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Die gesamte Neujahrsrede von Dr. Günther Petry - Stadt Kehl

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<strong>Neujahrsrede</strong> 2014<br />

7. Januar 2014<br />

1 Einleitung<br />

1.1 Neujahrsgruß und Einführung<br />

Im Namen der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> und im Namen des Gemeinderats wünsche ich<br />

Ihnen allen ein gutes Neues Jahr 2014. Bleiben Sie gesund – und erfreuen<br />

Sie sich Ihres Lebens am Westrand Baden-Württembergs in <strong>Kehl</strong> und in der<br />

der Ortenau!<br />

Auf dem Landesentwicklungsplan des Landes Baden-Württemberg wird<br />

der Westrand der Ortenau markiert durch einen senkrechten blauen Strich –<br />

der soll den Rhein darstellen – und links da<strong>von</strong> ist es weiß, als wenn dort<br />

unbekanntes Land wäre. Nun wissen wir aber: Da, wo es auf der Karte<br />

weiß ist, liegen Strasbourg, das Elsass, Frankreich. Wir sind tatsächlich<br />

nicht am Rand, wir sind mitten drin. Deshalb ist die grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit ein wichtiges Thema hier am Westrand der Ortenau.<br />

<strong>Die</strong>ses Thema beschäftigt den <strong>Kehl</strong>er Gemeinderat regelmäßig in der<br />

kommunalpolitischen Arbeit. Bürgerinnen und Bürger der <strong>Stadt</strong> erleben<br />

täglich, wie nahe sich Frankreich und Deutschland unter dem gemeinsamen<br />

europäischen Dach gekommen sind. Erst diese Nähe macht – wie im<br />

Brennglas – Probleme sichtbar. Vor 30 Jahren waren die Menschen mit<br />

grenzüberschreitendem Alltag Pioniere, die manche Unbequemlichkeit auf<br />

sich nahmen, um ihren grenzüberschreitenden Lebensentwurf zu verwirklichen.<br />

Heute ist das anders: Was die wenigen Pioniere gerne auf sich<br />

genommen haben, wird <strong>von</strong> vielen heute als lästig und einschränkend<br />

wahrgenommen.<br />

1.2 Jahresschrift<br />

Wie alle Jahre liegt zum Neujahrsempfang die Jahresschrift 2013 vor, die<br />

Sie sich später gerne mitnehmen können. Es ist das 14. Heft unserer Reihe<br />

und enthält wieder eine bebilderte Chronik der Ereignisse des vergangenen<br />

Jahres. Den thematischen Schwerpunkt bildet diesmal die


- 2 -<br />

grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Strasbourg und <strong>Kehl</strong> –<br />

und zwar über das Wirken der beiden Gebietskörperschaften hinaus. Wir<br />

waren selbst überrascht <strong>von</strong> der Fülle der Verbindungen und der Projekte<br />

zwischen Unternehmen, Vereinen, Schulen, Kirchen. Deshalb hat der<br />

Sonderteil der Jahresschrift in diesem Jahr 70 statt sonst 32 Seiten.Auch in<br />

dieser Jahresschrift findet sich ein historisches Kapitel. Es befasst sich mit<br />

dem 60. Geburtstag des Hauses der Jugend in <strong>Kehl</strong> und wurde <strong>von</strong> UTE<br />

SCHERB verfasst. Mit der damaligen Gründung des Hauses der Jugend<br />

sollten Jugendliche dazu erzogen werden, faschistischen Verlockungen zu<br />

widerstehen – damals wichtig und bis heute aktuell. Das Haus steht<br />

Jugendlichen seit 60 Jahren mit Räumen, Rat und Tat zur Seite.<br />

In der letzten <strong>Neujahrsrede</strong> sagte ich, dass unsere Archivarin und<br />

Museumsleiterin DR. SCHERB, stets auf der Suche nach Material ist –<br />

Schriftstücke, Fotos, Gegenstände, Tagebücher, Hauptsache alt und mit<br />

einem Bezug zu <strong>Kehl</strong>. Das gilt auch für dieses Jahr – und: Sie hat noch<br />

Platz in den Archivräumen. Übrigens hat im letzten Jahr JOACHIM<br />

JUNGHANS vom <strong>Kehl</strong>er Kinocenter dem <strong>Stadt</strong>archiv seinen Kinoprojektor,<br />

mit dem <strong>von</strong> 1957 bis 2011 Filme aus Zelluloid gezeigt wurden, als<br />

Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt – herzlichen Dank dafür.<br />

Damals konnte ich auch berichten, dass die BÜRGERSTIFTUNG KEHL im Jahr<br />

2012 mit 21 neu gewonnen Stifterinnen und Stiftern einen neuen Rekord<br />

aufgestellt hat. 2013 hat die Bürgerstifung mit 31 Neuzugängen zur<br />

Stifterfamilie ihren eigenen Rekord überboten. <strong>Die</strong> Stiftung wächst<br />

offensichtlich nach dem Schneeballprinzip mit der Konsequenz, dass in<br />

wenigen Jahren fast alle <strong>Kehl</strong>erinnen und <strong>Kehl</strong>er Mitglied in der<br />

Bürgerstiftung sein dürften.<br />

1.3 Dank<br />

Allen, die sich in Stiftungen und gemeinnützigen Vereinen zum Wohle der<br />

Allgemeinheit ehrenamtlich betätigen, danke ich an dieser Stelle sehr<br />

herzlich. In diesen Dank schließe ich unsere Gemeinderäte und<br />

Ortschaftsräte ein.<br />

Ich danke ANNETTE LIPOWSKY, die wieder die Ereignisse des vergangenen<br />

Jahres in der Jahresschrift zusammengetragen und die in dem Sonderteil<br />

die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in einem Recherche-Kraftakt


- 3 -<br />

zusammengefasst hat. Ich danke SUSANNE SORGENFREY für das Layout.<br />

<strong>Die</strong> arbeitnehmerfreundliche Terminlage der Feiertage erschwerte die<br />

Fertigstellung. Das erfreuliche Ergebnis der Anstrengungen – auch <strong>von</strong><br />

DINNER DRUCK – ist, dass die Jahresschrift heute Abend fertig ist. Den<br />

Firmen, die die Schrift gesponsert haben, danke ich ebenfalls. Sie sind alle<br />

auf der Rückseite abgedruckt.<br />

Ich bedanke mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um ANGELIKA<br />

HUMMEL vom OB-Sekretariat, die zusammen mit FIONA HÄRTEL, VOLKER<br />

LORENZ und den Hallenmeistern MICHAEL JÖST und AXEL USBECK die<br />

Organisation dieses Empfanges tragen. Ich danke dem KAMMERENSEMBLE<br />

KEHL-STRASBOURG unter der Leitung <strong>von</strong> GABRIEL MATTEI für die Musik.<br />

Altstadtrat SCHORSCH HORNUNG hat auch dieses Jahr die Neujahrsbrezel<br />

und den <strong>Dr</strong>eikönigskuchen gebacken. Herzlichen Dank dafür. ANDREAS<br />

HOPP danke ich für den Blumenschmuck, Ihnen allen, meine Damen und<br />

Herren, danke ich für Ihr Kommen.<br />

2 <strong>Kehl</strong> und Strasbourg in Europa<br />

2.1 In gewisser Weise...<br />

„In gewisser Weise ist <strong>Kehl</strong> ein <strong>Stadt</strong>teil <strong>von</strong> Strasbourg“ sagte ein Bürger<br />

bei einer Bürgerversammlung vor einigen Jahren. <strong>Die</strong>ser Satz beschreibt<br />

zutreffend die Eigenart der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong>. Unsere Aufgabe besteht darin, zu<br />

bestimmen und politisch zu gestalten, was wir unter „gewisser Weise“<br />

verstehen wollen.<br />

„In gewisser Weise ist <strong>Kehl</strong> ein <strong>Stadt</strong>teil <strong>von</strong> Strasbourg“. Das heißt: Egal,<br />

wie man die „gewisse Weise“ beschreibt – klar ist: <strong>Die</strong> grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit ist ein wichtiges, ein grundlegendes Feld<br />

für unsere <strong>Stadt</strong>politik – zu der es – schon aufgrund der geographischen<br />

Lage <strong>Kehl</strong>s – keine Alternative gibt.<br />

2.2 Geographische Lage der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong><br />

<strong>Die</strong> geographische Lage der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> unterscheidet sich <strong>von</strong> der anderer<br />

Grenzstädte und <strong>von</strong> der anderer Städte, die mehr im Landesinneren liegen.


- 4 -<br />

Im Vergleich zu weiter im Landesinneren liegenden Städten ist <strong>Kehl</strong><br />

insofern ziemlich einzigartig, weil die Blickrichtung nach Deutschland<br />

einem Halbkreis entspricht. Unsere zentralörtliche Stellung als<br />

Mittelzentrum in der Systematik der baden-württembergischen<br />

Raumplanung ist durch diesen Halbkreis definiert. Denken Sie an den<br />

blauen Strich und an das weiße unbekannte Land im<br />

Landesentwicklungsplan links vom blauen Strich. In den kriegerischen<br />

Wirren der Vergangenheit wurde der <strong>Stadt</strong> diese 180-Grad-Perspektive<br />

längere Zeit auch durch die Umstände aufgezwungen. <strong>Die</strong>se Zeiten<br />

bekamen der <strong>Stadt</strong> nicht gut. Seit der Freizügigkeit in Europa ist es anders.<br />

Vor allem Euro und freier Grenzübertritt bewirkten, dass die badische<br />

Mittelstadt <strong>Kehl</strong> die Rundum-Perspektive wieder wahrnehmen und zur<br />

Grundlage ihrer politischen Aktivitäten machen kann.<br />

So ist es auch nur folgerichtig, dass seit der Einführung des freien<br />

Grenzübertritts durch das Abkommen <strong>von</strong> Schengen zwischen Deutschland<br />

und Frankreich zum 26.5.1995, vor allem aber seit der Einführung des Euro<br />

als Schein- und Münzgeld zum 1.1.2002 die grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit zwischen Strasbourg und <strong>Kehl</strong>, zwischen der Ortenau und<br />

den Partnergebieten im Elsass sich Jahr für Jahr verstärkte.<br />

Das Thema des Halbkreises ist übrigens auch für Strasbourg ein Thema: 20<br />

Jahre länger als andere französische Großstädte hat die Europastadt auf den<br />

TGV-Anschluss gewartet. Aus Sicht der logischerweise in Paris<br />

residierenden Führungsspitze der SNCF begann hinter Strasbourg das<br />

weiße Nichts. Als die SNCF wenige Monate nach der Aufnahme der<br />

TGV/ICE-Verbindung Paris-München eine erste Bilanz zog, konnte man in<br />

der Pressemitteilung zwischen den Zeilen das Erstaunen darüber lesen, dass<br />

es tatsächlich Fahrgäste gab, die hinter Strasbourg noch weiter fuhren.<br />

Mit der Erwähnung der <strong>Stadt</strong> Strasbourg ist das Merkmal angesprochen,<br />

durch das sich <strong>Kehl</strong> <strong>von</strong> allen anderen Grenzstädten unterscheidet. Wir sind<br />

die einzige deutsche Kleinstadt an der Grenze, dessen Nachbarstadt im<br />

anderen Land eine Großstadt <strong>von</strong> europäischer Qualität ist – oder: salopp<br />

formuliert: Wir sind die einzige deutsche Kleinstadt, die eine französische<br />

Großstadt zum Vorort hat – und zwar eine, die sich ab 1. Januar 2015<br />

Eurométropole nennen darf und damit einen Sonderstatus unter den<br />

französischen Städten erhält.


- 5 -<br />

2.3 Anfänge der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />

Der Ausgangspunkt der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit lag<br />

allerdings lange vor Schengen und Euro: Es war der gemeinsame<br />

Widerstand im Jahre 1987 <strong>von</strong> Bürgerinnen und Bürger hüben und drüben<br />

gegen eine <strong>von</strong> der Landesregierung geplante Sondermüllverbrennungsanlage<br />

im <strong>Kehl</strong>er Hafen. Auch beide Rathäuser waren aktiv –<br />

in Strasbourg regierte damals CATHERINE TRAUTMANN, in <strong>Kehl</strong> DETLEV<br />

PRÖßDORF. Wie Sie wissen, hatte der Widerstand Erfolg. <strong>Die</strong>se Erfahrung,<br />

den Sondermüllofen gemeinsam verhindert zu haben, war eine wichtige<br />

lokale Triebfeder für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit.<br />

Nach diesen ersten Kontakten durch die „Bürgerinitiative Umweltschutz“<br />

folgten die Kirchen, die eine grenzüberschreitende ökumenische Umwelt-<br />

Arbeitsgruppe gründeten. <strong>Die</strong> Städte <strong>Kehl</strong> und Strasbourg feierten 1987<br />

und 1988 ihre ersten gemeinsamen Rheinfeste – für die Festbesucher war<br />

es eine Sensation, sich <strong>von</strong> den französischen Pionieren mit<br />

Landungsbooten an ungewohnter Stelle und ganz ohne Ausweiskontrollen<br />

ans andere Rheinufer übersetzen zu lassen. An einen gemeinsamen Park<br />

oder gar eine Fußgänger- und Radfahrerbrücke über den Grenzfluss dachte<br />

damals aber noch niemand.<br />

2.4 <strong>Kehl</strong>er Formel – Teil 1<br />

„<strong>Kehl</strong> ist in gewisser Weise ein <strong>Stadt</strong>teil <strong>von</strong> Strasbourg“. Aus der<br />

besonderen geographischen Lage der <strong>Stadt</strong> an der Grenze mit einer<br />

Großstadt als unmittelbarer Nachbarin folgt für mich eine Formel für die<br />

grenzüberschreitende Zusammenarbeit unserer <strong>Stadt</strong>:<br />

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit so viel wie möglich – und<br />

gleichzeitig die Eigenständigkeit <strong>Kehl</strong>s bewahren.<br />

Wir sind dann ein interessanter Kooperationspartner für die französische<br />

Seite, wenn wir eigenständig sind und eine eigene Identität besitzen.<br />

2.5 <strong>Die</strong> Grenze und der Friede in Europa – <strong>Kehl</strong>er Formel Teil 2<br />

Letztes Jahr haben wir den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysee-


- 6 -<br />

Vertrages gefeiert. Vor 50 Jahren, während der dramatischen und<br />

bewegenden Annäherung, herrschte ein Ausnahmezustand in den deutschfranzösischen<br />

Beziehungen. Heute gibt es eine ganz selbstverständliche<br />

deutsch-französische Normalität an der Grenze. Ihre tägliche<br />

Überschreitung ist Alltag.<br />

Manchmal denke ich mir: Das alles ist so alltäglich, dass wir darüber<br />

vergessen könnten, welchen Weg wir gegangen sind. Das wäre bedenklich,<br />

weil die Schrecken der Vergangenheit nicht verdrängt werden dürfen. Der<br />

Besuch des Bundespräsidenten in Oradour-sur-Glane Anfang September<br />

2013 zeigte wieder eindrücklich, wie weit dieser gemeinsame Weg<br />

tatsächlich war.<br />

<strong>Die</strong> Jüngeren kennen aus der eigenen Lebenswelt nur dieses friedliche<br />

Miteinander. Dabei könnte aus dem Blick geraten, dass Frieden politisch<br />

weder selbstverständlich war noch ist. Das vereinte Europa hat an diesem<br />

Frieden einen großen Anteil. Wir müssen weiterhin am Frieden arbeiten:<br />

Durch Erinnerung an die Vergangenheit wie durch das Kunstwerk der<br />

stählernen Grenzrosen <strong>von</strong> THOMAS ROTHER, die wir im letzten Jahr<br />

aufgestellt haben, durch Unterstützung des europäischen Gedankens, aber<br />

auch und vor allem: Durch enge Zusammenarbeit über die Grenze hinweg.<br />

Dabei hilft uns die Hoffnung, dass die Menschen in Deutschland und in<br />

Frankreich das friedliche Miteinander verinnerlicht haben.<br />

Daraus ergibt sich eine weitere Perspektive für die grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit: Je mehr wir grenzüberschreitend zusammenarbeiten,<br />

desto stabiler werden unsere guten Verhältnisse hier am Oberrhein. Wir<br />

suchen nicht mehr nach symbolischen Projekten für die deutschfranzösische<br />

Zusammenarbeit, sondern die tatsächlichen Projekte werden<br />

zum Symbol für die Zusammenarbeit. So gelange ich zum zweiten Teil der<br />

<strong>Kehl</strong>er Formel:<br />

<strong>Die</strong> grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist per se immer<br />

auch Friedensarbeit – ohne dass es ausgesprochen oder<br />

mitgedacht werden muss.<br />

3 Zusammenarbeit<br />

Es reicht jedoch nicht, wenn man sich hehren Grundsätzen verpflichtet


- 7 -<br />

fühlt, die man dann im Verlauf des täglichen Klein-Klein aus den Augen zu<br />

verlieren droht. <strong>Die</strong> grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist etwas<br />

Besonderes: Es bedarf einer Zusammenarbeit, die<br />

• Lösungen für gemeinsame Probleme sucht, dabei<br />

• Unterschiede akzeptiert und nicht einzuebnen versucht,<br />

• sich stets bewusst ist, dass kulturelle Eigenarten zu Handlungsweisen<br />

führen können, die man nicht für „normal“ hält – und die<br />

• anerkennt, dass oft auch nach dem System des jeweils anderen ein<br />

gemeinsames Ziel erreicht werden kann.<br />

3.1 Gschicht'le zu kulturellen Unterschieden<br />

Mit dem folgenden Beispiel, das im Gemeinsamen Zentrum der Polizeien<br />

in <strong>Kehl</strong> so vorgekommen ist, möchte ich deutlich machen, was es mit<br />

kulturellen Unterschieden und den Eigenarten auf sich hat. Im<br />

gemeinsamen Zentrum arbeiten Beamte aus verschiedenen deutschen und<br />

französischen Polizei- und Zoll-Behörden zusammen. Viele deutsche<br />

Beamte nahmen ihr Mittagessen in wenigen Minuten in Form eines<br />

belegten Brötchens am Arbeitsplatz ein. <strong>Die</strong> Franzosen verließen um 12<br />

Uhr die <strong>Die</strong>nststelle, gingen essen, sollen dabei sogar ein Glas Rotwein<br />

getrunken haben und kamen gegen 14 Uhr zurück. Den Deutschen gefiel<br />

das nicht und sie brachten dieses Verhalten zur Sprache. <strong>Die</strong> Franzosen<br />

waren völlig überrascht und verstanden zuerst gar nicht, was die Deutschen<br />

wollten. Dann sagte einer: „Ach so – ja bei uns machen die Kriminellen<br />

auch <strong>von</strong> 12 bis 14 Uhr Mittagspause.“<br />

3.2 Kulturelle Unterschiede in der Praxis: Kommunalpolitische Systeme<br />

Es ist wichtig, dass wir die kulturellen Unterschiede wahrnehmen, sonst<br />

ärgern wir uns nur. Wir Kommunen haben keinen diplomatischen <strong>Die</strong>nst.<br />

Diplomaten beschäftigen sich während ihrer Ausbildung mit „Recherche<br />

und Empathie“ und lernen so, sich auf andere Kulturen vorzubereiten. Wir<br />

dagegen fahren über die Europabrücke, denken: „Aha, die Menschen sehen<br />

aus wie wir“ und schließen: „Also sind sie wie wir“. Das ist ein Irrtum. So


- 8 -<br />

sind allein die kommunalpolitischen Selbstverständlichkeiten hüben und<br />

drüben wegen der unterschiedlichen kommunalpolitischen Systeme ganz<br />

verschieden.<br />

Das Jahr 2014 ist ein Wahljahr, in dem in Strasbourg und in <strong>Kehl</strong><br />

Gemeinderat und Bürgermeister neu gewählt werden. In <strong>Kehl</strong> ist am 2.<br />

Februar die OB-Wahl, eine Persönlichkeitswahl – wie in Frankreich die<br />

Präsidentenwahl. Wählbar sind Deutsche und solche Unionsbürger und -<br />

bürgerinnen, die vor der Zulassung der Bewerbung in der Bundesrepublik<br />

Deutschland wohnen. Sie müssen zwischen 25 und 65 Jahren alt sein und<br />

sie müssen die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit für die freiheitliche<br />

Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintreten. Der demokratische<br />

Witz dabei: Jede und Jeder soll es werden können. Allein hier im Saale<br />

dürften mehrere 100 Personen sein, die hätten kandidieren können.... Wenn<br />

am 2.2. niemand die absolute Mehrheit der Stimmen hat, gibt es am 23.<br />

Februar einen zweiten Wahlgang, in dem gewählt ist, wer die meisten<br />

Stimmen auf sich vereinigt.<br />

Am 25. Mai wird das Europäische Parlament neu gewählt. Weil Europa für<br />

uns am Oberrhein eine hohe Bedeutung hat, wünsche ich mir eine hohe<br />

Wahlbeteiligung. Am gleichen Tag werden in ganz Baden-Württemberg<br />

Gemeinderäte, Ortschaftsräte und Kreistage neu gewählt. Sie kennen die<br />

umfangreichen Listen, die zur Gemeinderatswahl verschickt werden. Jede<br />

Partei, Wählervereinigung oder Initiative kann eine Liste aufstellen, auf der<br />

maximal soviel Personen auftreten dürfen, wie der Gemeinderat Sitze hat,<br />

in <strong>Kehl</strong> also 26. Jede Wählerin und jeder Wähler hat so viele Stimmen wie<br />

der Gemeinderat Sitze hat – in <strong>Kehl</strong> also 26. <strong>Die</strong>se Stimmen können<br />

einzelnen Personen auf den Listen gegeben werden – pro Person eine, zwei<br />

oder maximal drei (kumulieren). Dabei kann man auch Personen <strong>von</strong><br />

verschiedenen Listen wählen (panaschieren). <strong>Die</strong>ses komplizierte<br />

Wahlsystem folgt der Maxime, den Wählerwillen möglichst genau<br />

abzubilden. Auch das ist für Franzosen nur schwer zu verstehen.<br />

Wozu wir zwei verschiedene Wahlen brauchen, reicht den Franzosen eine<br />

Kommunalwahl (mit in der Regel zwei Wahlgängen). Es ist eine reine<br />

Listenwahl, jeder Wähler hat eine Stimme. Seit 2001 ist übrigens gesetzlich<br />

in Frankreich vorgeschrieben, dass die Listenplätze gleichgewichtig<br />

zwischen beiden Geschlechtern verteilt werden müssen. <strong>Die</strong> Wählerinnen<br />

und Wähler entscheiden über Rat und Bürgermeister gleichzeitig, weil die<br />

Person, die auf dem ersten Platz der Liste kandidiert hat, die die meisten<br />

Stimmen bekommen hat, dann im <strong>Stadt</strong>rat zum Bürgermeister gewählt


- 9 -<br />

wird. <strong>Die</strong> Liste mit den meisten Stimmen bekommt zunächst die Hälfte der<br />

Sitze im <strong>Stadt</strong>rat und dazu noch einmal den Anteil an der zweiten Hälfte,<br />

der ihrem Stimmanteil entspricht. Mit diesem Bonussystem wird eine<br />

andere Maxime verfolgt als in Deutschland: Eine stabile Mehrheit soll in<br />

den Rathäusern regieren können. Das Bonussystem und die strikte 50-<br />

Prozent-Geschlechter-Quote sind für Deutsche schwer verständlich.<br />

Was bedeutet das für das politische Selbstverständnis? Während unser<br />

System (Kurzformel: „Der Bürgermeister sucht seine Mehrheit“) eher zu<br />

einem kommunalpolitischen Mainstream führt, wird in Frankreich bei<br />

einem Regierungswechsel in einem Rathaus oft eine ganz andere Politik<br />

gemacht (Kurzformel: „Wir sind dazu gewählt, es anders zu machen als<br />

unsere Vorgänger“). Das haben wir erfahren (und anfangs gar nicht<br />

verstanden), als 2001 die <strong>Stadt</strong>regierung unter CATHERINE TRAUTMANN und<br />

ROLAND RIES durch das Tandem FABIENNE KELLER und ROBERT<br />

GROSSMANN abgelöst wurde, das als erstes die gemeinsame Gartenschau,<br />

weil ein Werk der Vorgängerregierung, in Frage stellte.<br />

Sie sehen – allein aus den unterschiedlichen kommunalen Wahlsystemen<br />

folgen unterschiedliche politische Normalitäten. <strong>Die</strong>se zu kennen ist<br />

nützlich, wenn man grenzüberschreitende kommunale Politik macht. Dabei<br />

geht es gar nicht darum, das eigene für das bessere System zu halten. <strong>Die</strong><br />

Unterschiede müssen als eine unabänderliche Voraussetzung der<br />

grenzüberschreitenden Politik verstanden werden.<br />

4 Beispiele grenzüberschreitender Zusammenarbeit zwischen<br />

Strasbourg und <strong>Kehl</strong><br />

4.1 Vorbemerkung<br />

Es gibt viele kommunale und überkommunale grenzüberschreitende<br />

Projekte zwischen Deutschland und Frankreich. <strong>Die</strong> großen Kreisstädte in<br />

der Ortenau haben gute Beziehungen und gemeinsame Projekte mit<br />

Strasbourg und dem Elsass. Ich nenne vor allem den Eurodistrikt. Es gibt<br />

darüber hinaus viele Einrichtungen, die <strong>von</strong> anderen Städten,<br />

Gebietskörperschaften und Institutionen getragen werden, die ihren Sitz in<br />

<strong>Kehl</strong> haben: Euro-Institut, Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz,<br />

INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg, Metropolregion, das Sekretariat des<br />

Eurodistrikts, das Sekretariat der deutsch-französisch-schweizerischen


- 10 -<br />

Oberrheinkonferenz, Trion, die grenzüberschreitende Arbeitsverwaltung).<br />

<strong>Die</strong> <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> betrachtet ihre Mitgliedschaft und die angemessene<br />

Unterbringung dieser Einrichtungen als einen wichtigen Teil ihrer<br />

grenzüberschreitenden Aktivitäten.<br />

4.2 Interreg-Förderung<br />

<strong>Die</strong> Europäische Union verfügt über den sogenannten Interreg-Fonds, aus<br />

dem grenzüberschreitende Projekte gefördert werden. <strong>Die</strong> <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> war<br />

in den letzten 20 Jahren bei vielen dieser Projekte dabei, zum Beispiel:<br />

• Luftreinhalteplan Strasbourg/Ortenau<br />

• Untersuchungen für ein deutsch-französisches Touristikbüro im<br />

Raum <strong>Kehl</strong>/Strasbourg<br />

• Gründung der grenzüberschreitenden Einrichtungen INFOBEST<br />

<strong>Kehl</strong>-Strasbourg, Euro-Institut und Euro-Info Verbraucher<br />

• Machbarkeitsstudie für die Tram über den Rhein<br />

• Altenarbeit <strong>Kehl</strong>/Strasbourg<br />

• Touristische Zusammenarbeit Unter-Elsass/Ortenau<br />

• Jugendkulturwerkstatt Zig-Zack<br />

• Garten der zwei Ufer<br />

• Planung der Passerelle des deux Rives<br />

• Bau der Passerelle<br />

• Einrichtung des Kompetenzzentrums für grenzüberschreitende<br />

Fragen<br />

• Vorprojektplanung für die grenzüberschreitende Tram<br />

• deutsch-französische, grenzüberschreitende Kinderkrippe<br />

• Städtebaulicher Wettbewerb für die beiden Zollhöfe<br />

• Bau der grenzüberschreitenden Tram<br />

Insgesamt wurden diese Projekte mit zusammen rund neun Millionen Euro<br />

aus dem Interreg-Fonds gefördert. Zwei <strong>von</strong> diesen Projekten möchte ich<br />

gerne herausgreifen als herausragende Beispiele für die Zusammenarbeit<br />

zwischen Strasbourg und <strong>Kehl</strong>:


- 11 -<br />

4.3 Zusammenarbeit zwischen Strasbourg und <strong>Kehl</strong>: Tram und<br />

Kinderkrippe<br />

<strong>Die</strong> Gemeinderäte der Städte Strasbourg und <strong>Kehl</strong> und der Rat der CUS<br />

haben in der Woche vor Weihnachten den Baubeschluss für die Tram<br />

gefasst. Dass dieses seit langem geplante „Zeitkunstwerk“ gelingen konnte,<br />

waren umfangreiche Synchronisierungsarbeiten zwischen deutschen und<br />

französischen Rechtsverfahren, politischen Entscheidungsmechanismen<br />

und Vertragsabschlüssen notwendig. Gleichzeitig mussten beide Seiten<br />

jeweils ihre eigenen Verfahren vorantreiben. Bei uns waren das vor allem<br />

die Förderung durch Land und Bund und die Planfeststellung durch das<br />

Regierungspräsidium.<br />

Wir haben bei Bund und Land zuverlässige Partner gefunden. Unser<br />

Projekt lief auf deutscher Seite deshalb mit so erstaunlicher<br />

Geschwindigkeit durch die Entscheidungswege, weil es ein Argument gab,<br />

das immer gezogen hat: <strong>Die</strong> Verlängerung der Tram über den Rhein ist ein<br />

grenzüberschreitendes Projekt und steht deshalb nicht in Konkurrenz zu<br />

anderen Projekten. <strong>Die</strong>ses Argument hat ganz besonders der<br />

Europaminister des Landes Baden-Württemberg, PETER FRIEDRICH, immer<br />

wieder ins Gespräch gebracht. Deshalb möchte ich mich ganz herzlich bei<br />

ihm bedanken – und ich möchte ein wenig das Bild vom blauen Strich und<br />

dem weißen Land am linken Rand Baden-Württembergs revidieren.<br />

Vielleicht sieht die Karte ja im nächsten Landesentwicklungsplan am<br />

linken Rand anders aus.<br />

Der Baubeginn für die Tram wird offiziell am 30.1.2014 mit dem ersten<br />

Spatenstich erfolgen. Das Projekt ist gut für <strong>Kehl</strong> und gut für die Ortenau –<br />

auch wegen des ergänzenden neuen Bussystems.<br />

Anfang April werden wir in Strasbourg die unmittelbar an der<br />

Europabrücke gelegene gemeinsame Kinderkrippe mit 60 Plätzen eröffnen<br />

können. Wir betreten mit dieser Einrichtung für 30 französische und 30<br />

deutsche Kinder deshalb Neuland, weil wir ein Betriebskonzept „erfunden“<br />

haben, das es so weder in Deutschland noch in Frankreich gibt. <strong>Die</strong>ses neue<br />

Konzept musste <strong>von</strong> den Aufsichtsbehörden auf beiden Seiten akzeptiert<br />

und genehmigt werden. Weil es eine deutsche Kinderkrippe im Ausland mit<br />

einem anderen Betriebskonzept aber in den deutschen Genehmigungsvorschriften<br />

gar nicht gibt, war viel Arbeit und Kreativität nötig, um eine<br />

Lösung zu finden. Besonderen Dank hierfür noch einmal an Minister<br />

PETER FRIEDRICH und an den KVJS, die deutsche Genehmigungsbehörde.


- 12 -<br />

5 Beispiel für ein Hindernis: Voies publiques und öffentliche<br />

Straßen<br />

Es gibt – ich sagte es schon – vielfältige Schwierigkeiten und Probleme, die<br />

in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auftauchen. Sie werden<br />

deshalb sichtbar, weil grenzüberschreitende Projekte nicht zu den<br />

Normalfällen gehören, die in den jeweiligen staatlichen Regelwerken<br />

geregelt sind. Und manchmal kommen ganz einfach sprachliche Probleme<br />

dazu, so wie bei der Tram:<br />

2009 begannen wir nach langem politischem Vorlauf mit den gemeinsamen<br />

Planungen zur Verlängerung der Strasbourger Tram über den Rhein nach<br />

<strong>Kehl</strong>. Wir dachten, dass die notwendige Brücke im Rahmen des Freiburger<br />

Abkommens abgewickelt werden könnte. Um sicherzugehen, fragten die<br />

französischen Kollegen beim französischen Außenministerium nach, wir<br />

beim Auswärtigen Amt.<br />

<strong>Die</strong> Franzosen erhielten ein klares Ja zur Antwort. Das Auswärtige Amt<br />

sagte ja – aber andere Bundesministerien müssten noch zustimmen. Wenige<br />

Wochen später erreichte uns dann ein Schreiben, dass das Freiburger<br />

Abkommen in seiner bestehenden Form nicht auf die Tram-Brücke<br />

angewendet werden könne. Der Grund: Der französische Text des<br />

Freiburger Abkommens spricht in Artikel 1 und auch im weiteren Text <strong>von</strong><br />

"voies publiques", während der deutsche Text <strong>von</strong> "öffentlichen Straßen"<br />

spricht. Nach französischem Verständnis ist eine Straßenbahnstrecke eine<br />

"voie publique", nach deutschem Verständnis aber keine "öffentliche<br />

Straße".<br />

<strong>Die</strong>ser Umstand führte zu einigem Schriftwechsel und schließlich zu einem<br />

Treffen in Berlin, an dem Vertreter des Auswärtigen Amts, des<br />

Ministeriums für Verkehr und Infrastruktur, des Bundesjustizministeriums,<br />

des Bundesinnenministeriums und der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> teilnahmen. Dabei wurde<br />

die Frage erörtert, ob – wegen der Trambrücke in <strong>Kehl</strong> – ein Nachtrag zum<br />

Freiburger Abkommen erarbeitet werden müsse (Dauer des Verfahrens:<br />

Minimum zwei Jahre) oder ob ein Notenwechsel (das heißt ein Austausch<br />

diplomatischer Briefe) ausreichend sein könne (Dauer: mehrere Monate).<br />

Glücklicherweise konnte man sich darauf verständigen, dass das Problem<br />

mit einem Notenwechsel beizulegen ist – dieser ist inzwischen erfolgt. Und<br />

das alles wegen einer sprachlichen Unschärfe!


- 13 -<br />

6 Zusammenfassende Betrachtungen<br />

6.1 Systematik der Zusammenarbeit – Feuerwehradapter als Sinnbild<br />

<strong>Die</strong> <strong>Kehl</strong>er und die Strasbourger Feuerwehr führen einen Schlauchadapter<br />

mit sich, mit dem das deutsche Bajonettsystem mit dem französischen<br />

Anschlusssystem verbunden werden kann. Damit wird ermöglicht, dass<br />

französische und deutsche Feuerwehren in Deutschland und in Frankreich<br />

gemeinsam löschen können. <strong>Die</strong>ser Schlauchadapter ist ein Sinnbild für<br />

eine Möglichkeit der Zusammenarbeit:<br />

Ein geeignetes Verbindungsstück erlaubt, die Systeme auf beiden Seiten so<br />

miteinander zu verbinden, dass es funktioniert. Ein Beispiel für die<br />

Schlauchadapter-Kooperation ist die Servicestelle für deutsch-französische<br />

Arbeitsvermittlung: <strong>Die</strong> Beschäftigten bleiben bei ihren nationalen<br />

Behörden angestellt, arbeiten sogar im eigenen EDV-System weiter und<br />

doch unter einem Dach zusammen. Gleiches gilt für das Gemeinsame<br />

Zentrum der Polizeien.<br />

Eine zweite Möglichkeit ist die Übernahme eines Systems für beide Seiten.<br />

Damit konnten wir schon so manches Mal die Vorteile für uns nutzen, die<br />

das jeweils andere System bietet: Städtebauliche oder landschaftsplanerische<br />

Wettbewerbe haben wir nach deutschem Recht ausgeschrieben,<br />

weil wir so unter den Preisträgern auswählen und Ideen <strong>von</strong> Wettbewerbsteilnehmern<br />

ankaufen können. Das französische Recht sieht die<br />

Beauftragung des ersten Preisträgers vor. Zwei andere Beispiele: Der Bau<br />

der Trambrücke: Wir nehmen das französische Recht, weil wir dadurch<br />

Kostensicherheit erlangen konnten. Oder die Substitutionspraxis in <strong>Kehl</strong>.<br />

Da haben wir ein französisches System nach Deutschland transferiert –<br />

übrigens mit erheblicher finanzieller Unterstützung des Eurodistrikts.<br />

<strong>Die</strong> dritte Möglichkeit ist etwas ganz Neues zu schaffen, was es auf beiden<br />

Seiten noch nicht gibt. Beispiel: <strong>Die</strong> Kinderkrippe mit einem eigenen<br />

bilingualen und vor allem mit einem pädagogischen Konzept, das deutsche<br />

und französische Elemente vereint. Das ist die spannendste, gleichzeitig<br />

aber auch die schwierigste Form der grenzüberschreitenden<br />

Zusammenarbeit, weil weder zu 100 Prozent deutsches, noch zu 100<br />

Prozent französisches Recht angewendet werden kann. <strong>Die</strong>s den<br />

Genehmigungsbehörden und Zuschussgebern (die oft weit weg sind <strong>von</strong><br />

der Grenze und dem grenzüberschreitendem Alltag) zu vermitteln, ist keine<br />

leichte Aufgabe.


- 14 -<br />

6.2 Zwei gut organisierte Staaten auf beiden Seiten des Rheins<br />

Auf beiden Seiten des Rheins gibt es einen hoch zivilisierten Staat mit<br />

differenzierten Regelwerken. Beide Staaten ermöglichen ihren Bürgerinnen<br />

und Bürgern ein durchaus zivilisiertes Leben – nur eben anders als auf der<br />

jeweils anderen Seite. <strong>Die</strong>ser selbstverständliche Tatbestand hat eine<br />

wichtige und leicht übersehene Auswirkung auf die grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit. Da es ja auf beiden Seiten für sich jetzt schon ganz gut<br />

funktioniert, muss aus der Zusammenarbeit ein Mehrwert für beide Seiten<br />

herauskommen – und zwar: für die Bürgerinnen und Bürger. Das ist keine<br />

ganz einfache Bedingung für die Politik, weil auch hier anders nicht<br />

automatisch besser bedeutet. Es muss wie gesagt, durch die Zusammenarbeit<br />

für beide Seiten besser sein als es vorher war. Vorhaben wie:<br />

Öffentlicher Nahverkehr mit einheitlichem Tarifsystem, Garten der zwei<br />

Ufer, Kinderkrippe, Kooperation im Umweltbereich (zum Beispiel die<br />

Geruchscharta) schaffen diesen Mehrwert.<br />

6.3 <strong>Kehl</strong> ist nicht der Nabel Deutschlands – Strasbourg ist nicht der Nabel<br />

Frankreichs<br />

Ein letzter Gedanke zu den Staaten und den Grenzregionen: Unsere<br />

grenzüberschreitende Perspektive ist nicht die Perspektive der nationalen<br />

Regierungen. Was in beiden Staaten jeweils gut begründet sein kann, kann<br />

an der Grenze zu Schwierigkeiten führen. Beispiel: Geldspielgeräte. In<br />

Frankreich ist ihre Verfügbarkeit auf Casinos beschränkt, in Deutschland<br />

können sie in Spielhallen und Gaststätten aufgestellt sein. Deshalb entsteht<br />

an der Grenze ein Problem, weil in den deutschen Grenzstädten viele<br />

Geräte aufgestellt werden, die sich an französische Spieler richten – und da<br />

die Grenze offen ist, kommen die auch.<br />

Aus solchen Problemen die Folgerung abzuleiten, dass sich die Staaten<br />

nach den Erfordernissen der Grenzregionen richten müssen, hilft nicht<br />

wirklich weiter: <strong>Die</strong> Mehrheit der Menschen wohnt nämlich innerhalb der<br />

Staaten und nicht an der Grenze. Das führt dazu, dass trotz bester<br />

grenzüberschreitender Kontakte keine Abhilfe möglich ist, weil die<br />

Kompetenz für die Lösung nicht in der Peripherie, sondern in Stuttgart, in<br />

Berlin, in Paris liegt. Wir können vor Ort nur wenig mehr tun, als auf das<br />

Problem hinzuweisen und auf den steten Tropfen zu hoffen, der den Stein<br />

höhlt.


- 15 -<br />

Spezialregelungen für Grenzregionen sind übrigens auch unter<br />

systemischem Blickwinkel problematisch, da Europa ja den Anspruch hat,<br />

gemeinsam zu regeln, was gemeinsam geregelt werden kann. <strong>Die</strong><br />

Forderung nach Spezialregeln in Grenzregionen führt leicht in die<br />

staatliche und in die europäische Sackgasse, weil partikulare Regelungen<br />

im Widerspruch zum europäischen Anspruch stehen.<br />

Daraus folgt: <strong>Die</strong> Staaten haben vor allem dann Interesse an der<br />

Unterstützung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, wenn sie im<br />

europäischen Sinne ist. Wir können daraus für unsere Region folgern: <strong>Kehl</strong><br />

ist nicht der Nabel Deutschlands, Strasbourg ist trotz seiner Größe nicht der<br />

Nabel Frankreichs. Unsere Chance ist Strasbourg als – wenn das denn<br />

anatomisch möglich ist: ein – Nabel Europas.<br />

7 Schluss<br />

7.1 Grenzüberschreitende Politik ist eine Querschnittsaufgabe<br />

Ich komme zum Schluss: <strong>Die</strong> grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist<br />

vielfältig und sie ist schwieriger, aber auch spannender als die<br />

Zusammenarbeit auf nationaler Ebene. Nur kurz erwähnen möchte ich das<br />

Prinzip der freiwilligen Einstimmigkeit. Es geht zwischen Strasbourg und<br />

<strong>Kehl</strong> nur, wenn beide Seiten wollen. Für Projekte mit weiteren Beteiligten<br />

gilt das ebenfalls: Alle müssen mitmachen. In der Zusammenarbeit<br />

zwischen Strasbourg und <strong>Kehl</strong> haben wir gelernt, dass erfolgreiche grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit Voraussetzungen hat. Gefordert sind:<br />

• Respekt vor der Kultur der anderen Seite.<br />

• Vertrauen in den Willen, die Ernsthaftigkeit und die Aufrichtigkeit<br />

der anderen Seite – auch und gerade dann, wenn man auf dem Wege<br />

zum gemeinsamen Projekt nicht jeden Schritt versteht.<br />

• offene und umfassende Kommunikation, gerade dann, wenn es<br />

schwierig wird.<br />

• Festigkeit in den Zielen, viel Geduld und Pragmatismus in der Verwirklichung.<br />

Geht es nicht so, dann geht es anders. Aber oft geht es.<br />

• Realistische Einordnung rechtlicher Bedenken, die jedes Vorhaben


- 16 -<br />

verhindern können. Ich erinnere an das Bild <strong>von</strong> Roland Ries, der<br />

einst sagte, man müsse die Juristen schütteln wie Kokospalmen bis<br />

die Kokosnüsse in Form juristischer Lösungen herunterfallen.<br />

• Und – das hat mit dem vorigen zu tun: Gefordert ist Findigkeit, um<br />

die manchmal verborgenen Wege zu finden, die zum Erfolg führen.<br />

Es ist ein schönes Gefühl, wenn dann aus einer Idee ein Projekt und dann<br />

etwas wird, was im Leben der Bürgerinnen und Bürger einen Platz findet.<br />

7.2 Zusammenarbeit als Voraussetzung für Freundschaft<br />

Ich habe manche Schwierigkeit in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />

erwähnt. Trotz alledem sind unsere Sorgen heute im Vergleich mit<br />

den Leistungen derer, die die Wege für die Zusammenarbeit frei gemacht<br />

haben und die vor 50 Jahren den Elysee-Vertrag geschlossen haben, kleine<br />

Sorgen. Wir arbeiten trotz mancher Widrigkeit auf gesicherter Grundlage.<br />

Wir können unsere Dankbarkeit gegenüber unseren Vorgängern in der<br />

großen Politik am besten dadurch zum Ausdruck bringen, dass wir unseren<br />

grenzüberschreitenden Arbeitsalltag mit Aufmerksamkeit, mit Sorgfalt, mit<br />

Empathie, mit Einfallsreichtum, mit Offenheit und mit Respekt gestalten.<br />

Dann – und das ist die Sache vom Kopf auf die Füße gestellt – kommt die<br />

Freundschaft <strong>von</strong> ganz allein: Nicht die Freundschaft führt zur<br />

Zusammenarbeit, sondern die Zusammenarbeit führt zur Freundschaft.<br />

So gesehen lebe die deutsch-französische Freundschaft! Vive l’amitié<br />

franco-allemande!


- 17 -<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einleitung ..................................................................................................................... 1<br />

1.1 Neujahrsgruß und Einführung .............................................................................. 1<br />

1.2 Jahresschrift .......................................................................................................... 1<br />

1.3 Dank ...................................................................................................................... 2<br />

2 <strong>Kehl</strong> und Strasbourg in Europa..................................................................................... 3<br />

2.1 In gewisser Weise.................................................................................................. 3<br />

2.2 Geographische Lage der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> ..................................................................... 3<br />

2.3 Anfänge der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit .......................................... 5<br />

2.4 <strong>Kehl</strong>er Formel – Teil 1 .......................................................................................... 5<br />

2.5 <strong>Die</strong> Grenze und der Friede in Europa – <strong>Kehl</strong>er Formel Teil 2 .............................. 5<br />

3 Zusammenarbeit ........................................................................................................... 6<br />

3.1 Gschicht'le zu kulturellen Unterschieden ............................................................. 7<br />

3.2 Kulturelle Unterschiede in der Praxis: Kommunalpolitische Systeme ................. 7<br />

4 Beispiele grenzüberschreitender Zusammenarbeit zwischen Strasbourg und <strong>Kehl</strong> ..... 9<br />

4.1 Vorbemerkung ....................................................................................................... 9<br />

4.2 Interreg-Förderung .............................................................................................. 10<br />

4.3 Zusammenarbeit zwischen Strasbourg und <strong>Kehl</strong>: Tram und Kinderkrippe ........ 11<br />

5 Beispiel für ein Hindernis: Voies publiques und öffentliche Straßen ......................... 12<br />

6 Zusammenfassende Betrachtungen ........................................................................... 13<br />

6.1 Systematik der Zusammenarbeit – Feuerwehradapter als Sinnbild .................... 13<br />

6.2 Zwei gut organisierte Staaten auf beiden Seiten des Rheins .............................. 14<br />

6.3 <strong>Kehl</strong> ist nicht der Nabel Deutschlands – Strasbourg ist nicht der Nabel<br />

Frankreichs .................................................................................................................. 14<br />

7 Schluss ........................................................................................................................ 15<br />

7.1 Grenzüberschreitende Politik ist eine Querschnittsaufgabe ............................... 15<br />

7.2 Zusammenarbeit als Voraussetzung für Freundschaft ........................................ 16

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