN, Leute [1983],<br />
S. 12.<br />
158
Materielle Beurteilung<br />
gar nicht möglich war. Dazu hätte es des Bewusstseins über die zerstörerische<br />
Wirkung solch roher Gewalt bedurft. Viele der untersuchten Fälle zeigten, dass<br />
solche nicht vor<strong>aus</strong>gesetzt werden konnte. 842<br />
Beleidigungen und insbesondere öffentliche Verdächtigungen wirkten sich<br />
oftmals existenzbedrohend <strong>aus</strong>. Geriet man in Verdacht, unehrlich zu sein, so<br />
konnte sich dies in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht auf alle Bereiche<br />
des Lebens <strong>aus</strong>wirken. Die hauptsächliche Funktion der Beleidigung war<br />
somit nicht selten die soziale Kontrolle. Beleidigungen oder Anschuldigungen<br />
mussten <strong>aus</strong> diesem Grund erwidert resp. abgewehrt werden, sonst riskierte<br />
man, dass sie hängen blieben. 843 Diese Art der Gewalt beschränkte sich in der<br />
Vormoderne keineswegs auf Arme und Deklassierte, sondern kam durch<strong>aus</strong><br />
auch beim Adel vor. 844 Die Gewalt war stark männlich geprägt; Frauen traten<br />
nur selten als Täterinnen oder auch Opfer in Erscheinung. 845<br />
In der frühen Neuzeit herrschte zudem eine andere Leiblichkeit. Von klein<br />
auf war man eher an Schmerzen gewohnt als wir heute; Prügel in Familie und<br />
Schule waren üblich und viele Menschen litten an irgendwelchen akuten oder<br />
chronischen Schmerzen, die nicht adäquat behandelt wurden. 846 Die Menschen<br />
lebten ihre Leiblichkeit zudem spontaner <strong>aus</strong>, was sich etwa an der allgemein<br />
tieferen Schwelle der Ekel- und Schamgefühle zeigte. Eine anders als heute verstandene<br />
Unmittelbarkeit des Lebens zeigte sich in Wildheit und Übermut. Al-<br />
842<br />
843<br />
844<br />
845<br />
846<br />
SCHNABEL-SCHÜLE, Territorialstaat [1997], S. 246 f.<br />
TOCH [1993], S. 325.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 125.<br />
LOETZ [1998] sieht dies insbesondere darin begründet, dass Drohgebährden, die der körperlichen<br />
Auseinandersetzung oft vor<strong>aus</strong>gingen, zum «typisch männlichen Zeichenrepertoire»<br />
gehörten und für Frauen nicht ohne weiteres verfügbar waren, S. 277; siehe zum<br />
Thema Geschlecht und Kriminalität auch SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 149 ff.;<br />
SCHWERHOFF, Gewaltkriminalität [2006], S. 64.<br />
SCHILD, Gerichtsbarkeit [1980], S. 93; BLESS-GRABHER [2003], S. 283.<br />
159
Materielle Beurteilung<br />
kohol 847 war oft ständiger Begleiter, was nicht selten mit einer im heutigen Verständnis<br />
übersteigerten Grobheit einherging. 848<br />
Tätlichkeiten unter Zeitgenossen waren in der frühen Neuzeit bei Weitem<br />
keine Seltenheit. Insbesondere in dörflichen Lebensstrukturen galt Gewalt weniger<br />
der Abwehr eines auf Leib und Leben zielenden Angriffs, sondern hatte<br />
vielmehr häufig den Charakter von sozialen Scharmützeln, diente der Erkundung<br />
von Chancen und Risiken von Interessendurchsetzung und zur Aussendung<br />
der entsprechenden Signale. 849 Wie erwähnt wurde zur Verteidung der Ehre,<br />
aber auch des Eigentums häufig Gewalt angewendet. In diesem Rahmen war<br />
die Tötung eines Menschen in der Regel eher unbeabsichtigte als gewollte Folge.<br />
850 RUMMEL stellte die These auf, der alltagspraktische Nutzen von Gewalt<br />
habe bedingt, dass sie nicht nur sinntragendes Handeln habe beinhalten können,<br />
sondern von den Beteiligten auch so verstanden worden sei. Dar<strong>aus</strong> ergebe sich<br />
– selbst bei tödlichen Folgen – eine relative Akzeptanz in ihrer Verwendung. 851<br />
Seine zweite These formuliert er mit Blick auf Anlässe, Ausmass und Akzeptanz<br />
von Gewalt. Wer sie angewendet habe, habe dies demnach immer in Reaktion<br />
auf Zumutungen getan. Diese schienen bei Eigentumsdelikten und bei Ehrverletzungen<br />
am grössten gewesen zu sein. 852 Erst im Zuge der Aufklärung wurde<br />
dieses Verständnis der Leiblichkeit zunehmend von Reflexion und Verstand<br />
überlagert. 853<br />
Immerhin ist nicht davon <strong>aus</strong>zugehen, dass schwere Gewaltdelikte zum Alltagsgeschehen<br />
gerechnet worden wären. Vielmehr riefen sie Entsetzen und Mit-<br />
847<br />
848<br />
849<br />
850<br />
851<br />
852<br />
853<br />
Alkoholischen Getränken kam zweifellos eine wichtige Katalysatorfunktion zu. In der<br />
neueren Forschung ist jedoch umstritten, ob dem Alkohol im Zusammenhang mit Gewalttaten<br />
lediglich «gewaltfördernd» oder vielmehr «gewaltgenerierend» wirkten; m.w.H.<br />
SCHWERHOFF, Gewaltkriminalität [2006], S. 65 und Anm. 30. Siehe auch WITTKE, Alltag<br />
[2002], S. 315.<br />
SCHILD, Gerichtsbarkeit [1980], S. 94.<br />
RUMMEL [1993], S. 87 f.<br />
RUMMEL [1993], S. 87.<br />
Der Verlust der Selbstbeherrschung mit der Folge gewalttätiger Affektentladung wurde<br />
innerhalb gewisser Grenzen weithin akzeptiert, zumal die Wertschätzung körperlicher<br />
Unversehrtheit und der Anspruch an die Selbstbeherrschung andere waren als heute;<br />
RUMMEL [1993], S. 95.<br />
RUMMEL [1993], S. 88 f.<br />
BLESS-GRABHER [2003], S. 284; VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 1 [1990], S. 215 f.<br />
160
Materielle Beurteilung<br />
gefühl hervor, wie protokollierten Zeugen<strong>aus</strong>sagen häufig entnommen werden<br />
kann. 854 Das Ausmass der Gewaltakzeptanz in der frühen Neuzeit kann insoweit<br />
etwas relativiert werden. 855 Staatliche Sanktion als regulierende Reaktion auf ein<br />
solches Delikt war akzeptiert und wurde sogar erwartet.<br />
Nicht nur das Gewaltverständnis und die Leiblichkeit, sondern auch das Verhältnis<br />
zum Tod war in der Vormoderne ein anderes als in der Gegenwart. Da<br />
jederzeit mit dem Tod gerechnet werden musste, wurde er nicht verdrängt und<br />
tabuisiert, sondern brauchtumsmässig in den Alltag integriert. 856 Die Menschen<br />
standen dem Tod unbefangener <strong>gegen</strong>über. Das kurze irdische Dasein stellte<br />
ohnehin nur eine Durchgangsstation auf dem Weg in ein besseres Jenseits dar;<br />
der Tod bedeutete den Beginn des eigentlichen und ewigen Lebens. Freilich war<br />
eine grosse, durch Predigten stets geschürte Angst vor den Qualen der Hölle<br />
weit verbreitet. 857 Auch hier setzte erst mit der Aufklärung und ihrem Streben<br />
nach Selbstverwirklichung, Glück und individueller Autonomie sowie der Konzentration<br />
auf das Diesseits ein Wandel ein. 858<br />
6.1.2 Rechtliche Einordnung<br />
In der Debatte über die kriminalisierte Gewalt in der Vergangenheit nimmt der<br />
Totschlag im Affekt eine zentrale Stellung ein. Dieses Verbrechen beschäftigte<br />
die Gerichte häufig, da es verglichen mit anderen, heimtückisch oder zumindest<br />
im Vor<strong>aus</strong> geplanten Verbrechen nur selten unentdeckt blieb. 859<br />
Bereits das mittelalterliche Recht behandelte auch die Körperverletzung mit<br />
tödlichem Erfolg als Tötung. Diese wurde vielfach dann angenommen, wenn<br />
der Verletzte innert einer bestimmten Frist nach der Tat starb. 860 Einige Rechte<br />
854<br />
855<br />
856<br />
857<br />
858<br />
859<br />
860<br />
WITTKE, Alltag [2002], S. 312.<br />
WITTKE, Alltag [2002], S. 315.<br />
BLESS-GRABHER [2003], S. 284; MÜNCH [1992], S. 481 f.<br />
SCHILD, Gerichtsbarkeit [1980], S. 94.<br />
MÜNCH [1992], S. 169, S. 480 f. Eingehend mit der Entwicklung der Zivilisation befasst<br />
hat sich NORBERT ELIAS in seiner 1939 veröffentlichten Studie «Über den Prozess der Zivilisation.<br />
Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen».<br />
SCHWERHOFF, Gewaltkriminalität [2006], S. 56.<br />
Diese Frist war unterschiedlich lange; es finden sich Quellen über 14, 30 oder 40 Tage<br />
oder gar einem Jahr, vgl. die Quellenangaben bei HIS, Teil 2 [1935], Fn. 6 auf S. 75.<br />
161
Materielle Beurteilung<br />
negieren die Haftung für Tötung, wenn der Verletzte in der Kirche oder auf der<br />
Strasse gesehen worden war. 861 Mit der Durchsetzung des Inquisitionsprozesses<br />
sollte die Ahndung der gewaltsamen Tötung schliesslich Sache der Gerichte<br />
sein und nicht den Privaten überlassen bleiben. 862<br />
Im Sprachgebrauch des Mittelalters und der frühen Neuzeit wurde nicht klar<br />
zwischen den einzelnen Tötungsdelikten unterschieden. So werden die Ausdrücke<br />
«homicidium», «manslacht» oder «Totschlag» im Mittelalter für jede Art<br />
der Tötung gebraucht, auch für die fahrlässige oder sogar die Tötung in Notwehr.<br />
863 Der offene Totschlag konnte sich zum Mord wandeln, wenn der Leichnam<br />
nach der Tat beiseite geschafft wurde. 864 Grundsätzlich galt der Totschlag,<br />
der im Zorn als offene Tat <strong>aus</strong>geführt wurde, als ehrliche Sache; dies im Gegensatz<br />
etwa zum als unehrlich geltenden Mord oder auch zum Diebstahl, die beide<br />
eine Komponente des Heimlichen, Heimtückischen aufweisen. Die Verletzung<br />
in Wehr und Gegenwehr war ehrlich, die Verletzung eines Wehrlosen hin<strong>gegen</strong><br />
unehrlich. 865<br />
KARL GROLMAN formulierte 1798 die Unterscheidung zwischen Mord und<br />
Totschlag folgendermassen:<br />
«[...] man kann nur darin den Unterschied zwischen Mörder und Totschläger finden, dass<br />
dieser bey seiner That entweder keine feindseelige Absicht hatte, oder sich in einem Zustande<br />
befand, wo er, ohne des Bewusstseyns beraubt zu seyn, dennoch nicht mit kaltem<br />
Blute alle Gründe und Gegengründe ruhig abzuwägen im Stande war, wo ihm plötzlich gereizte<br />
Leidenschaft das Süsse der Befriedigung derselben zu lebhaft darstellte, als dass<br />
nicht, nach einer nur oberflächlichen Überlegung, sein Entschluss hätte fest stehen und<br />
folglich zur Ausführung geschritten werden sollen.» 866<br />
Mit Blick auf die Strafe will die Carolina Mord und Totschlag klar geschieden<br />
wissen. Art. 137 CCC trägt den Titel «Straff der mörder vnd todtschläger<br />
861<br />
862<br />
863<br />
864<br />
865<br />
866<br />
Beispiele bei HIS, Teil 2 [1935], S. 75 f.<br />
SCHWERHOFF, Gewaltkriminalität [2006], S. 57; SCHMIDT HANS-JOACHIM [2006], S. 77.<br />
ARVANITIS [1982], S. 13; HAUSMANN [2002], S. 424; HIS, Teil 2 [1935], S. 78 f. sowie<br />
S. 80 ff. zur Bestrafung des Totschlägers im Mittelalter; in Frage kamen neben der Todesstrafe<br />
die Geldstrafe (Sühne) oder auch die Verbannung sowie als Nebenstrafe etwa die<br />
Verwüstung des H<strong>aus</strong>es.<br />
HAUSMANN [2002], S. 425.<br />
MOSER-NEF, Bd. 5 [1951], S. 319; WILLI [1947], S. 158.<br />
GROLMAN [1798], S. 258 f., § 419.<br />
162
Materielle Beurteilung<br />
die keyn genugsam entschuldigung haben mögen». Der erste Satz des Artikels<br />
lautet wie folgt:<br />
«Item eyn jeder mörder oder todtschläger wo er deshalb nit rechtmessig entschuldigung<br />
<strong>aus</strong>führen kan, hat das leben verwürkt.»<br />
Der Artikel befasst sich im Weiteren nicht eingehend mit der materiellen Unterscheidung<br />
zwischen Mord und Totschlag 867 , sondern regelt lediglich die Frage<br />
der Bestrafung. Er hält fest,<br />
«[...] dass der gewonheyt nach, ein fürsetzlicher mutwilliger mörder mit dem rade, vnnd<br />
eynander der eyn todtschlag, oder <strong>aus</strong> gecheyt 868 vnd zorn gethan, vnd sunst auch gemelte<br />
entschuldigung nit hat, mit dem schwert vom leben zum todt gestrafft werden sollen [...]»<br />
Der Zorn, der diese Strafmilderung rechtfertigt, muss in unmittelbarem Zusammenhang<br />
mit der äusseren Veranlassung zum Ausbruch kommen, darf also<br />
nicht das Resultat länger gebrüteter Rache sein. Der Tatentschluss muss somit<br />
auf einen Affekt zurückgehen. 869 Die Begriffe «fürsetzlich» und «mutwillig»<br />
entsprechen dem heutigen juristisch-technischen Begriff des Vorsatzes und<br />
nicht denjenigen der Überlegung oder des Vorbedachts. 870 Unter Mord wird damit<br />
jede vorsätzliche Tötung subsumiert, die nicht im Affekt begangen wurde.<br />
Die Affektfälle werden vom Totschlag erfasst. 871 Für den Mord ist die heimliche<br />
Begehung typisch, 872 für den Totschlag die tumultöse. Mord beschränkt sich<br />
nicht auf die vorbedachte oder heimliche Tötung, meist konvergieren aber<br />
Mutwille bzw. böser Vorsatz und heimliche Begehung. 873<br />
Die Carolina verankert mit ihrem Art. 137 Motive oder Gesinnungsmerkmale<br />
als Kriterien für die Straftat, wor<strong>aus</strong> sich die Notwendigkeit einer prozessualen<br />
867<br />
868<br />
869<br />
870<br />
871<br />
872<br />
873<br />
ALLFELD [1969], S. 92 f.; SCHAFFSTEIN [1984] spricht davon, die Carolina habe sich zur<br />
psychologischen Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag bekannt, S. 147. Siehe<br />
auch WACHENFELD [1890], S. 5; KRÖNER [1958], S. 1 ff.<br />
«Jähheit», vgl. WACHENFELD [1890], S. 3.<br />
ALLFELD [1969], S. 94; MÜSSIG [2005], S. 36.<br />
ARVANITIS [1982], S. 13. Zur Tötung mit Vorbedacht im Mittelalter HIS, Teil 2 [1935],<br />
S. 88.<br />
ARVANITIS [1982], S. 13. Mit der Auslegung des Art. 137 CCC und dem insbesondere im<br />
19. Jahrhundert darüber herrschenden Meinungsstreit befassten sich etwa WACHENFELD<br />
[1890], S. 2 ff.; THOMAS [1985], S. 120 ff.; SCHAFFSTEIN [1984], S. 147 ff.; KRÖNER<br />
[1958], S. 1, Fn. 6 mit weiteren Literaturangaben.<br />
Zu Mordmerkmalen (Schwerpunkt Mittelalter) siehe HIS, Teil 2 [1935], S. 90 f.<br />
Vgl. Art. 34 CCC; RÜPING/JEROUSCHEK [2007], S. 53.<br />
163
Materielle Beurteilung<br />
Erforschung des Täters ergibt. Für die Motiv- bzw. Gesinnungszuschreibung<br />
wird also nicht ein äusseres Verhalten als Anknüpfungspunkt verwendet, womit<br />
die Ermittlung des Beweggrunds des Täters entfallen würde. 874 Mit der endgültigen<br />
Institutionalisierung des Inquisitionsprozesses wurde die Ausdifferenzierung<br />
prozessualer Tatbestände <strong>aus</strong> dem materiellen Recht ermöglicht; Wille o-<br />
der Gesinnung des Täters konnten im Rahmen des Verfahrens erforscht werden.<br />
875 Neben dem allgemeinen Mordbegriff regelt die Carolina auch besondere<br />
Mordformen 876 wie den Giftmord, 877 den Kindsmord 878 und den Herren-, Verwandten-<br />
und Gattenmord 879 .<br />
Auch nach Einführung der Carolina blieben Totschläger – im Gegensatz zu<br />
Mördern – in der Praxis oftmals von der Todesstrafe verschont und wurden lediglich<br />
mit Verbannung und Geldbusse bestraft, wenngleich die peinlichen Strafen<br />
allmählich zunahmen 880 und eine Tendenz zur Kriminalisierung des Totschlags<br />
einsetzte. In Gesetzestexten und im juristischen Schrifttum wurde die<br />
gewaltsame Tötung schliesslich eher als schlimmes Verbrechen und weniger als<br />
unglücklicher Zufall dargestellt. 881 Während in der Wissenschaft noch im<br />
16. Jahrhundert die Tötungsabsicht mehrheitlich als Vor<strong>aus</strong>setzung der<br />
Schwertstrafe betrachtet wurde, setzte sich im 17. und 18. Jahrhundert nicht zuletzt<br />
unter dem Einfluss von BENEDIKT CARPZOV die Ansicht durch, dass auch<br />
der indirekte Vorsatz für die Schwertstrafe <strong>aus</strong>reichte. 882 Ein im Affekt gefasster<br />
Tötungsvorsatz sollte nur im Falle des gerechten Zorns (ex iusta ira) von der<br />
Schwertstrafe befreien. 883<br />
874<br />
875<br />
876<br />
877<br />
878<br />
879<br />
880<br />
881<br />
882<br />
883<br />
THOMAS [1985], S. 123.<br />
THOMAS [1985], S. 123. Die innere Tatseite gewann an Bedeutung; MÜSSIG [2005], S. 36.<br />
HAUSMANN [2002], S. 425; ARVANITIS [1982], S. 13.<br />
Art. 130 CCC.<br />
Art. 131 CCC.<br />
Art. 137 CCC sieht hier eine Strafschärfung vor.<br />
THOMAS [1985], S. 134 f., stellt die These auf, dass die Zweiteilung Mord/Totschlag in<br />
der Carolina eine Spiegelung gesellschaftlicher Machtverhältnisse darstellte, wobei er den<br />
Mordtatbestand als für die Tötung durch «schädliche Leute» und den Totschlag als eine<br />
die Oberschichten privilegierende Vorschrift begreift; S. 136.<br />
SCHWERHOFF, Aktenkundig [1999], S. 127.<br />
KRÖNER [1958], S. 17.<br />
KRÖNER [1958], S. 17.<br />
164
Materielle Beurteilung<br />
Noch im 15. Jahrhundert wurde die im Affekt verübte Blutrache in der<br />
Fürstabtei St. Gallen geduldet. In der 1471 geschaffenen Offnung von Tablat ist<br />
noch eine privatrechtliche Vergeltung des Totschlags vorgesehen: «Item wen<br />
ainer ainen liblos tuott, mag man den saecher begryffen, so richt man bar <strong>gegen</strong><br />
bar». 884 Weiter anerkennt die Offnung aber die Zuständigkeit des Hochgerichts<br />
bei Tötung über Friedegebot: «tuott aber ainer den andern liblos in aym fryden<br />
und ergryfft man in, so richt man zuo im als zuo ainen moerder». 885 Erst allmählich<br />
setzte sich die frühabsolutistische Auffassung durch, dass im Interesse der<br />
Moral und der öffentlichen Sicherheit der Totschlag stets offiziell geahndet und<br />
der Täter verfolgt werden sollte. 886<br />
6.1.3 Totschlag der Catharina Himmelberger<br />
Der im Fall <strong>Egger</strong> urteilende Pfalzrat war für die Aburteilung des Totschlags an<br />
die Bestimmungen der Carolina gebunden. In den Gerichtsakten ist die Terminologie<br />
für <strong>Egger</strong>s an Catharina Himmelberger verübte Tat nicht einheitlich.<br />
Wie in jener Zeit üblich, wurden die Begriffe Tötung, Mord und Totschlag nicht<br />
voneinander abgegrenzt. In den Protokollen wurde vornehmlich der Begriff des<br />
Totschlags verwendet, vermehrt wurde aber auch von der Ermordeten oder ab<br />
und an von einer «mordthat» gesprochen. 887<br />
Bei den Einvernahmen <strong>Egger</strong>s stand die Gewalt, mit der er Catharina Himmelberger<br />
unter Zuhilfenahme der Mistgabel niedergestreckt hatte, immer wieder<br />
im Zentrum des Interesses des Gerichts. <strong>Egger</strong> erklärte, Catharina Himmelberger<br />
habe von ihm mehr Geld gefordert, als er ihr geschuldet habe. Sie habe<br />
«gezanckhet» 888 und ihn einen Spitzbub und Lügner genannt. Er sei daraufhin<br />
«taub» gewesen und habe mit der Mistgabel zugeschlagen. 889 Aus diesen Angaben<br />
ist zu schliessen, dass der Streit mit Catharina Himmelberger also weder<br />
lang dauerte noch besonders wortreich war. Freilich fehlen Zeugen<strong>aus</strong>sagen<br />
884<br />
885<br />
886<br />
887<br />
888<br />
889<br />
Tablater Offnung, Art. 85, 1. Satzteil, RQSG (Offnungen), S. 222.<br />
Tablater Offnung, Art. 85, 2. Satzteil, RQSG (Offnungen), S. 222.<br />
HOLENSTEIN THOMAS [1934], S. 45.<br />
Siehe etwa Akten, Dok. 2, S. 15 und S. 91, Dok. 6, S. 1 oder Dok. 7, S. 3.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antwort 2.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Antworten 16 und 17.<br />
165
Materielle Beurteilung<br />
darüber, wie <strong>Egger</strong> sich im Streit geäussert hatte. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit<br />
ist jedoch anzunehmen, dass die dem Schlag vorangegangenen<br />
sprachlichen Äusserungen karg und wenig wortreich waren. <strong>Egger</strong> vermochte<br />
im Verhör nur zwei Schimpfworte zu bezeichnen, die Catharina Himmelberger<br />
ihm <strong>gegen</strong>über benutzt hatte. Er fühlte sich von ihr offenbar unrecht behandelt,<br />
da sie mehr gefordert habe, als er ihr schuldig gewesen sei. Nichts weist darauf<br />
hin, dass zwischen den beiden Streitenden ein argumentativer Diskurs stattgefunden<br />
hätte. Vielmehr waren es offenbar lediglich Beschimpfungen und keine<br />
Argumente, mit denen beide Seiten ihr Problem zu lösen versuchten. Mangels<br />
Zeugen war es für die Befragenden im Verhör ebenso unmöglich nachzuvollziehen,<br />
ob Catharina Himmelberger tatsächlich zu viel Geld gefordert hatte, wie<br />
es dies heute anhand der Akten scheint. Ob <strong>Egger</strong> sich in diesem Streit also im<br />
Recht wähnte oder ob er wusste, dass er Catharina Himmelberger eigentlich<br />
mehr schuldete, als er zugab, ist heute nicht mehr aufzudecken. Durch die Beschimpfung<br />
als Lügner und Spitzbub dürfte sich <strong>Egger</strong> aber jedenfalls in seiner<br />
Ehre getroffen gefühlt haben. Aufgrund der ganzen Situation, die in <strong>Egger</strong>s Augen<br />
wohl demütigend und eine Zumutung gewesen sein dürfte, scheint er vor<br />
Zorn <strong>aus</strong>ser sich geraten zu sein. Die Forderung und die Beschimpfungen waren<br />
für ihn Anlass zur Gewalt. Alkohol dürfte nicht im Spiel gewesen sein, fand die<br />
verhängnisvolle Begegnung mit Catharina Himmelberger doch morgens in aller<br />
Frühe statt. Von Alkoholmissbrauch ist nirgends die Rede. <strong>Egger</strong> bewirtschaftete<br />
einen Hof, war also an harte körperliche Arbeit gewöhnt. Es ist durch<strong>aus</strong> vorstellbar,<br />
dass ihm die zerstörerische Wirkung der von ihm <strong>aus</strong>geübten Gewalt<br />
nicht bewusst war und er seine völlig unverhältnismässige Reaktion in der Wut<br />
nicht richtig einschätzen konnte.<br />
Zu beachten ist im Übrigen, dass das Schuldenmachen in der frühen Neuzeit<br />
strafbar sein konnte. Für die Alte Landschaft regelte das Landmandat 1761 in<br />
Art. 68 beispielsweise folgendes:<br />
«Item wann sich einer mit Schulden dergestalten überhäufete, das man an ihme verliehren<br />
müesste, wurde er nach Gestaltsame Sachen mit hocher Leibs Straf an Hochgericht gestelt,<br />
auch mit Verweisung des Landts oder anderer schwährer Straf angesehen werden.» 890<br />
890<br />
Landmandat 1761, Art. 68, 1. Satz, RQSG (Alte Landschaft), S. 140.<br />
166
Materielle Beurteilung<br />
Zudem verbot das Landmandat Leuten, die andere durch Nichtbezahlung von<br />
Schulden zu Verlust kommen liessen, den Besuch von Wirts- und Schenkhäusern<br />
unter Androhung einer Strafe von drei Tagen und Nächten Gefangenschaft<br />
bei Wasser und Brot. 891 Da Catharina Himmelberger <strong>gegen</strong>über <strong>Egger</strong> offenbar<br />
deutlich machte, nicht länger klaglos und geduldig auf die Rückzahlung seiner<br />
Schulden warten zu wollen, wären für <strong>Egger</strong> unangenehme Folgen denkbar gewesen,<br />
mit denen er sich womöglich konfrontiert sah.<br />
Das Gericht reagierte auf die Gewalt schockiert, sie zeigte keinerlei Verständnis<br />
für deren Ausuferung. Sie fragte <strong>Egger</strong>, ob er sich einfallen lassen könne,<br />
dass sein Zorn und die Tatsache, dass er gerade eine Mistgabel in der Hand<br />
gehalten habe, eine hinlängliche Entschuldigung für seine Tat seien. 892 Aufgrund<br />
der von Leibarzt Rogg beschriebenen Verletzungen hatte sie Zweifel darüber,<br />
ob <strong>Egger</strong> tatsächlich nur einen Schlag <strong>aus</strong>geführt hatte. Ein einziger Schlag wäre<br />
offenbar als ein klareres Indiz für eine Affekttat betrachtet worden als mehrere<br />
Schläge. Die Hartnäckigkeit, mit der die Befragenden diesen Punkt immer<br />
wieder und wieder ansprachen, macht deutlich, dass sie genau abklären wollten,<br />
ob sie eine vorsätzliche Tatbegehung <strong>aus</strong>schliessen konnten. Sie waren sich offenbar<br />
nicht sicher, ob <strong>Egger</strong> tatsächlich im rasenden Zorn gehandelt hatte oder<br />
mit Vorsatz eine unangenehme Gläubigerin <strong>aus</strong> dem Weg räumen wollte, um<br />
sich vor seiner Zahlungspflicht zu drücken. Dem Leibarzt war aufgetragen worden,<br />
im Rahmen seines visum et repertum zu beantworten, ob eine oder mehrere<br />
Wunden am Körper seien und ob diese selbst direkt oder nur zufällig tödlich<br />
gewesen seien. 893 Rogg hielt in seinem Bericht fest, die durch einen fürchterlich<br />
gewaltsamen Schlag zugefügte Verletzung an der Wirbelsäule könnte allein als<br />
tödlich erachtet werden. Bezüglich der übrigen Wunden an Ohr, Kopf und Wirbel<br />
legte sich Rogg nicht fest, sondern konstatierte, es lasse sich nicht bestimmen,<br />
ob diese durch wiederholte Gr<strong>aus</strong>amkeit oder durch das Hinunterrollen des<br />
Leichnams in die Stauden entstanden seien. 894<br />
891<br />
892<br />
893<br />
894<br />
Wer solche Leute bewirtete, sollte mit einer Geldbusse bestraft werden; Landmandat<br />
1761, Art. 24, RQSG (Alte Landschaft), S. 121.<br />
Dok. 2, Einvernahmeprotokoll <strong>Egger</strong>s, Frage 18.<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 2.<br />
Dok. 9, visum et repertum von Leibarzt Rogg, S. 3.<br />
167
Materielle Beurteilung<br />
Bis zum Ende der Verhöre beharrte <strong>Egger</strong> darauf, nur einen Schlag <strong>aus</strong>geführt<br />
zu haben. Die Akten lassen keinen Rückschluss darauf zu, ob er die Wahrheit<br />
sagte oder nicht. Das Gericht schien schliesslich jedoch als erwiesen erachtet<br />
zu haben, dass die Tat tatsächlich im Affekt <strong>aus</strong>geführt worden war. Mit<br />
Hinweis auf die Carolina, aber ohne Angabe des relevanten Artikels, sprach es<br />
<strong>Egger</strong> schliesslich des Totschlags schuldig und verurteilte ihn zur Todesstrafe<br />
durch das Schwert. Hätte man Vorsatz bejaht, so hätte <strong>Egger</strong> bei einer konsequenten<br />
Anwendung der Carolina die Todesstrafe in Form der qualvollen Räderung<br />
geblüht. Dazu wäre es aber wohl ohnehin nicht gekommen, wurden derartige<br />
Strafen in der Fürstabtei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts doch<br />
offenbar nicht mehr verhängt.<br />
6.2 Leichenschändung<br />
6.2.1 Historisch-kriminologische und rechtliche Einordnung<br />
Nach dem Auffinden der Leichen im Galgentobel wurde <strong>Joseph</strong> <strong>Egger</strong> verdächtigt,<br />
sich neben dem Totschlag des Leichenraubs und der Leichenschändungen<br />
schuldig gemacht zu haben. Er sollte beerdigte Leichen vom Friedhof und einem<br />
Platz unter dem Galgen <strong>aus</strong>gegraben und zerstückelt haben.<br />
Das Sterben und der Tod waren in der frühen Neuzeit wie bereits erwähnt<br />
etwas All<strong>gegen</strong>wärtiges, sie waren alltägliche Begleiter der Menschen. Dennoch<br />
stellte das Begräbnis immer etwas Besonderes dar, das unabhängig von persönlicher<br />
Betroffenheit stets aufwändig und nach feierlichem Ritus gestaltet wurde.<br />
895 Die Friedhöfe befanden sich im Mittelalter und auch in der frühen Neuzeit<br />
noch oft an zentraler Lage. Die Toten sollten mit den Lebenden in Verbindung<br />
bleiben können. Eine besondere Pflege des Friedhofs gab es in der frühen Neuzeit<br />
jedoch trotz des festlichen Begräbnisses noch nicht. 896 Der Friedhof als sakraler<br />
Ort sowie die dort begrabenen Toten verdienten selbstverständlich Schutz.<br />
Entsprechend wurden Leichenraub und Leichenschändung als schwere Verbrechen<br />
betrachtet.<br />
895<br />
896<br />
VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 1 [1990], S. 227; MÜNCH [1990], S. 483.<br />
VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 1 [1990], S. 222.<br />
168
Materielle Beurteilung<br />
Leichenschändungen kamen einerseits vor als Abwehrakt <strong>gegen</strong> gefährliche<br />
Tote, deren Wiederkehr man fürchtete. Dies versuchte man etwa durch Pfählen<br />
oder Köpfen zu verhindern. Betroffen waren hingerichtete Verbrecher, vermeintliche<br />
Hexen, Zauberer und Vampiere sowie Wöchnerinnen und ungetaufte<br />
Kinder. 897 Andererseits diente die Leichenschändung der Gewinnung von Leichenfetischen,<br />
denen allerlei nützliche Wirkungen nachgesagt wurden. 898<br />
Die Carolina enthält keine Leichendelikte. 899 Art. 171 CCC behandelt nur den<br />
Diebstahl von heiligen oder geweihten Sachen an geweihten oder ungeweihten<br />
Stätten. Danach stehen drei Arten des Diebstahls unter Strafe: zum Ersten der<br />
Diebstahl einer heiligen oder geweihten Sache an geweihten Stätten, zum Zweiten<br />
der Diebstahl einer geweihten Sache an ungeweihten Stätten und zum Dritten<br />
der Diebstahl einer ungeweihten Sache an geweihter Stätte. In der Lehre<br />
werden die Leichendelikte nicht unter Art. 171 CCC subsumiert. 900 Leichendiebstahl<br />
und Grabschändung seien deshalb, so KESEL, nach der römischrechtlichen<br />
Bestimmung D. 47, 12 «de sepulcro violato» bestraft worden. 901 Diese wörtlich<br />
übersetzte «Grabschändung» der Römer, die mit dem Tod bestraft wurde, hatte<br />
nicht nur die Entweihung und Zerstörung eines Grabs, 902 sondern jede Verunglimpfung<br />
eines menschlichen Leichnams zum Gegenstand. 903 CRAMER hält fest,<br />
das Verbrechen der «sepulcri violatio» sei auch unter den christlichen Kaisern<br />
beibehalten worden. 904 Auch MERKEL weist betreffend Bestrafung für Leichenraub<br />
im gemeinen Recht auf die analoge Anwendung der römischen «sepulcri<br />
897<br />
898<br />
899<br />
900<br />
901<br />
902<br />
903<br />
904<br />
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 5 [1933], Sp. 1093.<br />
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 5 [1933], Sp. 1094; siehe sogleich<br />
Kap. 6.2.2.3.<br />
KESEL [1968], S. 10; MERKEL [1904], S. 28; ebenso BIERI [1954], S. 17. Zum Begriffsinhalt<br />
des Wortes «Leichnam» und seiner Entwicklung ENGLERT [1979], S. 114 f.<br />
Siehe etwa MERKEL [1904], S. 28.<br />
KESEL [1968], S. 10; MERKEL [1904], S. 25; siehe auch CRAMER [1885], mit Hinweisen<br />
zur in der Lehre vertretenen Ansicht der nach Begriff und Tatbestand unveränderten Rezeption<br />
der römischen «sepulcri violatio», S. 51.<br />
Der Glaube an den im Grab fortlebenden Toten führte dazu, dass auch das Grab als seine<br />
«Wohnung» nicht beschädigt werden sollte, ansonsten verbreitet eine Bestrafung durch<br />
den Toten selbst befürchtet wurde; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 5<br />
[1933], Sp. 1094.<br />
BIERI [1954], S. 16. Leichenentweihungen wurden im römischen Recht häufig als Kapitalverbrechen<br />
betrachtet, siehe CRAMER [1885], S. 5 und 11 ff.<br />
CRAMER [1885], S. 49.<br />
169
Materielle Beurteilung<br />
violatio» hin. 905 Die harten Strafen des römischen Rechts wurden im gemeinen<br />
Recht aber vermehrt durch die poena extraordinaria ersetzt. 906 Im Mittelalter<br />
wurde der Leichenraub als Anwendungsfall des schweren Raubs teilweise als<br />
Reraub bezeichnet und zählte verbreitet zu den schwersten Verbrechen. 907<br />
Leichenschändung tritt in der psychiatrischen Literatur in der Regel im Zusammenhang<br />
mit Sexualdelikten auf. So wird mithin unter dem Oberbegriff des<br />
Vampirismus die Leichenschändung überhaupt klassifiziert und darunter zwischen<br />
Nekrophilie 908 und Nekrosadismus 909 unterschieden. 910 Gemäss dem Strafrechtler<br />
CARL STOOSS, der als wichtigster Wegbereiter der schweizerischen<br />
Strafrechtseinheit gilt, 911 soll in der Schweiz bis zum Jahre 1894 kein Fall von<br />
Leichenschändung bekannt geworden sein, was PFENNINGER für die Zeit bis<br />
1921 bestätigte. 912<br />
6.2.2 <strong>Egger</strong>s Experimente<br />
6.2.2.1 Vorbemerkung<br />
Nach langen und <strong>aus</strong>holenden Befragungen mit vielen Wiederholungen, Druckversuchen<br />
und unverholenem Unverständnis der Verhörenden kam betreffend<br />
die Leichenschändungen eine Wahrheit ans Licht, die den Beteiligten höchst<br />
absonderlich vorgekommen sein dürfte: <strong>Egger</strong> hatte Gerüchte über die Kraft<br />
bzw. den Einfluss von Leichenteilen gehört. Und da er, der weder lesen noch<br />
905<br />
906<br />
907<br />
908<br />
909<br />
910<br />
911<br />
912<br />
MERKEL [1904], S. 28.<br />
CRAMER [1885], S. 51. Vgl. unten Kap. 7.1.1.<br />
Unter Reraub wurde ursprünglich die Beraubung des Leichnams verstanden. Verbreitet<br />
wurde der Begriff schliesslich in einem engeren Sinn gebraucht: als Beraubung eines vom<br />
Räuber Erschlagenen, insbesondere bei Raubmord, vgl. HIS, Teil 2 [1935], S. 211 f.<br />
Nekrophilie bezeichnet die sexuelle Betätigung mit Leichen ohne weitere Gewalteinwirkung;<br />
Handbuch gerichtliche Medizin [2003], S. 805. Sie ist in der internationalen statistischen<br />
Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) unter<br />
«Sonstige Störungen der Sexualpräferenz» (F65.8) eingeordnet.<br />
Nekrosadismus ist die Zerstümmelung von Leichen zur sexuellen Befriedigung; Duden –<br />
Das grosse Fremdwörterbuch [2007].<br />
PFENNINGER HANS FELIX [1921], S. 34. Zum Vampirismus und dem abergläubischen<br />
Gedankengut dazu siehe MEYER CARL [1884], S. 345.<br />
GSCHWEND, Juristen [1995], S. 589.<br />
PFENNINGER HANS FELIX [1921], S. 34.<br />
170
Materielle Beurteilung<br />
schreiben konnte, keine Möglichkeit sah, der Sache anders auf den Grund zu<br />
gelangen und ihm seine Neugierde dennoch keine Ruhe liess, beschloss er offenbar,<br />
das aufgeschnappte abergläubische Gedankengut in wohl damals wie<br />
heute höchst befremdlicher Weise mit eigenen Experimenten zu verifizieren<br />
oder aber zu widerlegen.<br />
6.2.2.2 Aberglaube und Wissenschaft im frühneuzeitlichen Wettstreit<br />
Der Knochen als Sitz der Seele des Menschen, der Knochen als Glücksbringer 913<br />
oder der Knochen eines Ermordeten als Hinweis auf den Mörder 914 ; um die<br />
menschlichen Gebeine spinnt sich seit langer Zeit ein breites abergläubisches<br />
Gedankengut. 915 Verstorbene, die keine Ruhe finden konnten, sollten mit ihrem<br />
Bedürfnis nach Erlösung als Geister wiederkehren, wobei sie durch<strong>aus</strong> nicht<br />
gutartig zu sein brauchten. 916 Bis ins 18. Jahrhundert war der Glaube an Spukgestalten<br />
verbreitet, die man sich als halbmenschliche Dämonen vorstellte. 917<br />
Noch im späten Mittelalter wurde manchem Missetäter negativ-dämonische<br />
Kraft zugeschrieben. Er war vielleicht gar selbst ein Dämon in Menschengestalt,<br />
den es zu vertreiben oder zu töten galt. Man verglich ihn mit dem verbreitet als<br />
dämonisches Wesen betrachteten Wolf, der als Bedrohung im dunklen Wald<br />
lebte und oft nachts, zur Zeit der Dämonen, auf Schlachtfeldern, Begräbnisplätzen<br />
und Hinrichtungsstätten auftauchte. Man sprach ihm eine Vorliebe für Leichenfleisch<br />
zu. 918 Noch in Quellen des späten Mittelalters wurden gewisse Mis-<br />
913<br />
914<br />
915<br />
916<br />
917<br />
918<br />
Knochen von Hingerichteten im Geldbeutel sollten dem Kaufmann Glück bringen;<br />
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 5 [1933], Sp. 9.<br />
Handbuch des Aberglaubens [1999], Bd. 2, S. 455.<br />
Ausführlich dargelegte Beispiele abergläubischer Vorstellungen im Mittelalter und den<br />
darauffolgenden Jahrhunderten, insbesondere in verschiedenen Gebieten der Natur und<br />
des Lebens, bei MEYER CARL [1884], S. 5 ff.; und in der Sammlung von Sagen, Legenden<br />
und Volksaberglauben (Bd. 1) sowie Sitten und Rechtsbräuchen (Bd. 2) von BIRLINGER<br />
[1874]. Siehe auch Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 5 [1933], Sp. 6 ff.<br />
Zum Geisterglauben und zu einigen seiner Ausprägungen MEYER CARL [1884], S. 347 ff.;<br />
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 3 [1931], Sp. 473 ff.<br />
Etwa Zwerge, Riesen, Wildleute etc.; HAUSER ALBERT, Leben [1987], S. 128.<br />
Der Wolf wurde bisweilen als Urbild des Unheils betrachtet; VON HENTIG, Strafe, Bd. 1<br />
[1954], S. 52. Um den Wolf rankten sich verschiedene abergläubische Überzeugungen. So<br />
existierten die Ansichten, sein Geheul bedeute Sterben, Teuerung oder Krieg; MEYER<br />
CARL [1884], S. 224.<br />
171
Materielle Beurteilung<br />
setäter, insbesondere Grabschänder, Leichenräuber und Inzesttäter, als Wolf<br />
bezeichnet. Sie waren wolfsfrei, durften also von jedermann getötet werden. 919<br />
«Es wird dieses Wort in weitläufigen Verstande vor einen Irrthum gebrauchet, da man natürlichen<br />
und menschlichen Dingen etwas göttliches zuschreibt, welches sie nicht an sich<br />
haben, sodass dar<strong>aus</strong> ein unvernünfftiger Affect in dem Gemüth entstehet. Es leidet also<br />
hierbey unsere ganze Seele Schaden, sowohl in Ansehung des Verstandes als des Willens.»<br />
920<br />
So definierte JOHANN HEINRICH ZEDLER den Begriff des Aberglaubens im<br />
1732 erschienenen ersten Band seines «Grossen vollständigen Universallexikon<br />
aller Wissenschaften und Künste». JACOB GRIMM verstand unter Aberglaube<br />
nicht den gesamten Inhalt des heidnischen Glaubens, sondern die Beibehaltung<br />
einzelner heidnischer Gebräuche und Meinungen. Der bekehrte Christ habe die<br />
Götter der Heiden verworfen und verabscheut, in seinem Herzen seien aber<br />
noch Vorstellungen und Gewohnheiten haften geblieben, die ohne offenen Bezug<br />
auf die alte Lehre der neuen nicht unmittelbar zu widerstreben schienen.<br />
Dort, wo das Christentum eine leere Stelle gelassen habe, wo sein Geist die roheren<br />
Gemüter nicht sogleich habe durchdringen können, habe der Aberglaube<br />
oder Überglaube gewuchert. 921<br />
Aberglaube oder Superstitio 922 bezeichnet Glaubensinhalte oder -formen, die<br />
von geltenden religiösen Lehrmeinungen abweichen oder diesen widersprechen,<br />
wobei «Aber-» die Bedeutung von «<strong>gegen</strong>» annimmt. 923 Die Begriffe Irrtum und<br />
Unvernunft entwickelten sich zu Synonymen für Aberglauben. Unter dem Ein-<br />
919<br />
920<br />
921<br />
922<br />
923<br />
Weitere Ausführungen und Quellenangaben zu den abergläubischen Überzeugungen sowie<br />
Erläuterungen zur Hinrichtung von Wölfen und anderen Tieren bei SCHILD, Gerichtsbarkeit<br />
[1980], S. 65 f. Zur Rolle der Medizin im Dämonenglauben und damit zu den Anfängen<br />
der neuzeitlichen Psychiatrie siehe FISCHER-HOMBERGER [1983], S. 136 ff.<br />
ZEDLER [1732], Bd. 1, S. 93, Sp. 107 f.<br />
GRIMM, Bd. 2 [1854], S. 1059.<br />
In seinem «Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart» übersetzte<br />
Johann Christoph Adelung «superstitio» im beginnenden 19. Jahrhundert mit «Überglaube»,<br />
vgl. Grammatisch-kritisches Wörterbuch [1811], Stichwort «Aberglaube», Sp. 31.<br />
Jacob Grimm führte «superstitio» auf das lateinische «superstes» = «überdauern» zurück<br />
und verstand darunter «ein in einzelnen menschen fortbestehendes verharren bei ansichten<br />
[...], welche die grosse menge vernünftig fahren lässt», GRIMM, Bd. 2 [1854], S. 1059.<br />
Siehe auch SCHILD, Aberglaube [2004], Sp. 8; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens,<br />
Bd. 1 [1927], Sp. 64.<br />
Wörterbuch des Aberglaubens [1989], S. 231.<br />
172
Materielle Beurteilung<br />
fluss sich wandelnder gesellschaftlicher und religiöser Strukturen, Normen und<br />
Werte änderten sich auch die Inhalte des Aberglaubens. 924 Unterschieden werden<br />
etwa die Formen Observation (Beobachtung von Zeichen), Divination (willentlich<br />
herbeigeführte Orakel) und magische Kunst (Zauberei), fliessend sind die<br />
Übergänge zu Volksfrömmigkeit 925 und Astrologie. 926 Die Volksfrömmigkeit ist<br />
die synkretistische Form religiösen Denkens und Handelns von Individuen und<br />
Gruppen, die kirchlich vorgegebene Glaubensinhalte den eigenen Bedürfnissen<br />
anpasst. Sie spricht die Sinne, das Gemüt stärker an als den Verstand. 927<br />
Der Kampf <strong>gegen</strong> den Aberglauben geht mit der Aufklärung einher. 928 Neben<br />
der «gelehrten» Aufklärung, die bereits Ende des 17. Jahrhunderts begann, 929<br />
setzte in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine sog. «Volksaufklärung» ein, die<br />
zum Ziel hatte, der breiten Bevölkerung vor allem natur-, aber auch andere wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse zu vermitteln. 930 Alle Formen magisch-abergläubischer<br />
Frömmigkeit wurden scharf angegriffen. 931 Abergläubischen Vorstellungen<br />
und Praktiken versuchte man vermehrt vernunftkritisch zu begegnen und sie<br />
mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu widerlegen. Im Rechtssystem zogen<br />
vor allem das Strafrecht mit den Religionsdelikten und innerhalb dieser der<br />
Tatbestand der Zauberei 932 die aufgeklärte Kritik auf sich. 933<br />
924<br />
925<br />
926<br />
927<br />
928<br />
929<br />
930<br />
931<br />
932<br />
Zur kirchlichen Einflussnahme auf den Aberglauben LABOUVIE [1990], S. 15 ff.; SCHILD,<br />
Aberglaube [2004], Sp. 9 ff.<br />
Zum Begriff der Volksfrömmigkeit und der Kritik daran siehe HUGGER, Volksfrömmigkeit,<br />
e-HLS [2005].<br />
DERENDINGER, Aberglaube, e-HLS [2006].<br />
HUGGER, Volksfrömmigkeit, e-HLS [2005].<br />
SCHWEGLER [2002], S. 42. STUTE [1997], S.106, bezeichnete die Aufklärung als aktive<br />
und aggressive Kampfansage <strong>gegen</strong> Unvernunft und Aberglauben.<br />
Zu nennen sind <strong>aus</strong> jener Zeit etwa Schriften von Leibniz, Thomasius oder Wolff. Mit<br />
dem Thema Aberglaube bei einzelnen aufklärerischen Autoren befasst hat sich BAUSIN-<br />
GER [1963], S. 345 ff.<br />
SCHWEGLER [2002], S. 43. Der Aberglaube liess sich nur langsam zurückdrängen. So<br />
schrieb etwa ECCARD 1787, auch in diesem erleuchteten philosophischen Jahrhundert<br />
stosse man bei jedem Schritt auf einen Menschen, der abergläubisch genug sei, «jede ihm<br />
unerklärbare Erscheinung für Würkung einer übernatürlichen Ursache zu halten», S. 3 f.<br />
Sowohl Volksglaube wie auch Brauchtum, Wunderglaube und barocke Frömmigkeit<br />
wurden kritisiert, VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 3 [1994], S. 139. Siehe auch den Aufsatz von<br />
ECCARD [1787].<br />
Art. 109 CCC.<br />
173
Materielle Beurteilung<br />
Die rationell argumentierenden Aufklärer verstanden oft nicht, weshalb das<br />
Volk trotz ihrer Argumente am Aberglauben festhielt. Schliesslich begannen<br />
Bestrebungen, sich mit dem Ursprung abergläubischer Geschichten und Fabeln<br />
<strong>aus</strong>einanderzusetzen und diesen mit wahrscheinlichen Hypothesen zu widerlegen,<br />
die Geschichte also zu «säubern». 934<br />
Im 18. Jahrhundert wurden jedoch <strong>gegen</strong>über der kleinen gebildeten Elite<br />
auch kritische Stimmen laut. So warf etwa ZEDLER den Geistlichen vor, sich<br />
durch die vorgegebenen Weissagungen und göttlichen Entdeckungen in ganz<br />
besonderes Ansehen und Ehre zu setzen und dabei, was das allerschlimmste sei,<br />
das arme Volk in Irrtum und Unwissenheit stecken zu lassen. Mit Beseitigung<br />
der Unwissenheit wäre es nicht nur um die abergläubischen Possen, sondern<br />
auch um das allzu grosse Ansehen der Geistlichkeit, das diese durch die<br />
Dummheit und Einfalt des Pöbels zu erhalten suche, geschehen. 935 KRUENITZ<br />
bezeichnete es 1773 als Pflicht der Gelehrten, den Aberglauben nach und nach<br />
zu bestreiten und <strong>aus</strong>zurotten. 936 In der Populärwissenschaft der Aufklärungszeit<br />
sollte das Volk, das grösstenteils ohnehin nicht lesen konnte, nicht direkt durch<br />
Schriften aufgeklärt werden, sondern Lehrer und Pfarrer 937 sollten als Vermittler<br />
zwischen Bildungselite und Volk die Aufgabe übernehmen, das Bildungsniveau<br />
des Volkes anhand dieser Schriften zu heben. 938 Bei aller Popularisierung blieb<br />
933<br />
934<br />
935<br />
936<br />
937<br />
938<br />
Bekannter Kritiker war der Frühaufklärer Christian Thomasius, vgl. SCHWEGLER [2002],<br />
S. 43. Die Entlarvung des Aberglaubens wurde durch physikalisch-technische Erklärungen<br />
zuvor unerklärlicher oder als magisch interpretierter Phänomene betrieben. Die Herkunft<br />
magischer, abergläubischer Praktiken wurde historisch-kritisch erörtert; BAUSINGER<br />
[1963], S. 346; auch SIMON, Aufklärung [2005], Sp. 336 f.; HATTENHAUER [2004],<br />
S. 597, Rz. 1619.<br />
Mit weiteren Quellenangaben STUTE [1997], S. 118 f.<br />
ZEDLER [1732], Bd. 1, S. 95, Sp. 111. In dieselbe Richtung zielte ECCARD [1787], S. 7 ff.<br />
Ausführlich zu Wunderwerken und Wunderzeichen im christlichen Glauben SCHWEGLER<br />
[2002], S. 49 ff.<br />
KRÜNITZ, Bd. 1 [1773], 1. Theil, Stichwort «Aberglaube», S. 42. Oft würden allerhand<br />
Laster mit abergläubischen Meinungen verdeckt, so Kruenitz. Den Ursprung des abergläubischen<br />
Denkens sah er in der Unwissenheit der Natur- und Geisterlehre der Alten.<br />
Geistliche sollten im 18. Jahrhundert nicht selten eine Mischung <strong>aus</strong> Aufklärung und Belehrung,<br />
sozialer Disziplinierung und erzieherischer Lächerlichmachung zur Bekämpfung<br />
von Aberglauben und Magieanwendung gebrauchen; siehe LABOUVIE [1990], S. 51. Zu<br />
Pfarrschulen ab dem 16. Jahrhundert und ihrer Bedeutung für die Alphabetisierung<br />
SCHINDLING [1994], S. 86 f.<br />
STUTE [1997], S. 162.<br />
174
Materielle Beurteilung<br />
die Aufklärung jedoch eine an Schriftlichkeit und «vernünftigen» Regeln orientierte<br />
Bewegung, die somit lange Zeit kaum Eingang in das gemeine Volk<br />
fand. 939<br />
In der frühen Neuzeit erwarb die ländliche, aber auch die städtische Bevölkerung<br />
ihr praktisches wie ihr moralisches Wissen vor allem mündlich. Nur eine<br />
kleine Gruppe musste aufgrund ihres Amts oder Berufs über gelehrtes Wissen<br />
verfügen. Durch Schule oder Bücher vermitteltes Wissen gewann erst im<br />
18. Jahrhundert an Relevanz. 940 Das Erzählgut gehörte hin<strong>gegen</strong> schon früher<br />
zur Volksbildung. Auf diese Weise vermittelten nicht nur die Alten den Jungen<br />
ihr Wissen; gel<strong>aus</strong>cht wurde auch Fremden, 941 die von anderen Sitten, Menschen,<br />
allenfalls sogar Ländern berichten konnten. So wurden insbesondere die<br />
Jahrmärkte zu einer Art «Nachrichtenbörse», wobei stets auch Erzählungen über<br />
Gespenster, Teufel und Hexen zum Besten gegeben wurden. 942 Erst die Volksaufklärer<br />
begannen, die Erzählkultur zu kritisieren. Sie wandten sich <strong>gegen</strong> den<br />
beschränkten Wissensstand und waren der Ansicht, das Erzählen würde nicht<br />
nur den Aberglauben verbreiten helfen, sondern die Menschen auch ängstlich<br />
machen. 943<br />
Im Jahrhundert der Aufklärung sei vieles, das morsch und lebensunfähig geworden<br />
sei, gefallen und weggefegt worden, schrieb der St. Galler Nervenarzt<br />
KARL IMBODEN. Auch in der ärztlichen Wissenschaft sei noch manch mittelalterliches<br />
Trümmerstück für immer weggeräumt worden. 944 Bis ins Zeitalter der<br />
Aufklärung waren Wissenschaft und Bildung untrennbar mit der Religion verbunden,<br />
die als Legitimationsgrundlage und Welterklärungssystem den Staat<br />
und das gesellschaftliche Zusammenleben begründete. 945 Ab dem späten 17. und<br />
insbesondere im 18. Jahrhundert wurden Wissenschaft und Bildung schliesslich<br />
939<br />
940<br />
941<br />
942<br />
943<br />
944<br />
945<br />
VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 3 [1994], S. 214 f. Aller Aufklärung zum Trotz verlor auch die<br />
Volksfrömmigkeit im 18. Jahrhundert kaum an Stärke. Der Kirchgang war jedoch für viele<br />
Menschen mehr Sitte als spirituelles Bedürfnis. Man befolgte zwar die christlichen Gebote<br />
einigermassen, erwartete dafür aber auch gewisse Gegenleistungen; HAUSER AL-<br />
BERT, Leben [1987], S. 129.<br />
VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 3 [1994], S. 153 f.<br />
Unter ihnen gab es regelrechte Wandererzähler.<br />
VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 3 [1994], S. 156.<br />
VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 3 [1994], S. 157.<br />
IMBODEN [ca. 1915], S. 19.<br />
VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 3 [1994], S. 137.<br />
175
Materielle Beurteilung<br />
immer stärker geprägt von einer voranschreitenden Säkularisierung des Denkens,<br />
die unter dem Einfluss der Aufklärung zu verstärkter Entfaltung kam. 946<br />
Die Aufklärung wollte die Wissenschaft fördern, Wissen allgemein verbreiten<br />
und das menschliche Denken grundsätzlich der Vernunft unterwerfen, wobei<br />
Erkenntnis und Wahrheit Ideal und Ziel waren. 947 Die Aufklärung förderte<br />
schliesslich auch den Praxisbezug der Bildung und der Wissenschaften. 948<br />
Bis ins <strong>aus</strong>gehende 18. Jahrhundert waren im Schulwesen der Fürstabtei<br />
St. Gallen Kirche und Staat identisch. Der Abt waltete zugleich als oberster<br />
Schulherr. In den beiden letzten Jahrhunderten vor Aufhebung des Klosters<br />
setzten sich die Äbte in verschiedener Hinsicht für die Hebung der Volksschulen<br />
ein. 949 Abt Cölestin baute die von seinem Vorgänger Abt <strong>Joseph</strong> errichteten<br />
Freischulen, in denen kein wöchentliches Unterrichtsgeld mehr errichtet werden<br />
musste, 950 massiv <strong>aus</strong>. 951 Bedeutende Fortschritte im Schulwesen wurden<br />
schliesslich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Einführung der<br />
Normalschule nach österreichischem Vorbild erzielt. 952 Die neue Methode zog<br />
die Schüler zum eigentlichen Unterricht zu Klassen zusammen, hielt das einzelne<br />
Kind in der Erziehung aber zu Wahrhaftigkeit und Rechtschaffenheit an. 953 In<br />
der frühen Neuzeit waren die Bildungsmöglichkeiten in den meisten Städten<br />
und Marktflecken generell besser als in den Dörfern. Zum allmählichen Ausbau<br />
946<br />
947<br />
948<br />
949<br />
950<br />
951<br />
952<br />
953<br />
SCHINDLING [1994], S. 46 sowie S. 87 zur Säkularisierung der Lektüre im 18. Jahrhundert.<br />
VAN DÜLMEN, Alltag, Bd. 3 [1994], S. 212; ECCARD [1787], S. 10 f. Die gesamte<br />
Menschheit wurde als des Fortschritts fähig erachtet, wobei Erziehung und Unterricht die<br />
Tore für eine bessere Zukunft öffnen sollten; THÜRER, Geschichte, Bd. 2, 2. Halbband<br />
[1972], S. 704 f.; THÜRER, Geschichte, Bd. 2, 1. Halbband [1972], S. 61.<br />
SCHINDLING [1994], S. 47. Im Zuge der Aufklärung erreichten immer mehr an die breite<br />
Bevölkerung gerichtete Medizinbüchlein den «gemeinen Mann»; zur Volksmedizin in jener<br />
Zeit BRÄNDLI [1990], S. 105 f.<br />
WEISS [2005], S. 265.<br />
Der Schulmeister wurde <strong>aus</strong> Schulstiftungen, Armenfonds sowie Kirchen- und Gemeindebeiträgen<br />
finanziert; WEISS [2005], S. 266.<br />
WEISS [2005], S. 266.<br />
THÜRER, Geschichte, Bd. 2, 2. Halbband [1972], S. 704; BAUMANN MAX [2003], S. 74.<br />
THÜRER, Geschichte, Bd. 2, 1. Halbband [1972], S. 64 f. Die Schulreform wurde von<br />
weltoffenen Geistlichen und Laien zwar sehr begrüsst, sie stiess aber auch auf Kritik, besonders<br />
laut geäussert etwa vom Offizial Pater Iso Walser, der der Reform zu viel Weltlichkeit<br />
und aufklärerischen Geist vorwarf, siehe WEISS [2005], S. 267; BAUMANN MAX<br />
[2003], S. 74.<br />
176
Materielle Beurteilung<br />
des Schulwesens kam es zwar auch auf dem Land, doch der Lernerfolg scheiterte<br />
oft an fehlenden Geldmitteln, an schlechter Qualität der Lehrer und an der<br />
mangelnden Einsicht weiter Volkskreise. 954<br />
Trotz der fortschrittlich anmutenden Einführung der Normalschule verhielten<br />
sich die Konventualen der Fürstabtei grundsätzlich abwehrend <strong>gegen</strong>über der<br />
Aufklärung. 955 Dennoch setzten sie sich mit <strong>aus</strong>gewählten Inhalten aufklärerischen<br />
Denkens <strong>aus</strong>einander, profitierten im Einzelnen von den neuen Erkenntnissen<br />
und machten sie sogar für die Pflege der Eigentradition nutzbar. 956<br />
Während in anderen katholischen Orten die Jesuiten durch ihre schulische<br />
Tätigkeit Einfluss und Bedeutung erlangten und bis zur (vorübergehenden)<br />
Aufhebung des Ordens 1773 im mittleren und höheren Bildungswesen von einem<br />
eigentlichen jesuitischen Schulmonopol gesprochen werden kann, 957 bildeten<br />
die Abteien St. Gallen und Einsiedeln eine Ausnahme. 958 Die Jesuiten konnten<br />
in diesen Institutionen nicht Fuss fassen. 959 Im 16. Jahrhundert waren von<br />
Rom <strong>aus</strong> erfolglos Versuche unternommen worden, im stiftsanktgallischen Territorium<br />
eine Jesuitenniederlassung zu errichten. 960 Jesuitisches Gedankengut<br />
fand aber dennoch teilweise seinen Weg in die Fürstabtei, studierten doch insbesondere<br />
bis 1620 viele St. Galler Konventualen an von Jesuiten geführten Hochschulen<br />
im Ausland. 961<br />
Die Buchbestände in den Familien beschränkten sich bis ins 18. Jahrhundert<br />
hinein auf die Bibel oder auf biblische Geschichten sowie allenfalls Andachtsund<br />
Erbauungsbücher. Die meisten Bücher wurden von Generation zu Generation<br />
weitergegeben und immer wieder gelesen, wobei die Beziehung zum Inhalt<br />
954<br />
955<br />
956<br />
957<br />
958<br />
959<br />
960<br />
961<br />
BAUMANN MAX [2003], S. 75.<br />
GEMPERLI [2005], S. 26. Immerhin liess insbesondere Abt Beda gewisse gemässigte Ansätze<br />
bildungsfreundlicher und gemeinnütziger Aufklärung zu; ETTIN, Benediktiner,<br />
e-HLS [2007].<br />
MARTI [2003], S. 70, vertritt die Auffassung, dass die Aufklärung von den massgeblichen<br />
Konventualen zwar weniger als Bedrohung des Klosterstaats, wohl aber als Eingriff in die<br />
monastische Lebensweise begriffen wurde.<br />
Dieses Monopol bestand insbesondere bei der höheren Schulbildung der (männlichen)<br />
Jugend; HARTMANN [2001], S. 68.<br />
BISCHOF, Jesuiten, e-HLS [2008].<br />
BAUMANN MAX [2003], S. 58.<br />
SCHMUCKI [1991] (ohne Seitenzahl).<br />
So insbesondere in Dillingen, Ingolstadt und Rom; SCHMUCKI [1991] (ohne Seitenzahl).<br />
177
Materielle Beurteilung<br />
in der Regel völlig unkritisch war. 962 Das Bedürfnis nach geschriebenen aktuellen<br />
Nachrichten war nicht <strong>aus</strong>geprägt, sodass die im <strong>aus</strong>gehenden 17. Jahrhundert<br />
in St. Gallen erschienene «Ordinari Neue Wochen-Zeitung» 963 nur während<br />
weniger Jahre gedruckt wurde. Erst im 19. Jahrhundert begannen sich Zeitungen<br />
durchzusetzen. 964 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Wunsch<br />
nach neuer Literatur langsam hörbar und allmählich lauter. Im Zuge der Aufklärung<br />
begann man zudem, das Gelesene kritisch durchzudenken und zu beurteilen.<br />
Im <strong>aus</strong>gehenden 18. und schliesslich im 19. Jahrhundert bildeten sich Lesegesellschaften<br />
965 und öffentliche Bibliotheken. 966 Die Diskussion aufklärerischen<br />
Gedankenguts ging klar von der gebildeten Oberschicht <strong>aus</strong>. 967<br />
6.2.2.3 Die Geköpfte und die Wöchnerin<br />
Auch wenn die Obrigkeit, die <strong>Egger</strong> verhörte, offenbar Zweifel daran hatte, ob<br />
er tatsächlich nicht lesen konnte und ob er nicht vielleicht doch einiges über<br />
anatomische Zusammenhänge wusste, lassen sich in diese Richtung zielende<br />
Vermutungen durch die Akten nicht belegen. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass<br />
<strong>Egger</strong>, in dessen H<strong>aus</strong>halt nach Angaben seiner Ehefrau als einzige Bücher drei<br />
Gebetbüchlein ihrer Töchter existierten, 968 tatsächlich weder lesen noch schreiben<br />
konnte. Obwohl in räumlicher Nähe zur Stadt St. Gallen, lebte <strong>Egger</strong> in den<br />
Strukturen der Alten Landschaft doch ländlich. Er bewirtschaftete einen Hof.<br />
Vor dem Hintergrund der zu jener Zeit in den Stiftslanden vorherrschenden<br />
Schulstrukturen erscheint naheliegend, dass der 1746 geborene <strong>Egger</strong> nie zur<br />
Schule ging. Praktisches Wissen, insbesondere zur Bewirtschaftung des Hofs,<br />
hatte er sich wohl mit Hilfe seiner Vorfahren angeeignet. Über «gelehrtes» Wissen<br />
in irgendeiner Form dürfte er kaum verfügt haben.<br />
962<br />
963<br />
964<br />
965<br />
966<br />
967<br />
968<br />
BAUMANN MAX [2003]. S. 78 f.<br />
Gedruckt wahrscheinlich von 1681 bis 1686; KALKOFEN [1999], S. 825.<br />
KALKOFEN [1999], S. 825 f.; LEMMENMEIER [2003], S. 89.<br />
Die möglicherweise erste Lesegesellschaft der Schweiz entstand 1703 in St. Gallen,<br />
EBERLE [1999], S. 651 f.; KALKOFEN [1999], S. 818 f.; LEMMENMEIER [2003], S. 84.<br />
Einen Überblick mit weiteren Quellenangaben liefert BAUMANN MAX [2003], S. 81 f.<br />
BAUMANN MAX [2003], S. 83.<br />
Dok. 16, Zeugen<strong>aus</strong>sagen der Ehefrau, S. 9.<br />
178
Materielle Beurteilung<br />
Obwohl bis 1775 zweifellos einige Gedanken der Aufklärung in die Stiftslande<br />
vorgedrungen waren, ist nicht anzunehmen, dass der einfach lebende<br />
Landwirt <strong>Egger</strong> davon viel mitbekommen hatte. Er scheint viel eher in herkömmlichen,<br />
in vielen Belangen gänzlich unkritischen Denkstrukturen und<br />
Überlieferungen haften geblieben zu sein. Mit der kleinen gelehrten Oberschicht,<br />
die in der Alten Landschaft insbesondere <strong>aus</strong> Geistlichen bestand, dürfte<br />
er kaum je in Berührung gekommen sein. Offensichtlich verfügte er nicht<br />
über die Vor<strong>aus</strong>setzungen, sich kognitiv