Frühjahr 2014 - Edition Tiamat
Frühjahr 2014 - Edition Tiamat
Frühjahr 2014 - Edition Tiamat
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Schalldämpfer<br />
Die Ärztin war so schön, dass ich beinahe<br />
tot umfiel. Ihre Augen strahlten grünblaugrausilbern,<br />
ihr langes rotes Haar<br />
schimmerte, und ihr Fahrgestell machte<br />
mich schwindelig.<br />
»Es ist Zeit, dass Sie vor die Tür kommen«,<br />
sagte sie, »in der Klinik werden<br />
Sie ja blöde.« Das fand ich auch, hätte es<br />
mich aber so nicht zu sagen getraut und<br />
freute mich umso mehr über die klaren<br />
Worte.<br />
»Suchen Sie sich eine Gruppe bei Ihnen in<br />
der Nähe, vielleicht passt das ja.«<br />
Ich war entlassen, wenn auch nur temporär,<br />
und machte mich auf den Weg.<br />
Eine Stunde später stand ich vor dem<br />
»Heilehaus« in der Kreuzberger Waldemarstraße.<br />
Manche nannten es auch<br />
etwas despektierlich das Heileheilegänschenhaus,<br />
aber da musste man aufpassen;<br />
Humor ist in Kreuzberg nicht so verbreitet,<br />
man lacht dort gerne nicht über sich<br />
selbst, sondern lieber über die anderen,<br />
das geht ja auch viel leichter.<br />
An der Tür stand »Treffen der Autonomen<br />
Alkoholiker«. Es war kein Witz. Die<br />
nannten sich im Ernst »Autonome Alkoholiker«;<br />
zwar gibt es schwerlich einen<br />
größeren Gegensatz als den zwischen<br />
Sucht und Autonomie, aber in Kreuzberg<br />
sind eben auch die Alkoholiker autonom,<br />
das ist dort Pflicht.<br />
Ich machte mich vom Acker und las<br />
noch: »Jeden Samstag und Sonntag Jodeln<br />
mit Sigurd«.<br />
Vielleicht gab es im Heilehaus ja auch<br />
Siedeln mit Joghurt, aber so genau wollte<br />
ich es dann auch nicht wissen.<br />
Wiglaf Droste, 1961 in Herford/Westfalen<br />
geboren, lebt unterwegs oder in<br />
Berlin. Seine Texte erscheinen im guten<br />
Radio, im NZZ Folio, in der Tageszeitung<br />
junge Welt und Das Magazin.<br />
Für seine harsche, polemische, liebevoll<br />
wortschöpferische und lyrische<br />
Sprache wurde Wiglaf Droste 2003 mit<br />
dem Ben-Witter-Preis, 2005 mit dem<br />
Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis<br />
und 2013 mit dem Peter-Hille-Literaturpreis<br />
ausgezeichnet.<br />
Wiglaf Droste<br />
Sprichst du noch oder<br />
kommunizierst du<br />
schon?<br />
Neue Sprachglossen<br />
<strong>Edition</strong><br />
TIAMAT<br />
»Droste ist Sprachkritiker, aber keiner,<br />
der den Zeitgenossen richtiges Deutsch<br />
beibringen will. Keiner, dem es beim<br />
Sprechen und Schreiben um soziale Unterscheidungsgewinne<br />
geht. Auch Rechthaberei<br />
liegt ihm fern. Drostes Thema ist<br />
die Phrase. Er zielt auf das ganz grosse<br />
Geschwätz. Seine Sprachkritik ist Ideologiekritik.«<br />
Rainer Schaper, SFR2<br />
Foto: Axel Martens<br />
Wiglaf<br />
Droste<br />
EdiTion<br />
TiamaT<br />
Die WÜrDe Des<br />
Menschen ist<br />
ein KonjunKtiv