Orthographieerwerb: kognitive Grundlagen - Guido Nottbusch
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<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 1<br />
<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />
Teil 08: Modelle des Lesens<br />
Hierarchieniedrige Prozesse<br />
• Identifikation von Buchstaben und Wörtern<br />
• okulomotorische und perzeptuelle Prozesse<br />
• hoher Automatisierungsgrad (Stroop-Test)<br />
• Größe der Einheiten<br />
• Wörtüberlegenheitseffekt<br />
• unvollständige Graphemanalyse<br />
• unbekannte Wörter?<br />
• Zwei-Wege-Modell<br />
• Zusammenschleifen der isolierten Phoneme, die mit Hilfe der<br />
Graphem-Phonem-Konversion aus der Buchstabenkette gewonnen<br />
werden (unbekannte Wörter, Leseanfänger: z.B.: "z, i, zi, e, zie, l:<br />
Ziel"; vergl. Zusammensetzung der Buchstaben-Namen: "zett, ih, eh,<br />
el: Zett-i-el, Zettel?").<br />
• Abruf der Graphemfolge als Einheit aus dem mentalen Lexikon<br />
(direkte Worterkennung; bekannte, hochfrequente Wörter).<br />
• Kontexteffekt<br />
• Aufbau propositionaler Textrepräsentationen<br />
• semantische (und syntaktische) Bezüge herstellen<br />
• lokale Kohärenzbildung (Relationen zwischen Propositionen, Mikrostruktur)<br />
• Kohäsion<br />
Hierarchiehohe Prozesse<br />
• strategisch-zielbezogenes Lesen<br />
• globale Kohärenzbildung<br />
• Verdichtung von Mikrostrukturen zu einer Makrostruktur<br />
• Hypothesenbildung<br />
• Integration von Vorwissen und Informationen aus dem Text<br />
• Inferenzen<br />
• Schemata und Strukturen aus Textsorten<br />
• Erkennen rhetorischer, stilistischer und argumentativer Strategien<br />
• mentales Modell<br />
• top-down vs. Bottom-up<br />
• parallel und inkrementell<br />
Dekodierung der schriftlichen Information<br />
In wie weit ist das Lesen eines Wortes durch die gesprochene Form<br />
beeinflusst?<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld
<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 2<br />
GEAD (head/read) NEAN (mean, bean ...)<br />
KEAR (tear/fear) SOAT (coat, boat ...)<br />
TOOD (food/good) BICE (rice, dice ...)<br />
SOVE (glove/move) LIDGE (edge, lodge ...)<br />
Dual Route Cascaded Model<br />
(vgl. Coltheart et al., 1993; Ziegler, Perry & Coltheart, 2000)<br />
• Sub-Lexikalische vs. Lexikalische Route<br />
• Sub-Lexikalische Route verläuft progressiv von links nach rechts<br />
• äquivalente Funktionalität von Input und Output sowie Zeichen- und<br />
Phonemsystem<br />
• Lexikalische Route meistens schneller<br />
Analogiebildung und Nachbareffekte<br />
Pseudowort (engl. Graphotaktik): GEAD<br />
/ / wie in read (lesen), bead (Tropfen), lead (anführen)<br />
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/e / wie in head (Kopf), dead (tot), read (gelesen) und vielen weiteren<br />
Für den Zugriff auf den Eintrag read (lesen) ergeben sich daher 'Freunde' und<br />
'Feinde'. Eine Vielzahl von 'Feinden' führt zu einer Vielzahl von konkurrierenden<br />
aktiven Einträgen im phonologischen Output-Lexikon und daher einer<br />
Verzögerung der Auswahl.<br />
Phonographische Regularitäten<br />
Beispiele:<br />
• Vokaldehnung wird markiert durch:<br />
• setzen eines Dehnungs-h<br />
• Vokalverdoppelung (Vokalgemination)<br />
• Dehnung nie vor b, d, f, g<br />
• Vokalschärfung wird markiert durch:<br />
• Verdoppelung des folgenden Konsonanten<br />
• Keine Gemination von c, h, j, v, w, x<br />
Graphem-Phonem-Konversion<br />
• 1-zu-1-Regeln<br />
• teilweise Positionsabhängig (z.B. im Anfangsrand eher // aber <br />
im Endrand eher // ; rein statistische Untersuchung)<br />
• Überprüfen Sie die Positionsabhängigkeit der Grapheme , , <br />
und .<br />
• Mehrzeichen-Regeln<br />
• vgl. in Charme, Chance, Chemie, China, Charakter, Chlor, Chor,<br />
Christ, Ich, Pech, Dach, schwach, sechs, Lachs, Wachs<br />
• Kontext-Regeln<br />
Vergleich Englisch/Deutsch<br />
• Das englische orthographische System bildet eher Konsistenzen auf der<br />
Ebene der Morphologie ab, d.h. die Graphem-Phonem-Konsistenz ist eher<br />
gering (z.B. heal-health).<br />
• Es gibt nur drei Konsonantgrapheme (n, r, v), die nur jeweils einem<br />
Phonem entsprechen. Die fünf Vokalgrapheme bilden (in Kombinationen)<br />
48 verschiedene Phoneme ab.<br />
• Die deutsche Orthographie orientiert sich häufiger an der Phonologie als an<br />
der Morphologie. Häufig sind die phonologischen Formen des Stammes<br />
morphologisch verwandter Wörter ohnehin identisch.<br />
• Eine Ausnahme bildet die Auslautverhärtung, bei der morphologische<br />
Prinzipien greifen (Kind - Kinder).<br />
• Die Phonem-Graphem-Beziehungen sind jedoch auch im Deutschen etwas<br />
komplexer.<br />
• Englisch: hand, hate, ball, garden<br />
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• Deutsch: Hand, Hass, Ball, Garten<br />
• Englisch: hear, heard, bear, beard<br />
• Deutsch: hören, gehört, Bär, Bart<br />
Studien zum Lesen von Wörtern und Pseudowörtern (Wimmer &<br />
Goswami, 1994; Frith, Wimmer & Landerl, 1998)<br />
• Ausnutzung ähnlicher (Zahl-)Wörter in beiden Sprachen (neun - nine, Wort<br />
- word) um Vergleichbarkeit zu gewährleisten.<br />
• Die Pseudowörter wurde gebildet indem konsonantische Silbenonsets<br />
ausgetauscht wurden (drier = drei + vier, nand = Nacht + Hand)<br />
Erhoben wurde die Lesezeit und die Anzahl der Fehler (Prozentsätze<br />
korrekter Antworten):<br />
Wimmer & Goswami, 1994<br />
Englisch<br />
Deutsch<br />
7 Jahre 9 Jahre 7 Jahre 9 Jahre<br />
Zahlwörter, z.B. fünf 96% 100% 99% 100%<br />
Pseudowörter, z.B. sünf 66% 76% 87% 91%<br />
Frith, Wimmer & Landerl, 1998<br />
Wörter, z.B. Hand 96% 94% 92% 100%<br />
Pseudowörter, z.B. Nand 47% 79% 85% 96%<br />
• Die jüngeren deutschen Kinder haben im Gegensatz zu den englischen<br />
Kindern kaum Schwierigkeiten mit dem phonologischen Kodieren.<br />
• Bei englischer Aussprache ergeben sich erheblich mehr Möglichkeiten: Dies<br />
wurde liberal ausgewertet, d.h. alle nach englischer Phonologie erlaubten<br />
Aussprachen wurden als korrekt akzeptiert.<br />
• Die Ursachen liegen aber sicherlich nicht nur in den englischen Graphem-<br />
Phonem-Korrespondenzen, sondern hängen auch an den englischen<br />
Unterrichtsmethodik, die sich hauptsächlich an der Phonologie orientiert.<br />
Studien zu Kindern mit LRS (Landerl, 1996; Wimmer, 1996)<br />
Deutsche und englische Kinder mit LRS sollten konsonantische Onsets von<br />
Wortpaaren austauschen (Mann - Hut -> Hann -Mut; Landerl, 1996).<br />
Fehlerrate in Prozent:<br />
Gruppe Englisch Deutsch<br />
LRS-Kinder (ca. 12 Jahre) 72,9 % 63,3 %<br />
Leseniveau-Kontrollgruppe (ca. 8-9 Jahre) 64,5 % 42,9 %<br />
Alters-Kontrollgruppe (ca. 12 Jahre) 39,5 % 31,7 %<br />
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Untersuchung des Geschwindigkeitsdefizites anhand eines Vergleichs zwischen<br />
Wörtern und Pseudowörtern.<br />
• Gemessen wurden die Lesezeiten für häufige Wörter, daraus abgeleitete<br />
Pseudowörter sowie neu gebildete Pseudowörter mit einfacher KV-Struktur<br />
(tarulo, heleki).<br />
• Als Kontrollgruppe fungierten jüngere Kinder, die sich auf dem gleichen<br />
Leseniveau befanden.<br />
• Wenn die Geschwindigkeitsdefizite tatsächlich auf einem Defizit im<br />
phonologischen Kodieren zurückzuführen sind, dann sollten die Lesezeiten<br />
bei Pseudowörtern, bei denen das phonologische Kodieren ein größere<br />
Rolle spielt, signifikant länger sein.<br />
Leseaufgabe<br />
Zeit/Wort (in Sekunden)<br />
Kinder mit LRS<br />
(4. Klasse)<br />
Kontrollgruppe<br />
(2. Klasse)<br />
häufige Wörter 0,98 0,98<br />
analoge Pseudowörter 1,99 1,7<br />
Fehlerrate<br />
KV-Pseudowörter 2,84 2,4<br />
häufige Wörter 4 3<br />
analoge Pseudowörter 9 5<br />
KV-Pseudowörter 16 9<br />
• Der Erwerb des phonologischen Kodierens ist für deutschsprachige Kinder<br />
erheblich einfacher als für englischsprachige.<br />
• Deutschsprachige Kinder mit LRS haben grundsätzlich die Fähigkeit<br />
unbekannte Wörter zu lesen, haben hier aber ein starkes<br />
Geschwindigkeitsdefizit.<br />
• Dies äußerte sich vor allem bei der Benennung von Zahlwörtern und<br />
daraus abgeleiteten Pseudowörtern.<br />
• Dieses tritt vor allem bei unbekannten Wörtern auf, nicht jedoch bei rein<br />
visueller Verarbeitung.<br />
Evidenz aus der Neurolinguistik<br />
Oberflächendyslexie = eine Form der erworbenen Dyslexie: Wörter und<br />
Pseudowörter mit regulärer Aussprache können gelesen werden, irreguläre<br />
werden falsch (regelkonform) ausgesprochen oder können nicht gelesen<br />
werden.<br />
Nach dem DRC-Modell ist bei Patienten mit diesen Symptomen die<br />
lexikalische Route (teilweise) zerstört, hingegen ist die nicht-lexikalische Route<br />
(weitgehend) intakt.<br />
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<strong>Orthographieerwerb</strong>: <strong>kognitive</strong> <strong>Grundlagen</strong> * SS 2005 6<br />
Phonologische oder Tiefendyslexie = eine Form der erworbenen Dyslexie:<br />
sowohl Wörter mit regulärer und irregulärer Aussprache können gelesen<br />
werden, Pseudowörter können nur kaum oder gar nicht gelesen werden.<br />
Nach dem DRC-Modell ist bei Patienten mit diesen Symptomen die nichtlexikalische<br />
Route (teilweise) zerstört, hingegen ist die lexikalische Route<br />
(weitgehend) intakt.<br />
Literatur<br />
Coltheart, M., Curtis, B., Atkins, P., & Haller, M. (1993). Models of Reading<br />
Aloud: Dual-Route and Parallel-Distributed-Processing Approaches.<br />
Psychological Review, 100(4), 589-608.<br />
Frith, U., Wimmer, H., & Landerl, K. (1998). Differences in phonological<br />
recoding in German- and English-speaking children. Scientific Studies of<br />
Reading, 2(1), 31-54.<br />
Landerl, K. (1996). Legasthenie in Deutsch und Englisch. Frankfurt: Verlag<br />
Peter Lang.<br />
Wimmer, H. (1996). The early manifestation of developmental dyslexia:<br />
Evidence from German children. Reading and Writing, 8, 1-18.<br />
Wimmer, H., & Goswami, U. (1994). The influence of orthographic consistency<br />
on reading development: Word recognition in English and German<br />
children. Cognition, 51, 91-103.<br />
Ziegler, J., Perry, C., Coltheart, M. (2000). The DRC model in visual word<br />
recognition and reading aloud: An extension to German. European Journal<br />
of Cognitive Psychology, 12(3), 413-430.<br />
<strong>Guido</strong> <strong>Nottbusch</strong> * Universität Bielefeld