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Das Sonderthema - Stadt Kehl

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J a h r e s s c h r i f t 2 0 1 3


GRENZÜBERSCHREITENDE ZUSAMMENARBEIT:<br />

Der gemeinsame Protest von <strong>Kehl</strong>ern<br />

und Straßburgern gegen die<br />

vom Land Baden-Württemberg<br />

geplante Sondermüllverbrennungsanlage<br />

im <strong>Kehl</strong>er Hafen<br />

legte die Grundlage für die grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit.<br />

Von der Information über Konsultation zur Kooperation<br />

Als sich 1987 in <strong>Kehl</strong> der Widerstand gegen die von der<br />

Landesregierung geplante Sondermüllverbrennungsanlage<br />

im <strong>Kehl</strong>er Hafen formierte und sich den Demonstrationen<br />

auch Bürgerinnen und Bürger aus Straßburg anschlossen,<br />

ahnte wohl kaum jemand, dass der gemeinsame Protest die<br />

Grundlage für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit<br />

zwischen den beiden Städten legen würde. Doch die Erfahrung,<br />

den Sondermüllofen gemeinsam verhindert zu haben,<br />

beflügelte Vereine und Institutionen ebenso wie die <strong>Stadt</strong>regierungen<br />

auf beiden Rheinseiten: Wenn man gemeinsam<br />

etwas verhindern konnte, musste man doch auch gemeinsam<br />

etwas realisieren können.<br />

<strong>Das</strong> konzertierte Engagement gegen die Sondermüllverbrennung,<br />

das bis in die Straßburger <strong>Stadt</strong>spitze hineinreichte<br />

und auch die damalige Oberbürgermeisterin und<br />

heutige Europaabgeordnete Catherine Trautmann mobilisierte,<br />

war umso erstaunlicher, weil noch ein Jahr zuvor so getan wurde, als respektierten<br />

Schadstoffe in der Luft die französische Staatsgrenze. Während nämlich in Folge der Kernschmelze<br />

im Reaktorblock 4 im russischen Tschernobyl der Salat auf der deutschen Rheinseite<br />

untergepflügt wurde, konnte dieser jenseits des Rheins offenbar bedenkenlos verzehrt werden.<br />

Die Anfänge der grenzüberschreitenden Kooperation<br />

1982 Empfehlung zur gegenseitigen<br />

Unterrichtung über neue Projekte<br />

im Zuständigkeitsbereich der<br />

Deutsch-Französisch-Schweizerischen<br />

Regierungskommission für<br />

nachbarschaftliche Fragen<br />

1984 Empfehlung der gegenseitigen<br />

Unterrichtung über Planungsund<br />

Umweltschutzmaßnahmen<br />

im Zuständigkeitsbereich der<br />

Deutsch-Französisch-Schweizerischen<br />

Regierungskommission für<br />

nachbarschaftliche Fragen<br />

1996 Empfehlung der Deutsch-<br />

Französisch-Schweizerischen<br />

Regierungskommission über die<br />

Zusammenarbeit bei umweltrelevanten<br />

Vorhaben am Oberrhein<br />

2005 Leitfaden zur grenzüberschreitenden<br />

Behörden- und Öffentlichkeitsbeteiligung<br />

bei umweltrelevanten<br />

Vorhaben am Oberrhein<br />

Fragt man heute Akteure der grenzübergreifenden<br />

Kooperation nach den Ursprüngen,<br />

so wird immer wieder die Zeit Ende der<br />

1980er-Jahre genannt: Die Bürgerinitiative<br />

Umweltschutz knüpfte damals die ersten<br />

Kontakte über den Rhein, die Kirchen ebenso,<br />

die beiden Kirchen gründeten sogar eine<br />

grenzüberschreitende ökumenische Umwelt-<br />

Arbeitsgruppe. Die Städte <strong>Kehl</strong> und Straßburg<br />

feierten 1987 und 1988 ihre ersten gemeinsamen<br />

Rheinfeste – für die Festbesucher war es<br />

die Sensation, sich von den französischen Pionieren<br />

mit Landungsbooten an ungewohnter<br />

Stelle und ganz ohne Ausweiskontrollen<br />

ans andere Rheinufer übersetzen zu lassen.<br />

An einen gemeinsamen Park oder gar eine<br />

Fußgänger- und Radfahrerbrücke über den<br />

Grenzfluss dachte damals noch niemand.<br />

Am Vorabend des Rheinfestes 1988 trafen die<br />

Gemeinderäte von <strong>Kehl</strong> und Straßburg zusammen<br />

und ließen sich von der Straßburger<br />

<strong>Stadt</strong>verwaltung vor allem über Umweltthe-<br />

>><br />

75


76<br />

>><br />

men informieren. Die <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg war damals dabei, die Hausmüllverbrennungsanlage<br />

mit einer Rauchgaswaschanlage auszustatten; die Kläranlage für die Großstadt,<br />

welche die Einleitung der Schmutzwasserfracht in den Rhein von 80 auf vier Prozent reduzieren<br />

sollte, stand kurz vor der Inbetriebnahme. Die Information der <strong>Kehl</strong>er Räte geschah auf freiwilliger<br />

Basis – eine förmliche Beteiligung der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> war damals nicht vorgesehen.<br />

Die Zusammenarbeit im Bereich Umweltschutz<br />

Nachdem der Kampf gegen die Sondermüllverbrennung das Thema Luftverschmutzung in<br />

den Vordergrund gerückt hatte – <strong>Kehl</strong> galt damals als die <strong>Stadt</strong> mit der am stärksten belasteten<br />

Luft in Baden-Württemberg – begann die Zusammenarbeit der Städte Straßburg und <strong>Kehl</strong><br />

1990 folgerichtig in einer Arbeitsgruppe für Umwelt. Erstes großes gemeinsames Projekt war<br />

der Luftreinhalteplan Straßburg-Ortenau, der von der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> und der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft<br />

Straßburg (CUS) initiiert und vorbereitet wurde. Im April 1993 unterzeichneten das französische<br />

Umweltministerium, das Umweltministerium des Landes Baden-Württemberg, die <strong>Stadt</strong>gemeinschaft<br />

Straßburg, der Ortenaukreis, die <strong>Stadt</strong> Offenburg und die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> den Vertrag<br />

über die Erstellung des Luftreinhalteplanes. <strong>Das</strong> 800 000 Mark teure Projekt wurde zur Hälfte<br />

von der Europäischen Union mit Mitteln aus dem ersten Interreg-Programm kofinanziert. Für<br />

die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> und die CUS war es das erste Interreg-Projekt – am Oberrhein gehörte der<br />

Luftreinhalteplan zu den ersten grenzüberschreitenden Projekten überhaupt.<br />

<strong>Das</strong>s dieses grenzübergreifende Vorhaben zur damaligen Zeit außerordentlich war, zeigte sich<br />

auch darin, dass der ehemalige <strong>Kehl</strong>er Beigeordnete Jörg Armbruster den Luftreinhalteplan<br />

zusammen mit dem heutigen Präsidenten<br />

des elsässischen Regionalrates Philippe Richert<br />

(er war damals Präsident der elsässischen<br />

Luftreinhalteorganisation ASPA) im<br />

französischen Parlament in Paris vorstellen<br />

durfte. Ziel des Luftreinhalteplanes, der<br />

1995 vorgelegt wurde, war es nicht nur, flächendeckend<br />

Immissionserhebungen für die<br />

hauptsächlichen Luftschadstoffe vorzunehmen,<br />

sondern auch Maßnahmen zu entwickeln,<br />

welche die Luftqualität verbessern<br />

sollten. Nachdem der Straßenverkehr als ein<br />

wesentliches Problem identifiziert worden<br />

war, vereinbarte man, Straßenbauvorhaben<br />

genau auf ihre Auswirkungen auf die Luftbelastung<br />

zu prüfen (die heutige Pflimlin-<br />

Brücke war damals ein kontrovers diskutiertes<br />

Projekt), alle Möglichkeiten zu nutzen,<br />

um den öffentlichen Nahverkehr zu fördern<br />

und Bürgerinnen und Bürger für die durchs<br />

Autofahren verursachten Probleme zu sensibilisieren<br />

(Jobticket, Fahrgemeinschaften,<br />

mehr Wege mit dem Rad zurücklegen).<br />

Großes Thema in der Umwelt-Arbeitsgruppe<br />

der Städte Straßburg und <strong>Kehl</strong> war auch die<br />

Geruchsbelästigung in <strong>Kehl</strong>, die immer wieder<br />

von Industriebetrieben im Straßburger<br />

Südhafen ausgelöst wurde. Zwar waren die<br />

An diesen durch den Interreg-Fonds der<br />

Europäischen Union mit mehr als neun<br />

Millionen Euro geförderten Projekten war<br />

die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> in den vergangenen 20 Jahren<br />

beteiligt:<br />

· Luftreinhalteplan Straßburg/Ortenau<br />

· Untersuchungen für ein deutschfranzösisches<br />

Touristikbüro im Raum<br />

<strong>Kehl</strong>/Straßburg<br />

· Gründung der grenzüberschreitenden<br />

Einrichtungen INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg,<br />

Euro-Institut und Euro-Info<br />

Verbraucher<br />

· Machbarkeitsstudie für die Tram über<br />

den Rhein<br />

· Altenarbeit <strong>Kehl</strong>/Straßburg<br />

· Touristische Zusammenarbeit Unter-<br />

Elsass/Ortenau<br />

· Jugendkulturwerkstatt Zig-Zack<br />

· Garten der zwei Ufer<br />

· Planung der Passerelle des deux Rives<br />

· Bau der Passerelle<br />

· Einrichtung des Kompetenzzentrums<br />

für grenzüberschreitende Fragen<br />

· Vorprojektplanung für die grenzüberschreitende<br />

Tram<br />

· deutsch-französische, grenzüberschreitende<br />

Kinderkrippe<br />

· Städtebaulicher Wettbewerb für die<br />

beiden Zollhöfe<br />

· Bau der grenzüberschreitenden Tram<br />

Anstoßen auf gelungene<br />

Zusammenarbeit: Mit Robert<br />

Grossmann als Präsidenten der<br />

<strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg<br />

war die Kooperation mit <strong>Kehl</strong><br />

zunächst ins Stocken geraten.


Ein eingespieltes grenzüberschreitendes<br />

Team: die Oberbürgermeister<br />

Günther Petry und<br />

Roland Ries.<br />

in die Luft entlassenen Stoffe nicht giftig, der Geruch war aber so unangenehm und stark,<br />

dass er bei manchen Menschen Würgereiz auslöste. <strong>Das</strong> Trocknen von Wäsche im Freien war<br />

an solchen Tagen nicht zu empfehlen.<br />

Damit die Verursacher des Gestanks identifiziert werden konnten, wurden die <strong>Kehl</strong>erinnen<br />

und <strong>Kehl</strong>er aufgefordert, sich als Schnüffler zu betätigen, üble Gerüche möglichst rasch bei<br />

der Feuer wehr zu melden und so genau wie möglich zu beschreiben. Die Straßburger schlossen<br />

sich der Aktion an, forderten ihre Bürgerinnen und Bürger ebenfalls auf, die Nasen in den<br />

Wind zu halten und richteten ein Geruchstelefon ein. Die Angaben von beiden Rheinseiten<br />

deckten oder ergänzten sich – je nach Windrichtung – und so konnten die Hauptverursacher<br />

der üblen Gerüche ausgemacht werden. Unter Beteiligung des SPPPI (Secrétariat Permanent<br />

pour la Prévention de la Pollution Industrielle = Sekretariat zur Vermeidung von Umweltverschmutzung<br />

durch die Industrie) konnten die Städte mit Firmen auf beiden Rheinseiten eine<br />

sogenannte Geruchscharta aushandeln. Die Unternehmen verpflichteten sich darin, die Geruchsquellen<br />

zu minimieren und in dem Fall, dass doch übelriechende Luft entweicht, die Störung<br />

unverzüglich zu beseitigen. Die Geruchscharta, aber auch die Einstellung der Zellulose-<br />

Produktion beim Straßburger Papierhersteller Stracel sowie die Umstellung der Produktion in<br />

der hefeverarbeitenden Industrie im Straßburger Südhafen haben zu einer deutlichen Verbesserung<br />

der Situation geführt.<br />

Die Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe Umwelt hat zwischen <strong>Kehl</strong> und Straßburg immer<br />

funktioniert – unabhängig davon, welcher politischen Partei die Oberbürgermeister und ihre<br />

Beigeordneten jeweils angehörten. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit funktioniert dann<br />

am besten, wenn die Partner durch ein grenzübergreifendes Projekt ein gemeinsames Problem<br />

lösen können.<br />

Der Bau der Passerelle des deux<br />

Rives und des Gartens der zwei<br />

Ufer legten den Grundstein für den<br />

Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau.<br />

Vom Garten der zwei Ufer zum Eurodistrikt<br />

Eine nie gekannte Intensität hat die Zusammenarbeit zwischen <strong>Kehl</strong> und Straßburg mit dem<br />

Beginn der Planungen für den Garten der zwei Ufer und der Passerelle angenommen. Die Verwaltungen<br />

arbeiteten gemeinsam die europaweit ausgelobten Wettbewerbe für Garten und<br />

Brücke aus, die gewählten Vertreter wählten in tagelangen gemeinsamen Jurysitzungen die<br />

Wettbewerbssieger aus und brachten damit die größten grenzüberschreitenden Projekte in<br />

der gesamten Oberrhein-Region auf den Weg. Zwar wurde in der schwierigen Zeit nach dem<br />

Amtsantritt des konservativen Tandems Robert Grossmann/Fabienne Keller auch der Garten<br />

der zwei Ufer infrage gestellt und zunächst auf Eis gelegt. Doch ungeachtet all dieser Schwierigkeiten,<br />

welche der Wechsel von einer sozialistischen zu einer konservativen <strong>Stadt</strong>regierung<br />

im Frühjahr 2001 mit sich brachte, ist heute klar, dass das erfolgreiche Ringen um den Garten<br />

der zwei Ufer, die Passerelle und die gemeinsam gefeierte Gartenschau die Basis für den<br />

Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau bereitet hat.<br />

Am 22. Januar 2003, am 40. Jahrestag der<br />

Unterzeichnung des Elysée-Vertrags, riefen<br />

Bundeskanzler Gerhard Schröder und der<br />

französische Staatspräsident Jacques Chirac<br />

zur Gründung eines Eurodistriktes Strasbourg-<strong>Kehl</strong><br />

auf – ohne dass die Oberbürgermeister<br />

oder die Gemeinderäte der beiden<br />

Städte davon etwas wussten. Sie erfuhren<br />

erst durch nachfragende Journalisten von<br />

diesen Plänen.<br />

So unscharf die Konturen dieses neuen Gebildes<br />

waren, das da gegründet werden soll-<br />

77<br />

>>


78<br />

>><br />

te, so schwierig und holprig gestaltete sich der Weg hin zum Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau.<br />

Gleichzeitig mit der Eröffnung der grenzüberschreitenden Gartenschau am 23. April 2004<br />

sollte der Gründungsakt mit deutscher und französischer Politprominenz gefeiert werden.<br />

Doch daraus wurde nichts: Während die deutschen und französischen Partner gelernt hatten,<br />

konkrete Projekte gemeinsam zu realisieren, stritt man sich bei dieser neuen Einrichtung,<br />

deren Aufgaben und Kompetenzen nicht klar zu definieren waren, über Formalitäten: In welchem<br />

Land sollte der Eurodistrikt seinen Sitz und wo sein Sekretariat haben?<br />

Weil diese Fragen unlösbar schienen, unterzeichneten der Landrat und die Oberbürgermeister<br />

der fünf großen Kreisstädte für die deutsche Seite, die Oberbürgermeisterin der <strong>Stadt</strong><br />

Straßburg und der Präsident der Straßburger <strong>Stadt</strong>gemeinschaft für die französische Seite<br />

am 17. Oktober 2005 eine Vereinbarung, in der man sich auf den kleinsten gemeinsamen<br />

Nenner geeinigt hatte: Der Eurodistrikt wurde von einem deutsch-französischen Sprecher-<br />

Duo geleitet und von zwei Sekretariaten – einem beim Landratsamt in Offenburg und einem<br />

bei der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg – verwaltet. Wenn auch in dieser Zeit nicht allzu viele<br />

grenzüberschreitende Projekte umgesetzt werden konnten, angestoßen und durch die Akteure<br />

vermittelt wurden dennoch einige Kooperationen, die bis heute bestehen. Vor allem aber<br />

erreichte der Eurodistrikt eines: dass die Kontakte unter den Verwaltungsmitarbeitern durch<br />

eine vergrößerte Themenpalette auf eine viel breitere Ebene ausgedehnt wurden.<br />

Mit der Gründung eines Europäischen Verbundes für Territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) am<br />

4. Februar 2010 hat der Eurodistrikt nicht nur ein Sekretariat im <strong>Kehl</strong>er Torbogengebäude<br />

mit einer Generalsekretärin und vier hauptamtlichen Mitarbeitern bekommen, sondern auch<br />

eine Art grenzüberschreitendes Parlament: Der nach französischem Recht verfasste Zweckverband<br />

ermöglicht es den 24 deutschen und 24 französischen Mitgliedern des Eurodistriktrates,<br />

Mehrheitsentscheidungen zu fällen und – im Prinzip – politische Allianzen über die<br />

Landesgrenze hinweg zu bilden. Was in der Theorie verlockend erscheint, findet in der Realität<br />

allerdings kaum statt – aufgrund der kulturellen Unterschiede. Weil in Frankreich das Mehrheitswahlrecht<br />

sowohl im Gemeinderat der <strong>Stadt</strong> Straßburg als auch im Rat der CUS für stabile<br />

Mehrheiten sorgt, sind es die französischen Mitglieder im Eurodistriktrat gewöhnt, ihrem<br />

Oberbürgermeister oder Präsidenten zu folgen und nichts zu sagen, sofern sie der Mehrheit<br />

angehören. Nur von französischen Oppositionspolitikern werden abweichende Meinungen<br />

geäußert. Darüber hinaus zeigt die Zusammenarbeit im Eurodistrikt, dass die Schwierigkeiten<br />

in der Kooperation mit der Zahl der Partner und der Größe des Gebietes wachsen, weil bisweilen<br />

widerstreitende Interessen auf einen Nenner zu bringen sind.<br />

Die Werkzeuge der grenzüberschreitenden Kooperation<br />

Die Städte <strong>Kehl</strong> und Straßburg haben sich in mehr als 20 Jahre währender grenzüberschreitender<br />

Zusammenarbeit nicht damit aufgehalten, die unterschiedlichen Rechts- und Verwaltungssysteme<br />

zu beklagen, sondern früh<br />

erkannt, dass man sich die Verschiedenheit<br />

der Systeme auch zunutze machen kann.<br />

So hat es sich inzwischen eingespielt, dass<br />

städtebauliche Wettbewerbe – wie der für<br />

den Garten der zwei Ufer oder für die beiden<br />

Zollhöfe – nach deutschem Recht ausgeschrieben<br />

werden. Nach französischem<br />

Wettbewerbsrecht müsste man den Siegerentwurf<br />

umsetzen, nach deutschem Recht<br />

kann man aus den Preisträgerentwürfen<br />

auswählen – auch Kombinationen sind<br />

Die deutsch-französische<br />

Kinderkrippe stellt die komplizierteste<br />

Form grenzüberschreitender<br />

Zusammenarbeit dar:<br />

Elemente aus dem französischen<br />

und dem deutschen System<br />

werden zu einer ganz neuen<br />

Einrichtung vereint.


Der baden-württembergische<br />

Europaminister Peter Friedrich<br />

(Mitte) hält beim Rheinfest 2013<br />

die Festrede zum 50. Jahrestag<br />

der Unterzeichnung des Elysée-<br />

Vertrags. Mit hohem Engagement<br />

setzt er sich dafür ein, dass<br />

die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> die Zuschüsse<br />

sowohl für den Bau der Tram als<br />

auch der deutsch-französischen<br />

Kinderkrippe erhält.<br />

möglich. Die Rheinbrücke für die Tram wurde dagegen nach französischem Recht ausgeschrieben,<br />

weil dieses die Möglichkeit bot, die Kosten zu deckeln und das Kostenrisiko auf den<br />

Auftragnehmer zu verlagern.<br />

Schon bevor es das Karlsruher Übereinkommen gab, schlossen die beiden Städte einfache<br />

Verwaltungsvereinbarungen, die regeln, dass die Buslinie 21 der Straßburger Verkehrsbetriebe<br />

(CTS) die Verbindung zwischen der <strong>Kehl</strong>er <strong>Stadt</strong>halle und der heutigen Endhaltestelle der<br />

Tram herstellt und wie das Defizit zwischen Straßburg und <strong>Kehl</strong> aufgeteilt wird. In einem<br />

ebensolchen Vertrag ist festgelegt, dass die Kosten für die zweisprachigen Animateure in den<br />

<strong>Kehl</strong>er Freibädern (die Konflikte unter Jugendlichen möglichst im Vorfeld verhindern oder aber<br />

schlichten sollen) hälftig geteilt werden.<br />

<strong>Das</strong> Karlsruher Übereinkommen aus dem Jahr 1996 hat es den beiden Städten ermöglicht, die<br />

Kooperationsvereinbarungen zur Vorprojektplanung für die Tram, für den Bau der Tram oder<br />

für den Bau und den Betrieb der deutsch-französischen, grenzüberschreitenden Kinderkrippe<br />

zu schließen. Was sich einfach anhört, erweist sich in der Praxis dennoch als recht kompliziert:<br />

Bei der Erarbeitung der Verträge im Zusammenhang mit der Verlängerung der Straßburger<br />

Tramlinie D nach <strong>Kehl</strong> saßen bisweilen sieben Juristen gleichzeitig am Tisch – die meisten mit<br />

deutsch-französischer Zulassung.<br />

Während das Ziel – der Bau eines gemeinsamen Parks, einer Brücke, einer Tramlinie, einer Kinderkrippe<br />

– auf beiden Seiten identisch ist, ist die Herangehensweise eine andere: Nach mehr<br />

als 20 Jahren grenzüberschreitender Zusammenarbeit verfestigt sich der Eindruck, dass die<br />

französischen Partner eher nach einer konkreten Ermächtigung für ihr Handeln suchen, während<br />

die deutsche Seite sich für ermächtigt hält, sofern kein ausdrückliches Verbot besteht.<br />

Die interkulturellen Unterschiede<br />

Während die Akteure in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit über viele Jahre hinweg<br />

überzeugt waren, es reiche aus, das Rechts- und Verwaltungssystem des Partners auf<br />

der anderen Rheinseite zu kennen, und zu überspielen versuchten, dass man eigentlich auf<br />

verschiedene Weise dachte, werden die interkulturellen Unterschiede seit fünf, sechs Jahren<br />

bewusst thematisiert. Die entsprechenden Seminare des Euro-Instituts haben sich zum<br />

Renner entwickelt und wer über eine Kooperation nachdenkt – sei es die Arbeitsverwaltung<br />

oder die Polizei – lässt sich zunächst in Bikulturalität schulen. Doch trotz allem Wissen, das<br />

sich ansammeln lässt, ist die Qualität der Kooperation in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />

– viel stärker als in anderen Bereichen – von den handelnden Personen abhängig.<br />

Wenn der Wille vorhanden ist, wenn man bereit ist, die Geduld und Energie aufzubringen,<br />

auch schier unüberwindlich scheinende Schwierigkeiten anzugehen, können auch komplizierte<br />

grenzüberschreitende Projekte gelingen.<br />

Die Grenzen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />

Die Grenzen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Straßburg und <strong>Kehl</strong> sowie<br />

im Eurodistrikt zeigen sich ausgerechnet in den Bereichen, die das Gerechtigkeitsempfinden<br />

der Bürgerinnen und Bürger verletzen oder stetige Ärgernisse mit sich bringen: Wenn<br />

Fahrer von Autos mit französischem Kennzeichen auf der deutschen Rheinseite zu schnell<br />

fahren, verhindert ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich, dass sie<br />

Bußgelder unter 70 Euro bezahlen müssen. <strong>Das</strong> Gleiche gilt für deutsche Autofahrer auf der<br />

französischen Rheinseite. In der Praxis führt dies dazu, dass bis zu 60 Prozent der von den<br />

stationären Anlagen geblitzten Autofahrer in den Ortsdurchfahrten Marlen und Goldscheuer<br />

ungeschoren davonkommen. Gerade mal etwas mehr als ein Drittel der Halter von französischen<br />

Fahrzeugen bezahlt die Strafzettel fürs Falschparken – ein Kumulieren der Mandate,<br />

79<br />

>>


80<br />

bis die Summe von 70 Euro überschritten ist, ist nicht zulässig. Also<br />

bleibt der <strong>Stadt</strong> nur, diejenigen Falschparker abzuschleppen, die ihre<br />

Autos in Brandschutzzonen abstellen oder so parken, dass sie den<br />

Verkehr behindern oder gefährden.<br />

<strong>Das</strong>s es in <strong>Kehl</strong> – auf die Einwohnerzahl bezogen – so viele Geldspielgeräte<br />

gibt wie nirgendwo sonst in Deutschland, ist ebenfalls<br />

der Nachbarschaft zu einer französischen Großstadt geschuldet.<br />

Weil in Frankreich Geldspielautomaten nur in Casinos erlaubt sind,<br />

ist der überwiegende Teil der Spieler in den <strong>Kehl</strong>er Spielhallen und<br />

Automaten-Bistros französischer Nationalität. Automatenaufsteller<br />

und Bistro-Betreiber haben schnell erkannt, dass hier gute Geschäfte<br />

zu machen sind. Der <strong>Kehl</strong>er Gemeinderat hat Resolutionen verfasst,<br />

Oberbürgermeister Günther Petry hat ungezählte Briefe geschrieben,<br />

der Vorstand des Eurodistrikts hat diskutiert, aber es zeigt sich: Diese<br />

Alltagsprobleme im <strong>Kehl</strong>-Straßburger Grenzgebiet sind zu groß für<br />

den Eurodistrikt und zu klein, um die Nationalstaaten zu interessieren.<br />

Die Hauptstädte – Paris, Berlin, Stuttgart – sind weit weg von der<br />

deutsch-französischen Grenzregion.<br />

Wie groß die Entfernung tatsächlich ist, wird in Landesentwicklungsoder<br />

Regionalplänen deutlich: Die Landesgrenze verläuft in der Mitte<br />

des Rheins – dahinter öffnet sich das Nichts, dargestellt durch eine<br />

weiße Fläche. Für <strong>Kehl</strong> ist das mehr als nur ein grafisches Problem:<br />

Weil die Großstadt Straßburg im Landesentwicklungsplan nicht existiert,<br />

gilt <strong>Kehl</strong> als ländlicher Raum. <strong>Das</strong> wiederum bedeutet, dass auch das <strong>Kehl</strong>er Polizeirevier<br />

so mit Beamten ausgestattet wird, als gäbe es die Großstadt Straßburg nicht. <strong>Das</strong>s die<br />

Kriminalitätsrate in Großstädten höher ist als in ländlichen Gebieten, ist eine Tatsache, die<br />

nichts damit zu tun hat, ob diese Großstadt in Deutschland oder Frankreich liegt. Wäre indes<br />

Straßburg eine deutsche Großstadt oder läge <strong>Kehl</strong> vor den Toren Stuttgarts, hätte der Leiter<br />

des <strong>Kehl</strong>er Polizeireviers rund 120 Beamte zur Verfügung – statt 86 Stellen im Plan, von denen<br />

nicht einmal alle besetzt sind. Auch bei der Verlängerung der Straßburger Tramlinie D nach<br />

<strong>Kehl</strong> hätte die Plangrafik zum Verhängnis werden können: Straßenbahnprojekte werden nämlich<br />

grundsätzlich nur in Verdichtungsräumen und keinesfalls im ländlichen Raum gefördert.<br />

Ausnahmsweise wurden <strong>Kehl</strong> in diesem konkreten Fall die Merkmale eines Verdichtungsraumes<br />

zuerkannt.<br />

Die französischen Kollegen kämpfen mit den gleichen Problemen: <strong>Das</strong>s ausgerechnet die Europastadt<br />

Straßburg 20 Jahre länger als andere französische Großstädte auf die Anbindung<br />

ans TGV-Netz warten musste, war nur ihrer Grenzlage geschuldet. Von Paris aus betrachtet,<br />

lagen direkt hinter Straßburg nur der halbe Rhein und eine weiße Fläche. Als die französische<br />

Eisenbahngesellschaft SNCF wenige Monate nach der Inbetriebnahme der TGV-Strecke Paris–<br />

München in einer Pressemitteilung die hohen Auslastungsquoten für die Hochgeschwindigkeitszüge<br />

bekannt gab, konnte man zwischen den Zeilen das Erstaunen darüber herauslesen,<br />

dass es tatsächlich Fahrgäste gab, die hinter Straßburg noch weiterfuhren.<br />

Fazit<br />

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist bisweilen mühsam. Doch jedes erfolgreiche Projekt<br />

ebnet den Weg für neue Projekte und schafft neue Verbindungen zwischen den Menschen<br />

diesseits und jenseits des Rheins. Je enger Deutsche und Franzosen am Oberrhein miteinander<br />

verwoben sind, desto besser für ein friedliches Zusammenleben – ganz im Geiste des Elysée-<br />

Vertrags, dessen 50-jähriges Bestehen wir in diesem Jahr gefeiert haben.<br />

<strong>Das</strong>s auf Landesentwicklungsoder<br />

Regionalplänen in der Mitte<br />

des Rheins das weiße Nichts<br />

beginnt, führt dazu, dass <strong>Kehl</strong> als<br />

ländlicher Raum eingestuft wird –<br />

so als würde der Ballungsraum<br />

Straßburg mit seinen 500 000<br />

Einwohnern nicht existieren.


81<br />

GRENZÜBERSCHREITUNG IN ALLEN LEBENSLAGEN<br />

Wer in <strong>Kehl</strong> lebt, kann an seinem Wohnort die Vorteile zweier Länder nutzen und das sozusagen<br />

in allen Lebenslagen. Die Durchlässigkeit der deutsch-französischen Grenze und<br />

die Errungenschaften der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit können <strong>Kehl</strong>erinnen und<br />

<strong>Kehl</strong>er ein Leben lang begleiten.<br />

Geburt<br />

Als die Geburtshilfe im <strong>Kehl</strong>er Krankenhaus 2012 wegen ihres Defizits von der Schließung<br />

bedroht war, richtete sich der Blick nach Frankreich: Hätten Straßburger Gynäkologen als<br />

Belegärzte im <strong>Kehl</strong>er Krankenhaus Straßburger Kindern auf die Welt helfen können, hätte<br />

die Auslastung deutlich erhöht und die Geburtshilfe vielleicht gerettet werden können.<br />

Doch die Zeitspanne zwischen der Ankündigung der Schließung und deren Vollzug war<br />

zu kurz, um ein solches Modell durchdenken und umsetzen zu können.<br />

Inzwischen wird die umgekehrte Variante vorstellbar: Auf der Straßburger Rheinseite<br />

wird in unmittelbarer Nachbarschaft zum Garten der zwei Ufer bis Ende 2016 für fast<br />

100 Millio nen Euro ein neuer Klinikkomplex mit 376 Betten, mehr als 20 Operationssälen<br />

und einer Geburtshilfe mit sieben Kreißsälen errichtet. <strong>Das</strong> neue Krankenhaus mit dem<br />

klangvollen Namen Tamaris entsteht aus dem Zusammenschluss dreier gemeinnütziger<br />

Straßburger Kliniken: Adassa (jüdisch), Diaconat (evangelisch) und Ste Odile (katholisch).<br />

Was die Staatsbürgerschaft angeht, ist die Geburt auf der anderen Rheinseite kein Problem:<br />

Ein Kind, das mindestens einen deutschen Elternteil hat und in Straßburg zur Welt kommt,<br />

erhält dort eine internationale Geburtsurkunde, die es als deutschen Staatsbürger ausweist.<br />

Wenn die Eltern eine deutsche Geburtsurkunde möchten, können sie in Deutschland<br />

einen Antrag auf Nachbeurkundung stellen. Ein Kind, das keinen französischen Elternteil<br />

hat, aber in Straßburg geboren wird, erwirbt nicht die französische Staatsbürgerschaft.<br />

Mehr als 20 Operationssäle, sieben<br />

Kreißsäle, 800 Beschäftigte:<br />

Am Rande des französischen<br />

Teils des Gartens der zwei Ufer<br />

entsteht ein riesiger Klinikkomplex.<br />

>>


82<br />

Babys und Kleinkinder<br />

Für Babys ab einem Alter von zehn Wochen und Kleinkinder bis drei Jahren errichten<br />

die Städte Straßburg und <strong>Kehl</strong> derzeit gemeinsam eine deutsch-französische und<br />

grenzüberschreitende Kinderkrippe auf dem Gelände der Rheinhafen-Schule gleich<br />

hinter der Europabrücke. In der Einrichtung, die am 31. März 2014 ihren Betrieb aufnehmen<br />

soll, werden je 30 Kinder aus <strong>Kehl</strong> und Straßburg gemeinsam aufwachsen. Ein<br />

zweisprachiges Team wird die Kleinen nach einem pädagogischen Konzept betreuen,<br />

das deutsche und französische Elemente vereint. Eltern, die ihre Kinder in der deutschfranzösischen<br />

Krippe anmelden möchten, wenden sich an die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong>.<br />

>><br />

Kindergarten – Ecole Maternelle<br />

Eltern, deren Kinder die deutsch-französische Krippe besucht haben, können im Anschluss<br />

wählen, ob ihr Kind die deutsch-französische Ecole Maternelle in der Straßburger<br />

Rheinhafenschule oder einen (deutsch-französischen) Kindergarten in <strong>Kehl</strong> besuchen<br />

soll. Aber auch Kinder, die ihre Krippenjahre nicht in der grenzüberschreitenden<br />

Einrichtung verbracht haben, kommen in allen <strong>Kehl</strong>er Kindergärten mit der französischen<br />

Sprache in Kontakt. Ein bis eineinhalb Stunden pro Woche führen Honorarkräfte<br />

die Kinder in den meisten Kindergärten an die französische Sprache heran, zwei Kindergärten<br />

– die Kindertagesstätte Vogesenallee und der Kindergarten St. Josef – sind<br />

bilinguale Einrichtungen, in denen französische Erzieherinnen zum Team gehören.<br />

Erzieher im anderen Land: „Der Unterschied ist gewaltig“<br />

Wenn Christophe Frattini und Stéphanie<br />

Schmidt sich morgens auf den Weg zur Arbeit<br />

machen, dann überqueren sie beide den Rhein:<br />

Der Erzieher, der bei der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> angestellt<br />

ist, pendelt nach Straßburg;<br />

seine Kollegin, die für die<br />

<strong>Stadt</strong> Straßburg arbeitet, fährt<br />

über die Grenze in die <strong>Kehl</strong>er<br />

Kindertagesstätte Vogesenallee.<br />

Sie machen die Kinder<br />

mit der Sprache und Kultur<br />

des Nachbarn vertraut – und<br />

erleben dabei einen sehr unterschiedlichen<br />

Arbeitsalltag.<br />

„In Frankreich ist der Kindergarten<br />

viel strukturierter“,<br />

sagt Stéphanie Schmidt, „das<br />

ist fast wie ein Stundenplan, bei dem von<br />

acht bis neun Uhr alle eine bestimmte Aktivität<br />

machen und von neun bis zehn die<br />

nächste“. In Deutschland hingegen „dürfen<br />

Stéphanie Schmidt<br />

die Kinder machen, was sie wollen“. Tatsächlich<br />

gilt in den <strong>Kehl</strong>er Kindergärten das Prinzip<br />

der Offenen Arbeit, es gibt keine festen<br />

Gruppen, sondern verschiedene Angebote<br />

für Kinder aller Altersstufen<br />

– die Entscheidung, was sie<br />

machen möchten, liegt ganz<br />

bei den Jungen und Mädchen.<br />

„Der Unterschied zum<br />

Kindergarten in Frankreich<br />

ist gewaltig“, stimmt Christophe<br />

Frattini seiner Kollegin<br />

aus <strong>Kehl</strong> zu.<br />

Obwohl sie beide Systeme<br />

gut kennen, können die zwei<br />

Erzieher nicht pauschal sagen,<br />

welche Pädagogik die<br />

größeren Vorteile bietet. „<strong>Das</strong> kommt auf den<br />

Charakter des Kindes an“, meint Stéphanie<br />

Schmidt. „Für manche ist der Kindergarten<br />

in Frankreich vielleicht zu streng, für andere<br />

Die Oberbürgermeister von<br />

Straßburg und <strong>Kehl</strong>, Roland Ries<br />

und Günther Petry, unterzeichnen<br />

die Baupläne der deutsch-französischen,<br />

grenzüberschreitenden<br />

Kinderkrippe, die anschließend in<br />

den Grundstein eingemauert werden.<br />

Wilderich von Droste-Hülshoff<br />

(rechts) überbringt stellvertretend<br />

für Regierungspräsidentin Bärbel<br />

Schäfer den Bescheid über den Zuschuss<br />

zu den Baukosten der <strong>Stadt</strong><br />

<strong>Kehl</strong> in Höhe von 360 000 Euro.


83<br />

ist er hier in Deutschland zu<br />

frei.“ Auch das Alter spiele<br />

eine Rolle, findet Christophe<br />

Frattini. „Für die Kleinen sind<br />

vielleicht strukturierte Gruppen<br />

besser, für die Großen<br />

ist es aber die Offene Arbeit,<br />

weil sie dann schon selbstständig<br />

entscheiden können,<br />

was sie gerne machen<br />

möchten“, sagt der deutsche<br />

Erzieher, der im Jardin<br />

d’enfants in der Straßburger<br />

Rue de Bâle arbeitet.<br />

Ob sie an den Französisch-Aktivitäten, die<br />

Stéphanie Schmidt täglich im Kindergarten Vogesenallee<br />

anbietet, teilnehmen, können sich<br />

die Kinder ebenfalls aussuchen. In ihrem Morgenkreis<br />

werden französische Lieder gesungen,<br />

sie spielt französische Spiele mit den Jungen<br />

und Mädchen und liest aus französischen<br />

Büchern vor. Vor allem aber spricht Stéphanie<br />

Schmidt grundsätzlich Französisch – auch<br />

dann, wenn die Kleinen sie etwas auf Deutsch<br />

fragen. Gibt es Verständnisschwierigkeiten, so<br />

sagt sie einen Satz zuerst auf Französisch und<br />

direkt hinterher noch einmal auf Deutsch, das<br />

ist für sie zur Routine geworden: „Ich merke<br />

gar nicht mehr, dass ich immer doppelt spreche“,<br />

sagt sie schmunzelnd. Bei rund 20 bis<br />

30 Prozent der Kinder ist diese Sofort-Übersetzung<br />

überhaupt nicht notwendig, weil sie<br />

mindestens einen französischen Elternteil<br />

haben und zweisprachig aufwachsen.<br />

Christophe Frattini<br />

Ähnlich sieht es am Arbeitsplatz<br />

von Christophe Frattini<br />

in der Rue de Bâle aus. „Manche<br />

der Eltern sind deutschsprachig<br />

oder auch deutschstämmig.<br />

Wenn ein Elternteil<br />

deutsch ist, sprechen die Kinder<br />

fast nur Deutsch mit mir“,<br />

sagt er. Denjenigen Jungen<br />

und Mädchen hingegen, die<br />

Zuhause ausschließlich Französisch<br />

sprechen, bringt er<br />

die deutsche Sprache durch<br />

„ständige Wiederholung“ näher.<br />

„Wir beginnen mit einfachen<br />

Sachen wie Tiernamen, Zahlen, Farben<br />

und der Begrüßung. <strong>Das</strong> wird immer wiederholt,<br />

bis es irgendwann klappt und ich nicht<br />

mehr übersetzen muss.“<br />

Doch die Idee, die hinter dem schon seit<br />

1992 bestehenden Austausch der Erzieher<br />

zwischen <strong>Kehl</strong> und Straßburg steht, umfasst<br />

mehr als nur das Erlernen der Sprache<br />

des Nachbarn. Genauso geht es darum,<br />

die Kinder mit der Kultur auf der anderen<br />

Rheinseite vertraut zu machen. Jeden Monat<br />

gibt es deshalb eine gemeinsame Dienstbesprechung,<br />

an der Mitarbeiter beider Kindergärten<br />

teilnehmen. Dann wird geplant,<br />

welche Projekte in nächster Zeit zusammen<br />

organisiert werden. „Einmal im Monat gibt es<br />

auch für die Kinder einen Austausch“, erklärt<br />

Christophe Frattini. Dann fährt die Gruppe<br />

aus Straßburg beispielsweise nach <strong>Kehl</strong>,<br />

Französisch sprechen ist angesagt,<br />

wenn Stéphanie Schmidt<br />

mit den Kindern in der Kindertagesstätte<br />

Vogesenallee bastelt.<br />

>>


84<br />

>><br />

um – genau wie die Kinder aus dem Kindergarten<br />

Vogesenallee – an den dortigen Waldtagen<br />

teilzunehmen. „Auch Sankt Martin oder<br />

Fastnacht, also typisch deutsche Bräuche,<br />

bieten sich für die Austauschtage an“, sagt<br />

der 35-jährige Erzieher. In den Austausch<br />

werden auch die Eltern miteinbezogen: Zweibis<br />

dreimal pro Jahr findet ein grenzüberschreitender<br />

Elternabend statt; Tradition hat<br />

inzwischen ein Bastelabend mit Eltern und<br />

Kindern, bei dem kurz vor Sankt Martin in<br />

<strong>Kehl</strong> Laternen gestaltet werden.<br />

Andersherum fährt Stéphanie Schmidt, die<br />

41 Jahre alt ist und fast von Anfang an an<br />

dem Austausch-Projekt beteiligt war, einmal<br />

pro Monat mit den <strong>Kehl</strong>er Kindern nach<br />

Straßburg, um deren Altersgenossen zu treffen.<br />

Zusätzlich besichtigt sie mit den jungen<br />

<strong>Kehl</strong>erinnen und <strong>Kehl</strong>ern die <strong>Stadt</strong>, besucht<br />

mit ihnen den großen Weihnachtsmarkt, beobachtet<br />

die Tiere in der Orangerie oder lädt<br />

die Kinder zur Entdeckertour im Vaisseau,<br />

dem Wissenschaftsmuseum für Kinder und<br />

Jugendliche, in Straßburg ein.<br />

Die Kooperation zwischen den Kindergärten<br />

Vogesenallee und Rue de Bâle ist in ihrer<br />

Intensität bislang einzigartig in der Grenzregion.<br />

Cornel Happe, der 1992 als Leiter des<br />

neuen Kindergartens Kreuzmatt für die <strong>Stadt</strong><br />

<strong>Kehl</strong> arbeitete, erinnert sich an ihre Anfänge:<br />

„In der Kreuzmatt waren früher die französischen<br />

Streitkräfte untergebracht, deshalb<br />

lebten Anfang der 90er-Jahre viele deutschfranzösische<br />

Familien in dem Viertel.“ Als<br />

die <strong>Stadt</strong> das Kindergartengebäude erwarb,<br />

habe der damalige Beigeordnete Jörg Armbruster<br />

die Idee gehabt, „eine echte deutschfranzösische<br />

Kindergartengruppe“ in der<br />

Kreuzmatt einzurichten – mit Pendant in<br />

Straßburg und inklusive Erzieheraustausch.<br />

„Die Projektidee war klasse“, sagt Cornel Happe,<br />

„denn so wurde die Kultur des Nachbarn<br />

in den Kindergarten gebracht“.<br />

Auch die Eltern waren von dem neuen Angebot<br />

begeistert. „<strong>Das</strong> war der Renner“, erinnert<br />

sich der damalige Kindergarten-Chef,<br />

der heute die Gemeinwesenarbeit <strong>Kehl</strong>-Dorf<br />

leitet. Die Gruppe – damals gab es in <strong>Kehl</strong>er<br />

Kindergärten noch feste Gruppen – sei<br />

von allen sozialen Schichten sehr gut nachgefragt<br />

gewesen. Aus Platzmangel wurde<br />

sie irgendwann in den Kindergarten in der<br />

Oberländerstraße verlegt. Als dieser von der<br />

Evangelischen Kirchengemeinde übernommen<br />

wurde, wechselte der Partner für die<br />

Straßburger Rue de Bâle ein zweites Mal: Die<br />

Wahl fiel auf den Kindergarten Vogesenallee.<br />

Während die Eltern auf beiden Rheinseiten<br />

die deutsch-französische Ausrichtung ihrer<br />

Kindergärten begrüßten, war es – zumindest<br />

auf deutscher Seite – nicht immer leicht,<br />

Personal für den Austausch zu finden, sagt<br />

Cornel Happe: „Wir haben mehrfach und<br />

auf regionaler Ebene suchen müssen.“ Bis<br />

Christophe Frattini den Job vor acht Jahren<br />

annahm. Der 35-jährige Erzieher, der selbst<br />

mehrsprachig aufwuchs, seine Kindheit in<br />

Frankreich verbracht hat und seit 13 Jahren<br />

in <strong>Kehl</strong> lebt, hat nicht lange gezögert: „Ich<br />

habe die Chance sofort genutzt, weil ich<br />

etwas Neues kennenlernen wollte.“ Er finde<br />

es wichtig, dass die Kinder möglichst früh in<br />

Kontakt mit der anderen Rheinseite kommen:<br />

„Wir sind hier Grenzgänger, die Kinder sollten<br />

mit beiden Sprachen aufwachsen“, sagt<br />

er. „Dann können sie später problemlos im<br />

Europa ohne Grenzen arbeiten. <strong>Das</strong> sind tolle<br />

Möglichkeiten.“<br />

Tiernamen, Zahlen, Farben,<br />

Begrüßungsformeln: Durch<br />

ständige Wiederholung bringt<br />

Christophe Frattini den Kindern<br />

im Jardin d’enfants in der Straßburger<br />

Rue de Bâle Deutsch bei.


85<br />

Schulzeit<br />

Rund 400 <strong>Kehl</strong>er Kinder – gut die Hälfte davon von französischen Eltern, die ihren<br />

Wohnsitz in <strong>Kehl</strong> haben – besuchen Schulen in Straßburg. Die meisten Kinder und<br />

Jugendlichen sind in der Straßburger Europaschule (von der Vorschule bis zum Abitur<br />

Züge, in denen eine Sprache verstärkt unterrichtet wird), in der internationalen Schule<br />

(von der Vorschule bis zum Abitur Züge in verschiedenen Sprachen) oder in Mittelschulen<br />

und Gymnasien angemeldet, die zum Abi/Bac führen. Gut 100 Kinder aus Straßburg<br />

sind im Gegenzug Schülerinnen und Schüler in <strong>Kehl</strong>er Schulen – vor allem in der Falkenhausenschule<br />

und im Einstein-Gymnasium.<br />

In <strong>Kehl</strong> gibt es zwei Grundschulen, die den Unterricht paritätisch in deutscher und<br />

französischer Sprache gestalten. Von den 344 Grundschülern der Falkenhausenschule<br />

nutzen 202 dieses Angebot. In der Grundschule Sundheim sind im Schuljahr 2013/14<br />

78 Jungs und Mädchen in den paritätischen Klassen eingeschrieben. In der Werkrealschule<br />

Nord-Ost (Kork-Bodersweier) besteht ein freiwilliges Französisch-Angebot für<br />

Schülerinnen und Schüler ab Klasse fünf, das wöchentlich drei Unterrichtsstunden in<br />

der Sprache des Nachbarn umfasst. In den Klassenstufen neun und zehn können die<br />

Jugendlichen an einer Sprachprüfung teilnehmen; sie erhalten dann ein Zusatzzertifikat<br />

zum Prüfungszeugnis. In der Werkrealschule Wilhelmschule sieht es ähnlich<br />

aus: In den Klassenstufen fünf/sechs, sieben/acht und neun/zehn nehmen jeweils acht<br />

bis zehn Schülerinnen und Schüler am freiwilligen Französischunterricht teil. In der<br />

Werkrealschule Hebelschule können die Schülerinnen und Schüler Französisch in einer<br />

dreistündigen Arbeitsgemeinschaft lernen. Insgesamt 75 Kinder und Jugendliche nutzen<br />

dieses Angebot.<br />

Die Kinder der bilingualen<br />

Klassen der Falkenhausenschule<br />

fühlen sich in zwei Kulturen zu<br />

Hause: Im Hanauer Museum<br />

haben sie Mützen von Marianne<br />

und Michel gebastelt.<br />

In einem Brückenkurs können die Fünft- und Sechstklässler in der Tulla-Realschule auf<br />

ihr Grundschul-Französisch aufbauen. Wer möchte, kann dann in Klasse sieben Französisch<br />

als Wahlpflichtfach aussuchen und bis zur Mittleren Reife fortsetzen. Etwa 20<br />

von rund 100 Realschülern pro Jahrgang gehen diesen Weg. Im Einstein-Gymnasium<br />

haben die Fünftklässler die Möglichkeit, den zweisprachigen Zug zu wählen, der sie<br />

zum deutsch-französischen Abi/Bac führt. Jährlich machen zwölf bis 15 Jugendliche<br />

diesen Doppelabschluss. Im Schuljahr 2013/14 haben von 122 Zehn- und Elfjährigen<br />

48 die zweisprachige Gymnasiallaufbahn eingeschlagen.<br />

>>


86<br />

Im Elsass hat sich die Zahl der Kinder, die in der Vor- oder Grundschule zur Hälfte<br />

in französischer und zur Hälfte in deutscher Sprache unterrichtet werden, innerhalb<br />

von zehn Jahren (2002 bis 2012) von 7730 auf 21 517 verdreifacht. Im Département<br />

Unter-Elsass bieten derzeit 23 Collèges zweisprachige Züge an, im Ober-Elsass 26. Die<br />

Schülerzahl in diesen paritätischen Klassen hat sich im genannten Zehnjahreszeitraum<br />

mehr als vervierfacht: von 806 auf 3700 Jugendliche. Nimmt man die Schülerinnen<br />

und Schüler noch hinzu, die zwar nicht in paritätischen Klassen lernen, aber dennoch<br />

am regulären Deutschunterricht teilnehmen, so erwerben 55 Prozent der Jugendlichen<br />

im Elsass Kenntnisse in der deutschen Sprache. Und die Zahl der zweisprachigen<br />

Klassen wächst weiter: Zum Schuljahresbeginn 2013/14 sind im Unter-Elsass 29 neue<br />

Klassen eröffnet worden, im Ober-Elsass 24.<br />

Wer sich einen Überblick über die Schullandschaft im Grenzraum verschaffen will, hat<br />

es schwer: Zwar arbeitet die Bildungsregion Ortenau an einem Online-Bildungsatlas<br />

(www.bildungsatlas-ortenau.de), doch der wird sich zunächst nur auf Kindertageseinrichtungen<br />

und Schulen in der Ortenau beschränken – geplant ist, ihn später auf<br />

den Eurodistrikt auszudehnen. Im Internet findet sich auch eine Liste der Schulen im<br />

Elsass, geordnet nach Städten kann man sich die Profile der öffentlichen und privaten<br />

Schulen anschauen. Wer Schulen mit deutsch-französischen Klassen sucht, muss sich<br />

mühsam durchklicken.<br />

Am 50. Jahrestag der Unterzeichnung<br />

des Elysée-Vertrags am<br />

22. Januar formen Schülerinnen<br />

und Schüler der Falkenhausenschule<br />

ein deutsch-französisches<br />

Herz im Garten der zwei Ufer.<br />

Berufliche Ausbildung<br />

In zahlreichen Lehrberufen besteht die Möglichkeit, die Berufsschule im eigenen Land<br />

zu besuchen und die praktische Ausbildung im Lehrbetrieb auf der jeweils anderen<br />

Rheinseite zu absolvieren. Weil dies jedoch wenig bekannt und die Berufsausbildung<br />

in Deutschland und Frankreich sehr unterschiedlich organisiert ist, nehmen bislang<br />

nur vereinzelt Jugendliche diese Chance wahr. Auch die Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann<br />

kann grenzüberschreitend absolviert werden: Drei junge Leute – zwei<br />

Deutsche und eine Französin – gehen derzeit in Frankreich und Deutschland in die<br />

Berufsschule und machen am Ende den deutsch-französischen Doppelabschluss Bac<br />

Pro Commerce/Einzelhandelskaufmann.<br />

Französisch als Kernprofil: Berufliche Schulen setzen auf Zweisprachigkeit<br />

>><br />

„Prima, das habt ihr super gemacht“, sagt<br />

Prüferin Ursula Méliani, Französischlehrerin<br />

an den Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong> (BSK), und<br />

vergibt viermal die volle Punktzahl. Stefanie<br />

Mack, Steffen Rohrbeck, Tanja Braun und<br />

Aileen Bernhardt haben ihr und dem zweiten<br />

Prüfer Bernd Rother auf Französisch einiges<br />

über sich, ihre Hobbys und ihre Ausbildungsbetriebe<br />

erzählt und in fiktiven Verkaufsgesprächen<br />

aus dem Bereich Spedition miteinander<br />

verhandelt. Damit ist die mündliche<br />

Prüfung für das KMK-Zertifikat Französisch,<br />

Niveau eins, mit Bravour bestanden. <strong>Das</strong><br />

freut nicht nur die Schüler, sondern genauso<br />

die beiden Lehrer, die ihre Schützlinge motiviert<br />

haben, die Zusatzqualifikation „Französisch<br />

im Beruf“ zu erwerben – auch, wenn<br />

das für die Jugendlichen Intensiv-Unterricht<br />

zu viert am Freitagnachmittag bedeutete.<br />

„Wir versuchen, alle Schüler für die französische<br />

Sprache zu begeistern“, sagt Bernd<br />

Rother und Michael Eberhardt, bis Juli 2013<br />

Schulleiter der BSK, bestätigt: „Die Sprach-


kompetenz steht an allererster<br />

Stelle bei uns. Wir sind im<br />

Gegensatz zu allen anderen<br />

Berufsschulen auf die französische<br />

Sprache ausgerichtet.<br />

<strong>Das</strong> ist unser Kernprofil, unser<br />

Alleinstellungsmerkmal.“<br />

<strong>Das</strong> KMK-Zertifikat, das die<br />

vier angehenden Logistikassistenten<br />

bestanden haben,<br />

können Schüler an den Beruflichen<br />

Schulen in den Ausbildungsberufen<br />

Einzelhandel,<br />

Spedition, Gastronomie und<br />

KFZ-Mechatroniker absolvieren, und zwar<br />

in den Stufen eins bis drei. „Damit sind wir<br />

landesweit Spitze, das Niveau drei in Französisch<br />

im Bereich Spedition bieten wir sogar<br />

als einzige Berufsschule an“, sagt Michael<br />

Eberhardt, „da bin ich stolz drauf“.<br />

Die französische Ausrichtung der <strong>Kehl</strong>er Berufsschule<br />

fängt schon bei der Auswahl des<br />

Personals an: „Jeder Lehrer hier ist in irgendeiner<br />

Weise mit Frankreich verknüpft“, sagt<br />

der langjährige Schulleiter, entweder durch<br />

ein Französisch-Studium, durch ein Auslandssemester<br />

oder durch<br />

private Beziehungen. „Diese<br />

Verbindung muss da<br />

sein“, nur dann sei die Motivation<br />

der Lehrkräfte für<br />

die notwendige Mehrarbeit<br />

sichergestellt. Die Mehrarbeit<br />

beginnt damit, die französische<br />

Sprache attraktiv<br />

zu machen, denn viele Jugendliche<br />

können noch gar<br />

kein Französisch, wenn sie<br />

Michael Eberhardt sich bei den BSK anmelden.<br />

„Es ist schwierig, Schüler zu<br />

finden, die auch nur Grundkenntnisse haben“,<br />

sagt Michael Eberhardt. Deshalb lassen sich<br />

die Lehrer so einiges einfallen: „Zum Beispiel<br />

sind wir mit Einzelhandelsklassen nach Paris<br />

gefahren, damit sie sehen, wie Einzelhandel<br />

dort funktioniert“, erzählt Bernd Rother.<br />

„Wenn sie sich dafür begeistern können, beginnen<br />

sie auch, sich für die Sprache zu interessieren.“<br />

Bernd Rother<br />

<strong>Das</strong> ist wichtig, denn an der<br />

<strong>Kehl</strong>er Berufsschule gilt: Egal,<br />

welchen Beruf man anstrebt,<br />

Französisch ist Pflicht. Unterschiede<br />

gibt es nur in der<br />

Intensität und dem Niveau.<br />

„Als Lehrer im Unterricht<br />

müssen wir je nach Französisch-Niveau<br />

einer Klasse<br />

umschalten“, sagt Bernd Rother.<br />

„Es ist ja auch klar, dass<br />

ein Mechatroniker nicht unbedingt<br />

ein Sprachgenie sein<br />

muss, sondern eben eher ein<br />

Techniker.“ Was sie an der Schule an Sprachkenntnissen<br />

erworben haben, setzen viele der<br />

Auszubildenden an ihrem Arbeitsplatz direkt<br />

um. „Wir bilden sie so aus, dass sie in <strong>Kehl</strong>er<br />

Betrieben arbeiten können, da ist Französisch<br />

in fast allen Branchen gefragt“, sagt Michael<br />

Eberhardt. Außerdem absolvieren die Schüler<br />

Praktika im Nachbarland und besuchen dortige<br />

Berufsschulen. „Wir versuchen, so viele<br />

Azubis wie möglich möglichst zweimal nach<br />

Frankreich ins Praktikum zu schicken, für<br />

mindestens drei Wochen.“ Denn das sei die<br />

Voraussetzung, um mit dem Schulabschluss<br />

das trinational anerkannte Euregio-Zertifikat,<br />

eine Art Zusatz-Diplom, zu erhalten. Andersherum<br />

nehmen die BSK französische Schüler<br />

auf, die ein Praktikum in einem Betrieb auf<br />

der deutschen Rheinseite machen.<br />

Dabei geht es nicht ausschließlich um<br />

sprachliche, sondern auch um interkulturelle<br />

Kompetenz. „Die Arbeitsweise in Frankreich<br />

ist eher hierarchieorientiert“, meint Michael<br />

Eberhardt, „deshalb sollen unsere Jugendlichen<br />

auch den Betriebsablauf dort kennenlernen“.<br />

Um die Schüler auf kulturelle Unterschiede<br />

vorzubereiten, mit denen sie sich im<br />

Auslandspraktikum konfrontiert sehen könnten,<br />

werden im Unterricht an den Beruflichen<br />

Schulen <strong>Kehl</strong> in Rollenspielen Verkaufsgespräche<br />

geübt. So lernen die Jugendlichen,<br />

wie sie einen Kunden auf Französisch höflich<br />

bedienen können und worauf Franzosen in<br />

der Geschäftswelt Wert legen. „Die Kultur<br />

hat dort einen ganz anderen Stellenwert“, ist<br />

der langjährige Schulleiter überzeugt, das<br />

>><br />

87


88<br />

fange schon beim Mittagessen an. „Bei uns<br />

pfeift man sich schnell einen Döner rein und<br />

drüben wird heftig diskutiert, damit es in der<br />

Mensa innerhalb von vier Wochen bloß keine<br />

Wiederholung auf der Speisekarte gibt.“<br />

Mit sechs Partnerschulen in Frankreich kooperieren<br />

die Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong>. „<strong>Das</strong><br />

geht nicht ohne dauernde Kontakte“, sagt Michael<br />

Eberhardt. Für jede französische Schule<br />

gibt es an der <strong>Kehl</strong>er Berufsschule deshalb<br />

einen Beauftragten, einen festen Ansprechpartner.<br />

Die Zusammenarbeit ermöglicht<br />

nicht nur Schüleraustausche sondern viele<br />

weitere grenzüberschreitende Aktivitäten:<br />

Gemeinsam mit ihren Partnerklassen realisieren<br />

die <strong>Kehl</strong>er Schüler im Tandem Projekte,<br />

beispielsweise untersuchen angehende Industriekaufleute<br />

mit den Schülern des Lycée<br />

René Cassin in Straßburg Marketingstrategien<br />

für ausgewählte deutsche und französische<br />

Backwaren und einige <strong>Kehl</strong>er Auszubildende<br />

nehmen jährlich an der „Mondial des<br />

Métiers“ teil, einer Messe für Berufsorientierung<br />

und Berufsbildung in Lyon. „Es laufen<br />

ständig grenzüberschreitende Aktionen“,<br />

fasst Michael Eberhardt zusammen, „ich<br />

könnte jeden Tag irgendetwas nennen“.<br />

Sozusagen die Kür der grenzüberschreitenden<br />

Ausbildung ist der doppelte Abschluss,<br />

den künftige Einzelhändler seit 2009 an den<br />

Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong> und dem Lycée<br />

Oberlin in Straßburg erwerben können: Sie<br />

besuchen den Unterricht auf beiden Seiten<br />

des Rheins und legen am Ende ihrer dualen<br />

Ausbildung die Prüfung zum Einzelhändler<br />

wie zum französischen „Bac Pro Commerce“<br />

ab. Für den Ausbildungsbetrieb bedeutet das<br />

zwar zunächst eine Einschränkung, weil die<br />

Jugendlichen mehr Zeit an der Schule verbringen<br />

als andere Auszubildende: „Die Betriebe<br />

leisten Pionierarbeit, weil sie voll bezahlen,<br />

die Azubis aber nur zur Hälfte dort sind“, sagt<br />

Bernd Rother. Letztendlich ist ein doppelt<br />

qualifizierter Lehrling aber ein Aushängeschild<br />

für das Unternehmen, ist sich der Lehrer<br />

an den Beruflichen Schulen sicher. Noch<br />

mehr profitieren die Schüler, die die doppelte<br />

Prüfung bestehen. „Wer die deutsch-französische<br />

Ausbildung macht, hinterlässt quasi<br />

eine Visitenkarte beim Betrieb“, meint Bernd<br />

Rother. Ein Absolvent habe beispielsweise bei<br />

einer Firma gelernt, die später eine Filiale in<br />

Frankreich eröffnete – und bekam dort den<br />

Job des Filialleiters. „Er hatte bewiesen, dass<br />

er mit der Doppelbelastung umgehen konnte“,<br />

erklärt Michael Eberhardt.<br />

Obwohl die duale Ausbildung, die Mischung<br />

aus Schulbesuch und praktischer Lehre in<br />

einem Betrieb, in Frankreich ebenso existiert<br />

wie in Deutschland, gebe es „einen Unterschied<br />

wie Tag und Nacht“ zwischen beiden<br />

Systemen, sagt der langjährige Rektor: „Hier<br />

steht bei der Ausbildung ganz klar der Betrieb<br />

im Vordergrund, dort gilt das Vertrauen<br />

in erster Linie der Schule.“ Wie wichtig es ist,<br />

neben den Fremdsprachenkenntnissen auch<br />

über solche Unterschiede in der Arbeits- und<br />

Ausbildungswelt des Nachbarlands Bescheid<br />

zu wissen, versuchen die Lehrer der BSK ihren<br />

Schülern ebenfalls zu vermitteln, sagt Michael<br />

Eberhardt: „<strong>Das</strong> ist unsere Aufgabe, ihnen<br />

das klar zu machen und das ist eine ewige<br />

Aufgabe.“<br />

Die Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong><br />

kooperieren mit sechs Partnerschulen<br />

in Frankreich:<br />

Jeden Tag laufen grenzüberschreitende<br />

Aktionen.<br />

>>


„Deutsche Lehrer sind viel lockerer“:<br />

Eine Grenzgängerin über ihre duale Ausbildung<br />

89<br />

Auf französische Käseproduzenten<br />

hat sich das Auenheimer<br />

Logistik-Unternehmen Nagel<br />

Albatros Speditions GmbH<br />

spezialisiert. Die Elsässerin<br />

Cyrielle Matterer macht dort<br />

ihre Ausbildung.<br />

Cyrielle Matterer<br />

Cyrielle Matterer aus Rountzenheim im Elsass,<br />

heute 23 Jahre alt, hatte schon früh<br />

eine Idee, welchen Beruf sie einmal ausüben<br />

könnte: Deutschlehrerin. Mit ihren Eltern<br />

sprach sie zu Hause Elsässisch,<br />

die Ferien verbrachte<br />

sie mit ihnen in Deutschland<br />

oder Österreich. Doch<br />

im Deutsch-Studium an der<br />

Universität in Straßburg<br />

merkte sie, dass die Arbeit<br />

mit Kindern doch nicht ganz<br />

ihre Sache war. Sie erwarb ihren<br />

Bachelor und wollte sich<br />

dann umorientieren. Bei der<br />

Berufsberatung sagte man<br />

ihr jedoch, dass sie mit 21 zu<br />

alt sei für eine Ausbildung in<br />

Frankreich. „Da habe ich beschlossen: Wenn<br />

man mich in Frankreich nicht will, gehe ich<br />

eben nach Deutschland“, sagt die Elsässerin.<br />

Sie machte einen Test, um herauszufinden,<br />

wo ihre beruflichen Interessen liegen,<br />

verschickte zehn Bewerbungen und einen<br />

Monat später stand fest: Cyrielle Matterer<br />

macht ihre Ausbildung bei der Nagel Albatros<br />

Speditions GmbH in Auenheim, Teil der<br />

international tätigen Nagel-Group mit europaweit<br />

11 000 Mitarbeitern, und besucht die<br />

Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong>.<br />

Inzwischen ist die 23-Jährige im dritten<br />

Lehrjahr, nach ihrem Abschluss darf sie sich<br />

„Kauffrau für Spedition und Logistik-Dienstleistung<br />

mit Zusatzqualifikation Französisch“<br />

nennen. Damit hat sie einen ähnlichen Weg<br />

eingeschlagen wie ihr Vater, der ebenfalls im<br />

Logistik-Bereich tätig und – genau wie ihre<br />

Mutter – ebenfalls ein Grenzgänger ist. An<br />

den Beruflichen Schulen ist sie als einzige<br />

Französin Teil einer 13-köpfigen Klasse, in<br />

der jeder die Zusatzqualifikation Französisch<br />

anstrebt. „Es gab schon Vorurteile“, erinnert<br />

sie sich an die ersten Schultage. Die Mitschüler<br />

hätten wohl gedacht, sie nehme den<br />

deutschen Auszubildenden einen Platz weg.<br />

„Aber dann haben alle schnell gemerkt, dass<br />

es gut passt“, sagt sie, und fügt schmunzelnd<br />

hinzu: „Außerdem brauchen sie kein Wörterbuch<br />

im Französisch-Unterricht,<br />

wenn ich dabei bin.“<br />

Ihre Erwartungen haben die<br />

Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong> – im<br />

positiven Sinne – nicht erfüllt.<br />

„In Frankreich hat man das<br />

Bild im Kopf, dass die Schule<br />

in Deutschland viel strenger<br />

ist“, sagt sie. „Ich war überrascht,<br />

denn tatsächlich sind<br />

die deutschen Lehrer viel<br />

lockerer als die in Frankreich,<br />

dort gibt es gar keinen persönlichen<br />

Kontakt zwischen Lehrern und<br />

Schülern.“ Die Lehrer in <strong>Kehl</strong> hülfen bei Fragen<br />

und Problemen, sogar Späße im Unterricht<br />

seien hin und wieder erlaubt. „Solange<br />

man respektvoll bleibt, ist alles in Ordnung.“<br />

Einer ihrer Lehrer habe einmal seine Tochter<br />

mit an die Schule gebracht, erzählt sie, und<br />

die Überraschung darüber ist ihr noch immer<br />

anzusehen: „So etwas würde es in Frankreich<br />

nicht geben.“<br />

>>


90<br />

Nicht nur die Berufsschule an sich, sondern<br />

das ganze Ausbildungssystem unterscheidet<br />

sich. Während Cyrielle Matterer immer<br />

abwechselnd einen Tag oder zwei Tage pro<br />

Woche die Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong> besucht<br />

und den Rest ihrer Ausbildungszeit bei der<br />

Nagel-Group verbringt, liegt der Schwerpunkt<br />

in Frankreich auf der Schule, die Praxisphase<br />

erfolgt als Praktikum im Block. „Da<br />

werden die Azubis ins kalte Wasser geworfen“,<br />

sagt die Elsässerin. Auch ihr Ausbilder,<br />

Yves Debruyne, hat diese Erfahrung mit<br />

französischen Praktikanten gemacht. 2012<br />

absolvierte ein Austauschschüler sein Praktikum<br />

in der rund 100 Mitarbeiter starken<br />

Niederlassung in Auenheim. „Er wusste zwar,<br />

was ich meine, wenn ich ihm einen Auftrag<br />

gegeben habe, aber er hatte Schwierigkeiten<br />

es umzusetzen. <strong>Das</strong> waren Welten im<br />

Vergleich zu unseren Azubis“, sagt er. Was<br />

den Wechsel zwischen Schule und Betrieb<br />

betrifft, halte er die deutsche Variante für<br />

die geschicktere: „Man kann besser mit den<br />

Azubis planen und der Stoff bleibt ihnen in<br />

Erinnerung, wenn nicht so lange Pause zwischen<br />

Theorie und Praxis ist.“<br />

Bei der Nagel Albatros Speditions GmbH ist<br />

Cyrielle nicht die einzige Französin. „Für die<br />

grenzüberschreitenden Geschäfte ist es immer<br />

wichtig, Mitarbeiter zu haben, die andere<br />

Sprachen sprechen“, sagt Yves Debruyne<br />

– gerade in dem Auenheimer Logistik-Unternehmen,<br />

das sich auf französische Käseproduzenten<br />

spezialisiert hat. „Unser Kundenstamm<br />

kommt zu 70 Prozent aus Frankreich,<br />

wir sprechen weitgehend Französisch mit<br />

den Kunden.“ Auch viele Mitarbeiter im<br />

Betrieb unterhielten sich grundsätzlich auf<br />

Französisch. <strong>Das</strong>s die Sprache zumindest<br />

verstanden werde, sei eine Voraussetzung<br />

für die Einstellung, sagt Yves Debruyne, Vorstellungsgespräche<br />

würden auf Deutsch und<br />

auf Französisch geführt.<br />

Auch wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen<br />

hat, möchte Cyrielle Matterer nach<br />

Möglichkeit weiterhin in Auenheim arbeiten.<br />

Sie hängt an der Grenzregion, in der<br />

sie aufgewachsen ist und „in der man die<br />

Vorteile beider Länder nutzen kann“. Sollte<br />

sie irgendwann doch wieder in Frankreich<br />

arbeiten wollen, seien ihre Chancen auf einen<br />

dortigen Arbeitsplatz inzwischen wieder<br />

gestiegen, glaubt sie. „Die Ausbildung<br />

in Deutschland hat in Frankreich einen sehr<br />

guten Ruf.“ Ihr Ausbilder Yves Debruyne ist<br />

ebenfalls davon überzeugt, dass sie keine<br />

Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben wird:<br />

„Unser Ziel ist es, Lehrlinge so auszubilden,<br />

dass sie nach drei Jahren loslegen können<br />

ohne den Gedanken ‚Schaffe ich das auch?‘<br />

– und zwar sowohl in Deutschland als auch<br />

in Frankreich.“<br />

Amine fand nach der Schule<br />

in Straßburg weder Job noch<br />

Ausbildungsplatz: Jetzt ist er<br />

glücklich, dass er bei der BAG ein<br />

Einstiegsqualifizierungspraktikum<br />

absolvieren kann, das ihm<br />

die Chance auf eine Ausbildung<br />

zum Facharbeiter eröffnet.<br />

Um der Jugendarbeitslosigkeit auf der französischen Rheinseite ebenso zu begegnen<br />

wie dem Fachkräftemangel auf der deutschen, startet die BAG (BSW Anlagenbau und<br />

Ausbildung GmbH) im Juli ein Projekt, bei dem junge arbeitslose Franzosen über ein<br />

Einstiegsqualifizierungspraktikum die Chance bekommen, in ein festes Ausbildungsverhältnis<br />

übernommen zu werden.<br />

Warum sich französische Jugendliche nicht so einfach exportieren lassen<br />

>><br />

„Noch“, sagt Bernd Wiegele, „noch haben wir<br />

genügend Bewerbungen in allen Bereichen“.<br />

Die Badischen Stahlwerke und ihre Anlagenbau<br />

und Ausbildung GmbH (BAG) profitieren<br />

von ihrem guten Ruf in der Region. „Trotzdem<br />

wollen wir schon jetzt etwas tun“, erklärt<br />

der BAG-Geschäftsführer, warum sich das<br />

Unternehmen auch um Auszubildende von<br />

der anderen Rheinseite bemüht. Sechs junge<br />

Franzosen haben im Juli ein zweitägiges<br />

Schnupperpraktikum absolviert und sind im<br />

Oktober für ein Einstiegsqualifizierungsprak-


Zahlreiche Partner und ein Jahr<br />

Vorbereitungszeit waren notwendig,<br />

bis Pierre und Romain<br />

in die Arbeitskleidung der BAG<br />

schlüpfen durften.<br />

tikum zurückgekehrt, das voraussichtlich<br />

bis Juli 2014 dauern wird. Ziel ist es, dass sie<br />

anschließend eine dreieinhalbjährige gestufte<br />

Ausbildung bis zur Fachkraft für Metalltechnik<br />

oder zum Facharbeiter durchlaufen.<br />

Während dieser Zeit sind sie verpflichtet, an<br />

einem sozialpädagogischen Betreuungsprogramm<br />

und an Stützunterricht teilzunehmen<br />

– in ihrer Freizeit.<br />

Amine (19), Mahmut (17), Dejvid (23), Pierre<br />

(18), Kévin (21) und Romain (20) haben nach<br />

dem Collège keinen Ausbildungsplatz und<br />

keinen Job gefunden, waren arbeitslos. Sie<br />

kommen alle aus Straßburger <strong>Stadt</strong>vierteln,<br />

die im Ruf stehen, sozial schwierig zu sein –<br />

da ist die Adresse schon das erste Hindernis<br />

bei einer Bewerbung. Trotzdem war es schwer,<br />

berichtet Aurore Wenger von der Maison<br />

de l’Emploi (Arbeitsagentur) in Straßburg,<br />

die Jungs als Kandidaten zu gewinnen. <strong>Das</strong><br />

Projekt, das von der Maison de l‘Emploi zusammen<br />

mit der BAG, der Bundesagentur<br />

für Arbeit, der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg,<br />

der Mission Locale, der Région Alsace und<br />

unterstützt von EU-Mitteln entwickelt wurde,<br />

heißt REVE – Traum. Ob sich der Traum<br />

von der abgeschlossenen Berufsausbildung<br />

und einem Arbeitsplatz im Anschluss erfüllt,<br />

„werden wir erst 2018 wissen“, sagt Bernd<br />

Wiegele. „Aber man muss mal anfangen, um<br />

der Region zeigen zu können, es funktioniert<br />

so – oder auch nicht.“<br />

Viereinhalb Jahre wird es dauern, bis<br />

die jungen Männer den Facharbeiter-<br />

Abschluss in der Tasche haben.<br />

Könnten sie besser Deutsch,<br />

könnten sie dem Unterricht<br />

in den Beruflichen<br />

Schulen in <strong>Kehl</strong> folgen,<br />

würde ein Jahr<br />

eingespart. Bernd<br />

Wiegele versteht<br />

nicht wirklich, warum<br />

das so sein<br />

muss: „Es müsste<br />

doch möglich sein,<br />

dass diese Jugendlichen<br />

ihre Prüfung in<br />

ihrer Muttersprache ablegen können“, meint<br />

er. So wie man auch die theoretische Führerscheinprüfung<br />

beispielsweise in Türkisch machen<br />

kann. <strong>Das</strong>s sich hier etwas ändert, dafür<br />

will er sich einsetzen. „Dann wäre eine riesige<br />

Hürde weg.“<br />

Die sechs jungen Männer mussten erst wieder<br />

lernen, sich an Regeln zu gewöhnen. Zum<br />

Beispiel daran, pünktlich am Arbeitsplatz einzutreffen.<br />

Während einer schon eineinhalb<br />

Stunden vor Arbeitsbeginn im Auto auf dem<br />

Parkplatz wartete – vor lauter Angst, zu spät<br />

zu kommen –, hatten andere das Problem,<br />

dass sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

zwar bis zum <strong>Kehl</strong>er Bahnhof, nicht aber bis<br />

zur BAG in die Weststraße gelangen. Die jungen<br />

Leute oder ihre Familien verfügten nicht<br />

über ausreichend Geld, um sich ein Fahrrad<br />

leisten zu können. Deshalb hat die Région Alsace<br />

den Jungs die Räder gekauft – die Hälfte<br />

des Kaufpreises wird ihnen in Raten vom<br />

Praktikantenlohn abgezogen, den sie während<br />

des Einstiegsqualifizierungspraktikums<br />

bekommen.<br />

„Mir gefällt es sehr gut hier“, sagt Amine und<br />

strahlt. „Wir machen hier richtige Arbeit und<br />

alle sind nett zu uns. Die machen uns nicht so<br />

einen Druck.“ Von sich aus wäre weder Amine<br />

noch Kévin auf die Idee gekommen, sich<br />

auf der deutschen Rheinseite nach einem<br />

Arbeitsplatz umzuschauen – über die Berater<br />

von der Mission Locale in ihrem <strong>Stadt</strong>viertel<br />

wurden sie auf das Projekt aufmerksam gemacht.<br />

Während Kévin schon etwas Deutsch<br />

kann, muss Amine die Sprache von Grund auf<br />

lernen. Sechs Wochen Deutsch-Kompaktkurs<br />

haben die sechs Jugendlichen bereits hinter<br />

sich, bis zum Ende ihrer Ausbildung bekommen<br />

sie weiterhin wöchentlich Deutsch-Stunden<br />

– „anwendungsbezogen“, sagt Bernd Wiegele,<br />

und finanziert von der Région Alsace. In<br />

der Werkstatt haben die Ausbilder Fotos von<br />

den wichtigsten Werkzeugen mit der deutschen<br />

Bezeichnung darunter aufgehängt.<br />

„Für die Jugendlichen war der Gedanke, in<br />

Deutschland zu arbeiten, beängstigend“,<br />

weiß Vincent Horvat von der Maison de<br />

91<br />

>>


92<br />

l’Emploi. Weder die Sprache, noch das System<br />

zu kennen, nicht wirklich zu wissen, worauf<br />

sie sich einlassen, mit administrativen<br />

Problemen konfrontiert zu sein, wie zum Beispiel<br />

dem, dass man ein Konto bei einer deutschen<br />

Bank benötigt – „das war alles nicht so<br />

einfach“. Doch das Versprechen, dass sie bei<br />

der BAG nicht nur eine Ausbildung machen<br />

können, sondern, wenn sie diese mit guten Ergebnissen<br />

abschließen, auch Aussicht auf einen<br />

unbefristeten Arbeitsvertrag haben, hat<br />

die Jungs im Projekt REVE wirklich träumen<br />

lassen. „Für uns ist das eine große Chance“,<br />

sind sich Kévin und Amine einig. Wenn alles<br />

gut läuft, könnte im September eine weitere<br />

Gruppe von französischen Jugendlichen<br />

ein Einstiegsqualifizierungspraktikum nach<br />

gleichem Muster beginnen – Vincent Horvat<br />

und Bernd Wiegele arbeiten daran. Auf jeden<br />

Fall wird jede Phase, welche die sechs Jungs<br />

durchlaufen, genau evaluiert. „Vielleicht<br />

kann man das als Modell weitertragen“, hofft<br />

Bernd Wiegele, vielleicht kann es ein Modell<br />

für andere Betriebe, ja für den gesamten<br />

Oberrhein werden.<br />

Ein Jahr intensiver Vorbereitung hat es bedurft,<br />

bis die erste Gruppe starten konnte.<br />

Erfahrungen, die zeigen, wie viele Hürden<br />

zu überwinden sind, bis französische Jugendliche<br />

eine Ausbildung in Deutschland<br />

beginnen können. 23 Prozent arbeitslose<br />

Jugendliche im Elsass, Betriebe, die keine<br />

oder nicht genügend Auszubildende finden<br />

in Baden – warum die Gleichung nicht aufgeht,<br />

liegt für Jean-Claude Haller von der<br />

Straßburger Industrie- und Handelskammer<br />

auf der Hand: Für elsässische Jugendliche ist<br />

Deutschland „Volksmusik, dm, Bierfest, <strong>Kehl</strong><br />

und vielleicht noch Offenburg“, sagt er beim<br />

Eurodistrikt-Forum über Zweisprachigkeit<br />

und berufliche Ausbildung am 5. November.<br />

Wer elsässische Jugendliche für eine Ausbildung<br />

auf der deutschen Rheinseite gewinnen<br />

wolle, müsse die Eltern sensibilisieren – deren<br />

Deutschland-Bild sei jedoch in den 1970erund<br />

1980er-Jahren verhaftet. Den elsässischen<br />

Grenzgänger sähen sie immer noch als<br />

Fließband- oder Hilfsarbeiter. Die Eltern sagten<br />

sich: „Wenn mein Junger nach Deutschland<br />

geht, hat er zwar einen Job aber keine<br />

Aufstiegschancen.“<br />

„Eigentlich müsste es einen kulturellen Vorspann<br />

geben“, findet auch Bernd Wiegele,<br />

eine Möglichkeit für die Jugendlichen, mehr<br />

über Deutschland und die Gepflogenheiten<br />

auf der anderen Rheinseite zu erfahren. Auch<br />

für ihn ist manche Erfahrung neu: „Die Jungs<br />

stehen auf, wenn der Chef reinkommt“, hat<br />

er festgestellt, und wundern sich, wenn er an<br />

der Werkbank „einfach so“ mit ihnen spricht.<br />

Dazu kommt, dass die betriebliche Ausbildung,<br />

der Lehrberuf im Allgemeinen, in Frankreich<br />

ein schlechtes Ansehen genießt, was selbst elsässische<br />

Politiker wie Regionalrats präsident<br />

Philippe Richert bedauern. Michaël Schmidt,<br />

Straßburger Gemeinderat zuständig für grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit, berichtet<br />

von Inhabern florierender Handwerksbetriebe<br />

im Elsass, die trotz hoher Arbeitslosigkeit im<br />

eigenen Land keinen Nachfolger finden. „Die<br />

Jungen lassen sich lieber von einem Wachdienst<br />

anstellen, als eine Ausbildung in einem<br />

Beruf zu beginnen, bei der sie sich die Hände<br />

schmutzig machen.“<br />

Über viele Jahre hinweg hat sich die französische<br />

Regierung bemüht, möglichst<br />

viele Schülerinnen<br />

und<br />

Schüler bis zum<br />

Abitur (auch zum<br />

berufsbezogenen)<br />

zu führen. Inzwischen<br />

schließen 80<br />

Prozent jedes Jahrgangs<br />

ihre schulische<br />

Ausbildung<br />

mit der Reifeprüfung<br />

ab – bevorzugen<br />

die „formation<br />

d’excellence“ gegenüber<br />

einer klassischen<br />

Lehre. Nur 25 Prozent<br />

der elsässischen Jugendlichen<br />

lassen sich<br />

noch für Lehrberufe<br />

begeistern.<br />

Mahmut und Dejvid gehören zu<br />

den sechs Straßburger Jugendlichen,<br />

die über das Projekt<br />

REVE zu den BAG kamen. Den<br />

Deutschkurs für die jungen Männer<br />

finanziert die Région Alsace.<br />

Die wichtigsten Werkzeuge<br />

haben die Ausbilder fotografiert<br />

und mit ihren deutschen Namen<br />

an die Pinnwand geheftet.<br />

>>


Hochschule <strong>Kehl</strong><br />

Über das Wirtschaftsrecht, das Verfassungsrecht und sogar das Kommunalrecht hat<br />

das Europarecht Einzug gehalten in die Vorlesungen an der <strong>Kehl</strong>er Hochschule für Verwaltung.<br />

„Die Hochschule bildet in Sachen Europa aus und fort“, sagt Professor Gert<br />

Fieguth und verweist auf das Wahlpflichtfach Europa. Hieraus könnte sich ein Berufsfeld<br />

für die Hochschulabsolventen entwickeln: Immer mehr große Kreisstädte stellen<br />

Europa-Beauftragte ein. Zusammen mit der Universität Straßburg hat die Hochschule<br />

<strong>Kehl</strong> multinationale Seminare entwickelt, die Studierende aus verschiedenen Ländern<br />

mit Bezug zur Verwaltung zusammenbringen – auch mit Studenten aus Großbritannien,<br />

Togo und Schweden.<br />

93<br />

„Stark internationales Studienangebot“ an der <strong>Kehl</strong>er Hochschule<br />

Grenzüberschreitende Projekte und gemeinsame<br />

Exkursionen, Auslandsaufenthalte, Pflichtmodule<br />

an der Straßburger Universität und seit<br />

2012 ein gemeinsamer Studiengang mit dem<br />

Straßburger ITI-RI (Institut für Dolmetscher,<br />

Übersetzer und internationale Beziehungen):<br />

Wer an der <strong>Kehl</strong>er Hochschule für Verwaltung<br />

studiert, hat viele Möglichkeiten, die Kooperationen<br />

mit der Hochschullandschaft<br />

auf der anderen<br />

Rheinseite für sich zu nutzen.<br />

Die engste Zusammenarbeit<br />

besteht im Master-Studiengang<br />

„Management von<br />

Clustern und regionalen<br />

Netzwerken“ der <strong>Kehl</strong>er Hochschule<br />

und des Straßburger<br />

ITI-RI. Derzeit sind zehn Studenten<br />

in dem im September<br />

2012 angelaufenen Studiengang<br />

eingeschrieben, etwa<br />

zur Hälfte Deutsche, zur Hälfte<br />

Franzosen. Die meisten kommen aus Familien<br />

mit sowohl deutschem als auch französischem<br />

Elternteil. Die Entscheidung, aus<br />

dem Studiengang eine grenzüberschreitende<br />

Kooperation zu machen, habe gleich mehrere<br />

Gründe gehabt, wie Professor Hansjörg<br />

Drewello, Studiendekan und Verantwortlicher<br />

des grenzüberschreitenden Studiengangs auf<br />

deutscher Seite, sagt: Zum einen sei der Bedarf<br />

an grenzüberschreitenden Netzwerken<br />

seit der Grenzöffnung immens gestiegen,<br />

Professor Drewello<br />

zum anderen versprechen sich die beiden<br />

kooperierenden Hochschulen einen Synergie-Effekt.<br />

Die Universität Straßburg ist eine<br />

der größten Universitäten Frankreichs mit<br />

Exzellenz-Status. Die Unterrichtsmethoden<br />

an der französischen Universität bieten eine<br />

hohe Qualität an theoretischem Wissen, während<br />

wiederum die Hochschule <strong>Kehl</strong> bekannt<br />

dafür ist, eine hervorragende<br />

Ausbildung im Verwaltungsbereich<br />

mit einem markanten<br />

Teil an Berufspraxis zu leisten.<br />

Derzeit stehen die Chancen<br />

für die zukünftigen Absolventen,<br />

später eine Arbeitsstelle<br />

zu finden, sehr gut, ist<br />

Professor Hansjörg Drewello<br />

überzeugt. Die Qualifika tion,<br />

über die die Studierenden<br />

nach dem Abschluss verfügen,<br />

eröffne ihnen gleich in<br />

mehreren Ländern Zugang<br />

zum Arbeitsmarkt. Beispielsweise könnten<br />

sie dazu eingesetzt werden, Netzwerke in<br />

öffentlich-privater Kooperation zu gestalten<br />

und zu verwalten. Dem zugute komme<br />

der hohe internationale Bedarf an Cluster-<br />

Managern, was sich bereits heute im Praktikumsangebot<br />

für das vierte Semester niederschlägt.<br />

„Unternehmensnetzwerke bis hoch<br />

nach Rotterdam bieten unseren Studenten<br />

solche Plätze an, um sich den eigenen Nachwuchs<br />

zu ziehen“, erzählt der Studiendekan.<br />

>>


94<br />

Einen weiteren Master-Studiengang mit<br />

grenz übergreifender Ausrichtung – „European<br />

Administration“ – bietet die <strong>Kehl</strong>er<br />

Hochschule bereits seit mehreren Jahren<br />

an. Die Studenten besuchen unter anderem<br />

Pflichtmodule wie „European Public Policy“<br />

an der Universität Straßburg und darüber<br />

hinaus auch freiwillige Veranstaltungen,<br />

beispielsweise vergleichende Verwaltungsrechtswissenschaften,<br />

die auf der anderen<br />

Rheinseite angeboten werden.<br />

Außerdem gibt es an der 1971 gegründeten<br />

<strong>Kehl</strong>er Hochschule, an der derzeit 1020 Studierende<br />

eingeschrieben sind, die Möglichkeit,<br />

während des Studiums eine gewisse Zeit im<br />

Ausland zu verbringen, beispielsweise um ein<br />

dreimonatiges Praktikum zu machen. Dem<br />

Studierenden entstehen dadurch keine zeitlichen<br />

Nachteile, da die Praktikumszeit im Ausland<br />

auf den regulären Praxisblock angerechnet<br />

wird. Finanzielle Unterstützung können<br />

die Studenten in Form von Erasmus-Fördergeldern<br />

über die Europäische Union erhalten.<br />

Hinzu kommen einige Projekte an Hochschulen<br />

in Straßburg, die für alle <strong>Kehl</strong>er Studierenden<br />

geöffnet sind. So bietet das IEP<br />

Strasbourg (Institut für Politikwissenschaften)<br />

Projekte zu Fragen des grenzüberschreitenden<br />

Verkehrs und Transports in der Oberrheinregion<br />

an, das ITI-RI veranstaltet UN-Simulationen<br />

für Studierende beiderseits des Rheins.<br />

Darüber hinaus finden regelmäßig gemeinsame<br />

Studien fahrten der Universität Straßburg<br />

und der Hochschule <strong>Kehl</strong> zum Beispiel nach<br />

Brüssel statt. Durch diese Kooperationen<br />

kommen die deutschen und<br />

französischen Studierenden<br />

miteinander und der jeweils<br />

anderen Kultur in Kontakt. Für<br />

Professor Hansjörg Drewello<br />

ist dies besonders wichtig: Er<br />

stellt unter den Studierenden<br />

von beiden Rheinseiten noch<br />

einige Berührungsängste fest.<br />

Die Hochschule arbeite deshalb<br />

daran, diese Ängste stetig<br />

abzubauen. Die angebotenen<br />

Französischkurse seien<br />

immer gut besucht, hinzu komme ein großes<br />

Angebot an Exkursionen nach Straßburg sowie<br />

das mittlerweile stark internationale Studienangebot,<br />

sagt der Studiengangleiter.<br />

Geht es nach Professor Hansjörg Drewello,<br />

so wird die Zusammenarbeit mit Straßburg<br />

fortgesetzt und ausgebaut: „Grenzüberschreitende<br />

Kooperationen sind immer lohnenswert,<br />

gerade im Hinblick auf die konfliktreiche<br />

Vergangenheit, die wir in Europa im<br />

vergangenen Jahrhundert hatten.“ Derzeit<br />

seien die <strong>Kehl</strong>er und Straßburger Hochschulen<br />

dabei, gemeinsam mit der Westschweiz<br />

ein Forschungszentrum für Clustermanagement<br />

aufzubauen. Ziel dieser Forschungsgruppe<br />

soll die wirtschaftliche und politische<br />

Vernetzung der Oberrheinregion sein, damit<br />

auch einzelne Unternehmen von einem<br />

Synergie-Effekt profitieren können. Denn<br />

gerade auf internationaler Ebene sei das Bilden<br />

wirtschaftlicher Netzwerke noch sehr<br />

schwierig und gehe nur schleppend voran,<br />

meint der Studiendekan, der die Nähe zu<br />

Straßburg sehr schätzt, insbesondere was den<br />

französischen Einfluss auf die Gestaltung der<br />

Hochschule <strong>Kehl</strong> angeht. „Sie ist ein interessanter<br />

Mehrwert, der genutzt werden muss.“<br />

So ist bereits ein weiterer Master-Studiengang<br />

an der <strong>Kehl</strong>er Hochschule genehmigt,<br />

der die grenzüberschreitende Kooperation<br />

im Titel trägt: Der Master „Governance und<br />

Nachhaltigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit<br />

und der grenzüberschreitenden<br />

Kooperation“ ist als Fernstudium konzipiert<br />

und soll voraussichtlich 2014 anlaufen.<br />

Der französische Arbeitsminister<br />

Michel Sapin und seine deutsche<br />

Kollegin Ursula von der Leyen<br />

kommen extra nach <strong>Kehl</strong>, um<br />

die Servicestelle für deutschfranzösische<br />

Arbeitsvermittlung<br />

zu eröffnen.<br />

Die <strong>Kehl</strong>er Hochschule für<br />

Verwaltung bietet ihren Studierenden<br />

viele Möglichkeiten, die<br />

Kooperationen mit der Hochschullandschaft<br />

auf der Straßburger<br />

Rheinseite zu nutzen.<br />

>>


Grenzüberschreitende Fortbildung<br />

Die grenzüberschreitende Fortbildung – vor allem von Mitarbeitern von Gebietskörperschaften,<br />

Behörden und anderen staatlichen Einrichtungen am Oberrhein ist die Hauptaufgabe<br />

des 1993 gegründeten Euro-Instituts, das von deutschen und französischen<br />

Partnern getragen wird. Durch unzählige Fortbildungsveranstaltungen hat das Euro-<br />

Institut in den vergangenen 20 Jahren dazu beigetragen, dass sowohl die politischen<br />

Akteure als auch die Praktiker der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den Verwaltungen<br />

Vorurteile ab- und bikulturelles Verständnis aufbauen konnten. Durch seine<br />

Kompetenz in der Wissensvermittlung über die Strukturen in beiden Ländern, der Organisation<br />

und Moderation bikultureller Veranstaltungen sowie in der Erarbeitung zahlreicher<br />

Studien auf diesem Gebiet genießt das Euro-Institut heute europaweit großes Ansehen<br />

in europäischen Netzwerken und anderen Grenzregionen. Kooperationen bestehen auch<br />

mit dem Europarat, dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission.<br />

95<br />

Schon sehr früh hat das Euro-Institut durch maßgeschneiderte Seminarangebote die Kooperation<br />

zwischen deutschen und französischen Partnern erleichtert: So war das Seminar<br />

über die außerschulische Kinderbetreuung in beiden Ländern die Grundlage für den<br />

Austausch der Erzieher zwischen Kindertageseinrichtungen in <strong>Kehl</strong> und Illkirch-Graffenstaden.<br />

Mit Seminaren über Kulturpolitik und grenzüberschreitende Kulturprojekte<br />

sowie über die Gesundheitssysteme in Frankreich und Deutschland hat<br />

das Euro-Institut dazu beigetragen, den Weg für die Zusammenarbeit in diesen<br />

Bereichen vorzubereiten – um nur einige Beispiele zu nennen. Mit inzwischen<br />

etwa 150 Fortbildungs- und mehr als 270 Beratungstagen pro Jahr stößt das<br />

Euro-Institut mit seinen 13 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich zwölf<br />

Vollzeitstellen teilen, an seine Kapazitätsgrenzen.<br />

Während die Nachfrage nach Fortbildung bei Behörden und öffentlichen Einrichtungen<br />

ungebrochen hoch ist, läuft die Kooperation der Volkshochschule zwischen <strong>Kehl</strong> und<br />

Straßburg eher auf Sparflamme: Zwar werden Dozenten und Kursideen ausgetauscht und<br />

gegenseitig die Programme ausgelegt – gemeinsame Projekte gibt es jedoch derzeit keine.<br />

Arbeitsleben<br />

420 000 sozialversicherte Beschäftigte gibt es in der Ortenau und im Bezirk von Pôle de<br />

l’Emploi Straßburg, 150 000 davon auf der deutschen Rheinseite. Während die Arbeitslosenquote<br />

im Großraum Straßburg mehr als doppelt so hoch ist wie in der Ortenau, fehlen<br />

in deutschen Unternehmen vielfach Fachkräfte. 63 000 Grenzgänger gibt es im Elsass,<br />

dennoch geht ihre Zahl stetig zurück: In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der<br />

Arbeitnehmer aus dem Elsass in badischen Betrieben um 18 Prozent gesunken – obwohl<br />

der grenzüberschreitende Alltag leichter geworden ist. Fachleute auf beiden Rheinseiten<br />

gehen davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzt: Der Großteil der in den deutschen Betrieben<br />

verbliebenen Grenzgänger ist zwischen 40 und 60 Jahre alt; der Nachwuchs bleibt<br />

aus. In der Vergangenheit haben zahlreiche Grenzgänger in der industriellen Produktion<br />

gearbeitet, wo ein hohes Sprachniveau nicht gefordert war. Heute suchen die deutschen<br />

Betriebe Fachkräfte in Bereichen, in denen sehr gute Sprachkenntnisse unverzichtbar sind.<br />

Die 2013 eingerichtete Servicestelle für deutsch-französische Arbeitsvermittlung sowie<br />

15 Beraterinnen und Berater aus den Arbeitsverwaltungen und von den Sozialpartnern,<br />

die seit vielen Jahren am trinationalen Netzwerk Eures-T Oberrhein mitwirken, beraten<br />

>>


96<br />

Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Suche nach Arbeitskräften oder Arbeitsplätzen.<br />

Die Eures-T-Berater geben darüber hinaus Auskunft über den Arbeitsmarkt, die Lebensund<br />

Arbeitsbedingungen in beiden Ländern, beantworten Fragen zur Sozialversicherung<br />

oder zum Arbeits- und Steuerrecht und ergänzen dabei den Service, den die Grenzgänger-Beratungsstelle<br />

INFOBEST bietet. Beraten können jedoch alle grenzüberschreitenden<br />

Einrichtungen nur auf der Basis der bestehenden Rechtslage – und hier hemmen<br />

jahrzehntealte Abkommen die grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitnehmer oder<br />

erschweren den grenzüberschreitenden Arbeitsalltag.<br />

Gegen Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel:<br />

Die deutsch-französische Arbeitsvermittlung<br />

Anne François<br />

Franzosen, die sich vorstellen können, in<br />

Deutschland zu arbeiten, Deutsche, die bereit<br />

sind, auch in Frankreich zu arbeiten – das<br />

sind die Kunden der ersten Servicestelle Europas<br />

für grenzüberschreitende Arbeitsvermittlung,<br />

die im Februar 2013 feierlich<br />

von Bundesarbeitsministerin Ursula von der<br />

Leyen und dem französischen Arbeitsminister<br />

Michel Sapin in den Räumen der Arbeitsagentur<br />

<strong>Kehl</strong> eingeweiht wurde. Täglich setzen<br />

sich zwei deutsche und zwei französische<br />

Mitarbeiter mit Arbeitnehmerprofilen und<br />

Stellenangeboten von beiden Rheinseiten<br />

auseinander. Nach 200 Tagen betreuten sie<br />

bereits 230 Arbeitssuchende und hatten 121<br />

Menschen wieder zu Arbeit verholfen, 78 auf<br />

der deutschen Rheinseite, 36 auf der französischen<br />

und den Übrigen in der Schweiz,<br />

in Luxemburg und in Italien. 41 Arbeitssuchende<br />

hatte die Servicestelle direkt und<br />

erfolgreich bei neuen Arbeitgebern platziert.<br />

Ziel der deutsch-französischen Servicestelle<br />

ist es, Menschen in Arbeit zu bringen. Ganz<br />

egal, ob es sich um deutsche oder französische<br />

Arbeitssuchende handelt, wird versucht,<br />

sie in der Region Straßburg/Ortenau zu vermitteln,<br />

stellt Horst Sahrbacher, Vorsitzender<br />

der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit<br />

Offenburg, klar. „Wir zeigen die Möglichkeiten<br />

auf der deutschen Seite auf, aber auch<br />

im Elsass.“ Die Arbeitsvermittler müssen<br />

dafür den Arbeitsmarkt auf beiden Rheinseiten<br />

kennen. Sie müssen nicht nur die Funktionsweise<br />

verstehen, sondern auch wissen,<br />

„was macht der Industriemechaniker auf der<br />

deutschen und was auf der französischen<br />

Rheinseite“, erläutert Horst Sahrbacher. Eine<br />

Steue rungsfunktion sollen die Arbeitsvermittler<br />

dabei bewusst nicht übernehmen.<br />

„Die Profile sind ganz unterschiedlich, es<br />

kommen sowohl Handwerker, Verkäufer<br />

als auch Manager zu uns“, erklärt<br />

Anne François, die für die französi sche<br />

Arbeitsagentur Pôle de l’Emploi<br />

in der Arbeitsvermittlungsstelle<br />

arbeitet, „und sie kommen von<br />

überall aus dem Grenzgebiet,<br />

>>


Elke Phillips<br />

In den Räumen der Bundesagentur<br />

für Arbeit ist seit Februar<br />

die Servicestelle für deutschfranzösische<br />

Arbeitsvermittlung<br />

untergebracht.<br />

um nach einem Job zu suchen“. Die meisten<br />

hätten aus den Medien von der neuen Servicestelle<br />

erfahren und sich direkt gemeldet, weitere<br />

Arbeitssuchende hätten über andere Arbeitsvermittlungsstellen<br />

aus der Region den Weg<br />

nach <strong>Kehl</strong> gefunden, erklärt Elke Phillips, die<br />

als deutsche Mitarbeiterin bei der grenzüberschreitenden<br />

Vermittlungsstelle beschäftigt ist.<br />

Die deutschen Mitarbeiter sind bei der Arbeitsagentur<br />

angestellt, die französischen bei Pôle<br />

de l’Emploi. „Hier arbeiten zwei autonome<br />

staatliche Institutionen zusammen“, macht<br />

Horst Sahrbacher deutlich, „wir bieten einen<br />

gemeinsamen Service unter Wahrung aller<br />

nationalen rechtlichen Vorschriften“. Weil die<br />

EDV-Systeme nicht kompatibel sind, müssen<br />

die Arbeitsvermittler die Bewerber in beiden<br />

Systemen erfassen, alle Beratungsvermerke<br />

und alle Abmeldungen doppelt eingeben. „Jeder<br />

Vermittler hat zwei PC auf dem Schreibtisch<br />

stehen“, bedauert Horst Sahrbacher<br />

und setzt eine gemeinsame Datenbank ganz<br />

oben auf die Wunschliste. <strong>Das</strong>s die deutschen<br />

Mitarbeiter 41 Stunden pro Woche arbeiten,<br />

die französischen Kollegen 35 und die Feiertage<br />

nicht alle deckungsgleich sind, sind im<br />

Vergleich dazu vernachlässigbare Probleme.<br />

Seit dem Start des Services für grenzüberschreitende<br />

Arbeitsvermittlung Strasbourg/<br />

Ortenau im Februar 2013 konnten die deutschen<br />

und französischen Mitarbeiter statistisch<br />

betrachtet an jedem zweiten Tag einem<br />

Arbeitssuchenden einen Job verschaffen.<br />

Ferner werden im Durchschnitt rund 230<br />

Bewerber umfassend beraten. Eine deutliche<br />

Mehrheit der Arbeitnehmer stammt dabei aus<br />

Frankreich. Während die Arbeitslosenquote<br />

im Elsass 2012 bei etwa 9,5 – in Straßburg bei<br />

10,6 – Prozent lag, betrug sie in der Ortenau<br />

um die vier Prozent. Außerdem arbeiten seit<br />

Jahren mehr Elsässer in Baden als Badener<br />

im Elsass: Während aus Frankreich 23 000<br />

Arbeitnehmer täglich auf die deutsche Rheinseite<br />

pendeln, sind es nur rund 300 Badener,<br />

die ihren Arbeitsplatz im Elsass haben.<br />

Im Moment sieht es nicht danach aus, als<br />

könnte sich das Verhältnis in naher Zukunft<br />

umkehren: „In den nächsten 15 Jahren werden<br />

knapp 23 Prozent der Beschäftigten im<br />

Ortenaukreis in den Ruhestand gehen“, weiß<br />

Horst Sahrbacher, gleichzeitig sinke die Zahl<br />

der jungen Menschen, die eine Ausbildung<br />

beginnen, ebenfalls um 30 Prozent. Im Elsass<br />

nehme zwar die Zahl der älteren Menschen<br />

ebenfalls zu, dafür betrage der Anteil der<br />

jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung<br />

aber 33 Prozent, im Vergleich zu 26 Prozent<br />

im Ortenaukreis. Für den Arbeitsmarkt<br />

bedeute dies, dass auf der französischen<br />

Rhein seite ein ausreichendes Angebot an Arbeitskräften<br />

vorhanden sein werde, auf der<br />

deutschen Rheinseite kündige sich der Mangel<br />

bereits an.<br />

Um die Erwartungen der Arbeitnehmer und<br />

Arbeitgeber aus dem Nachbarland besser verstehen<br />

zu können, haben die zwei deutschen<br />

und zwei französischen Arbeitsvermittler<br />

an einem interkulturellen Training des Euro-<br />

Instituts teilgenommen. Unterschiede zwischen<br />

der deutschen und der französischen<br />

Arbeitswelt gibt es nämlich zuhauf. Schon die<br />

Bewerbungsunterlagen haben in beiden Systemen<br />

verschieden auszusehen: Ein ausführliches<br />

Arbeitszeugnis gibt es zum Beispiel in<br />

Frankreich nicht. Die Chance eines Kandidaten,<br />

ohne Arbeitszeugnis einen Job zu finden,<br />

ist in Deutschland jedoch eher gering. „Deshalb<br />

ist es sehr wichtig, die deutschen Arbeitgeber<br />

über die französische Vorgehensweise<br />

zu informieren“, erklärt Anne François. Auch<br />

Bewerbungsfotos sind in Frankreich nicht üblich:<br />

„Wenn man französische Arbeitnehmer<br />

nach einem Bewerbungsfoto fragt, kommen<br />

sie oft mit einem Passfoto oder einem ausgeschnittenen<br />

Ferienfoto wieder“, berichtet Elke<br />

Phillips lächelnd. „Dann raten wir ihnen, bei<br />

einem Fotografen in Deutschland ein professionelles<br />

Bewerbungsfoto machen zu lassen.“<br />

Einmal vermittelt, ist der Kulturschock für die<br />

französischen Arbeitnehmer in der deutschen<br />

Arbeitswelt nicht mehr allzu groß: Dank eines<br />

von Pôle de l’Emploi organisierten „Ortenau-<br />

Workshops“ wissen sie schon vor Arbeitsbeginn<br />

in etwa, was auf sie zukommt. „Viele<br />

haben auch schon vorher Arbeitserfahrung<br />

97<br />

>>


98<br />

in Deutschland gesammelt“, berichtet Anne<br />

François. Sprachlich gebe es allerdings manchmal<br />

Schwierigkeiten, denn selbst wenn das nötige<br />

Sprachniveau von dem gesuchten Job abhänge,<br />

sei eine solide sprachliche Grundlage<br />

auf jeden Fall notwendig. Wer beide Sprachen<br />

fließend beherrscht, habe einen großen Vorteil:<br />

„<strong>Das</strong> macht einen Kandidaten in der Grenzregion<br />

sehr attraktiv“, sagt Anne François, viele<br />

Unternehmen aus verschiedenen Bereichen<br />

seien an solchen Bewerbern interessiert.<br />

Mit den registrierten Arbeitssuchenden halten<br />

die Vermittler regelmäßig direkten Kontakt<br />

– per Telefon, E-Mail oder im persönlichen<br />

Gespräch. Da die zu betreuende Arbeitnehmerzahl<br />

im Vergleich zu einer normalen Arbeitsvermittlungsstelle<br />

niedriger ist, haben<br />

die deutschen und französischen Vermittler<br />

die Möglichkeit, den einzelnen Bewerbern individuell<br />

mehr Zeit zu widmen. „Der Kontakt<br />

zu den Menschen ist direkter und intensiver“,<br />

sagt Vermittlerin Elke Phillips. Außerdem<br />

habe die Arbeit in der deutsch-französischen<br />

Servicestelle einen weiteren, entscheidenden<br />

Vorteil, meint ihre Kollegin Anne François: „Die<br />

Motivation der grenzüberschreitenden Kandidaten<br />

ist riesengroß.“<br />

>><br />

Ein Gewinn für beide Seiten: Ein junger Straßburger lernt in Kittersburg<br />

Ein <strong>Kehl</strong>er Unternehmen, das die Vorteile<br />

des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes<br />

in der Region sehr schätzt, ist die auf<br />

Sanitär- und Heizungsanlagen sowie erneuerbare<br />

Energien spezialisierte Firma<br />

Egg in Kittersburg: Drei ihrer elf Mitarbeiter<br />

kommen aus dem Elsass. „Wir sind<br />

viel in Frankreich beschäftigt“, sagt Geschäftsführer<br />

Klaus Egg, „deshalb haben<br />

wir schon 1987 erstmals Elsässer eingestellt“.<br />

Bei seinen Mitarbeitern lege er Wert<br />

auf „das Menschliche, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit,<br />

Arbeitswille“ – die Nationalität<br />

hingegen spiele keine Rolle. Aufgrund seiner<br />

guten Erfahrungen hat der Firmenchef<br />

im Juli einen weiteren jungen Franzosen<br />

eingestellt, den die <strong>Kehl</strong>er Servicestelle für<br />

grenzüberschreitende Arbeitsvermittlung<br />

zu ihren erfolgreich vermittelten Arbeitnehmern<br />

zählt.<br />

Der 19-jährige Gaetan Kuhn nimmt an einem<br />

Programm der AFPA Alsace teil, dem<br />

Verband für berufliche Erwachsenenbildung<br />

im Elsass. Dabei erwerben junge<br />

Elsässer den französischen Elektriker-<br />

Abschluss und absolvieren anschließend<br />

in einem deutschen Betrieb sowie bei der<br />

Berufsschule und der Gewerbeakademie<br />

in Offenburg eine duale Ausbildung. Dem<br />

Ausbildungsbetrieb werden vom Partner<br />

der AFPA, der Bundesagentur für Arbeit,<br />

50 Prozent des Arbeitnehmerbruttogehalts<br />

sowie die Lehrgangskosten erstattet.<br />

Im Gegenzug bietet das Unternehmen dem<br />

Arbeitnehmer einen unbefristeten Arbeitsvertrag.<br />

„Wir haben Schwierigkeiten, qualifizierte<br />

Fachkräfte zu finden und drüben<br />

stehen die Jugendlichen ohne Ausbildung<br />

da“, sagt Klaus Egg, „deshalb ist dieses<br />

Programm für beide Seiten sinnvoll“.<br />

Gaetan Kuhn, der in Straßburg wohnt,<br />

kann sich noch entscheiden, ob er sich bei<br />

der Ausbildung zum Anlagenmechaniker<br />

in Kittersburg auf den Bereich Sanitärund<br />

Heizungstechnik oder erneuerbare<br />

Energien spezialisieren will, beide Möglichkeiten<br />

bietet ihm die Firma Egg. Sprachlich<br />

sei er froh, im Betrieb hauptsächlich an<br />

der Seite eines französischen Kollegen zu<br />

arbeiten, sagt er: „<strong>Das</strong> ist learning by doing.“<br />

Deutsche Fachbegriffe lerne er nach<br />

und nach – was er nicht versteht, übersetzen<br />

die anderen Mitarbeiter für ihn. Auch<br />

habe er festgestellt, dass in Deutschland<br />

manche Arbeiten anders ausgeführt werden:<br />

„<strong>Das</strong> ist alles sehr genau, jedes Detail<br />

ist wichtig“, meint Gaetan Kuhn, und sein<br />

Chef fügt ein erklärendes Beispiel hinzu:<br />

„Auf gerade verlaufende Rohrführungen<br />

wird in Frankreich nicht unbedingt Wert<br />

gelegt, schräge Anschlüsse kommen bei<br />

uns hingegen gar nicht in Frage.“<br />

Klaus Egg (rechts) beschäftigt in<br />

seiner Firma in Kittersburg bereits<br />

seit 1987 Elsässer. Seit Juli<br />

zählt auch Gaetan Kuhn dazu.


BSW: Langfristige Personalplanung auch über die Landesgrenze hinaus<br />

Wenn die Badischen Stahlwerke<br />

Fachkräfte suchen, schaltet das<br />

Unternehmen auch Anzeigen auf<br />

der französischen Rheinseite –<br />

allerdings in deutscher Sprache.<br />

Die Badischen Stahlwerke (BSW) kooperieren<br />

mit Schulen in Straßburg und finanzieren eine<br />

private Ingenieursschule mit. <strong>Das</strong> Unternehmen<br />

und seine Anlagenbau<br />

und Ausbildung GmbH (BAG)<br />

stellen sich auf den Berufsbildungsmessen<br />

in Straßburg<br />

und Colmar vor; wenn Fachkräfte<br />

gesucht werden, schalten<br />

die BSW auch Anzeigen in<br />

französischen Zeitungen. Allerdings<br />

in deutscher Sprache.<br />

Fachkräfte, vor allem Ingenieure,<br />

sind Mangelware<br />

in Deutschland, doch Mindestkenntnisse<br />

in Deutsch<br />

sind unverzichtbar, weiß Personalchef Torsten<br />

Berger aus Erfahrung. Menschen aus<br />

18 Nationen arbeiten bei den BSW – einige<br />

davon haben einen Teil ihres Studiums an einer<br />

deutschen Universität absolviert. 1989<br />

gehörten 110 Grenzgänger aus dem Elsass<br />

zur Stammbelegschaft der BSW, heute sind<br />

es noch 70 von insgesamt mehr als 850 Mitarbeitern,<br />

sagt Torsten Berger. Ein Gutteil der<br />

Grenzgänger ist bereits in Rente gegangen,<br />

bei anderen steht der Ruhestand kurz bevor.<br />

„Da waren viele Meister dabei.“ Heute sind<br />

die Grenzgänger eher unter den Hilfskräften<br />

Michel Hamy<br />

zu finden – ein Umstand, den Michel Hamy,<br />

Technischer Geschäftsführer bei den BSW und<br />

selber Grenzgänger, „sehr, sehr traurig“ findet.<br />

In Deutschland gebe es einen<br />

hohen Bedarf an Fachkräften<br />

und Ingenieuren, in Frankreich<br />

eine hohe Arbeitslosigkeit,<br />

„aber das Elsass ist nicht<br />

vorbereitet“. Ohne Deutsch-<br />

Kenntnisse „haben Sie in<br />

Mittelstands-Firmen keine<br />

Chance“, weiß Michel Hamy<br />

auch von Geschäftsführern<br />

anderer deutscher Unternehmen.<br />

<strong>Das</strong> Elsass und Baden<br />

„werden nicht als gemeinsame<br />

Wirtschafts region gesehen“, bedauert<br />

Bernd Wiegele, Geschäftsführer der BAG.<br />

„Wir wissen zu wenig voneinander.“<br />

Der Versuch, eine deutsch-französische Meisterausbildung<br />

zu installieren, ist mehr oder<br />

weniger an den Unterschieden im System gescheitert.<br />

Französischen Jugendlichen, die in<br />

Frankreich auf dem beruflichen Gymnasium<br />

ihr Fachabitur gemacht hatten, „war es schwer<br />

zu vermitteln, dass sie in Deutschland wieder<br />

in die Berufsschule müssen“, hat Bernd Wiegele<br />

festgestellt. Einer von zehn Teilnehmern<br />

hat es am Ende zum Meister geschafft. „<strong>Das</strong><br />

deutsche System der dualen Ausbildung ist<br />

perfekt“, sagt der Franzose Michel Hamy. Die<br />

französischen Jugendlichen hätten im Gegensatz<br />

zu ihren deutschen Altersgenossen mit 18<br />

oder 19 Jahren keinerlei Praxiserfahrung.<br />

Die BSW engagieren sich seit Jahren in der<br />

ECAM Strasbourg-Europe, einer privaten<br />

technischen Hochschule, direkt in der Ausbildung<br />

junger Studenten des Ingenieurwesens.<br />

Seit Juni ist Michel Hamy der neue<br />

Präsident. „Wir sind als Stahlindustrie nicht<br />

sexy“, sagt der Geschäftsführer, dennoch<br />

wissen die BSW, was sie zu bieten haben: Einer<br />

ECAM-Studentin hat das Unternehmen<br />

99<br />

>>


100<br />

angeboten, ihre Diplom-Arbeit in den USA<br />

zu schreiben, auch Aufenthalte in Mexiko<br />

oder Australien haben die BSW angehenden<br />

Ingenieuren schon ermöglicht. Michel Hamy<br />

nimmt junge Ingenieure mit auf Auslandsreisen,<br />

„um die Attraktivität des Berufes zu<br />

zeigen“. Mehrsprachige Mitarbeiter mit interkulturellen<br />

Fähigkeiten sind für das Unternehmen<br />

ein Gewinn.<br />

Studenten und Auszubildende werden zudem<br />

mit zusätzlichen Angeboten unterstützt wie<br />

Teamtraining, Unterweisung in Präsentationstechnik,<br />

Training für freie Rede, Wiederholung<br />

des Unterrichtsstoffs aus der Berufsschule<br />

für schwächere Schulabgänger,<br />

Sprachkurse. Ziel all dieser Aktionen ist zum<br />

einen die langfristige Personalentwicklung,<br />

zum andern geht es darum, die qualifizierten<br />

Fachkräfte an das Unternehmen zu binden,<br />

stellt Torsten Berger klar. 40- bis 45-jährige<br />

Betriebszugehörigkeit ist bei den BSW eher die<br />

Regel als die Ausnahme – von vielen der rund<br />

1400 Mitarbeitern in den zwölf zur Firmengruppe<br />

der BSW gehörenden Unternehmen<br />

„hat der Großvater schon hier gearbeitet“, weiß<br />

der Personalchef. Die Fluktuation ist gering,<br />

„wer hier ist, hat gute Entwicklungschancen“.<br />

Damit das auch bei der sogenannten „Generation<br />

Y“ so bleibt, für die nicht nur gute<br />

Bezahlung, sondern auch ausreichend Freizeit<br />

die Lebensqualität bestimmt, beschäftigen<br />

die BSW eine Gesundheitsmanagerin.<br />

Die klärt nicht nur über gesunde Ernährung<br />

auf, die Auszubildenden kochen auch mal<br />

gemeinsam oder fahren für einen Lehrgang<br />

eine Woche lang zusammen in den Schwarzwald<br />

– in ein Gebiet, wenn möglich, gänzlich<br />

ohne Handy-Empfang.<br />

Hemmnis für den grenzenlosen Arbeitsmarkt:<br />

Grenzgänger-Abkommen „nicht mehr zeitgemäß“<br />

Bernhard Honauer, Geschäftsführer<br />

von Press Control<br />

(rechts), würde französische<br />

Mitarbeiter wie den elsässischen<br />

Ingenieur Guy Spohr gerne<br />

genauso einsetzen wie deutsche<br />

– doch das Grenzgänger-<br />

Abkommen setzt nicht mehr<br />

zeitgemäße Schranken.<br />

>><br />

Techniker, Ingenieure, Projektplaner: Bernhard<br />

Honauer, Geschäftsführer von Press Control,<br />

hat Mühe die offenen Stellen in der Firma mit<br />

deutschen Bewerbern zu besetzen. Deshalb<br />

gibt das Unternehmen seine Jobangebote<br />

auch an die Servicestelle für deutsch-französische<br />

Arbeitsvermittlung, deshalb sucht der<br />

Geschäftsführer Ingenieure auch mit Stellenausschreibungen<br />

auf der französischen<br />

Rheinseite.<br />

Vier von 42 Mitarbeitern von Press Control<br />

sind Franzosen – alle sind Elsässer, Verständigungsprobleme<br />

gibt es kaum. Die Schwierigkeiten<br />

mit der Beschäftigung französischer<br />

Techniker liegen für Bernhard Honauer auf<br />

einem ganz anderen Gebiet: Ihn – und seine<br />

französischen Mitarbeiter – ärgert das<br />

deutsch-französische Grenzgänger-Abkommen.<br />

„<strong>Das</strong> ist nicht mehr zeitgemäß.“ Ein französischer<br />

Mitarbeiter, der in Frankreich wohnt,<br />

zahlt seine Lohn- oder Einkommenssteuer in<br />

Frankreich. Allerdings gilt das nur so lange, wie<br />

er nicht mehr als 45 Tage im Jahr außerhalb<br />

der Grenzzone eingesetzt ist. Wer für seinen<br />

Betrieb häufiger Montage- oder Wartungsarbeiten<br />

in anderen Teilen der Bundesrepublik<br />

oder in anderen europäischen Ländern ausführt,<br />

der verliert den Grenzgängerstatus und<br />

muss seine Steuern in Deutschland bezahlen.<br />

Für die Betroffenen wird das teuer – die<br />

Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern zahlt in<br />

Deutschland im Regelfall fast doppelt so viel<br />

Einkommenssteuer wie in Frankreich. Der Franzose,<br />

der in Deutschland besteuert wird, aber<br />

in Frankreich lebt, muss zusätzlich die lokalen<br />

Steuern vor Ort entrichten. Größter Brocken<br />

ist die Taxe d’habitation, die Wohnsteuer, die<br />

von Hausbesitzern wie von Mietern zu zahlen<br />

ist und mehrere Tausend Euro im Jahr ausmachen<br />

kann. Bernhard Honauer hat deshalb<br />

Verständnis, wenn die französischen Mitarbeiter<br />

darauf achten, dass sie die 45-Tage-<br />

Regelung einhalten. Für das Unternehmen ist<br />

es jedoch problematisch: „Ich würde französische<br />

Mitarbeiter gerne genauso einsetzen wie<br />

die deutschen“, sagt der Geschäftsführer.


Grenzgänger-Abkommen: Alle sechs Monate geht ein Brief ans Finanzamt<br />

„Ich kann Ihnen sagen, das war sehr viel Geld“:<br />

Michel Hamy, seit 2004 Technischer Geschäftsführer<br />

bei den Badischen Stahlwerken (BSW),<br />

hat seine ganz persönlichen Erfahrungen mit<br />

dem Grenzgänger-Abkommen gemacht, als<br />

das <strong>Kehl</strong>er Finanzamt vor einigen Jahren zur<br />

Kontrolle kam. Auch drei Ingenieure, die beruflich<br />

viel reisen mussten, waren betroffen.<br />

„Wir haben die 45-Tage-Regelung sehr gut<br />

gelernt“, erklärt der Geschäftsführer, der damals<br />

150 bis 160 Tage im Jahr unterwegs war –<br />

meist außerhalb der Grenzzone. Bei der nächsten<br />

Kontrolle, fünf Jahre später, sei auch der<br />

Samstag als Arbeitstag gezählt worden – „da<br />

hat es mich noch einmal getroffen“. Er wollte<br />

daraufhin seine Privilegien als Grenzgänger<br />

aufgeben und grundsätzlich in Deutschland<br />

steuerpflichtig werden – doch das ließ die<br />

französische Finanzverwaltung nicht zu.<br />

Seither beschäftigen die BSW zwei Wirtschaftsprüfer,<br />

einen deutschen und einen<br />

französischen, die das Unternehmen beraten.<br />

Alle sechs Monate geht ein Brief ans Finanzamt,<br />

um nachzufragen, ob es in Sachen<br />

Grenzgänger-Abkommen irgendwelche Änderungen<br />

gegeben hat.<br />

101<br />

70 000 grenzüberschreitende Beratungsgespräche in 20 Jahren<br />

70 000 Menschen, Franzosen und Deutsche,<br />

die einen grenzüberschreitenden Alltag gelebt<br />

haben oder sich darin versuchen wollten,<br />

hat die deutsch-französische Beratungsstelle<br />

INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg seit ihrer<br />

Gründung 1993 beraten. In den Anfragen,<br />

die sich in den vergangenen Jahren bei mehr<br />

als 4000 jährlich stabilisiert haben, spiegeln<br />

sich die aktuellen Probleme der Grenzgänger<br />

wider. Waren es in den 90er-Jahren vermehrt<br />

deutsche Staatsbürger, die sich wegen eines<br />

avisierten Umzugs nach Frankreich beraten<br />

ließen, hat sich diese Situation seit der<br />

Jahrtausendwende verändert: Seither ziehen<br />

deutlich mehr Menschen von der französischen<br />

auf die deutsche Rheinseite um.<br />

Die Rehfus-Villa beherbergt seit<br />

20 Jahren grenzüberschreitende<br />

Einrichtungen, die dazu beitragen,<br />

den Menschen im Grenzgebiet<br />

den deutsch-französischen<br />

Alltag zu erleichtern.<br />

In Krisenzeiten ist das INFOBEST-Team<br />

als Berater in Sachen Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit<br />

sehr gefragt, auch Sozialversicherungsfragen,<br />

Kinder-, Erziehungs- oder<br />

Elterngeld sind Themen, bei denen sich für<br />

Menschen, die ihren Arbeitsplatz im einen,<br />

ihren Wohnort aber im anderen Land haben,<br />

bisweilen immer noch komplizierte Fragen<br />

stellen. Bereits seit vielen Jahren übersteigt<br />

der Anteil der französischen Ratsuchenden<br />

den der deutschen bei weitem. <strong>Das</strong> liegt<br />

einfach darin begründet, dass viel mehr<br />

Menschen, die im Elsass wohnen, auf der<br />

deutschen Rheinseite arbeiten, als dies umgekehrt<br />

der Fall ist.<br />

>>


Wirtschaft<br />

102<br />

Die wirtschaftlichen Verflechtungen über die Grenze hinweg sind vielfältig; die Wege,<br />

welche die Unternehmen wählen, unterschiedlich: Während Firmen wie der Wohnmobil-Hersteller<br />

Bürstner im <strong>Kehl</strong>er Hafen und in Wissembourg produzieren, hat auch<br />

die Actimage GmbH (IT-Lösungen) neben der Dependance in der <strong>Kehl</strong>er Kaserne eine<br />

weitere in Straßburg. Die Dalim Software GmbH ist in Kellerräumen der Straßburger<br />

Universität entstanden und agiert heute von <strong>Kehl</strong> aus weltweit; die Sparkasse<br />

Hanauer land kooperiert mit der Caisse d’Epargne d’Alsace, die Volksbanken in der<br />

Region betreuen Kunden gemeinsam mit der Banque Populaire d’Alsace.<br />

Ein weiteres Beispiel für grenzüberschreitende Verflechtungen ist die Firma Optronis:<br />

<strong>Das</strong> Unternehmen, das als Spin-Off einer französischen Forschungsgruppe der Uni<br />

Straßburg entstanden ist, entwickelt seit den 80er-Jahren Streakkameras. Heute sind<br />

Streakkameras, die kurze optische Impulse messen und in der Grundlagenforschung<br />

eingesetzt werden und Highspeed-Videokameras, die bis zu 1000 Bilder pro Sekunde<br />

aufnehmen und schnell laufende Produktionsprozesse sichtbar machen können, die<br />

beiden Standbeine der Firma. Mitarbeiter und Praktikanten von Optronis kommen<br />

häufig aus dem Umfeld der Straßburger Universität. <strong>Das</strong> Unternehmen war bis Mitte<br />

2013 in der <strong>Kehl</strong>er Honsellstraße untergebracht. Inzwischen hat Optronis seinen<br />

Neubau in der Ludwigstraße im Gebiet des <strong>Kehl</strong>er Hafens bezogen. Bei der von der<br />

<strong>Kehl</strong>er Wirtschaftsförderung begleiteten Standortsuche ging es Geschäftsführer Patrick<br />

Summ vor allem um eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr nach<br />

Straßburg und Offenburg.<br />

Bei der Firma Nußbaum kommen<br />

von 500 Mitarbeitern 200 aus<br />

dem Elsass. Ohne sie, sagt Firmen -<br />

chef Hans Nußbaum, wäre das<br />

schnelle Wachstum des Unternehmens<br />

nicht möglich gewesen.<br />

>><br />

Beim Hebebühnen-Hersteller Nußbaum in Bodersweier kommen von 500 Mitarbeitern<br />

200 aus dem Elsass. Darunter seien gebürtige Elsässer, Franzosen aus Zentralfrankreich<br />

und Franzosen aus den Maghreb-Ländern, berichtet Firmenchef Hans Nußbaum.<br />

„Wir sind dankbar und froh über diese Mitarbeiter – ohne sie wäre unser schnelles<br />

Unternehmenswachstum nicht<br />

möglich gewesen.“ Auch Hans<br />

Nußbaums Sekretärin und die<br />

seines Sohnes sind Französinnen.<br />

Die Kinder der französischen<br />

Mitarbeiter absolvierten zwar<br />

Praktika im Betrieb, um Ausbildungsplätze<br />

bewerben sie sich<br />

jedoch nicht – zu groß sind die<br />

Unterschiede in der Ausbildung,<br />

schätzt Hans Nußbaum. Unter<br />

Von 4282 Beschäftigten bei den Firmen im<br />

<strong>Kehl</strong>er Hafen kommen 683 aus Straßburg<br />

und dem Elsass. Bei der Hafenverwaltung<br />

selber arbeitet bislang nur ein Franzose als<br />

Umschlagsarbeiter. Schreibt die Hafenverwaltung<br />

eine Stelle aus, so geschieht das aktuell<br />

nur in der Ortenau.<br />

den 50 Lehrlingen der Otto Nußbaum GmbH ist seit dem 26. August ein französischer<br />

Jugendlicher – und der ist über private Beziehungen ins Unternehmen gekommen.<br />

Seine theoretische Ausbildung macht er in Mulhouse in größeren Blöcken – das Lehrlingsgehalt<br />

bezahlt in dieser Zeit die Région Alsace. Nach zwei Jahren bekommt er<br />

in Frankreich seinen Abschluss. Allerdings einen, der in Deutschland nicht anerkannt<br />

wird. Um sein Facharbeiter-Zeugnis zu bekommen, müsste der französische Jugendliche<br />

seine Ausbildung um eineinhalb Jahre verlängern und in dieser Zeit die deutsche<br />

Berufsschule besuchen. Hans Nußbaum hofft nun, dass die Industrie- und Handelskammer<br />

– vorausgesetzt, dass der junge Mann gute Leistungen erbringt – eine Ausnahme<br />

zulässt.


Die älteste grenzüberschreitende Liaison:<br />

Die Kooperation der Rheinhäfen <strong>Kehl</strong> und Straßburg<br />

Von der breiten Öffentlichkeit ziemlich unbemerkt<br />

arbeiten die Rheinhäfen <strong>Kehl</strong> und<br />

Straßburg seit 62 Jahren grenzüberschreitend<br />

zusammen: geräuschlos und einmütig.<br />

Seit das Land Baden-Württemberg und<br />

der vom französischen Staat ermächtigte<br />

Straßburger Hafen (Port Autonome de<br />

Strasbourg) am 19. Oktober 1951 das <strong>Kehl</strong>er<br />

Hafenabkommen unterzeichnet und damit<br />

bestimmt haben, dass der Verwaltungsrat<br />

der <strong>Kehl</strong>er Hafenverwaltung paritätisch mit<br />

deutschen und französischen Mitgliedern<br />

besetzt werden muss, wurden dem Gremium<br />

mehr als 2000 Vorschläge der <strong>Kehl</strong>er Hafen-<br />

Direktion zur Entscheidung<br />

vorgelegt. Alle Beschlüsse<br />

wurden einstimmig gefasst.<br />

Im Straßburger Hafenrat,<br />

wo drei deutsche Vertreter<br />

sitzen, ist es nicht anders:<br />

nur einstimmige Beschlüsse.<br />

Die drei deutschen Mitglieder<br />

im Straßburger Hafenrat<br />

verfügen ebenso über volles<br />

Stimmrecht wie die drei<br />

Straßburger Mitglieder im<br />

<strong>Kehl</strong>er Hafenrat. Und nicht<br />

nur das: „Jeder kann dem anderen<br />

in alle Geschäftsvorfälle sehen, wenn<br />

er will. Jeder kann die Gewinn- und Verlustrechnung,<br />

alle Unterlagen einsehen“, erklärt<br />

der <strong>Kehl</strong>er Hafendirektor Karlheinz Hillenbrand.<br />

Was normalerweise unter das Stichwort<br />

Geschäftsgeheimnis fällt, wird in den<br />

Sitzungen der Hafenräte offen besprochen.<br />

Über die Jahre ist ein „enormes Vertrauensverhältnis“<br />

gewachsen – unabhängig von den<br />

Personen, welche die Ratssitze innehatten.<br />

Konkurrenzdenken ist allen Beteiligten fremd:<br />

„Es sind die Unternehmen, die sich Konkurrenz<br />

machen, nicht die Hafenverwaltungen.“<br />

Die sind nach Aussagen von Karlheinz Hillenbrand<br />

eher darauf aus, sich zu ergänzen<br />

und sich zu unterstützen, wenn es Ausfälle<br />

Karlheinz Hillenbrand<br />

gibt. Technische Pannen oder kritische Situationen<br />

an Wochenenden, wenn Schiffe, die<br />

beladen werden müssen, zu spät eintreffen.<br />

Die werden dann dort beladen, wo noch Mitarbeiter<br />

des Hafens zur Verfügung stehen.<br />

„Es ist wichtig, dass wir gewisse Kapazitäten<br />

vorhalten.“ Preisabsprachen im Containergeschäft<br />

gibt es nicht, sie würden sich, sagt der<br />

<strong>Kehl</strong>er Hafendirektor, auch gar nicht lohnen,<br />

„weil der Hafen in diesem Bereich nicht viel<br />

Geld verdienen kann“. Stattdessen suchen<br />

die beiden Häfen aktuell lieber nach einer<br />

gemeinsamen Lagerfläche für Leercontainer.<br />

Für Karlheinz Hillenbrand ist das eine äußerst<br />

positive Entwicklung, die<br />

von den Verfassern des <strong>Kehl</strong>er<br />

Hafenabkommens 1951<br />

– Teile der <strong>Kehl</strong>er Innenstadt<br />

waren damals noch französisch<br />

– nicht so gedacht war.<br />

<strong>Das</strong> damalige Abkommen,<br />

das aus der Hafenverwaltung<br />

<strong>Kehl</strong> eine Körperschaft<br />

öffentlichen Rechts machte,<br />

hatte vor allem das Ziel, dass<br />

der <strong>Kehl</strong>er Hafen nach dem<br />

Krieg wieder aufgebaut und<br />

verwaltet werden konnte. Am<br />

10. Mai 1994 wurde es durch ein vom Land<br />

Baden-Württemberg und dem französischen<br />

Staat unterzeichnetes Abkommen ersetzt,<br />

das die Fortsetzung der Zusammenarbeit regelt<br />

und die wechselseitige Vertretung in den<br />

Aufsichtsgremien festlegt.<br />

In den vielen Jahren der vertrauensvollen<br />

Zusammenarbeit kann sich Karlheinz Hillenbrand<br />

nur an eine - kurzfristig – schwierige<br />

Situation erinnern: Als das Land Baden-Württemberg<br />

Ende der 80er-Jahre im <strong>Kehl</strong>er Hafen<br />

eine Sondermüllverbrennungsanlage errichten<br />

wollte, formierte sich auch auf der Straßburger<br />

Rheinseite Widerstand gegen das<br />

Projekt. Als Körperschaft des Landes konnte<br />

sich die Hafenverwaltung jedoch nicht gegen<br />

>><br />

103


104<br />

die Pläne der baden-württembergischen Regierung<br />

wenden. Als der Vorvertrag für das<br />

Grundstück im <strong>Kehl</strong>er Hafen auf der Tagesordnung<br />

des Hafenrates stand, meldete sich<br />

die damalige Straßburger Oberbürgermeisterin<br />

Catherine Trautmann kritisch zu Wort.<br />

Um heftige Diskussionen oder gar Zwist zu<br />

ver meiden, fand man schnell eine salomonische<br />

Lösung: <strong>Das</strong> Thema wurde von der<br />

Tagesordnung genommen. „Wir wollten auf<br />

keinen Fall stellvertretend für die großen<br />

Entscheider den Zoff“, erinnert sich Karlheinz<br />

Hillenbrand, der Hafenrat wäre dafür der falsche<br />

Platz gewesen. In all den Jahren war es<br />

„der einzige Fall von gewissem Dissens“.<br />

In den Sitzungen des <strong>Kehl</strong>er Hafenrates wird<br />

Deutsch gesprochen, in den Sitzungen des<br />

Straßburger Hafenrates Französisch. <strong>Das</strong><br />

funktioniert inzwischen ganz selbstverständlich,<br />

auch an das „technische Französisch“, das<br />

nicht immer einfach ist, haben sich die deutschen<br />

Mitglieder des Straßburger Gremiums<br />

mittlerweile gewöhnt. Wenn es einen Wechsel<br />

bei den Vertretern gibt, wird es manchmal<br />

schwierig: „Man muss halt immer Personen<br />

finden, die Französisch sprechen.“ <strong>Das</strong>s die<br />

Strukturen auf beiden Rheinseiten verschieden<br />

sind und „der Formalismus ein anderer ist“,<br />

spielt in der alltäglichen Zusammenarbeit keine<br />

Rolle. Karlheinz Hillenbrand beschreibt das<br />

Verhältnis als „freundschaftlich, sachlich“, von<br />

wechselseitigen Vorurteilen hat er in den vergangenen<br />

30 Jahren nichts bemerkt.<br />

Noch enger könnte die Kooperation der beiden<br />

Häfen durch die Mitarbeit im Transeuropäischen<br />

Netzwerk der neun Oberrhein-<br />

Häfen werden: Ziel dieses Großprojektes ist<br />

es, Güterverkehr von der Straße aufs Wasser<br />

und auf die Schiene zu verlagern. Bei dem<br />

von der EU-Kommission geförderten Projekt<br />

sollen Probleme in den Häfen aufgezeigt und<br />

Lösungen gesucht werden. Karlheinz Hillenbrand<br />

nennt ein Beispiel: Müsse ein Güterzug,<br />

der aus dem <strong>Kehl</strong>er Hafen kommt, in Straßburg<br />

noch zuladen, sei das zu langsam, zu<br />

kompliziert und damit zu teuer. „Es geht, es<br />

geht aber auch nicht“, beschreibt der Hafendirektor<br />

das Dilemma.<br />

In einer weiteren Studie werden Materialund<br />

Energieflüsse untersucht. Zwölf bis 18<br />

Firmen in den Häfen <strong>Kehl</strong> und Straßburg werden<br />

dabei genauer unter die Lupe genommen.<br />

„Es geht um Nachhaltigkeit“, erklärt Karlheinz<br />

Hillenbrand, Ergebnis soll ein gemeinsamer<br />

Ressourcenplan sein.<br />

Kooperation der Banken: Europa-Konto bleibt (noch) ein Traum<br />

Die Sparkasse Hanauerland<br />

kooperiert seit 2009 mit der<br />

Caisse d’Epargne d’Alsace.<br />

Trotz der grenzüberschreitenden<br />

Zusammenarbeit der Banken<br />

bleibt das Europa-Konto noch<br />

ein Traum.<br />

>><br />

Seit 2009 arbeitet die Sparkasse Hanauerland<br />

mit der Caisse d’Epargne d’Alsace auf<br />

der Basis einer Kooperationsvereinbarung<br />

eng zusammen. In grenzüberschreitenden<br />

Finanzfragen haben deutsche und französische<br />

Kunden damit einen Ansprechpartner.<br />

Privat- und Firmenkunden werden von<br />

beiden Geldinstituten gemeinsam beraten;<br />

„die Kunden erhalten das für sie beste Angebot<br />

aus beiden Häusern“, erklärt Hartmut<br />

Stephan, Abteilungsdirektor für den Bereich<br />

Marketing bei der Sparkasse Hanauerland.<br />

Durch ein Repräsentanz-Büro der Caisse<br />

d’Epargne in den Räumen der <strong>Kehl</strong>er Sparkasse<br />

verkürzen sich die Wege für die Kunden<br />

erheblich. Darüber hinaus bieten die<br />

beiden Sparkassen gemeinsame<br />

Themenabende, Seminare oder<br />

Veranstaltungen für Existenzgründer<br />

und Unternehmen an.<br />

„Dieser grenzüberschreitende Service<br />

wird von unseren Kunden<br />

sehr positiv aufgenommen“, freut<br />

sich Hartmut Stephan. Gerne würden<br />

die beiden Geldinstitute ihren<br />

Kunden ein einheitliches Europa-<br />

Konto oder andere gemeinsame<br />

Finanzprodukte anbieten – doch<br />

bislang verhindern technische<br />

und rechtliche Restriktionen diese<br />

weitergehende Kooperation.


Zwei Franzosen gehören seit langen Jahren<br />

zum Personal der Sparkasse Hanauerland.<br />

Zusammen mit vier deutschen Mitarbeiterinnen,<br />

die in Frankreich leben, arbeiten sie<br />

als Sachbearbeiter im Auslandsgeschäft, als<br />

Service- und Kassenmitarbeiter sowie in<br />

der Kundenberatung. Die Sparkasse sucht<br />

aktuell nicht aktiv nach Mitarbeitern auf<br />

der französischen Rheinseite. Über interessierte<br />

Bewerber für die Ausbildungsjahre ab<br />

2015 freut sich die Sparkasse Hanauerland<br />

jedoch sehr. Von den 120<br />

jungen Menschen, welche<br />

die Sparkasse in den vergangenen<br />

14 Jahren ausgebildet<br />

hat, war ein Jugendlicher<br />

Franzose – der Sohn einer<br />

deutschen Mitarbeiterin, die<br />

in Frankreich verheiratet ist.<br />

Fünf Auszubildende kamen<br />

und kommen aus deutschfranzösischen<br />

Familien, die<br />

in Deutschland leben. Auszubildende<br />

der Sparkasse<br />

Hanauerland profitieren von<br />

der grenzüberschreitenden<br />

Kooperation, indem sie mehrere Praxiswochen<br />

in Filialen der Caisse d’Epargne verbringen<br />

und damit neben interessanten beruflichen<br />

Erfahrungen auch das Euregio-Zertifikat<br />

der Industrie- und Handelskammer erwerben<br />

können. Umgekehrt absolvierten schon viele<br />

junge Franzosen Praktika bei der Sparkasse.<br />

Die unterschiedlichen Sprachen stellen im<br />

Arbeitsalltag der Bank-Mitarbeiter keine<br />

Barriere dar, weiß Tanja Bender, Abteilungsleiterin<br />

Personal. Wer regelmäßig in der<br />

grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu<br />

tun hat, kann auf Kosten der Sparkasse an<br />

professionellen Sprachkursen teilnehmen.<br />

Claus Preiss<br />

Ein Jubiläum in der grenzüberschreitenden<br />

Zusammenarbeit konnten die vier Volksbanken<br />

Achern, Lahr, Baden-Baden/Rastatt und<br />

Bühl sowie die französische Banque Populaire<br />

d’Alsace mit rund 100 Filialen im Elsass<br />

und Hauptsitz in Straßburg 2013 feiern: Seit<br />

zehn Jahren gibt es die gemeinsam gegründete<br />

„VR Kooperation Deutschland-Frankreich“.<br />

„Es ist eine kleine Consulting-Gesellschaft<br />

für grenzüberschreitende Belange“,<br />

sagt Claus Preiss, Vorsitzender des Beirats der<br />

VR-Kooperation und gleichzeitig Vorstandsvorsitzender<br />

der Volksbank Bühl, zu der auch<br />

die <strong>Kehl</strong>er Filialen gehören. <strong>Das</strong> bedeutet:<br />

Möchte ein französisches Unternehmen in<br />

Deutschland investieren, ein elsässischer<br />

Privatkunde eine Immobilie in der Ortenau<br />

erwerben oder ein deutscher Handwerker in<br />

Frankreich Aufträge akquirieren, so finden<br />

alle Drei bei der VR Kooperation<br />

einen Ansprechpartner,<br />

der sie berät und bei dem<br />

Vorhaben begleitet. Angestellt<br />

sind dort ein Geschäftsführer,<br />

Pierre Klein, und eine Assistentin.<br />

Sie verfügen jeweils<br />

über ein Büro bei der Volksbank<br />

Baden-Baden/Rastatt<br />

und bei der Banque Populaire<br />

in Straßburg. Neben der zweisprachigen<br />

Beratung vermitteln<br />

sie bei Bedarf Kontakte<br />

zu Wirtschaftsprüfern, länderspezifischen<br />

Versicherern<br />

oder Steuerrechtlern aus ihrem grenzüberschreitenden<br />

Expertennetzwerk.<br />

„Die Nachfrage ist da“, sagt Claus Preiss, seit<br />

Gründung der VR Kooperation vor zehn<br />

Jahren werden insgesamt rund 12 000 Privatkunden<br />

und 1200 Firmenkunden grenzüberschreitend<br />

betreut. Aufgrund dieses<br />

Erfolgs wurde 2013 eine Fortsetzung der<br />

VR Kooperation beschlossen, außerdem will<br />

noch ein sechster Partner mit einsteigen: der<br />

Baden-Württembergische Genossenschaftsverband.<br />

Geplant ist zudem, dass Auszubildende von<br />

beiden Rheinseiten künftig gezielt an die<br />

Partnerbanken im Nachbarland vermittelt<br />

werden. „Es wäre schlicht ein falsches Signal,<br />

wenn wir die Europäische Union gerade<br />

hier im Grenzbereich nicht leben würden“,<br />

bekräftigt Claus Preiss die Entscheidung.<br />

„Die Zusammenarbeit ergibt sich per se. Als<br />

Dienstleister müssen wir so etwas einfach<br />

anbieten.“<br />

>><br />

105


Die Nachwuchsförderung im Fokus: <strong>Das</strong> Handwerk setzt auf Kooperation<br />

106<br />

Mitten auf der Passerelle des deux Rives treffen<br />

sich am 10. Oktober 2013 deutsche und<br />

französische Handwerker. Sie haben die Brücke<br />

als symbolträchtigen Ort ausgesucht, um einen<br />

vorbereiteten Partnerschaftsvertrag zu<br />

unterschreiben. Die Innung Blechnerei, Sanitär-<br />

und Heizungstechnik <strong>Kehl</strong>-Hanauerland-<br />

Lahr und die Innung der Klempner und Installateure<br />

des Unter-Elsass (COPFI) halten fest,<br />

dass sie künftig gemeinsame Versammlungen<br />

abhalten, Informationsmaterial untereinander<br />

austauschen und vor allem: die grenzüberschreitende<br />

Lehrlingsausbildung und Berufsfortbildung<br />

fördern.<br />

>><br />

Schon seit rund 25 Jahren stehen die beiden<br />

Innungen in Kontakt. „Seitdem gab es hier<br />

mal ein Treffen und da mal ein Gespräch, intensiviert<br />

hat sich die Kooperation aber erst<br />

in den letzten paar Jahren“, sagt Obermeister<br />

Michael Pfütze von der Innung <strong>Kehl</strong>-Hanauerland-Lahr.<br />

<strong>Das</strong> gemeinsame Interesse, den<br />

Nachwuchs zu fördern, die Ausbildung und<br />

Qualifizierung zu verbessern, habe die beiden<br />

Innungen näher zusammengebracht. „<strong>Das</strong><br />

liegt uns allen besonders am Herzen.“ Bei einer<br />

gemeinsamen Vorstandssitzung schlug die elsässische<br />

Innung deshalb den Partnerschaftsvertrag<br />

vor. „Wir haben uns in verschiedenen<br />

Berufsschulen und überbetrieblichen Ausbildungsstätten<br />

auf beiden Seiten getroffen, um<br />

zu sehen, wie die Ausbildung dort jeweils abläuft“,<br />

erzählt Michael Pfütze. Anschließend<br />

sei das Abkommen erarbeitet worden. Danach<br />

sollen junge Arbeitskräfte bei Bedarf gezielt<br />

über den Rhein vermittelt werden oder zumindest<br />

zum Austausch in Betriebe des Nachbarlands<br />

gehen und sich auf diese Weise untereinander<br />

kennenlernen. „Wenn man sieht, dass<br />

drüben genauso mit Wasser gekocht wird wie<br />

hier, fällt es vielleicht leichter, die Sprache zu<br />

lernen. Die Motivation ist größer, wenn der Kontakt<br />

erst einmal da ist“, meint der Obermeister.<br />

Nicht nur bei den Blechnereien, Sanitär- und<br />

Heizungstechnikern, sondern auch in anderen<br />

Handwerksberufen gibt es Kooperationen<br />

in der Aus- und Weiterbildung. Die Handwerkskammer<br />

Freiburg, der auch die <strong>Kehl</strong>er<br />

Betriebe angehören, organisiert seit 1998<br />

Umschulungs- und Weiterbildungskurse mit<br />

der AFPA, dem französischen Verband für berufliche<br />

Erwachsenenbildung. „Französische<br />

Arbeitnehmer können zum Beispiel unsere<br />

Gewerbe-Akademie an allen drei Standorten<br />

besuchen, um fit für den deutschen Arbeitsmarkt<br />

zu werden“, erklärt Martin Düpper<br />

von der Handwerkskammer Freiburg. Aktuell<br />

würden Umschulungen im Elektro- und Sanitärbereich<br />

speziell für Arbeitskräfte von der<br />

anderen Rheinseite angeboten.<br />

Außerdem gibt es – nach dem Start im Eurodistrikt<br />

Strasbourg-Ortenau – inzwischen in<br />

der gesamten Oberrheinregion die Möglichkeit<br />

einer grenzüberschreitenden Ausbildung<br />

in insgesamt 19 Berufen. Ein entsprechendes<br />

Abkommen wurde am 12. September 2013<br />

auf Initiative der Oberrheinkonferenz in Saint<br />

Louis von 28 deutschen und französischen<br />

Institutionen unterzeichnet. <strong>Das</strong> bedeutet:<br />

Ein junger Franzose kann eine betriebliche<br />

Ausbildung in Deutschland machen, aber die<br />

Schule in Frankreich besuchen – oder andersherum.<br />

Dabei übernimmt die Région Alsace<br />

für deutsche Unternehmen, die junge Elsäs-<br />

Ein Partnerschaftsvertrag<br />

verbindet neuerdings die<br />

Innung Blechnerei, Sanitärund<br />

Heizungstechnik <strong>Kehl</strong>-<br />

Hanauerland-Lahr und die<br />

Innung der Klempner und<br />

Installateure des Unter-Elsass.


ser ausbilden, die Finanzierung der Berufsschulkosten<br />

in Frankreich. „Damit so etwas<br />

funktioniert, mussten sich beide Seiten ein<br />

bisschen aufeinander zubewegen“, sagt Martin<br />

Düpper, „denn unterschiedlichen Ausbildungssysteme<br />

aufeinander abzustimmen ist<br />

manchmal schwieriger als die gemeinsame<br />

Formulierung des politischen Willens“. Derzeit<br />

gebe es zwar nur drei junge Menschen, die im<br />

Eurodistrikt den Weg der grenzüberschreitenden<br />

Berufsausbildung gewählt haben, „aber<br />

da kommt mit dem neuen Abkommen Bewegung<br />

rein“, ist sich Martin Düpper sicher. Um<br />

das Abkommen bekannter zu machen, hat<br />

sich die Handwerkskammer Freiburg auf der<br />

Messe für Bildung und Beschäftigung, die<br />

im Januar 2014 in Colmar stattfindet, einen<br />

Stand gesichert. „Dort wollen wir Jugendliche,<br />

Eltern und Lehrer darüber informieren, welche<br />

Möglichkeiten eine Ausbildung auf deutscher<br />

Seite bietet“, sagt Martin Düpper.<br />

Neben dem Bereich Ausbildung arbeitet die<br />

Handwerkskammer Freiburg mit ihren Pendants<br />

im Elsass, in der Pfalz, in Karlsruhe sowie<br />

mit der Wirtschaftskammer Baselland<br />

seit 1996 zusammen an einem grenzüberschreitenden<br />

Internetportal. Auf der Seite<br />

www.transinfonet.org finden Betriebe aus<br />

Deutschland, Frankreich und der Schweiz aktuelle<br />

Informationen darüber, was sie beachten<br />

müssen, wenn sie in einem der Nachbarländer<br />

aktiv werden wollen. „Wenn es eine Gesetzesänderung<br />

gibt, beispielsweise neue Mindestlöhne,<br />

werden die Betriebe auf dem Portal umgehend<br />

informiert“, sagt Martin Düpper. „Für<br />

jedes einzelne Unternehmen wäre es fast nicht<br />

leistbar, sich ständig selbst auf den aktuellen<br />

Stand zu bringen.“ Über hilfreiche Informationen<br />

hinaus gibt es auf der Internetseite Ansprechpartner<br />

in jedem der beteiligten Länder,<br />

die bei Problemen weiterhelfen können. <strong>Das</strong><br />

Portal pflegen Vertreter der beteiligten Handwerkskammern,<br />

die sich zwei- bis dreimal<br />

pro Jahr treffen und noch deutlich öfter telefonisch<br />

miteinander in Kontakt stehen. „Der<br />

Austausch ist lebendig“, sagt Martin Düpper.<br />

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit<br />

ist aus Sicht der Handwerkskammer ein großes<br />

Plus – und zwar deshalb, „weil der Dialog<br />

auf Augenhöhe geführt wird“, wie Martin<br />

Düpper es formuliert. Man müsse so zusammenarbeiten,<br />

dass es für beide Seiten von<br />

Vorteil ist, „damit Vorurteile und Ängste weiter<br />

abgebaut werden“.<br />

107<br />

Wohnen<br />

Die in der Europäischen Union geltende Freizügigkeit nutzen deutsche wie französische<br />

Bürgerinnen und Bürger: In <strong>Kehl</strong> leben 2258 Einwohner mit französischem Pass und<br />

605 <strong>Kehl</strong>erinnen und <strong>Kehl</strong>er mit deutscher und französischer Staatsangehörigkeit (Stand:<br />

Ende November); in der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg wird die Zahl der deutschen Einwohner<br />

auf 4000 bis 5000 geschätzt. Nach der grenzüberschreitenden Gartenschau<br />

2004 ist die Zahl der Umzüge französischer Familien nach <strong>Kehl</strong> stark gestiegen: Acht von<br />

zehn zum Verkauf stehenden Immobilien in<br />

der Kernstadt wurden in den Folgejahren<br />

von Franzosen erworben. Entsprechend<br />

schnellten die Anfragen bei der deutschfranzösischen<br />

Beratungsstelle INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg in die Höhe: Ließen sich vor<br />

2004 noch annährend doppelt so viele Deutsche wegen eines Umzugs nach Frankreich<br />

beraten, wie Franzosen einen Umzug nach Deutschland ins Auge fassten, so kontaktierten<br />

in den Jahren ab 2005 jährlich mehrere Hundert französische Bürger die INFOBEST-<br />

Referentinnen wegen eines Umzugs auf die deutsche Rheinseite.<br />

Inzwischen hat der Boom etwas nachgelassen: Der Anteil der Franzosen unter den<br />

Käufern von Häusern und Wohnungen in <strong>Kehl</strong> liegt konstant bei rund 40 Prozent, was<br />

>>


108<br />

sich auch in den Beratungsanfragen bei der INFOBEST niederschlägt: Mit 210 Anfragen<br />

pro Jahr machen die Umzugswilligen noch einen Anteil von fünf Prozent der<br />

Ratsuchenden aus. In den vergangenen zwei Jahren haben erste Umzügler aus dem<br />

Nachbarland ihre Häuser und Wohnungen in <strong>Kehl</strong> wieder verkauft (meist erneut an<br />

Franzosen). Der Hauptgrund: Französische Mitbürger, die in <strong>Kehl</strong> wohnen und in Straßburg<br />

in der freien Wirtschaft arbeiten, zahlen ihre Lohn- oder Einkommenssteuer in<br />

Deutschland. Die direkten Steuern einer durchschnittlichen Familie mit zwei Kindern<br />

sind auf der deutschen Rheinseite etwa doppelt so hoch wie in Frankreich. Deshalb<br />

arbeiten viele Franzosen, die in <strong>Kehl</strong> wohnen, im öffentlichen Dienst oder in Unternehmen,<br />

die dem öffentlichen Dienst gleichgestellt sind. Dann bezahlen sie ihre Steuern<br />

nämlich weiterhin in Frankreich. Die INFOBEST organisiert seit vielen Jahren Steuersprechtage,<br />

bei denen bislang Vertreter der Finanzämter aus beiden Ländern die Ratsuchenden<br />

gemeinsam beraten haben. Inzwischen ist die französische Finanzverwaltung<br />

aus der Beratung ausgestiegen. Als Grund wird Arbeitsüberlastung angegeben.<br />

Bauvorhaben in Deutschland und Frankreich:<br />

Vieles ist ähnlich und doch ist alles anders<br />

Verschiedene Regelungen, andere Normen,<br />

unterschiedliche Auslegung europäischen<br />

Rechts: Als sich die Straßburger Wohnungsbaugesellschaft<br />

Habitation Moderne entschlossen<br />

hat, auf <strong>Kehl</strong>er Territorium unweit<br />

der Europabrücke ein Gebäude mit 52 Wohnungen<br />

zu errichten, waren Generaldirektor<br />

Jean-Bernard Dambier und der technische<br />

Leiter Jean-Marc Eich auf Komplikationen eingestellt.<br />

<strong>Das</strong>s es jedoch für ein französisches<br />

Unternehmen so schwierig werden könnte,<br />

nur wenige Meter von der Grenze entfernt<br />

im vereinten Europa ein Bauprojekt umzusetzen,<br />

hätten sie sich nicht träumen lassen.<br />

In Deutschland sind Zimmertüren zum Beispiel<br />

entweder 1,98 Meter hoch oder 2,10<br />

Meter. In Frankreich hat der Türrahmen eine<br />

lichte Höhe von 2,04 Meter. Und selbstverständlich<br />

sind auch die Breiten unterschiedlich.<br />

Damit entscheiden wenige Zentimeter<br />

darüber, dass sich ein französischer Schreiner<br />

gar nicht erst um den Auftrag bemüht,<br />

den Habitation Moderne für das Gebäude<br />

Ecke Straßburger Straße/Schulstraße ausgeschrieben<br />

hat. „Die französischen Handwerker<br />

wollen das Risiko nicht eingehen“, sagt<br />

Jean-Marc Eich und zeigt Verständnis: Jeder<br />

französische Handwerker hat seine Zulieferer,<br />

seine Einkaufskonditionen, seine Rabatte.<br />

Müsse er sich sein Material in Deutschland<br />

besorgen, müsse er mit ganz anderen Kosten<br />

kalkulieren; schon die Erstellung des Angebots<br />

stelle ihn vor Probleme.<br />

So wird sich der vom <strong>Kehl</strong>er<br />

Architekturbüro Grossmann<br />

geplante und von Habitation<br />

Moderne errichtete Neubau<br />

in die Silhouette der Straßburger<br />

Straße einfügen.<br />

>>


In den 52 Wohnungen mit einer<br />

Grundfläche von 40 bis 118<br />

Quadratmetern sollen sich<br />

sowohl deutsche als auch französische<br />

Mieter wohlfühlen.<br />

Was für die Türen<br />

gilt, ist bei den<br />

Fenstern nicht anders<br />

und auch unter<br />

behindertengerechten<br />

Wohnungen verstehen<br />

der deutsche<br />

und der französische<br />

Gesetzgeber<br />

etwas völlig anderes.<br />

Während in<br />

Deutschland gilt,<br />

dass bei Wohngebäuden<br />

mit mehr<br />

als vier Wohneinheiten<br />

die Wohnungen<br />

eines Geschosses<br />

barrierefrei zu erreichen<br />

sein müssen, muss nach<br />

französischen Vorschriften<br />

jede Wohnung rollstuhlgerecht umzubauen<br />

sein, ohne dass eine Wand versetzt<br />

oder herausgebrochen werden muss. Wenn<br />

in Frankreich ein Bauvorhaben mit den<br />

städte baulichen Vorgaben übereinstimmt,<br />

bekommt der Bauherr die Baugenehmigung.<br />

<strong>Das</strong>s in Deutschland detaillierte Pläne des<br />

Architekten Grundlage für die Erteilung der<br />

Baugenehmigung sind, hat Jean-Marc Eich<br />

überrascht: „Es ist hinterher viel schwieriger,<br />

noch etwas zu verändern“, bedauert er.<br />

Nachdem die Ausschreibung der einzelnen<br />

Lose nach europäischem Recht erfolgte, hätte<br />

es eigentlich – könnte man meinen – keine<br />

Probleme geben dürfen. Doch die deutsche<br />

Vergabeordnung Bau (VOB) ist „deutlich restriktiver<br />

als die französischen Regelungen“,<br />

musste Jean-Marc Eich feststellen. Um sich<br />

zurechtzufinden, hat Habitation Moderne<br />

eine deutsch-französische Rechtsanwaltskanzlei<br />

beauftragt und die Vergabeordnung<br />

Bau ins Französische übersetzen lassen. „<strong>Das</strong><br />

Recht ermöglicht allein schon viele Interpretationen“,<br />

seufzt Jean-Marc Eich, wenn dann<br />

noch Anwälte aus zwei Ländern und unterschiedliche<br />

Sprachen hinzukommen, kann es<br />

richtig kompliziert werden. So kompliziert,<br />

dass die Kosten allein für die Rechtsberatung<br />

in die Zehntausende gehen.<br />

20 000 Euro hat Habitation Moderne allein<br />

für die Ausschreibungen in den Zeitungen<br />

ausgegeben – trotzdem ist für vier Lose kein<br />

einziges Angebot eingegangen. Für weitere<br />

fünf Lose hat das Unternehmen nur ein<br />

oder zwei Angebote erhalten. „In Frankreich<br />

bekommen wir bei ähnlich großen Projekten<br />

150 bis 170 Angebote“, zieht Jean-Bernard<br />

Dambier den Vergleich.<br />

Um Kostensicherheit zu bekommen, hat<br />

Habitation Moderne alle Lose gleichzeitig<br />

ausgeschrieben und mit Kostengrenzen versehen.<br />

In Frankreich ist es durchaus üblich,<br />

mit den Unternehmen Pauschalpreise zu<br />

vereinbaren. Gelingt es dem Auftragnehmer,<br />

die Arbeiten kostengünstiger auszuführen,<br />

erhöht er seinen Gewinn, überschreitet er<br />

den Kostenrahmen, dann geht das zu seinen<br />

Lasten. Die deutschen Unternehmen zierten<br />

sich, aber „wir wollten uns nicht auf ein<br />

Abenteuer einlassen“, erklärt Jean-Bernard<br />

Dambier, warum Habitation Moderne lange<br />

verhandelt hat, um auch bei den deutschen<br />

Partnern Pauschalpreise durchzusetzen.<br />

Selbst ein Unternehmen für den Rohbau des<br />

Großprojektes zu finden, war nicht einfach:<br />

Acht deutsche Unternehmen hat das Architekturbüro<br />

Grossmann im Auftrag von Habitation<br />

Moderne angeschrieben, zwei französische<br />

hat die Wohnungsbaugesellschaft selber<br />

kontaktiert. Am Ende sind zwei Unternehmen<br />

übriggeblieben, mit denen weiter verhandelt<br />

wurde: ein deutsches und ein französisches.<br />

Für die Klempner- und die Schreinerarbeiten<br />

hat Habitation Moderne lange gar kein Unternehmen<br />

gefunden, das Gleiche galt für die<br />

Eindeckung des Flachdaches.<br />

„Vieles ist ähnlich und doch nicht gleich“, sagt<br />

Jean-Bernard Dambier. „Man lernt viel“, fügt<br />

Jean-Marc Eich hinzu, leichte Resignation<br />

schwingt in der Stimme mit. Ob Habitation<br />

Moderne noch weitere Projekte in <strong>Kehl</strong> verwirklichen<br />

wird – der Generaldirektor möchte<br />

darüber erst mal nicht sprechen. Zunächst<br />

will er abwarten, wie sich die Bauphase gestaltet<br />

und wie sich die Wohnungen vermieten<br />

lassen.<br />

109<br />

>>


Ein Haus für deutsche und französische Mieter<br />

110<br />

52 Mietwohnungen in der Größe von 40<br />

bis 118 Quadratmetern Fläche errichtet die<br />

Straßburger Wohnungsbaugesellschaft Habitation<br />

Moderne auf dem Grundstück Ecke<br />

Straßburger Straße/Schulstraße. Mit den<br />

Abrissarbeiten des bestehenden Gebäudes<br />

an der B28, den Garagen und Kleinbauten<br />

im rückwärtigen Teil an der Schulstraße<br />

wird in den ersten September-Tagen begonnen.<br />

<strong>Das</strong> Gebäude, in dessen Erdgeschoss<br />

die Sparkassenfiliale wieder einzieht, ist das<br />

erste Bauvorhaben, das die französische<br />

Wohnungsbaugesellschaft mit sozialem<br />

Auftrag auf deutschem Territorium verwirklicht.<br />

Voraussichtliche Baukosten: rund elf<br />

Millionen Euro.<br />

2010 ist die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> (Klein-)Aktionär bei<br />

Habitation Moderne geworden – mit dem<br />

Ziel, gemeinsam mit dem Unternehmen, an<br />

dem die <strong>Stadt</strong> Straßburg 52,75 Prozent der<br />

Anteile hält, Projekte auf <strong>Kehl</strong>er Gemarkung<br />

realisieren zu können. Auch der mögliche<br />

Wissensaustausch zwischen Habitation<br />

Moderne und der Städtischen Wohnbau<br />

<strong>Kehl</strong> waren ein Grund für die städtische<br />

Beteiligung. Im Februar 2011 hat sich Habitation<br />

Moderne um das damals ausgeschriebene<br />

rund 2200 Quadratmeter große<br />

Grundstück an der Ecke Straßburger Straße/<br />

Schulstraße beworben und im April 2011<br />

den Zuschlag erhalten.<br />

Architekt Jürgen Grossmann hat Habitation<br />

Moderne in der Folge den Auftrag erteilt,<br />

ein Gebäude zu planen, in dem sowohl<br />

deutsche als auch französische Mieter<br />

gerne wohnen. Die Lage ist aus<br />

Sicht von Jean-Bernard Dambier,<br />

Generaldirektor des Straßburger<br />

Unternehmens mit 158 Mitarbeitern<br />

und einem Bestand von<br />

8878 Wohnungen (davon 7787<br />

mit sozialer Bindung) ideal: gegenüber<br />

vom <strong>Kehl</strong>er Bahnhof und<br />

in unmittelbarer Nähe zur künftigen<br />

Tramhaltestelle auf dem grünen<br />

Mittelstreifen der B28.<br />

Den Verkehrslärm wollen die Planer mit<br />

Hilfe von Lärmschutzfenstern und zur B28<br />

hin vorgehängten Laubengängen bannen.<br />

Der Gebäudekomplex mit der Fassade zur<br />

Straßburger Straße wird vorrangig fertiggestellt,<br />

damit die Sparkasse ihre neuen Räume<br />

so früh wie möglich – voraussichtlich im<br />

April 2015 – beziehen kann. In den Geschossen<br />

darüber entstehen 20 Wohnungen plus<br />

ein Penthouse. Unter dem Gebäude wird<br />

eine Tiefgarage mit 23 Stellplätzen angelegt.<br />

Im zweiten Gebäudeteil zur Schulstraße<br />

hin, der eine Etage niedriger ist als der zur<br />

Straßburger Straße, sind 31 Wohnungen<br />

vorgesehen, ebenso wie 25 Stellplätze in<br />

der Tiefgarage. <strong>Das</strong> Parkplatzangebot wird<br />

durch etwa 20 oberirdische Stellflächen ergänzt.<br />

Sowohl bei der Größe als auch beim<br />

Zuschnitt der Wohnungen hat Habitation<br />

Moderne einen deutsch-französischen Spagat<br />

versucht und hofft, einen Kompromiss<br />

gefunden zu haben, der sowohl <strong>Kehl</strong>er als<br />

auch Straßburger Mietern gefällt. Mehr als<br />

die Hälfte der Wohnungen (28) haben drei<br />

Zimmer und eine Grundfläche von durchschnittlich<br />

75 Quadratmetern. Dazu kommen<br />

14 Zwei-Zimmer-Wohnungen (Wohnfläche<br />

um die 50 Quadratmeter), acht Vier-<br />

Zimmer-Wohnungen (Wohnfläche circa<br />

95 Quadratmeter) und jeweils eine Fünf-<br />

Zimmer-Wohnung (118 Quadratmeter) sowie<br />

ein Ein-Zimmer-Appartement mit 40<br />

Quadratmetern. Alle Wohnungen bleiben im<br />

Besitz von Habitation Moderne, Eigentumswohnungen<br />

sind nicht vorgesehen.<br />

Unter den beiden Gebäudekomplexen<br />

entstehen Tiefgaragen<br />

mit insgesamt 48 Stellplätzen.<br />

>>


Bis zu 45 Prozent der Kunden,<br />

die in der <strong>Kehl</strong>er Innenstadt<br />

einkaufen, kommen aus Frankreich.<br />

Sehr beliebt ist bei den<br />

französischen Nachbarn auch<br />

der <strong>Kehl</strong>er Wochenmarkt.<br />

Einkaufen und Gastronomie<br />

Lange bevor jemand an den Euro dachte, hatten sich die <strong>Kehl</strong>er Einzelhändler bereits<br />

auf die Kunden aus dem Nachbarland eingestellt: In den meisten Geschäften gab es<br />

Französisch sprechende Mitarbeiter; wer wollte, konnte fast überall in der Innenstadt<br />

mit Francs bezahlen und bekam auch das Wechselgeld in Francs zurück – dank eines<br />

Systems mit zwei Kassen. Der Binnenmarkt und damit der Wegfall der Zollkontrollen<br />

und noch stärker die Einführung des Euro, welche die Preise auf beiden Rheinseiten<br />

direkt vergleichbar machte, beflügelten die Kunden auf beiden Rheinseiten. Vor allem<br />

<strong>Kehl</strong> profitiert von dieser Entwicklung: Bis zu 45 Prozent der Kunden in der Innenstadt<br />

sowie ein noch höherer Prozentsatz in den Märkten am Rande der Kernstadt kommen<br />

aus Straßburg und Umgebung. Die Einkaufsstadt <strong>Kehl</strong> erreicht Bindungsquoten, von<br />

denen andere Städte nur träumen können: Weil im Bereich Parfümerie/Drogerie die<br />

Preisunterschiede eklatant sind, wird hier eine Bindungsquote von mehr als 300 Prozent<br />

erreicht. Der dm-Markt an der Straßburger Straße gilt – bezogen auf den Quadratmeter<br />

Verkaufsfläche – als der umsatzstärkste in der gesamten Republik. Aber<br />

auch bei Schuhen und Lederwaren wird ein Wert nahe 250 Prozent erreicht, im Blumenund<br />

Zoohandel, bei Möbeln und Antiquitäten verfehlt die Bindungsquote knapp die<br />

200-Prozent-Marke. Mehr als 40 Prozent des Umsatzes in den Geschäften der <strong>Kehl</strong>er<br />

Innenstadt stammt von französischen Kunden, wie ein 2012 erstelltes Gutachten des<br />

Büros „Dr. Donato Acocella <strong>Stadt</strong>- und Regionalentwicklung“ gezeigt hat.<br />

Nicht viel anders stellt sich die Situation in der <strong>Kehl</strong>er Gastronomie dar, auch in den<br />

Restaurants belegen die französischen Gäste einen Gutteil der Tische – genaue Zahlen<br />

gibt es hier allerdings nicht. Die <strong>Kehl</strong>er Hoteliers profitieren in hohem Maße vom Sitz<br />

des Europaparlaments in Straßburg – in den Sitzungswochen sind die meisten Übernachtungsmöglichkeiten<br />

ausgebucht, Ähnliches gilt für die fünf Wochen, in denen der<br />

Straßburger Weihnachtsmarkt stattfindet. Die EU-Parlamentarier und ihre Mitarbeiter<br />

haben ihren Anteil daran, dass <strong>Kehl</strong> hinter Rust mit dem Europapark mit Abstand die<br />

zweitgrößte Übernachtungs-Destination in der Ortenau ist. 206 390 Übernachtungen<br />

hat das Statistische Landesamt 2012 registriert. Viele Gäste, die in Ferienwohnungen<br />

unterkommen, werden dem Statistischen Landesamt allerdings gar nicht gemeldet; das<br />

Gleiche gilt für die Touristen, die auf dem Wohnmobilstellplatz einen Stopp über Nacht<br />

einlegen, so dass die tatsächliche Zahl der Übernachtungen vermutlich noch deutlich<br />

darüber liegt. Wegen des Preis-Leistungs-Verhältnisses oder weil sie nicht mit dem<br />

eigenen Auto nach Straßburg fahren möchten, ziehen es zahlreiche Touristen vor, in<br />

<strong>Kehl</strong> zu übernachten.<br />

111<br />

Europäischer Verbraucherschutz spielt eine immer größere Rolle<br />

<strong>Das</strong> Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz<br />

im Glasbau am <strong>Kehl</strong>er Bahnhof ist in<br />

Europa einzigartig: Nur in <strong>Kehl</strong> finden sich<br />

zwei nationale europäische Verbraucherzentren<br />

– nämlich das deutsche und das französische<br />

– vereint. Zu diesen von Brüssel unterstützten<br />

Einrichtungen kommen noch die<br />

E-Commerce-Verbindungsstelle Deutschland<br />

sowie der Online-Schlichter für die Bundesländer<br />

Baden-Württemberg, Hessen, Bayern,<br />

Berlin und Rheinland-Pfalz. Entstanden ist<br />

das Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz<br />

vor 20 Jahren aus dem drei Mitarbeiter<br />

zählenden Verein Euro-Info Verbraucher, der<br />

im Flachbau an der Ecke Straßburger Straße/<br />

Kinzigstraße untergebracht war. Inzwischen<br />

>>


112<br />

arbeiten 40 zweisprachige Beschäftigte im<br />

Zentrum – die meisten sind Juristen.<br />

64 000 Anfragen und knapp 15 000 Beschwerden<br />

von Verbrauchern wurden 2012<br />

vom Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz<br />

bearbeitet. Etwa 70 Prozent der Streitfälle<br />

konnten nach Intervention der Mitarbeiter<br />

des Zentrums außergerichtlich gelöst<br />

werden. Dabei handelte es sich jedoch nicht<br />

nur um Fälle im <strong>Kehl</strong>-Straßburger Grenzgebiet<br />

– die in <strong>Kehl</strong> unter einem Dach vereinten<br />

französischen und deutschen europäischen<br />

Verbraucherzentren waren mit mehr als der<br />

Hälfte aller an das europaweite Netzwerk der<br />

von Brüssel unterstützten Verbraucherzentren<br />

herangetragenen Streitigkeiten befasst.<br />

Die Hauptthemen, mit denen sich die Verbraucherzentren<br />

mittlerweile auseinandersetzen,<br />

sind Transport und Tourismus, dicht<br />

gefolgt vom Wareneinkauf in einem anderen<br />

europäischen Land. Immer häufiger geht es<br />

dabei um Schwierigkeiten mit Einkäufen im<br />

Internet – die bereits auf einen Anteil von 70<br />

Prozent angewachsen sind.<br />

Weil gerade die Jugendlichen, die sich häufig<br />

im Internet bewegen, die Gruppe sind, die<br />

sich am wenigsten mit den Verbraucherrechten<br />

auskennt, hat das Zentrum für Europäischen<br />

Verbraucherschutz 2012 – unterstützt<br />

vom Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau<br />

– das Projekt „Verbraucherschutz macht<br />

Schule“ gestartet. Dabei werden Schulklassen<br />

auf der deutschen und der französischen<br />

Rheinseite zum einen über ihre Rechte als<br />

Verbraucher informiert, zum anderen für die<br />

Risiken sensibilisiert, die sich durch die Preisgabe<br />

von Daten im Internet ergeben.<br />

www.cec-zev.eu<br />

Die beliebteste <strong>Kehl</strong>er Freizeiteinrichtung<br />

bei den französischen<br />

Nachbarn: Bis zu 80 Prozent der<br />

Besucher des Freibades kommen<br />

aus Straßburg und Umgebung.<br />

Französische Lust auf Vollkorn: Dreher-Filiale mitten in Straßburg<br />

Laugenbrezeln, Kürbiskernbrot, Vollkorngebäck<br />

– made in <strong>Kehl</strong> – gibt es seit dem 25.<br />

September auch in Straßburg zu kaufen. Und<br />

zwar in der besten Innenstadtlage in der Rue<br />

des Grandes-Arcades. „Ich habe es noch keine<br />

Stunde bereut“, sagt Thomas Dreher über<br />

seine neue Filiale im Herzen der Europastadt,<br />

obwohl er, um den 50 Quadratmeter großen<br />

Laden betreiben zu können, viele bürokratische<br />

Hürden nehmen und eine französische<br />

Tochterfirma – Dreher (Straback) – gründen<br />

musste. „Man kann nicht immer nur sagen,<br />

ich warte, bis der Markt zu mir kommt“ – nach<br />

27 Jahren in <strong>Kehl</strong> kennt Thomas Dreher seine<br />

französische Kundschaft so gut, dass er weiß,<br />

dass sich die Ernährungsgewohnheiten auf der<br />

anderen Rheinseite gewandelt haben: Viele Elsässer<br />

suchen eine Alternative zum Weißbrot,<br />

wenden sich hin zu Körnern und Vollkorn.<br />

Nähe von <strong>Kehl</strong> und Straßburg bietet und die<br />

Filiale zu eröffnen. Fünfmal täglich fährt ein<br />

Dreher-Auto nach Straßburg, um dort Brote,<br />

Patisserie und Teiglinge anzuliefern. Brezeln,<br />

Brötchen, alle Kleinteile eben, werden vor Ort<br />

gebacken – in einer Bäckerei muss es nach<br />

Frischgebackenem riechen, findet Thomas<br />

Dreher. „<strong>Das</strong> gehört zur Atmosphäre.“<br />

Er selber und sein Sohn sind die Geschäftsführer<br />

von Dreher (Straback), die acht Vollzeitmitarbeiterinnen<br />

in der Rue des Grandes-Arcades<br />

kommen aus Straßburg und Umgebung, das<br />

Tochter-Unternehmen zahlt seine Steuern in<br />

Nachdem Sohn Benjamin in Paris studiert<br />

und in Frankreich als Boulanger (Bäcker) und<br />

Patissier (Konditor) gearbeitet hatte, war der<br />

günstige Zeitpunkt gekommen, den Standortvorteil<br />

zu nutzen, den die geographische<br />

Nicht nur warten, bis die<br />

Kunden nach <strong>Kehl</strong> kommen:<br />

<strong>Das</strong> Backhaus Dreher ist jetzt<br />

auch in bester Straßburger<br />

Einkaufslage präsent.<br />

>>


Frankreich. So wollte es Thomas Dreher. Die<br />

Zusammenarbeit mit der <strong>Stadt</strong> Straßburg, lobt<br />

er, sei sehr gut gewesen. Unter anderem wurde<br />

ihm eine Sommerterrasse mit 25 Sitzplätzen<br />

genehmigt, fürs nächste Jahr ist eine Erweiterung<br />

in Aussicht gestellt.<br />

Freizeit, Vereine und Tourismus<br />

Die beiden Freibäder sind seit vielen Jahren unangefochten die <strong>Kehl</strong>er Freizeiteinrichtungen,<br />

die am meisten Bürgerinnen und Bürger aus dem Nachbarland anziehen: Etwa<br />

80 Prozent der Besucher des <strong>Kehl</strong>er Freibades sind Franzosen, im Auenheimer Bad<br />

beläuft sich ihr Anteil auf rund 70 Prozent. Darunter sind ab und an Gruppen von<br />

wenig angepassten Jugendlichen, die auf unterschiedliche Weise für Unruhe sorgen.<br />

Um Ärger und Streit erst gar nicht aufkommen zu lassen, beschäftigen die <strong>Stadt</strong>gemeinschaft<br />

Straßburg und die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> seit dem Sommer 2000 an fünf Tagen in der<br />

Woche drei junge, zweisprachige Animateure, welche die Jugendlichen in den Bädern<br />

gezielt ansprechen, zu gemeinsamen sportlichen Aktivitäten auffordern oder schlichtend<br />

eingreifen, wenn sich Schwierigkeiten anbahnen. Die Kosten für den Einsatz der<br />

Animateure übernehmen Straßburg und <strong>Kehl</strong> zu gleichen Teilen.<br />

113<br />

Auch in <strong>Kehl</strong>er Vereinen – vor allem in Sportvereinen – sind die Nachbarn von der anderen<br />

Rheinseite präsent. Der <strong>Kehl</strong>er Fußballverein (KFV) und die <strong>Kehl</strong>er Turnerschaft<br />

unterhalten, wie auch viele andere <strong>Kehl</strong>er Vereine, Kooperationen oder Kontakte mit<br />

Gleichgesinnten auf dem Gebiet der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg. Seit zwei Jahren<br />

unterstützt der Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau Vereine, wenn sie grenzüberschreitende<br />

Veranstaltungen planen. Über den sogenannten Mikro-Projekte-Fonds der Europäischen<br />

Union können Organisationen, Clubs und Vereine dann Zuschüsse erhalten,<br />

wenn sie dafür sorgen, dass sich Menschen von beiden Rheinseiten begegnen. Die bevorzugte<br />

Freizeiteinrichtung für <strong>Kehl</strong>er Familien und Schulklassen in Straßburg ist das<br />

Vaisseau: 2012 wurden dort 17 500 deutsche Besucher gezählt, darunter waren 150<br />

Schulklassen mit insgesamt 4500 Schülerinnen und Schülern sowie Begleitpersonen.<br />

Beliebt und häufig rasch ausgebucht sind geführte Straßburg-Touren zu bestimmten<br />

Themen – meist mit geschichtlichem Hintergrund –, die über die Tourist-Information<br />

von den <strong>Kehl</strong>er Gästeführern angeboten werden. Auch geführte Radexkursionen in die<br />

Nachbarstadt werden von <strong>Kehl</strong>erinnen und <strong>Kehl</strong>ern gerne genutzt, um weniger bekannte<br />

Ecken Straßburgs kennen zu lernen. Wer Straßburger Ereignisse wie die Weihnachtsmärkte<br />

oder die Münsterbeleuchtung und das sommerliche Licht- und Laser-<br />

Spektakel gerne in der Gruppe entdecken möchte, findet bei der Tourist-Information<br />

entsprechende Angebote.<br />

Die <strong>Kehl</strong>er Tourist-Information<br />

ist Anlaufstelle für <strong>Kehl</strong>er und<br />

Straßburger gleichermaßen:<br />

Während sich die französischen<br />

Nachbarn für <strong>Kehl</strong>er Spezialitäten<br />

interessieren, lassen sich<br />

<strong>Kehl</strong>er von den Gästeführern<br />

gerne Straßburg erklären.<br />

>>


Fußball, Zumba, Fahrradtour:<br />

Wie <strong>Kehl</strong>er Vereine die Nähe zu Straßburg nutzen<br />

114<br />

>><br />

„Eine Kooperation drängt sich geradezu auf“,<br />

meint Claus Haberecht, Präsident des <strong>Kehl</strong>er<br />

Fußballvereins (KFV). Im September 2013<br />

hat er gemeinsam mit dem Präsidenten und<br />

dem Vereinsvorsitzenden des Straßburger<br />

Fußballclubs Racing, Marc Keller und Patrick<br />

Spielmann, eine Vereinbarung unterzeichnet.<br />

Darin ist eine Exklusivpartnerschaft für<br />

Jugendliche geregelt, von der sowohl die<br />

Vereine als auch junge Fußballtalente aus<br />

der Region profitieren. „Eine klassische Winwin-Situation“,<br />

freut sich der KFV-Präsident.<br />

Besonders talentierte junge<br />

<strong>Kehl</strong>er Kicker haben nach<br />

der neuen Vereinbarung die<br />

Möglichkeit, zwei- bis dreimal<br />

pro Woche in der anspruchsvollen<br />

Racing-Fußballschule<br />

in Straßburg mitzutrainieren.<br />

Sie können weiterhin beim<br />

KFV spielen oder dem französischen<br />

Club beitreten. „Die<br />

Schule hat Bundesliga-Niveau“,<br />

sagt Claus Haberecht,<br />

entsprechend groß sei die<br />

Chance für die Jugendlichen.<br />

Wer fit genug ist für das Training, entscheiden<br />

zum einen die <strong>Kehl</strong>er Jugendtrainer, zum<br />

anderen sogenannte Scouts, die den KFV und<br />

weitere Vereine aus der Ortenau besuchen<br />

und dem Straßburger Club auf diese Weise<br />

Zugang zu Talenten von der deutschen Rheinseite<br />

verschaffen.<br />

„Bislang ist es ein letter of intent“, eine Absichtserklärung,<br />

sagt Claus Haberecht. Nun<br />

komme es auf die Mitarbeit der Jugendabteilung<br />

inklusive der Trainer an, die die Vereinbarung<br />

mit Leben füllen und den Austausch<br />

im Detail ausarbeiten sollen. „<strong>Das</strong> muss von<br />

unten nach oben laufen, damit es funktioniert“,<br />

ist der KFV-Präsident überzeugt. Angedacht<br />

ist ebenfalls, dass Racing-Fußballer,<br />

die es in Straßburg nicht in den ersten Kader<br />

Claus Haberecht<br />

schaffen, in der Oberliga-Mannschaft des<br />

KFV mitspielen – wiederum ein Vorteil für<br />

beide Seiten. Um die neue Partnerschaft zu<br />

festigen, soll der nächste Elsass Spring Cup,<br />

das große europäische Jugendfußballturnier,<br />

das der KFV jährlich organisiert, gemeinsam<br />

mit Straßburg geplant werden und zum Teil<br />

im Meinau-Stadion stattfinden. Darüber hinaus<br />

soll Racing ein Vorbereitungsspiel gegen<br />

einen anderen Club im <strong>Kehl</strong>er Rheinstadion<br />

austragen: „So kann sich der Straßburger<br />

Vorzeigeverein präsentieren und Fußball, der<br />

in Straßburg gespielt wird,<br />

auch für die deutschen Zuschauer<br />

interessant werden.“<br />

Eine Kooperation in der Jugendarbeit<br />

mit einem größeren<br />

Verein bestehe beim KFV<br />

zwar schon länger, nämlich<br />

mit dem Karlsruher SC, „aber<br />

die Wege sind einfach zu<br />

weit“, sagt Claus Haberecht.<br />

Aufgrund der Entfernung<br />

hätten die Jugendlichen Probleme,<br />

Schule und Training<br />

unter einen Hut zu bringen.<br />

„Es ist ein großer Vorteil, wenn die Ausbildung<br />

heimatnah möglich ist“, meint der<br />

Präsident des Fußballvereins. Er rechnet damit,<br />

dass fünf bis sechs junge Kicker von der<br />

deutschen Rheinseite bald mit Racing trainieren<br />

können.<br />

<strong>Das</strong>s es sprachlich auf dem Rasen keine Probleme<br />

gibt, zeigt die Erfahrung: Rund 40 der<br />

350 aktiven Jugendlichen im KFV sind Franzosen.<br />

„Fußballtechnisch funktioniert die<br />

Verständigung in jedem Fall“, schmunzelt der<br />

KFV-Chef. <strong>Das</strong>s der neue Partner nicht nur<br />

ein großer Verein ist, sondern auch auf der<br />

anderen Rheinseite spielt, ist für Claus Haberecht<br />

ein besonderer Vorteil. Der Präsident,<br />

der sich bereits als langjähriger Vorstand des<br />

<strong>Stadt</strong>jugendrings und als Präsident der grenz-<br />

Wer Zumba-Kurse anbieten<br />

möchte, braucht eine spezielle<br />

Ausbildung und eine Lizenz.<br />

Auf der Suche nach Trainern ist<br />

die <strong>Kehl</strong>er Turnerschaft in Straßburg<br />

fündig geworden.


überschreitenden Jugendkulturwerkstatt<br />

Zig-Zack für<br />

deutsch-französische Jugendprojekte<br />

engagiert hatte, ist<br />

überzeugt: „Beide Staaten<br />

sind Vorreiter für Europa, wir<br />

haben fast einen gewissen<br />

Auftrag, den Rhein als Bindeglied<br />

anzunehmen und nicht<br />

mehr als Grenze zu sehen.“<br />

Die Region sei die Keimzelle<br />

Europas, meint er, und stellt<br />

die rhetorische Frage: „Wenn<br />

wir es hier nicht schaffen zusammenzuarbeiten,<br />

wo denn dann?“<br />

Der KFV ist indes nicht der einzige Verein, der<br />

den Blick auf die andere Rheinseite richtet:<br />

Die <strong>Kehl</strong>er Turnerschaft (KT) hat 2013 erstmals<br />

gemeinsam mit dem Verein Randonneurs<br />

de Strasbourg eine grenzüberschreitende<br />

„Vélo Tour“ organisiert, die es in den<br />

vergangenen Jahren nur auf der französischen<br />

Rheinseite gab. Die Radler hatten die<br />

Auswahl zwischen fünf verschieden langen<br />

Strecken, die sowohl durch die Straßburger<br />

Umgebung als auch durch die Ortenau führten.<br />

Start und Ziel waren jeweils im Garten<br />

der zwei Ufer. Die Fahrradtour, an deren Organisation<br />

Vereinsmitglieder der KT wie der<br />

Randonneurs beteiligt waren, wurde vom<br />

Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau kofinanziert<br />

und soll 2014 wiederholt werden.<br />

Klaus Groß<br />

Auch im sportlichen Alltag der KT wird die<br />

deutsch-französische Freundschaft gelebt.<br />

„Wir haben ein gutes und herzliches Verhältnis<br />

mit den Elsässern entwickelt“, meint<br />

Klaus Groß, Vorsitzender des Sportvereins.<br />

Zehn Prozent der Mitglieder<br />

seien Franzosen, „das<br />

zieht sich durch alle Sportgruppen<br />

durch“. Darüber<br />

hinaus gebe es zahlreiche<br />

Kooperationen, beispielsweise<br />

mit dem Baseball-<br />

Partner aus Straßburg,<br />

den Outlaws. Die Mannschaft<br />

spielt nicht in der<br />

französischen Baseball-Liga,<br />

sondern nimmt als Gastmannschaft<br />

am deutschen<br />

Ligabetrieb teil. Ihre Spiele<br />

trägt sie auf dem Platz der<br />

<strong>Kehl</strong>er Turnerschaft aus, zum<br />

Teil trainiert sie auch dort. „In<br />

Frankreich müssten die Outlaws<br />

viel weitere Wege zu<br />

den anderen Spielorten zurücklegen“,<br />

begründet Klaus<br />

Groß die Kooperation.<br />

Ein großer Vorteil für die KT<br />

war die Grenznähe, als der<br />

Trendsport Zumba vermehrt nachgefragt<br />

wurde. „Um das anzubieten, benötigt man<br />

Trainer, die eine spezielle Ausbildung und<br />

eine Lizenz haben“, sagt Klaus Groß. „Man<br />

kann nicht einfach rumhopsen und sagen:<br />

‚<strong>Das</strong> ist jetzt Zumba‘.“ Da der Trendsport in<br />

Straßburg längst angekommen war, ging die<br />

<strong>Kehl</strong>er Turnerschaft eine Kooperation mit der<br />

dortigen Association Boeneema Europe-Afrique<br />

ein. So können in <strong>Kehl</strong> inzwischen vier<br />

Zumba-Kurse angeboten werden, die Trainer<br />

kommen allesamt von der anderen Rheinseite.<br />

„<strong>Das</strong> hat eingeschlagen, die Stunden sind<br />

voll“, freut sich Klaus Groß über den Erfolg.<br />

Auch der Trainer der ersten Handball-Mannschaft<br />

ist ein Elsässer, zudem bietet die KT im<br />

Fitnessbereich einen Afro-Aerobic-Kurs in<br />

Zusammenarbeit mit einem professionellen<br />

Musiker der Straßburger Gruppe Sokan an.<br />

115<br />

Rund zehn Prozent der Vereinsmitglieder<br />

der <strong>Kehl</strong>er Turnerschaft<br />

sind Franzosen.<br />

Schließlich gibt es Sportgruppen, die keine<br />

KT-Mitglieder sind, aber auf dem Platz des<br />

Vereins trainieren. Dazu zählt eine Cricket-<br />

Gruppe aus Straßburg, ebenso wie eine Jugendfußballmannschaft<br />

des Eurokorps, die<br />

sich als eingetragener Verein FC Eurodistrict<br />

nennt: Die 40 bis 50 Kinder, zum Teil Deutsche,<br />

zum Teil Franzosen, treffen sich jeden<br />

Samstag in <strong>Kehl</strong>. Die Grenzüberschreitung<br />

sei völlig selbstverständlich geworden, sagt<br />

Klaus Groß. Die Grenze sei quasi gar nicht<br />

mehr existent – ein Vorteil für den größten<br />

<strong>Kehl</strong>er Verein, ist der Vorsitzende überzeugt:<br />

„Wir haben eine Großstadt nebenan. Dieses<br />

Potenzial an Mitgliedern können wir uns<br />

nicht entgehen lassen.“<br />

>>


Garten//Jardin setzt sich für die Tram ein<br />

116<br />

<strong>Kehl</strong> ohne Passerelle des deux Rives? Auch<br />

wenn man es sich heute nur noch schwer<br />

vorstellen kann: Vor elf Jahren war die Brücke,<br />

welche die beiden Teile des Gartens der zwei<br />

Ufer über den Rhein hinweg verbinden sollte,<br />

höchst umstritten. 4000 Unterschriften<br />

hatten <strong>Kehl</strong>er Bürgerinnen und Bürger gegen<br />

das von Marc Mimram geplante Bauwerk<br />

gesammelt und die damalige, konservative<br />

Straßburger <strong>Stadt</strong>regierung hätte die Gartenschau<br />

lieber ohne Brücke gefeiert. In diesen<br />

bewegten Zeiten hat sich der Verein Garten//<br />

Jardin zusammengefunden und für die Passerelle<br />

gekämpft. Zu einer kleinen Demo für die<br />

Brücke fuhren die Mitglieder sogar mit dem<br />

Kirchenschiff in die Nachbarstadt. Heute setzt<br />

sich der deutsch-französische Verein, dessen<br />

erste Mitglieder sich bei den Veranstaltungen<br />

zur Bürgerbeteiligung zum Garten der zwei<br />

Ufer und zur grenzüberschreitenden Gartenschau<br />

kennen gelernt haben, für die Verlängerung<br />

der Straßburger Tramlinie D nach <strong>Kehl</strong> ein.<br />

Jeden ersten Mittwoch im Monat von 16 Uhr<br />

an treffen sich die badischen und elsässischen<br />

Mitglieder von Garten//Jardin und ihre noch<br />

viel zahlreicheren Sympathisanten auf der<br />

Plattform der Passerelle. Ob Sonnenschein, Regen<br />

oder Schnee – das Rendezvous über dem<br />

Strom findet statt. Jeder bringt etwas mit; zu<br />

trinken und zu essen – vorwiegend Selbstgemachtes<br />

– gibt es immer reichlich. Beim Picknick<br />

tauscht man sich aus über alle Themen,<br />

die grenzübergreifend interessieren – ob es die<br />

Entwicklung Straßburgs Richtung Rhein ist, das<br />

neue Wohnquartier, das am Rande des französischen<br />

Teils des Gartens der zwei Ufer empor<br />

wächst oder eben die geplante Verlängerung<br />

der Tramlinie D von der heutigen Endhaltestelle<br />

Aristide Briand bis zum <strong>Kehl</strong>er Rathaus.<br />

Wenn es die Windverhältnisse erlauben, heftet<br />

Christel Schumm – Mitgründerin von Garten//<br />

Jardin – die Zeitungsartikel ans Brückengeländer,<br />

die zu grenzüberschreitenden Themen in<br />

den zurückliegenden Wochen in deutschen<br />

und französischen Zeitungen erschienen sind.<br />

Darunter immer wieder Texte über die Fortschritte<br />

bei den Planungen für die Tram. Für<br />

die Mitglieder und Sympathisanten von Garten//Jardin<br />

wäre die Tram über den Rhein nach<br />

dem Garten der zwei Ufer und der Passerelle<br />

die Erfüllung eines weiteren Wunschtraums.<br />

Wer mehr Informationen über die Aktivitäten<br />

des Vereins bekommen möchte, kann sich auf<br />

dessen Homepage unter www.gartenjardin.eu<br />

informieren oder sich unter gartenjardin@<br />

yahoo.eu in die Rundmailliste eintragen lassen.<br />

Vor elf Jahren hat der Verein<br />

Garten//Jardin für die Passerelle<br />

gekämpft, heute setzt er sich<br />

für die Tram ein. Beim Rheinfest<br />

zeigten die Vereinsmitglieder eine<br />

Ausstellung historischer Trambilder.<br />

Deutsch-französischer Brunch<br />

beim Rheinfest im Garten der<br />

zwei Ufer: Wer etwas zum<br />

großen Buffet beisteuerte,<br />

konnte mitessen. Betreut wurde<br />

das Buffet von Mitgliedern<br />

von Garten//Jardin.<br />

>>


Zum Open-Air-Konzert der<br />

Straßburger Philharmoniker<br />

kommen alljährlich zwischen<br />

10 000 und 15 000 Besucher<br />

von beiden Rheinseiten in den<br />

Garten der zwei Ufer.<br />

Kultur<br />

Korrespondierende Kunstwerke und das Open-Air-Konzert der Straßburger Philharmoniker<br />

im Garten der zwei Ufer, Kooperation des <strong>Kehl</strong>er Kulturbüros mit dem Straßburger<br />

Maillon-Theater, Straßburger Opern-Aufführungen im<br />

<strong>Kehl</strong>er Theater-Abonnement inklusive Mitfahrgelegenheit<br />

– Kulturinteressierten eröffnet sich durch die Grenzüberschreitung<br />

ein breites Spektrum. Vor allem durch das gemeinsame<br />

Veranstaltungsprogramm, das Straßburg und<br />

<strong>Kehl</strong> für die grenzüberschreitende Gartenschau 2004 organisiert<br />

haben, ist die Zusammenarbeit im Kulturbereich<br />

enger geworden.<br />

Mit der Gartenschau hat grenzüberschreitende Kunst dauerhaft<br />

Einzug in den Garten der zwei Ufer gehalten: Sylvie<br />

Blochers leuchtend gelb-orangene Ellipsen muten an wie<br />

fliegende Untertassen, sollen aber schwebende Inseln über<br />

dem Uferbereich darstellen, auf denen der Parkbesucher<br />

sitzend oder liegend die Aussicht über den Rhein genießen kann – idealerweise nimmt<br />

er dabei Blickkontakt zu einem Inselsitzer auf der französischen Rheinseite auf. <strong>Das</strong> zumindest<br />

ist die Intention der Künstlerin. Sitzen muss man dabei keineswegs allein: Bis<br />

zu 18 Personen oder 1200 Kilogramm kann jede der Ellipsen tragen. Der ebenfalls international<br />

renommierte Künstler Akio Suzuki hat zur Gartenschau im Straßburger Teil<br />

des Gartens ein Kunstwerk errichtet, das aus zwei wie Ohrmuscheln in einander verschlungenen<br />

Mauern besteht. Auf der deutschen Seite gibt es dazu drei kleine Platten<br />

mit Fußabdrücken – wer sich darauf stellt, soll den Garten und den Rhein in besonderer<br />

Weise hören können. Eine Grenzrose des Essener Künstlers Thomas Rother erinnert seit<br />

dem 28. Juni auf Höhe des Dammdurchbruchs in der Hagenstraße an die neun von den<br />

Nazis wenige Stunden nach der Befreiung Straßburgs am <strong>Kehl</strong>er Rheinufer ermordeten<br />

Widerstandskämpfer des Réseau Alliance. Eine weitere Grenzrose hat Oberbürgermeister<br />

Günther Petry am gleichen Tag seinem Straßburger Kollegen geschenkt – sie soll auf der<br />

gegenüberliegenden Rheinseite ihren Platz finden.<br />

2003 haben die <strong>Kehl</strong>er <strong>Stadt</strong>bibliothek und die Médiathèque Sud in Illkirch-Graffenstaden<br />

ein Partnerschaftsabkommen geschlossen. Mindestens einmal jährlich tauschen<br />

die beiden Einrichtungen rund hundert Medien (Kinder- und Jugendbücher und Kinderhörbücher)<br />

aus. Zweimal pro Jahr liest eine Mitarbeiterin der <strong>Kehl</strong>er Mediathek französischen<br />

Kindern aus deutschen Büchern vor, eine französische Kollegin revanchiert<br />

sich, indem sie <strong>Kehl</strong>er Kindern Geschichten aus französischen Büchern erzählt. Zu den<br />

Veranstaltungen kommen jeweils um die 90 Schülerinnen und Schüler.<br />

Seit 2005 konzertiert das Philharmonische Orchester alljährlich Ende Juni im Garten<br />

der zwei Ufer unter freiem Himmel und lockt jeweils 10 000 bis 15 000 Besucher von<br />

beiden Rheinseiten in den Park. In manchen Jahren haben die Städte Straßburg und<br />

<strong>Kehl</strong> das Konzert in ein zweitägiges, gemeinsames Rheinfest eingebunden, zu dem<br />

bei gutem Wetter mehrere Zehntausend Besucher in den Park strömten. Auch wenn<br />

die Philharmonie im Straßburger Musik- und Kongress-Zentrum konzertiert, kommen<br />

etwa 20 Prozent der Zuhörer von der deutschen Rheinseite; in der Rheinoper stellen die<br />

deutschen Opernfans einen Anteil von 15 Prozent an den 3700 Abonnenten und von 23<br />

Prozent an den rund 100 000 Einzelkarten-Käufern.<br />

117<br />

>>


„Grenzüberschreibung“ ist mit Edelstahlplatten zugedeckt<br />

118<br />

Sie sollten die Grenze auslöschen, die Europabrücke<br />

zum Ort machen, an dem Europa<br />

sich konkretisiert, allen Europäern Heimat<br />

geben: Mit solchen hehren Erwartungen ist<br />

das „Grenzüberschreibung“ genannte Kunstwerk<br />

aus 40 Edelstahlstelen mit Texten von<br />

Autoren aus ebenso vielen europäischen<br />

Ländern im Mai 1999 feierlich eingeweiht<br />

worden. Seit mehr als einem Jahr sind die<br />

Textfenster in den Säulen am Brückengeländer<br />

mit Edelstahlplatten abgedeckt.<br />

Die Idee, dass 40 Autoren aus den damaligen<br />

Mitgliedsstaaten des Europarates zu dessen<br />

50. Geburtstag Texte in ihrer Muttersprache<br />

über die Grenze schreiben sollten, stammt<br />

von dem Straßburger Künstler Michel Krieger,<br />

der auch der geistige Vater des Gartens<br />

der zwei Ufer ist. Die Stelen hat der in Leipzig<br />

geborene Designer Andreas Brandolini<br />

entwickelt – sie waren mit kleinen Neonröhren<br />

versehen und brachten die Texte in der<br />

Dunkelheit in allen Regenbogenfarben zum<br />

Leuchten. Die Freude an dem symbolträchtigen<br />

Kunstwerk währte allerdings nicht lange:<br />

Immer wieder wurden die Kunststoffplatten,<br />

welche die Texte schützten, zerkratzt, eingeschlagen<br />

oder mit Farbe beschmiert. Die<br />

Kabel, über die die Leuchtröhren im Innern<br />

der Kästen mit Strom versorgt wurden, wurden<br />

abgeschnitten und in den vergangenen<br />

Jahren – weil aus Kupfer – immer wieder<br />

gestohlen. Sogar die auf Platten gedruckten<br />

Texte wurden entwendet.<br />

Weil nicht klar ist, wie das Kunstwerk auf<br />

der Europabrücke so wiederhergestellt und<br />

geschützt werden kann, dass es nicht gleich<br />

wieder zerstörungswütigen Zeitgenossen<br />

zum Opfer fällt, haben sich die Städte Straßburg<br />

und <strong>Kehl</strong> auf eine Übergangslösung<br />

verständigt: Die Textkästen der Stelen wurden<br />

mit Edelstahlplatten verschlossen.<br />

Zirkus auf französische Art oder<br />

modernes Tanztheater:<br />

<strong>Das</strong> Programm des Straßburger<br />

Maillon-Theaters zieht auch<br />

deutsche Zuschauer an.<br />

<strong>Das</strong> älteste grenzüberschreitende<br />

Kunstwerk – die Grenzüberschreibung<br />

auf der Europabrücke<br />

– wurde immer wieder mutwillig<br />

zerstört.<br />

Kultur auf der anderen Rheinseite oder:<br />

„Die Deutschen lachen an anderen Stellen“<br />

>><br />

Schwindelerregende Akrobatik, französischer<br />

Zirkus und hochkarätige Theatergruppen – das<br />

Straßburger Theater Le Maillon bringt zeitgenössische<br />

Kunst auf die Bühne, die auch<br />

deutsche Kulturliebhaber fasziniert. Rund 250<br />

Abonnenten kommen inzwischen aus Deutschland,<br />

vorwiegend aus <strong>Kehl</strong> und der Ortenau – ein<br />

Erfolg, der unter anderem der langjährigen Kooperation<br />

zwischen dem Straßburger Theater<br />

und dem <strong>Kehl</strong>er Kulturbüro zuzuschreiben ist.<br />

Wenn das Programm für die folgende Kultursaison<br />

geplant wird, setzen sie sich alljährlich<br />

zusammen an einen Tisch: Bernard Fleury,<br />

Direktor des Straßburger Maillon-Theaters,<br />

Stefanie Bade, Leiterin des <strong>Kehl</strong>er Kulturbüros,<br />

sowie Mitarbeiter des Kulturbüros und<br />

der Kunstschule Offenburg. Gemeinsam wird<br />

überlegt, bei welchen Stücken sich eine grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit anbietet.<br />

„Wir legen immer Wert darauf, dass ein Zirkus<br />

darunter ist“, sagt Stefanie Bade, „weil französischer<br />

Zirkus eine ganz besondere Sparte<br />

ist, viel poetischer und artistischer als Zirkus<br />

in Deutschland“. Eine Veranstaltung könne<br />

ein Konzert sein oder etwas Tänzerisches –


Unterhaltung fürs Auge:<br />

Bei vielen kulturellen Veranstaltungen<br />

sind Fremdsprachenkenntnisse<br />

nicht vonnöten.<br />

„etwas, das wir hier in <strong>Kehl</strong><br />

nicht anbieten können“. Besonders<br />

wichtig ist es ihr<br />

allerdings, dass die <strong>Kehl</strong>er im<br />

Straßburger Maillon in den Genuss<br />

eines bedeutenden deutschen,<br />

zeitgenössischen Theater-Ensembles<br />

kommen, wie<br />

beispielsweise der Volksbühne<br />

Berlin, die schon öfters in der<br />

Nachbarstadt zu Gast war.<br />

„Wir laden regelmäßig deutsche<br />

Theatergruppen nach<br />

Frankreich ein“, sagt Bernard Fleury, der das<br />

Maillon-Theater seit 2002 leitet, „nicht nur<br />

aus Berlin, auch aus Dresden, Düsseldorf oder<br />

Köln“. Zu solchen Aufführungen kommen besonders<br />

viele deutsche Zuschauer, weiß der<br />

Maillon-Direktor aus Erfahrung. „So etwas<br />

gibt es in ihren eigenen Städten oft nicht“,<br />

erklärt er und fügt schmunzelnd hinzu: „So<br />

gesehen hilft der Austausch an der deutschfranzösischen<br />

Grenze auch der Beziehung<br />

der Deutschen zum deutschen Theater“.<br />

Der Austausch, von dem er spricht, besteht<br />

zum einen darin, dass die ausgewählten<br />

Stücke in die Theaterprogramme in <strong>Kehl</strong> und<br />

Offenburg aufgenommen und vor Ort Karten<br />

dafür verkauft werden. <strong>Das</strong> Maillon-Theater<br />

sorgt außerdem – falls die Veranstaltung<br />

es erfordert – für eine Untertitelung, damit<br />

deutsche Besucher keine Verständnisschwierigkeiten<br />

haben. Zum anderen fährt<br />

bereits seit 2005 ein sogenannter Kulturbus<br />

über den Rhein. Er bringt Interessierte aus<br />

Bernard Fleury<br />

Offenburg und <strong>Kehl</strong> direkt<br />

ins Maillon-Theater oder umgekehrt<br />

auch Straßburger<br />

zu Veranstaltungen auf die<br />

deutsche Rheinseite. „20<br />

bis 25 <strong>Kehl</strong>erinnen und <strong>Kehl</strong>er<br />

nutzen den Kulturbus im<br />

Durchschnitt, wenn er zu einer<br />

Zirkus-Aufführung nach<br />

Straßburg fährt“, sagt Stefanie<br />

Bade, bei Theaterstücken<br />

seien es weniger. Pro Saison<br />

gibt es derzeit drei Veranstaltungen<br />

im Maillon-Theater,<br />

zu dem <strong>Kehl</strong>er Kulturfreunde per Kulturbus<br />

anreisen können.<br />

„Unser Publikum ist jetzt teilweise deutsch, das<br />

hat sich mit der Kooperation so entwickelt“,<br />

freut sich Bernard Fleury. Von den 2800 Abonnenten<br />

des Theaters seien rund 250 Deutsche.<br />

„<strong>Das</strong> ist ein großer Anteil für ein Theater“, sagt<br />

der Direktor. „Im Musikbereich sind solche<br />

Zahlen natürlich ganz normal, aber im Theaterund<br />

Tanzbereich mit zeitgenössischer Kunst<br />

ist das ein besonderer Erfolg.“ Der grenzüberschreitende<br />

Kulturbus, der als Kooperation<br />

zwischen dem Maillon und der Kunstschule Offenburg<br />

entstanden ist und zeitweise vom Eurodistrikt<br />

Strasbourg-Ortenau gefördert wurde,<br />

habe dazu entscheidend beigetragen. „Ich weiß,<br />

dass es Zuschauer gibt, die erst mit dem Kulturbus<br />

gekommen sind und die sich inzwischen<br />

privat organisieren, um herzukommen“, erzählt<br />

Bernard Fleury. Durch die vielen Zuschauer<br />

von der anderen Rheinseite hat er inzwischen<br />

auch gelernt: Die Deutschen haben einen anderen<br />

Humor als ihre französischen Nachbarn.<br />

„Wenn wir ein volles Haus haben und ein Drittel<br />

des Publikums deutsch ist, dann ist es sehr<br />

lustig zu sehen, dass die Deutschen an anderen<br />

Stellen lachen. Und das liegt nicht nur an<br />

der zeitlichen Verzögerung durch die Übersetzung.“<br />

Bernard Fleury wünscht sich, die grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit noch weiter<br />

ausbauen zu können – sofern die finanziellen<br />

Mittel es erlauben. „Denn ich denke, dass sich<br />

Europa auch über die Kultur entwickeln wird.<br />

Und das Maillon ist ein französisches Theater<br />

mit einem europäischen Konzept.“<br />

>><br />

119


Medien<br />

50 Jahre deutsch-französische Freundschaft, 20 Jahre offene Grenzen – eigentlich<br />

müsste man sich kennen. <strong>Das</strong> Nachbarland ist so nah – und doch ist alles anders. Die<br />

Unterschiede aufzuzeigen und zu erklären, dazu tragen auch die Medien der Region<br />

bei. Doch wie sieht die Berichterstattung abseits von festlichen Anlässen und Jahrestagen<br />

aus?<br />

Grenzüberschreitende Berichterstattung oder:<br />

Was interessiert den Nachbarn?<br />

120<br />

>><br />

Der deutsch-französische Sender arte, der<br />

2012 sein 20-jähriges Bestehen feierte, verdankt<br />

dem grenzüberschreitenden Blick<br />

seine gesamte Existenz. Doch Themen aus<br />

der Region sind – trotz artes Hauptsitzes<br />

in Straßburg – nicht zwangsläufig die Regel.<br />

„Unsere Innenpolitik ist die Europapolitik“,<br />

sagt Sinje Matzner, Leiterin der Nachrichtensendung<br />

„arte journal“. Sprich: „Wenn<br />

der Euro gerettet werden muss, wenn Griechenland<br />

Hilfe braucht – das ist unser Kern.“<br />

Trotzdem wagt arte immer wieder den Blick<br />

vor die eigene Haustür, häufig<br />

in Fünf-Minuten-Reportagen<br />

am Sonntag. Da<br />

werden dann zum Beispiel<br />

das Schicksal der Raffinerie<br />

Petroplus in Reichstett thematisiert<br />

oder die Sparpläne<br />

beim PSA-Werk (Peugeot/<br />

Citroën) in Mulhouse. „Die<br />

Probleme sind oft beidseits<br />

des Rheins die gleichen“, sagt<br />

Sinje Matzner. Insofern sei es<br />

interessant, immer wieder in<br />

diesen Mikrokosmos Straßburg-Ortenau<br />

hineinzuschauen, welche Antworten<br />

sich hier für welche Fragestellungen<br />

ergeben. Generell liege für den Zuschauer<br />

der Reiz des „arte journals“ in der Erwartung,<br />

etwas zu sehen, „was man zuhause in<br />

seinem nationalen Mediensystem nicht bekommt.<br />

Und das entsteht, weil Deutsche und<br />

Franzosen gemeinsam in einer Redaktion<br />

sitzen und stundenlang über Themen diskutieren.“<br />

<strong>Das</strong> Ergebnis könne dann schon mal<br />

„sehr speziell sein“, räumt sie ein. „Manchmal<br />

Sinje Matzner<br />

fallen Dinge raus, weil eine der beiden Seiten<br />

sagt: <strong>Das</strong> versteht bei uns keiner. Oder: <strong>Das</strong><br />

interessiert bei uns keinen.“<br />

Mit seinem Ansatz und seiner binationalen<br />

Entstehungsweise hat arte freilich eine Sonderposition<br />

unter den Medien der Region.<br />

Meist sind die Themen am Quai du Chanoine<br />

Winterer planbarer, hintergründiger als bei<br />

den Mitbewerbern, die mehr auf lokale Aktualität<br />

reagieren müssen. „Wenn ein schwerer<br />

Unfall passiert, wie zum Beispiel im Sommer<br />

auf der A5 bei Rust, holen wir<br />

uns selbstverständlich Bildmaterial<br />

von den Kollegen<br />

vom SWR“, sagt John Reichenbach,<br />

stellvertretender<br />

Chefredakteur von France<br />

3 in Straßburg. „Auch die<br />

Eröffnung eines besonderen<br />

Supermarktes kann ein<br />

Thema für uns sein“ – bis<br />

hinunter nach Basel, denn<br />

Grenzen überschreitet man<br />

bei France 3 dreieckförmig<br />

mit der Schweiz. Doch die<br />

entsprechenden Inhalte werden weniger: Im<br />

Juni 2013 hat der Kanal seine Sendung „Deux<br />

Rives“ eingestellt – nach rund zwölf Jahren.<br />

Der Straßburger Gemeinderat nahm dies zum<br />

Anlass, in einer Resolution Ende September<br />

die Aufrechterhaltung des lokalen Formats zu<br />

fordern. Als festes Programmelement bleibt<br />

„Rund Um“, ein montags bis freitags ausgestrahltes<br />

Nachrichtenjournal mit Reportagen<br />

aus der Region. „Manchmal kaufen wir interessante<br />

Programminhalte aus Deutschland<br />

John Reichenbach, stellvertretender<br />

Chefredakteur von France 3:<br />

„Was wir über die andere Rheinseite<br />

machen, interessiert in<br />

Paris eher wenig.“


oder der Schweiz dazu“, sagt John Reichenbach.<br />

Er weiß aber auch: „Was wir über die andere<br />

Rheinseite machen, interessiert in Paris eher<br />

wenig.“ Für Paris ist das Straßburger Studio<br />

hauptsächlich wegen der EU-Institutionen<br />

relevant. Trotzdem hat er das Gefühl, „dass<br />

wir uns unseren Nachbarn immer mehr öffnen“.<br />

In seinen Augen nicht<br />

von ungefähr: „Die Elsässer<br />

sind vielleicht europäischer<br />

als der Rest Frankreichs.“<br />

Vielleicht finden sie es aber<br />

auch einfach nur praktisch,<br />

in Deutschland einkaufen zu<br />

können. Oder sie gehen gerne<br />

ins Theater oder in eine Ausstellung.<br />

Viele Elsässer greifen<br />

dann zur DNA (Dernières<br />

Nouvelles d’Alsace), die zweimal<br />

im Monat ihre „Kulturagenda“<br />

herausbringt: Zwei Seiten mit allen<br />

wichtigen Terminen zwischen Karlsruhe und<br />

Basel. Außerdem gibt es weitere Tipps und<br />

Berichte in der Wochenendbeilage „Reflets“.<br />

Bis 2012 hatte die DNA sogar eine deutschsprachige<br />

Ausgabe, die als „Straßburger Neueste<br />

Nachrichten“ bereits 1877 geboren wurde.<br />

<strong>Das</strong> Ende folgte nicht zuletzt aufgrund der<br />

strengen Sprachpolitik der französischen Regierung,<br />

die es nicht erlaubte, bestimmte Teile<br />

der Zeitung auf Deutsch zu veröffentlichen.<br />

Heute erhalten die Abonnenten der zweisprachigen<br />

Ausgabe eine dünnere deutsche<br />

Beilage mit der regulären DNA mitgeliefert.<br />

Eine deutschsprachige Internetseite gibt es<br />

weiterhin. Der stellvertretende Chefredakteur<br />

Jean-Marc Thiébaut verweist auf besondere<br />

Projekte, wie „Salut Voisin“, um die mediale<br />

Verbundenheit beider Länder zu demonstrieren.<br />

Eine der Geschichten in „Salut Voisin“<br />

handelt von zwei Reportern aus beiden Ländern,<br />

die einen Tag am Rhein entlang spaziert<br />

sind und ihre Eindrücke anschließend gemeinsam<br />

aufgeschrieben haben. Solche journalistischen<br />

Gelegenheiten sind selten geworden<br />

in einer Branche, die sparen muss.<br />

Ob eine Geschichte gemacht wird oder nicht,<br />

ist für Jean-Marc Thiébaut allein eine Frage<br />

Jean-Marc Thiébaut<br />

des gesellschaftlichen Auftrags. „Wir verkaufen<br />

keine Schuhe oder Currywürste. Eine Beilage<br />

wie ,Salut Voisin’ machen wir nicht, damit<br />

sie gut ankommt. Sondern weil sie für das<br />

Zusammenleben beider Nationen einen Sinn<br />

ergibt.“ Dazu gehörte auch 2013 wieder eine<br />

intensive Berichterstattung rund um die Bundestagswahl,<br />

bei der während<br />

der heißen Phase in der DNA<br />

jeden Tag ein Leitartikel zu<br />

lesen war. Relevant seien Themen<br />

auch dann, wenn sie Vergleiche<br />

zulassen, sagt Jean-<br />

Marc Thiébaut. „Wir schauen<br />

zum Beispiel regelmäßig, was<br />

in Baden-Württemberg besser<br />

läuft als bei uns und<br />

erklären es unseren Lesern.<br />

Einen Artikel über das Schulsystem<br />

und die Sprachen<br />

kann man dann hervorragend<br />

verbinden mit ökonomischen Fakten. Oder<br />

wir schicken einen Mitarbeiter nach Freiburg<br />

zur Eröffnung eines Öko-Viertels. Warum?<br />

Weil wir im Elsass auch Öko-Viertel haben.“<br />

„Unsere Berichterstattung hat sich verändert“,<br />

sagt Hubert Röderer von der Badischen Zeitung,<br />

Redaktion Offenburg. „Spätestens seit<br />

dem Schengener Abkommen und der Tatsache,<br />

dass die Grenze heute kinderleicht<br />

zu passieren ist, sind die Menschen von hier<br />

neugieriger geworden auf ihre Nachbarn. Und<br />

das ist gut so.“ Bei der BZ liefert eine Korrespondentin<br />

regelmäßig Berichte über das<br />

Elsass, die teilweise nicht nur in der Offenburger,<br />

sondern gleich in der Gesamtausgabe<br />

erscheinen. Jeden Samstag gibt es zudem die<br />

Rubrik „Blick ins Elsass“, mit „allen möglichen<br />

Terminen, vom historischen Dorffest über eine<br />

Theaterpremiere bis zum Fußballspiel im großen<br />

Straßburger Stadion. Aber auch politische<br />

Entwicklungen und Tourismus. Wir betrachten<br />

das als grundlegenden Service.“<br />

Mit ihrem wöchentlichen Serviceteil kommen<br />

die Badischen Neuesten Nachrichten (BNN)<br />

nach Aussage von Frank Löhnig von der Lokalausgabe<br />

Acher- und Bühler Bote gut an.<br />

„Vor allem für die jugendliche Zielgruppe lie-<br />

>><br />

121


SONDERBEILAGE MITT<br />

122<br />

>><br />

fern wir grenzüberschreitend Infos, die relevant<br />

sind.“ Dazu kommt einmal im Monat ein<br />

Blick auf das Straßburger Kulturprogramm.<br />

Themen, die für einen größeren Leserkreis<br />

wichtig sein könnten, wie etwa die Bebauung<br />

Straßburgs in Richtung Rhein, schafften es<br />

auch in den Regionalteil der Zeitung. Generell<br />

ist die Aufteilung folgendermaßen: Die Lokalredaktion<br />

in Bühl betreut auf französischer<br />

Seite Haguenau und das Umland. Von Achern<br />

aus blickt man südlicher, auf Straßburg und<br />

Umgebung. Zu besonderen Anlässen kann die<br />

Berichterstattung im Lokalteil auch mal bis<br />

ins elsässische Rosheim gehen, schließlich ist<br />

es die Partnerstadt von Kappelrodeck.<br />

Der regionale Bezug ist auch<br />

für die Zeitungen der Mittelbadischen<br />

Presse (Reiff<br />

Medien) mitunter ausschlaggebend,<br />

damit sie grenzüberschreitend<br />

berichten. Häufig<br />

werden dann Ereignisse von<br />

weiter weg lokal verortet, wie<br />

beim Besuch von Bundespräsident<br />

Gauck in Oradour-sur-<br />

Glane Anfang September,<br />

wo im Zweiten Weltkrieg<br />

Hunderte Bewohner von der<br />

deutschen Waffen-SS getötet<br />

wurden. Auch elsässische Zwangsrekrutierte<br />

waren damals beteiligt – die Mittelbadische<br />

Presse hat das Thema deshalb anlassbezogen<br />

in der Region verankert. Wirtschaftsthemen<br />

spielen ebenfalls eine Rolle, wenn etwa<br />

das deutsche Sparkonzept Auswirkungen auf<br />

die Hochgeschwindigkeitstrasse für TGV und<br />

ICE hat. „Wir lassen immer wieder einflussreiche<br />

Persönlichkeiten aus Straßburg und<br />

dem Elsass zu Wort kommen“, sagt Sigrid<br />

Hafner von der Mittelbadischen Presse, „von<br />

der Handwerks- zur Handelskammer, von der<br />

Straßburger <strong>Stadt</strong>führung bis zum Präsidenten<br />

des elsässischen Regionalrats“.<br />

Sigrid Hafner<br />

Neuland betrat Reiff vor einigen Jahren mit<br />

speziellen Magazinen über den Eurodistrikt<br />

und die Metropolregion Oberrhein, die komplett<br />

in deutscher und französischer Sprache<br />

erscheinen, wie „360 Grad“ oder das „Metromagazin“.<br />

Dabei handelt es<br />

sich um Kooperationsprojekte<br />

mit der Wirtschaftsregion<br />

Offenburg/Ortenau,<br />

der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg<br />

und dem Eurodistrikt,<br />

mit denen auf Messen „die<br />

Stärken und Chancen der<br />

Grenzregion präsentiert werden“,<br />

sagt Sigrid Hafner.<br />

Außerdem produziert Reiff<br />

mit „Salut l’Ortenau“ und<br />

„Bienvenue – willkommen in<br />

Straßburg“ zwei Magazine,<br />

die sich an französische Leser<br />

in den Randgemeinden Straßburgs<br />

beziehungsweise an<br />

deutsche Leser im Verbreitungsgebiet<br />

der Mittelbadischen<br />

Presse richten. „Salut“<br />

erschien erstmals 2003 und<br />

wird heute siebenmal pro<br />

Jahr kostenlos verteilt. Den<br />

Schwerpunkt bilden Termine<br />

aller Art: Kulturelle Veranstaltungen,<br />

Feste, verkaufsoffene<br />

Sonntage. „Daneben<br />

werden Land, Leute, Tradi tio -<br />

nen, Brauchtum aber auch<br />

Neuigkeiten aus Politik und<br />

Wirtschaft thematisiert“ erklärt Sigrid Hafner.<br />

„Bienvenue“, ein Kooperationsprojekt mit der<br />

Händlervereinigung Vitrines de Strasbourg<br />

und Reiff Medien, gibt es seit 2005. Es erscheint<br />

viermal jährlich und fußt auf einem<br />

ähnlichen Prinzip wie sein Pendant.<br />

„Verbraucherthemen gehen immer“, sagt<br />

Markus Knoll, der Geschäftsführer von Hitradio<br />

Ohr, das ebenfalls zu Reiff gehört. Gerade<br />

deshalb könnten die Medien auf der<br />

anderen Rheinseite in Bezug auf Deutschland<br />

manchmal ein bisschen mehr machen,<br />

findet er. „Die Franzosen gehen heute bei<br />

uns essen und trinken – und vielleicht bestellen<br />

sie sich einen deutschen Wein dazu,<br />

was noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen<br />

wäre. Darüber könnten sie mehr berichten.“<br />

Seit sechs Jahren widmet sich Hitradio<br />

Ohr jeden zweiten Sonntag in der Sendung<br />

Gleich in mehreren Magazinen<br />

werden den Lesern die Besonderheiten<br />

auf der jeweils anderen<br />

Rheinseite nahegebracht.<br />

Unsere Themen<br />

Freibad Wacken:<br />

»Nordisches«<br />

Becken erlaubt<br />

Nutzung das<br />

gesamte Jahr.<br />

Forscher von<br />

Weltruf arbeiten<br />

an der Universität<br />

Straßburg.<br />

Europäische Forschungseinrichtung<br />

muss wohl<br />

Arbeit einstellen.<br />

Für die Kleinen:<br />

Am 27. und 30.<br />

März überreichen<br />

übergroße Osterhasen<br />

auf dem<br />

Gutenbergplatz<br />

kleine Geschenke.


ELBADISCHE PRESSE www.bo.de Mittwoch, 20. März 2013<br />

Dans ce numéro<br />

Fête du vin<br />

d’Offenbourg :<br />

un moment exceptionnel<br />

avec le<br />

couronnement de<br />

la Reine des vins<br />

allemande<br />

Saveurs automnales<br />

: les auberges<br />

de vignerons<br />

ouvrent leurs<br />

portes<br />

A Lahr, le festival<br />

floral Chrysanthema<br />

est sur le<br />

point d’éclore<br />

Saison<br />

des vendanges<br />

: l’occasion<br />

de découvrir les<br />

marchés paysans<br />

de la région<br />

Festival « Rheingeflüster<br />

» à<br />

<strong>Kehl</strong> : ambiance<br />

garantie sur les<br />

rives du fleuve<br />

La Oberrheinmesse<br />

fête son<br />

75e anniversaire<br />

MITTELBADISCHE PRESSE www.bo.de Septembre 2013<br />

„Bienvenue“ der Aufgabe,<br />

den Deutschen ihre<br />

französischen Nachbarn<br />

näherzubringen<br />

und umgekehrt – drei<br />

Stunden lang. Da werden<br />

dann zum Beispiel die<br />

Unterschiede zwischen<br />

Abitur und Baccalaureat<br />

erläutert oder Sommerferien<br />

im Schwarzwald<br />

aus Sicht der Franzosen<br />

beschrieben. Es wird viel<br />

französische Musik gespielt,<br />

was für zahlreiche Hörer<br />

schon ein Wert an sich ist.<br />

Außerdem verpacken Markus<br />

Knoll und „Bienvenue“-Produzentin<br />

Wiebke Ecklé in ihrer eigenen Kult-Rubrik<br />

„Französisch mit Wiebke und Markus“ die<br />

feinen Unterschiede zwischen den Kulturen.<br />

„Wir mokieren uns gegenseitig über unsere<br />

Nationen“, sagt Markus Knoll über die<br />

gebürtige Deutsche Wiebke Ecklé, die aber<br />

in Frankreich wohnt. „Ansonsten möchten<br />

wir in den drei Stunden alles abbilden, was<br />

für einen Deutschen im Elsass relevant sein<br />

könnte: Ausflugstipps, Politisches, bunte<br />

Meldungen.“ Oft kämen die Anregungen für<br />

Themen auch von den Hörern, sagt Wiebke<br />

Ecklé. Und natürlich die Termine. „Anfangs<br />

mussten wir uns die Quellen zusammensuchen.<br />

Heute können wir uns kaum retten.“<br />

Wenn Infos besonders interessant oder wichtig<br />

seien, schiebt Wiebke Ecklé sie auch mal<br />

ihren Kollegen aus der Nachrichten redaktion<br />

zu. „Meine Informationen kommen aus dem<br />

gesamten Elsass, das kann schon mal 250<br />

Kilometer vom Sender in Offenburg entfernt<br />

sein.“ Markus Knoll formuliert es so: „Es ist<br />

durchaus politisch gewollt, dass wir diese<br />

Sendung machen. Als Medienschaffende<br />

verstehen wir uns auch als Mittler zwischen<br />

den beiden Nationen.“<br />

123<br />

Kirchen<br />

Seit etwa 25 Jahren pflegen die beiden großen Kirchen in <strong>Kehl</strong> Kontakte zu Partnergemeinden<br />

in Straßburg. Daraus ist eine grenzüberschreitende Ökumene gewachsen.<br />

Grenzüberschreitende Ökumene: „Es sind feste Brücken entstanden“<br />

Ob bei der grenzüberschreitenden Gartenschau<br />

oder beim Rheinfest der Städte Straßburg<br />

und <strong>Kehl</strong>: Grenzüberschreitende ökumenische<br />

Gottesdienste waren und sind ein<br />

Anziehungspunkt. Selbst in Zeiten, in denen<br />

die großen Kirchen über eine schwindende<br />

Zahl von sonntäglichen Kirchgängern<br />

klagen, füllt sich das Rheinvorland, wenn<br />

die Menschen von beiden Rheinseiten zum<br />

Open-Air-Gottesdienst eingeladen werden.<br />

Doch auch über diese Gottesdienste hinaus<br />

haben sich die Kontakte der Kirchen über die<br />

deutsch-französische Grenze mit den Jahren<br />

verfestigt. „Ein gemeinsames ökumenisches<br />

Bewusstsein über den Rhein hinweg ist entstanden“,<br />

sagt Alban Meier. „Im kirchlichen<br />

Leben in <strong>Kehl</strong> ist die grenzüberschreitende<br />

Ökumene nicht mehr wegzudenken“, ergänzt<br />

Günter Ihle, der als <strong>Kehl</strong>er Dekan von der<br />

evangelischen Landeskirche in Baden eigens<br />

damit beauftragt ist, die deutsch-französischen<br />

Kontakte zu pflegen.<br />

Fragt man den katholischen Pfarrer im Ruhestand<br />

danach, wann alles begonnen hat, muss<br />

er nicht lange nachdenken: Als sich <strong>Kehl</strong>erinnen<br />

und <strong>Kehl</strong>er Ende der 80er-Jahre gegen die<br />

vom Land im <strong>Kehl</strong>er Hafen geplante Sondermüllverbrennungsanlage<br />

wehrten, „haben wir<br />

uns mit der Bitte um Unterstützung auch an<br />

Frankreich gewandt“. Aus dieser Kontaktaufnahme<br />

entstand eine gemeinsame, ökumenische<br />

Arbeitsgemeinschaft der Kirchen von beiden<br />

Rheinseiten. Katholiken und Protestanten<br />

>>


124<br />

haben sich nicht nur Demonstrationen gegen<br />

die Sondermüllverbrennungsanlage angeschlossen,<br />

sondern sich in der Folge jahrelang<br />

abwechselnd in <strong>Kehl</strong> und Straßburg getroffen,<br />

um über Umweltthemen aus theologischer<br />

Sicht zu sprechen. Bei diesen Treffen ist die<br />

Idee entstanden, jeweils am dritten Adventssonntag<br />

um 16 Uhr im Straßburger Münster<br />

einen deutsch-französischen ökumenischen<br />

Friedensgottesdienst zu feiern. Während sich<br />

die Umwelt-Arbeitsgruppe nach der Gartenschau<br />

aufgelöst hat, wird der Advents-Gottesdienst<br />

immer noch begangen.<br />

Ebenfalls in den 80er-Jahren hat die katholische<br />

Kirche damit begonnen, die katholische<br />

Gemeinde aus dem grenznahen Straßburger<br />

<strong>Stadt</strong>teil Neuhof zum Fronleichnamsfest nach<br />

<strong>Kehl</strong> einzuladen. Dieser katholische Festtag<br />

wird heute noch gemeinsam gefeiert. Weil<br />

Fronleichnam im Elsass kein Feiertag ist, können<br />

daran jedoch nur die älteren Gemeindemitglieder<br />

teilnehmen, bedauert Alban Meier.<br />

1989 erwarb die evangelische Landeskirche<br />

der Pfalz die „Wichern“, verhalf damit Schifferpfarrer<br />

Heino Pönitz zu einem Schiff und<br />

schickte ihn an den Rhein. Die „Wichern“ war<br />

von Anfang an grenzüberschreitend gedacht,<br />

erklärt Heino Pönitz, der – des Französischen<br />

problemlos mächtig – auf dem Schiff<br />

deutsch-französische Paare traute und auch<br />

französische Kinder taufte. Als nach den<br />

Kommunalwahlen in Frankreich 2001 das<br />

Straßburger Tandem Fabienne Keller/Robert<br />

Grossmann die Führung im Straßburger Rathaus<br />

übernahm und von der Idee des Gartens<br />

der zwei Ufer und der Passerelle anfangs wenig<br />

erbaut war, fuhr Heino Pönitz mit der „Wichern“<br />

mit Mitgliedern des Vereins Garten//<br />

Jardin über den Rhein, um am französischen<br />

Ufer für die Passerelle zu kämpfen.<br />

1994 hat die evangelische Kirche damit begonnen,<br />

unter dem Titel „Zwei Ufer, eine<br />

Quelle“ grenzüberschreitende Gottesdienste,<br />

Konzerte und Begegnungen zu organisieren.<br />

Der Titelsong dieses Treffens gehört heute<br />

zum festen Bestandteil des gemeinsamen<br />

Gesangbuches der evangelischen Kirchen im<br />

Elsass und in Baden. Partnerschaften zwischen<br />

evangelischen Kirchengemeinden auf<br />

beiden Rheinseiten sind ebenso entstanden<br />

wie eine gemeinsame Arbeitsgruppe, die der<br />

gegenseitigen Information und Kontaktpflege<br />

dient, die aber auch gemeinsame Vorhaben<br />

plant. „Es ist einfach gut, wenn man sich<br />

kennt und zueinander Vertrauen hat“, betont<br />

Günter Ihle, der selber das Leben an der Grenze<br />

als eine große Bereicherung empfindet.<br />

Regelmäßig treffen sich zudem die Pfarrerinnen<br />

und Pfarrer der Dekanate <strong>Kehl</strong> und<br />

Straßburg, um sich über Themen auszutauschen,<br />

die beide Seiten beschäftigen („Kirche<br />

und Diakonie“, „Aktive und passive Sterbehilfe“,<br />

Vorbereitung des großen Taizé-Treffens).<br />

Ebenso wird ein regelmäßiger Gedankenaustausch<br />

auf leitender Ebene zwischen beiden<br />

Kirchen gepflegt.<br />

Die rheinübergreifenden Kontakte beider<br />

Kirchen haben sich im Vorfeld der grenzüberschreitenden<br />

Gartenschau „wunderbar<br />

bewährt“, sagt Alban Meier. Die Kirchen veranstalteten<br />

im <strong>Kehl</strong>-Straßburger Festsommer<br />

2004 nicht nur ein halbes Jahr lang an<br />

Sonntagen ökumenische Gottesdienste auf<br />

der Hauptbühne im Kasernenareal, sondern<br />

betrieben gemeinsam die „Arche“, die neben<br />

der Passerelle vor Anker lag. Dieses speziell<br />

für die Gartenschau erbaute Kirchenschiff<br />

entwickelte sich während der 171 Tage zu<br />

einem Ort der Begegnung und der Information<br />

– Mitarbeiter der Kirchen waren immer<br />

vor Ort, mit zahllosen Veranstaltungen konnten<br />

Tausende von Menschen erreicht werden.<br />

„Die Landesgartenschau<br />

hat einen großen Schub<br />

gebracht“, erinnert sich<br />

Alban Meier. Auch Heino<br />

Pönitz schwärmt heute<br />

noch von der damaligen<br />

Gemeinschaft und der Begeisterung<br />

fürs gemeinsame<br />

Arbeiten.<br />

Geblieben sind von der<br />

Gartenschau der Biblische<br />

Garten, der von katho-<br />

Die Arche bei der Gartenschau:<br />

171 Tage lang war das Kirchenschiff<br />

ein Ort der grenzübergreifenden<br />

ökumenischen Begegnung.<br />

Geblieben sind von der Gartenschau<br />

2004 der Biblische Garten<br />

und der grenzüberschreitende<br />

Versöhnungsweg.<br />

>>


lischen Gemeindegliedern regelmäßig gepflegt<br />

wird, ebenso wie der grenzüberschreitende<br />

Versöhnungsweg, der von Rothau<br />

und Schirmeck in den Vogesen über <strong>Kehl</strong> bis<br />

nach Rastatt führt. Die Broschüre, welche<br />

die Stationen der Erinnerungen aufführt und<br />

beschreibt, sei immer noch sehr gefragt, berichtet<br />

Alban Meier.<br />

Geblieben sind überdies zahlreiche private<br />

Kontakte, welche über die Jahre hinweg<br />

durch die grenzüberschreitende Kooperation<br />

entstanden sind. Über private Beziehungen<br />

kam der elsässische Schriftsteller und Poet<br />

André Weckmann in die Gottesdienste in<br />

der katholischen Gemeinde St. Maria, wo er<br />

immer wieder elsässische Texte gelesen hat.<br />

Wie der evangelische Straßburger Pfarrer<br />

Jean-Jacques Reutenauer hat auch André<br />

Weckmann beim Volkstrauertag in <strong>Kehl</strong> eine<br />

vielbeachtete Rede gehalten. „Man ist sich<br />

mit den Jahren nähergekommen“, sagt Alban<br />

Meier, der regelmäßig seine engen freundschaftlichen<br />

Kontakte über den Rhein pflegt,<br />

„es sind feste Brücken entstanden, man begegnet<br />

sich laufend“. Wenn er früher in Straßburg<br />

gefragt habe: „Kennt ihr <strong>Kehl</strong>?“, habe er<br />

meist zur Antwort erhalten: Ja, Aldi und Tanken.<br />

„<strong>Das</strong>s hier auch Katholiken wohnen, war<br />

gar nicht im Blickfeld. <strong>Das</strong>s Begegnungen<br />

heute häufig und selbstverständlich geworden<br />

sind, dazu denke ich, haben wir von kirchlicher<br />

Seite auch etwas beitragen können.“<br />

In einer Zeit, in der „allgemein eine gewisse<br />

Europamüdigkeit zunimmt“ und die evangelischen<br />

Kirchen hüben wie drüben aufgrund<br />

ihrer Struktur- und Finanzprobleme „zu sehr<br />

mit sich selbst beschäftigt sind“, wünscht sich<br />

Dekan Günter Ihle, eine „breitere Basis“ für die<br />

flussübergreifenden Beziehungen, eine, die<br />

über „die Kreise von Freunden“ hinausgeht.<br />

Durch eine gegenseitige Repräsentanz in den<br />

Gremien würde er gerne „die Verbindlichkeit<br />

des Miteinanders“ erhöhen. Ansätze gibt es<br />

schon: So ist zum Beispiel in der <strong>Kehl</strong>er Regionalsynode<br />

automatisch ein Mitglied der elsässischen<br />

Schwesterkirche vertreten. Könnte<br />

Personal rheinübergreifend eingesetzt werden,<br />

könnten die Kirchen Synergien nutzen und<br />

über eine gemeinsame Jugendarbeit die künftige<br />

Generation enger einbeziehen.<br />

Dieses besondere Miteinander an der Grenze<br />

führt auch dazu, dass <strong>Kehl</strong>-Straßburg immer<br />

wieder in den Fokus der großen Kirchen<br />

genommen wird – sei es bei einem ökumenischen<br />

Fernsehgottesdienst in der Friedenskirche,<br />

der in viele Teile der französischsprachigen<br />

Welt übertragen wurde, sei es als<br />

Veranstaltungsort des „Tages der Schöpfung“,<br />

den die christlichen Kirchen diesseits und jenseits<br />

des Rheins in <strong>Kehl</strong> veranstaltet haben<br />

oder sei es als Gastgeberregion für das europaweite<br />

Taizé-Treffen am Jahresende, das<br />

sonst als Veranstaltungsorte eher Weltstädte<br />

wie Rom, Berlin oder Paris kennt.<br />

125<br />

Gesundheit<br />

Bereits seit 2004 haben gesetzlich versicherte Patienten grundsätzlich Anspruch auf<br />

Kostenerstattung, wenn sie sich in einem anderen Land der Europäischen Union behandeln<br />

lassen. Planbare Krankenhausaufenthalte müssen sie sich allerdings im Voraus<br />

von ihrer Krankenkasse genehmigen lassen. <strong>Das</strong> Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz<br />

hat im Dezember 2012 eine Broschüre herausgegeben (www.cec-zev.eu),<br />

in der sich Patienten über ihre Rechte informieren können, wenn sie sich zum Beispiel<br />

im Nachbarland behandeln lassen möchten. Die zweisprachigen Juristen des Zentrums<br />

beantworten über die Broschüre hinausgehende Fragen oder helfen bei Erstattungsproblemen.<br />

Außerdem hat die Bundesrepublik eine Kontaktstelle bei der Deutschen<br />

Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland (DVKA) eingerichtet. Auf der Internetseite<br />

www.eu-patienten.de können sich Patienten ebenfalls über ihre Ansprüche<br />

und die Gesundheitsdienstleister im EU-Ausland informieren. Im März 2013 hat das<br />

Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz im Auftrag des Eurodistrikts Strasbourg-<br />

>>


126<br />

Ortenau eine umfangreiche Studie zum Thema Gesundheit vorgelegt. Diese umfasst<br />

nicht nur eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Situation (welche medizinischen<br />

Leistungen werden wo angeboten), sondern wartet zugleich mit Vorschlägen auf, wie<br />

der Eurodistrikt zu einer Pilotregion für den Zugang zu grenzüberschreitenden medizinischen<br />

Leistungen werden kann. Der Eurodistriktrat hat daraufhin in seiner Sitzung<br />

im März die Absicht bekräftigt, eine solche Pilotregion einrichten zu wollen. Begonnen<br />

werden soll mit Projekten im Bereich der Krebsbehandlung. Im September hat der<br />

Euro distriktrat beschlossen, in folgenden Bereichen Kooperationen prioritär umzusetzen:<br />

bei den bildgebenden Verfahren (zumindest im Bereich der Krebsbehandlung), in<br />

der ambulanten Chirurgie (Gastroenterologie, Hepatologie, Gynäkologie und Augenheilkunde)<br />

sowie in der Notfallversorgung (im Bereich Neurologie).<br />

<strong>Das</strong> Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz hat 2012 außerdem die Preise von<br />

mehr als 150 Medikamenten, davon 22 Generika, in <strong>Kehl</strong> und Straßburg verglichen.<br />

Unter die Lupe genommen wurden sowohl rezeptfreie als auch verschreibungspflichtige<br />

Medikamente, hierbei wiederum solche die nicht, teilweise oder komplett erstattet<br />

werden. <strong>Das</strong> Ergebnis war eindeutig: Die Mehrzahl der verglichenen Arzneien war in<br />

Frankreich günstiger als in Deutschland.<br />

Auch im Epilepsiezentrum der Diakonie Kork werden seit Jahren Patienten aus Frankreich<br />

behandelt. Stationär waren 2012 13 französische Patienten in der Klinik aufgenommen,<br />

246 wurden seit 2009 im sogenannten SEEK-Projekt grenzüberschreitend<br />

behandelt. Von den 114 Schülerinnen und Schülern der Oberlinschule kommen 13<br />

aus Frankreich. 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie sind französische<br />

Grenzgänger.<br />

- Aus der französischen Studie übersetzt ins Deutsche -<br />

© Europäische Kommi sion<br />

Neue Substitutionspraxis „auf richtig gutem Weg“<br />

>><br />

Die Begeisterung ist Michèle Falch-Knappe<br />

anzumerken: Die am 16. September eröffnete<br />

Substitutionspraxis mit grenzüberschreitendem<br />

Charakter und großer finanzieller Unterstützung<br />

des Eurodistrikts (150 000 Euro,<br />

verteilt auf drei Jahre) ist gut angelaufen.<br />

„Wir sind auf richtig gutem Weg“, berichtet die<br />

Leiterin der Jugend- und Drogenberatungsstelle<br />

(DROBS).<br />

<strong>Das</strong> selbergesteckte Planziel<br />

von 20 Patienten nach drei<br />

Monaten ist erreicht. Darunter<br />

sind, was Michèle Falch-<br />

Knappe besonders freut, zwei<br />

Patienten, die bisher noch nie<br />

in der Substitution waren. Die<br />

haben sich – unterstützt von<br />

ihren Familien – aufgrund<br />

der kurzen Wege entschieden,<br />

mit der Substitution zu<br />

Michèle Falch-Knappe<br />

beginnen. Auch das Zusammenspiel der drei<br />

Ärzte – Patrick Gassmann aus Straßburg, Dr.<br />

Frieder Baldner und Dr. Claus-Dieter Seufert<br />

aus <strong>Kehl</strong> – klappt gut. Außerdem konnten die<br />

Patienten bereits die Vorteile nutzen, die das<br />

nach <strong>Kehl</strong> importierte französische System<br />

der Microstructure bietet: Erste gemeinsame<br />

Gespräche mit Arzt, Patient,<br />

Psychologin und Sozialarbeiterin<br />

haben bereits stattgefunden,<br />

wie die Leiterin<br />

der DROBS berichtet. An drei<br />

Tagen pro Woche ist zu den<br />

Öffnungszeiten der Praxis<br />

die Psychologin vor Ort, an<br />

weiteren drei Tagen die Sozialarbeiterin.<br />

Die jeweils andere<br />

Kollegin kann bei Bedarf<br />

hinzugerufen werden. (siehe<br />

auch Chronik, Seite 49)


Studie über die Schaffung einer Pilotregion für<br />

den Zugang zu grenzüberschreitenden<br />

medizinischen Leistungen im Eurodistrikt<br />

Strasbourg-Ortenau<br />

Endbericht<br />

Januar 2013<br />

Studie beauftragt durch den<br />

Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau<br />

Durchgeführt vom<br />

Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz e.V.<br />

Zugang zu Gesundheitsleistungen<br />

ist ein sehr wichtiges,<br />

grenzüberschreitendes Thema<br />

geworden. Die Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter des Europäischen<br />

Verbraucherzentrums<br />

sind mittlerweile Experten<br />

auf diesem Gebiet.<br />

„Es ist eine Mission, das zu machen“: Kooperation mit Straßburg<br />

bringt Korker Epilepsiekliniken auf europäisches Parkett<br />

Korker Patienten in Straßburg, Straßburger<br />

Patienten in Kork, „hochprofessionelle klinische<br />

Zusammenarbeit“, konzertierte Beteiligung<br />

an internationalen Kongressen und<br />

gemeinsame Mitarbeit in einem europäischen<br />

Projekt: Professor Dr. Bernhard Steinhoff, leitender<br />

ärztlicher Direktor der Epilepsieklinik<br />

der Diakonie Kork, wird regelrecht euphorisch,<br />

wenn er über die grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit mit dem Hôpital Civil in<br />

Straßburg spricht. „Es ist eine Mission das zu<br />

machen“, schwärmt er, „wenn man einmal<br />

weggeht und hat das nicht gemacht, dann<br />

kann man ja gleich aufhören“.<br />

Es ist ein Kooperationsprojekt wie aus dem<br />

Bilderbuch: 2008 haben die Straßburger<br />

Uniklinik und die Epilepsiekliniken Kork – mit<br />

Unterstützung des Eurodistrikts – beschlossen,<br />

an Epilepsie leidende Patienten gemeinsam zu<br />

betreuen und zudem in der Forschung zusammenzuarbeiten.<br />

<strong>Das</strong> sogenannte SEEK-Projekt<br />

mit einem Volumen von 2,4 Millionen Euro<br />

wurde von 2009 bis 2012 von der Europäischen<br />

Union mit 1,2 Millionen Euro aus dem<br />

Interreg-Fonds gefördert. In diesen vier Jahren<br />

haben Bernhard Steinhoff und sein Straßburger<br />

Kollege Eduard Hirsch so viel erreicht,<br />

dass auch nach dem Auslaufen der Förderung<br />

klar war: „Wir machen auf jeden Fall weiter.“<br />

<strong>Das</strong> Interreg-Projekt sah unter anderem vor,<br />

dass Epilepsiekranke von der<br />

Straßburger Uniklinik nach<br />

Kork geschickt werden, damit<br />

dort durch sogenannte Ableitungen<br />

der Herd, welcher die<br />

Anfälle auslöst, exakt lokalisiert<br />

werden kann. Patienten<br />

aus Kork sollten die zur Ableitung<br />

notwendigen Elektroden<br />

in Straßburg eingesetzt werden,<br />

Patienten mit operablen<br />

Epilepsien aus Kork sollten in<br />

Straßburg operiert werden<br />

Bernhard Steinhoff<br />

können. Mit dieser Kooperation wollten die<br />

Partner den Patienten lange Wege ersparen.<br />

Inzwischen ist die Zusammenarbeit erprobt<br />

und eingespielt und geht viel weiter: „Wir<br />

haben ständig gemeinsame Besprechungen“,<br />

berichtet Professor Steinhoff. Wenn ein<br />

deutscher Patient entscheidet, sich in Straßburg<br />

operieren zu lassen, braucht er wegen<br />

der fremden Sprache keine Angst zu haben:<br />

„Eine Oberärztin aus Kork fährt mit rüber.“<br />

Zwei Ärztinnen aus der Straßburger Uniklinik<br />

haben in Kork gearbeitet, eine vier Jahre<br />

lang, die andere im Rahmen einer Facharzt-<br />

Rotation, jetzt sind beide wieder zurück auf<br />

der französischen Rheinseite. Zwei Neuropsychologinnen,<br />

die bei Professor Steinhoff<br />

gearbeitet haben, wurden in Straßburg mit<br />

Arbeiten promoviert, die sie in Kork verfasst<br />

haben. „Die persönlichen Kontakte helfen, wir<br />

haben ziemlich viel bilinguales Fachpersonal“,<br />

freut sich Bernhard Steinhoff. Die Patienten<br />

reagieren auf die enge Kooperation und die<br />

damit verbundenen Angebote „überwiegend<br />

positiv“, hat der Epilepsie-Professor festgestellt.<br />

Insgesamt sind von 2009 bis Ende 2012<br />

246 Patienten im SEEK-Projekt grenzüberschreitend<br />

behandelt worden.<br />

Allerdings muss in jedem Einzelfall mit den<br />

Krankenkassen noch über eine Kostenübernahme<br />

verhandelt werden. Um diese Prozedur<br />

zu vereinfachen, arbeiten<br />

die beiden Kliniken an einer<br />

grenzüberschreitenden Vereinbarung,<br />

die das in Straßburg<br />

und Kork zur Verfügung<br />

stehende Programm in einer<br />

deutschen und einer französischen<br />

Pauschale zusammenfasst.<br />

Patienten mit einer<br />

komplizierten Epilepsie sollen<br />

„in dieses Programm eintauchen<br />

können“, wünschen sich<br />

die Professoren Steinhoff<br />

>><br />

127


und Hirsch, „egal, ob sie aus Deutschland<br />

oder Frankreich kommen“.<br />

Zusammen mit Kliniken aus Oslo, Athen, Budapest,<br />

Prag, Zagreb, Sofia und Lyon wird<br />

Kork mit hoher Wahrscheinlichkeit in ein<br />

europäisches Modellprojekt aufgenommen<br />

werden, in dessen Rahmen verbindliche Qualitätsstandards<br />

für Epilepsie-Operationen erarbeitet<br />

werden sollen. „Ohne die Verbindung<br />

der Straßburger Uniklinik zu Lyon wären wir<br />

da gar nicht reingekommen“, ist sich Bernhard<br />

Steinhoff sicher. Ziel des Großprojektes,<br />

für das europäische Fördergelder in Aussicht<br />

gestellt sind, ist ein EU-Konsortium, sind Spitzenzentren<br />

für Epileptologie für ganz Europa.<br />

Sicherheit und Ordnung<br />

128<br />

Als 1993 die Grenzen ge- und der europäische Binnenmarkt eröffnet wurden, machten<br />

sich dies auch Straftäter zunutze. Um auf diese neue Qualität grenzüberschreitender<br />

Kriminalität reagieren zu können, trafen sich Vertreter der lokalen und regionalen Polizeibehörden<br />

aus beiden Ländern bereits 1994 und 1995, um sich, begleitet vom Euro-<br />

Institut, über die unterschiedlichen Rechtssysteme, Befugnisse und Vorgehensweisen<br />

auszutauschen. 1996 kamen bei einer weiteren Tagung Vertreter der Justiz hinzu. Die<br />

vom Euro-Institut organisierten und moderierten Seminare waren so erfolgreich, dass<br />

1999 gleich zwei davon stattfanden und daraus im Jahr 2000 die deutsch-französische<br />

Fortbildungsreihe „Polizei- und Justizzusammenarbeit“ entwickelt wurde, die bis heute<br />

fortgesetzt wird. 180 bis 200 Polizei- und Justizbeamte nehmen jährlich an diesen<br />

Veranstaltungen teil. Außerdem moderieren Mitarbeiter des Euro-Instituts die Sitzungen<br />

des 1999 gegründeten Lenkungsausschusses, der sich aus Vertretern der badenwürttembergischen<br />

Polizei und Justiz, der Police Nationale, der Gendarmerie Natio nale<br />

und der französischen Justizverwaltung zusammensetzt. In diesen Besprechungen<br />

wird dann das Programm für die gemeinsamen Tagungen festgelegt – zugeschnitten<br />

auf die aktuellen Probleme der Strafverfolgungsbehörden.<br />

Obwohl diese Kooperation schon so lange läuft, steht am Beginn der Tagungen alljährlich<br />

eine Einführung in die unterschiedlichen Strukturen und gesetzlichen Grundlagen<br />

in beiden Ländern, weil diese Gegebenheiten Basis der Zusammenarbeit sind. Für die<br />

Teilnehmer ist über die Aneignung von Wissen hinaus der persönliche Austausch bei<br />

diesen Seminaren sehr wichtig: Weil die Veranstaltungen zugleich grenz- und behördenübergreifend<br />

sind, können Probleme mit unterschiedlichen Partnern besprochen<br />

und Kontakte geknüpft werden.<br />

Auch im Polizeialltag ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit gegenwärtig: Auf<br />

Eurodistrikts-Ebene wurde 2013 eine deutsch-französische Fahrradstreife eingerichtet<br />

– die Polizeibeamten kontrollieren mit<br />

ihren Mountainbikes überall dort, wo<br />

Streifenwagen nicht hinkommen: auf<br />

großen Plätzen, in Fußgängerzonen<br />

und in Parks. Seit die Einfuhr von<br />

Feuerwerkskörpern nach Frankreich<br />

verboten ist, informieren Straßburger<br />

und <strong>Kehl</strong>er Polizeibeamte in den<br />

Tagen vor Silvester gemeinsam französische<br />

Besucher der <strong>Kehl</strong>er Innenstadt<br />

über die geltende Gesetzeslage.<br />

Deutsch-französische Fahrradstreifen<br />

kontrollieren überall dort,<br />

wo man mit dem Streifenwagen<br />

nicht hinkommt: in Fußgängerzonen,<br />

auf öffentlichen Plätzen,<br />

aber auch in Parks.<br />

>>


Kriminalität kennt keine Grenze:<br />

Die deutsch-französische Polizei- und Zollzusammenarbeit<br />

<strong>Das</strong> Gemeinsame Zentrum der<br />

deutsch-französischen Polizei-<br />

und Zollzusammenarbeit<br />

im Nordgebäude der <strong>Kehl</strong>er<br />

Großherzog-Friedrich-Kaserne<br />

sehen sowohl der deutsche<br />

Polizeihauptkommissar und<br />

stellvertretende Koordinator<br />

des Zentrums Albrecht Endres<br />

als auch seine französische<br />

Kollegin Anne Gindensperger<br />

als Erfolgsmodell.<br />

Es ist ein Erfolgsmodell, das vielen anderen<br />

Grenzregionen Europas als Vorbild dient: Im<br />

Gemeinsamen Zentrum der deutsch-französischen<br />

Polizei- und Zollzusammenarbeit<br />

(GZ), das 1999 in Offenburg gegründet wurde<br />

und 2002 nach <strong>Kehl</strong> umgezogen ist, arbeiten<br />

32 Deutsche und 30 Franzosen unter einem<br />

Dach, um die Sicherheit im Grenzgebiet zu<br />

verbessern. Als Unterstützungseinheit sorgt<br />

das Zentrum für den Austausch, die Steuerung<br />

und Analyse von Informationen<br />

zwischen den deutschen<br />

und den französischen<br />

Sicherheitsbehörden. Täglich<br />

gehen bei den Mitarbeitern<br />

zahlreiche Anfragen von<br />

natio nalen Dienststellen ein –<br />

pro Jahr sind es etwa 17 000.<br />

Anne Gindensperger<br />

Meistens handelt es sich um<br />

Verkehrsdelikte, Diebstähle<br />

oder aufenthaltsrechtliche<br />

Fragen, bei denen eine grenzüberschreitende<br />

Informationsvermittlung<br />

notwendig ist. <strong>Das</strong> Zentrum soll<br />

die nationalen Dienststellen so gut unterstützen,<br />

dass sie den jeweiligen Fall „wie einen<br />

Fall im Inland“ behandeln können, erklärt<br />

der deutsche Polizeihauptkommissar und<br />

stellvertretende Koordinator des Zentrums<br />

Albrecht Endres. So könnten deutsche und<br />

französische Polizei- und Zolleinheiten sehr<br />

„schnell und effektiv“ zusammenarbeiten, bestätigt<br />

auch seine französische Kollegin Anne<br />

Gindensperger und nennt als Beispiel einen<br />

Kupferdiebstahl im Grenzgebiet, den deutsche<br />

und französische Behörden im Tandem<br />

bearbeiten konnten: Der Diebstahl erfolgte<br />

gegen 22 Uhr auf französischem Boden in einem<br />

Unternehmen, das Kupfer lagerte. Als die<br />

französische Polizei die Diebe identifizieren<br />

konnte, waren sie schon auf der Flucht. Dank<br />

der Fahndung, die das GZ auslöste, wurde die<br />

gestohlene Ware aber noch vor Sonnenaufgang<br />

mitsamt einem schlafenden Täter auf<br />

dem Parkplatz eines deutschen Unternehmens<br />

von der deutschen Polizei sichergestellt.<br />

„Der Mann wartete anscheinend auf die Öffnung<br />

des Betriebs“, erzählt Anne Gindensperger,<br />

„einige Stunden später wäre das Kupfer<br />

verkauft gewesen und wir hätten die Beweise<br />

und die Täter aus den Augen verloren“.<br />

Oft wissen die Sicherheitsbehörden eines<br />

Landes nämlich nicht genau, an welche Behörde<br />

im Nachbarland sie<br />

sich wenden sollen und verlieren<br />

deshalb bei der Suche<br />

Zeit, erklärt Albrecht Endres.<br />

<strong>Das</strong> GZ greift in diesem Fall<br />

ein, löst innerhalb kurzer Zeit<br />

eine Fahndung aus oder leitet<br />

die wichtigen Informationen<br />

an die passende Behörde<br />

weiter. Auch in ganz einfachen<br />

Fällen hilft das Zentrum<br />

weiter: Fährt jemand über<br />

die deutsche Grenze und<br />

bemerkt erst bei einer Polizei-<br />

>><br />

129


130<br />

>><br />

oder Zollkontrolle im Nachbarland, dass er<br />

seinen Führerschein oder Ausweis vergessen<br />

hat, so muss er normalerweise mit eingehenden<br />

Überprüfungen rechnen. Der Polizist vor<br />

Ort muss erst den richtigen Ansprechpartner<br />

im Herkunftsland finden und das kann im<br />

Zweifelsfall mehrere Stunden dauern. Nicht<br />

so an der deutsch-französischen Grenze<br />

entlang des Rheins: Mit einem einzigen Anruf<br />

kann ein französischer Polizist zu jeder<br />

Tages- und Nachtzeit innerhalb<br />

von ein paar Minuten<br />

herausfinden, ob zu einem<br />

kontrollierten deutschen<br />

Bürger polizeiliche Erkenntnisse<br />

vorliegen und ob er im<br />

Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis<br />

ist – dank des gemeinsamen<br />

Zentrums in <strong>Kehl</strong>.<br />

<strong>Das</strong> GZ hat sich im Laufe<br />

der Zeit als „notwendiges<br />

Element“ durchgesetzt, darüber<br />

sind sich Anne Gindensperger<br />

und Albrecht Endres einig. „Wir<br />

sind der Beweis dafür, dass die deutschfranzösische<br />

Freundschaft nicht nur symbolisch<br />

ist, sondern die Zusammenarbeit<br />

im Alltag wirklich funktioniert. Immer<br />

gibt es neue Herausforderungen, neue<br />

Fallkonstellationen, die den Mehrwert der<br />

Kooperation unter Beweis stellen“, sagt Albrecht<br />

Endres. Die enge Zusammenarbeit<br />

im gemeinsamen Zentrum gehe weit über<br />

die Kooperation der Sicherheitsbehörden in<br />

anderen Grenzgebieten hinaus, für die das<br />

Schengener Durchführungsübereinkommen<br />

von 1990 das Fundament gelegt habe. Beschäftigt<br />

sind im GZ gleich mehrere Einheiten<br />

aus beiden Nationen: Auf der deutschen<br />

Seite beteiligen sich Landespolizisten, Bundespolizisten<br />

und Zollbeamte, während auf<br />

der französischen Seite die Gendarmerie<br />

Nationale, die Schutzpolizeidirektion für das<br />

Département Bas-Rhin in Straßburg und die<br />

französische Kriminalpolizei vertreten sind.<br />

Auch sprachlich ist die Kooperation im<br />

Gemeinsamen Zentrum kein Problem: Die<br />

Mitarbeiter schreiben und sprechen in ihrer<br />

Albrecht Endres<br />

Muttersprache, aber „jeder versteht jeden“,<br />

berichten die beiden Ordnungshüter, zudem<br />

gebe es auch zweisprachige Mitarbeiter.<br />

Auch wenn es noch kleine nationale Eigenheiten<br />

gebe, passe man sich insgesamt in der<br />

Zusammenarbeit sehr gut an, meint die französische<br />

Koordinatorin: „On a gommé nos<br />

différences“, sagt sie, sie hätten die Unterschiede<br />

„ausradiert“. Ein großer Vorteil sei die<br />

Lage des Zentrums an der <strong>Kehl</strong>er Hafenstraße.<br />

Die unmittelbare Nähe<br />

der Grenze ermöglicht es den<br />

französischen Mitarbeitern<br />

beispielsweise, französische<br />

Informationssysteme und Telefonnetze<br />

zu verwenden und<br />

somit effektiver zu arbeiten<br />

und Kosten zu sparen. „Wir<br />

arbeiten hier, als stünde unser<br />

Schreibtisch mit zwei<br />

Beinen in Frankreich und mit<br />

zwei Beinen in Deutschland“,<br />

sagt Anne Gindensperger.<br />

Dabei beschränkt sich die Arbeit des Gemeinsamen<br />

Zentrums nicht auf das unmittelbare<br />

Grenzgebiet. Etwa die Hälfte der Anfragen<br />

kommt aus ganz Frankreich und dem<br />

gesamten Bundesgebiet. So kann ein Polizist<br />

aus Marseille, der dringend Informationen<br />

über einen deutschen Bürger oder Ausländer<br />

mit deutschem Aufenthaltsrecht braucht,<br />

seinen Fall so effizient klären, als befände<br />

sich seine Dienststelle im Grenzgebiet. Ein<br />

Fall, der viel öffentliches Aufsehen erregte,<br />

war eine Entführung 2012: Die 15-jährige<br />

Chloé Rodriguez aus der Nähe der französischen<br />

<strong>Stadt</strong> Nîmes war spurlos verschwunden.<br />

In der Region wurde tagelang nach ihr<br />

gesucht – ohne Erfolg. Zur selben Zeit wurde<br />

der deutschen Polizei ein Computerdiebstahl<br />

auf einem Parkplatz in der Nähe von<br />

Offenburg gemeldet. Als das Auto des Verdächtigen<br />

lokalisiert war, begann eine Verfolgungsjagd,<br />

die mit einem Unfall des verfolgten<br />

Autos endete. Die Polizisten öffneten<br />

den Kofferraum und fanden ein Mädchen:<br />

Chloé Rodriguez berichtete den Polizisten,<br />

dass sie in Südfrankreich entführt worden<br />

sei. Um ihre Identität zu überprüfen, schick-<br />

Seit 2012 arbeiten Deutsche und<br />

Franzosen in der ersten völlig<br />

integrierten grenzüberschreitenden<br />

Wasserschutzpolizeieinheit<br />

Europas – mit Sitz in <strong>Kehl</strong> –<br />

zusammen.


ten die französischen Behörden über das<br />

deutsch-französische Zentrum Fotos und<br />

Informationen nach Deutschland. So konnte<br />

das Mädchen schnell identifiziert werden,<br />

seine Eltern wurden umgehend kontaktiert.<br />

Seit der Gründung des Gemeinsamen Zentrums<br />

der deutsch-französischen Polizei- und<br />

Zollzusammenarbeit haben viele Länder Europas<br />

das Modell übernommen: Mehr als 30<br />

neue Zentren und vergleichbare kleinere Einrichtungen<br />

wurden in verschiedenen Grenzgebieten<br />

ins Leben gerufen. Im Jahr 2007<br />

nahmen beispielsweise zwei neue Zentren<br />

an der deutsch-polnischen und der deutschtschechischen<br />

Grenze ihre Arbeit auf.<br />

Gendarmen und Polizisten im selben Boot:<br />

Die deutsch-französische Wasserschutzpolizei<br />

Sitzen in einem Boot: deutsche<br />

Polizisten und französische<br />

Gendarmen, Peter Schulze (links)<br />

und Nicolas Künkel.<br />

Schiffskontrolle, Streifenfahrten, Tauch- oder<br />

Sucheinsätze: Seit März 2012 arbeiten deutsche<br />

Polizisten und französische Gendarmen<br />

gemeinsam in der ersten völlig integrierten<br />

grenzüberschreitenden Wasserschutzpolizeieinheit<br />

Europas mit Sitz in <strong>Kehl</strong>. Durch den Zusammenschluss<br />

„ist die Arbeit auf dem Rhein<br />

viel effizienter und sparsamer“ geworden, betont<br />

der französische Kommandant Nicolas<br />

Künkel, der die deutsch-französische Wasserschutzpolizeieinheit<br />

gemeinsam mit seinem<br />

deutschen Kollegen Peter Schulze, Erster Polizeihauptkommissar,<br />

leitet. Seit der Gründung<br />

der gemeinsamen Einheit hat sich die Präsenz<br />

der Polizei auf ihrem 160 Kilometer langen<br />

Einsatzstreifen auf dem Rhein verdoppelt.<br />

„Bis Ende 2011 standen wir uns bei Überwachungen<br />

auf unseren Booten manchmal gegenüber,<br />

die Deutschen und Franzosen jeweils<br />

an ihrem Ufer“, erzählt Nicolas Künkel. Wo<br />

damals also zwei Boote denselben Streifen<br />

überwachten, kann jetzt ein einziges deutschfranzösisches<br />

Boot die Arbeit erledigen. Für<br />

die Schiffsführer war das anfangs ein ungewohnter<br />

Anblick: „Viele waren sehr erstaunt,<br />

wenn auf einem deutschen Boot der Wasserschutzpolizei<br />

plötzlich ein Franzose erschien,<br />

um sie zu kontrollieren“, erzählt Nicolas Künkel.<br />

Dabei hat die rheinübergreifende Zusammenarbeit<br />

der Einheiten nicht erst mit der<br />

Gründung der deutsch-französischen Wasserschutzpolizeieinheit<br />

begonnen. „Wir haben<br />

uns schon lange vorher unterstützt – ohne<br />

offizielle Verträge“, sagt Peter Schulze. Daraus<br />

sei mit der Zeit auf beiden Seiten der starke<br />

Wille erwachsen, noch intensiver zusammenzuarbeiten.<br />

Die deutsch-französische Freundschaft<br />

ermöglichte nach und nach durch<br />

verschiedene Abkommen eine immer engere<br />

Kooperation der französischen Gendarmen<br />

und der deutschen Polizisten. „So fehlte vor<br />

Beginn unseres Projekts eigentlich nur noch<br />

das gemeinsame Dach“, sagt Peter Schulze.<br />

Durch die Zusammenarbeit der beiden Leiter<br />

der Einheit habe sich sogar eine Freundschaft<br />

entwickelt: „Nous avons deux têtes mais<br />

avec un même esprit“, meint Nicolas Künkel,<br />

sie hätten zwei Köpfe, aber denselben Geist.<br />

Nicht nur an der Spitze, sondern auf allen<br />

Ebenen arbeiten die 28 deutschen Polizisten<br />

und 28 französischen Gendarmen Hand in<br />

Hand, im <strong>Kehl</strong>er Hauptrevier sowie in den beiden<br />

Außenstellen Vogelgrun und Gambsheim.<br />

131<br />

>>


132<br />

Auch Ermittlungen bei schifffahrtsrechtlichen<br />

Verstößen oder Straftaten auf dem<br />

Rhein gehören zu den Aufgaben der gemeinsamen<br />

Einheit. „Für Täter bietet der Fluss<br />

einfache Fluchtmöglichkeiten in ein anderes<br />

Land“, sagt Peter Schulze. In solchen Fällen<br />

arbeite die gemeinsame Wasserschutzpolizei<br />

besonders effektiv – Peter Schulze nennt als<br />

Beispiel eine Fahrerflucht bei Ichenheim: Dort<br />

war ein Schiff auf ein Strombauwerk gefahren<br />

und hatte es beschädigt. Der Schiffsführer<br />

hatte das Weite gesucht. Entdeckt wurden<br />

das Schiff und sein Schiffsführer später<br />

im Straßburger Hafen. Weil bei Unfällen auf<br />

der internationalen Schifffahrtsstraße Rhein<br />

das Territorialprinzip gilt, fanden Ermittlungsverfahren<br />

und Verurteilung zwar auf<br />

deutscher Seite statt – die<br />

Beweissicherung und die<br />

Vernehmungen mussten<br />

zunächst jedoch in Frankreich<br />

erfolgen.<br />

„Ausschlaggebend ist, wer am schnellsten<br />

einsatzfähig sein kann.“<br />

Obwohl Deutsch die Amtssprache auf dem<br />

Rhein ist, sprechen die Kollegen miteinander<br />

Deutsch und Französisch, um die alltägliche<br />

Zusammenarbeit so einfach wie möglich zu<br />

gestalten. „Wir legen großes Augenmerk auf<br />

die Sprachausbildung. Die Franzosen sprechen<br />

sehr gut Deutsch, aber inzwischen haben<br />

die deutschen Kollegen aufgeholt“, erklärt<br />

Peter Schulze. Die Zweisprachigkeit sei<br />

Voraussetzung für effiziente Zusammenarbeit,<br />

betont auch sein Kollege Nicolas Künkel. Deshalb<br />

organisiert er für seine Mitarbeiter der<br />

Gendarmerie interne wöchentliche Sprachkurse.<br />

Außerdem nehmen die deutschen und<br />

französischen Kollegen einmal<br />

pro Jahr im gemeinsamen<br />

Sprachzentrum in<br />

Lahr an einem zweiwöchigen<br />

Sprachtraining teil.<br />

>><br />

Gefragt ist die gemeinsame<br />

Polizeieinheit, wenn<br />

nach Vermissten gesucht<br />

wird. Mit einem speziellen<br />

Sonargerät kann die<br />

deutsch-französische<br />

Wasserschutzpolizei Gegenstände<br />

und Personen unter<br />

Wasser ausfindig machen. Ist ein Taucheinsatz<br />

notwendig, so kommen den deutschen<br />

und französischen Kollegen ihre unterschiedlichen<br />

Kompetenzen zugute: Während die<br />

deutschen Taucher maximal 30 Meter tief<br />

tauchen dürfen, sind den französischen Tauchern<br />

nach nationaler Regelung bis zu 40<br />

Meter erlaubt. „Wir ergänzen uns in allen<br />

Bereichen“, erklärt Nicolas Künkel. Wichtig<br />

sei dies beispielsweise im Herbst 2012 gewesen,<br />

als im 39 Meter tiefen Titisee nach einem<br />

Vermissten gesucht werden musste und die<br />

französischen Gendarmen den Tauchgang<br />

übernehmen konnten. Überhaupt sei die<br />

deutsch-französische Einheit bei Notfällen<br />

sehr effizient, sagt deren deutscher Chef.<br />

Egal ob eine Rettung in Frankreich oder in<br />

Deutschland stattfindet, beide Kollegen können<br />

nationale Dienststellen zur Hilfe rufen.<br />

Wenn man die Leiter der<br />

deutsch-französischen<br />

Wasserschutzpolizeieinheit<br />

nach kulturellen Unterschieden<br />

fragt, nennt Nicolas<br />

Künkel spontan: „die<br />

Mittagspause“ – und beide<br />

lachen. In der Tat musste<br />

zwischen der fast zweistündigen Pause der<br />

Franzosen und der sehr kurzen Pause der<br />

Deutschen ein Kompromiss gefunden werden,<br />

der bei etwa einer Stunde liegt. Auch der<br />

berufliche Status und die Arbeitsmethoden<br />

sind auf beiden Rheinseiten unterschiedlich.<br />

Die französischen Gendarmen gehören zum<br />

Militär, deshalb müssen sie auch außerhalb<br />

der normalen Arbeitszeiten ständig einsatzbereit<br />

sein und haben zwei Ruhetage pro<br />

Woche. Dagegen arbeiten die deutschen<br />

Polizeibeamten an fünf Tagen pro Woche,<br />

Notfälle außerhalb der Arbeitszeiten gelten<br />

als Überstunden. Ansonsten gebe es natürlich<br />

Unterschiede in der Gesetzgebung der<br />

beiden Nationalstaaten, sagen die beiden<br />

Chefs – und genau das versuchen die deutschen<br />

und französischen Wasserschutzpolizisten<br />

für ihre Arbeit bestmöglich zu nutzen.


<strong>Das</strong> Feuerlöschboot Europa 1<br />

wurde speziell nach den<br />

Wünschen und Bedürfnissen<br />

der Straßburger und <strong>Kehl</strong>er<br />

Feuerwehren gebaut.<br />

Feuerlöschboot Europa 1: Deutsch-französische Maßarbeit<br />

133<br />

Die Vorgehensweise bei Bränden<br />

ist in Deutschland und Frankreich<br />

genau definiert – aber auf<br />

unterschiedliche Weise.<br />

23 Meter lang, 6,20 Meter breit, 40 Stundenkilometer<br />

schnell und mit acht Mann Besatzung<br />

voll einsatzfähig: <strong>Das</strong> Feuerlöschboot Europa 1,<br />

das im Sommer 2007 in Dienst gestellt wurde,<br />

ist echte deutsch-französische Maßarbeit und<br />

damit ein Musterbeispiel grenzüberschreitender<br />

Kooperation. Mit der Europa 1, welche<br />

die Europäische Union, mehrere französische<br />

Gebietskörperschaften und das Land Baden-<br />

Württemberg finanziert haben, ist auf der<br />

Werft der Firma Neckar-Bootsbau Ebert in<br />

Neckarsteinach ein Löschboot gebaut worden,<br />

das exakt den heutigen Anforderungen an die<br />

Gefahrenabwehr auf dem Rhein entspricht.<br />

Die Konzeption für das Boot und dessen<br />

Betrieb wurden bei ungezählten Treffen akribisch<br />

gemeinsam ausgetüftelt. <strong>Das</strong>s die Finanzpartner<br />

bereit waren, 2,5 Millionen Euro<br />

für das Löschboot aufzuwenden, hat einen<br />

guten Grund: Bis zu acht Stunden würde es<br />

im Brandfalle dauern, bis ein Löschboot aus<br />

Mannheim oder Basel auf dem Rhein zwischen<br />

Straßburg und <strong>Kehl</strong> eintreffen würde.<br />

Ihren Liegeplatz hat die Europa 1, die pro Jahr<br />

zehn bis zwölf Einsätze fährt, im Straßburger<br />

Nord-Hafen – vier Kilometer von der <strong>Kehl</strong>er<br />

Feuerwache entfernt. Vor Ort sind die <strong>Kehl</strong>er<br />

Feuerwehrleute im Einsatzfall mindestens so<br />

schnell wie ihre Kollegen von der Straßburger<br />

Berufsfeuerwehr, die aus der Innenstadt<br />

anfahren müssen. Muss die Europa 1 auslaufen,<br />

übernimmt unter der Woche tagsüber die<br />

Straßburger Berufsfeuerwehr den Dienst auf<br />

dem Schiff, an Wochenenden und nachts sind<br />

die <strong>Kehl</strong>er Feuerwehrleute in Alarmbereitschaft.<br />

Diese Aufteilung funktioniert bereits<br />

seit 2007 und sie funktioniert gut. <strong>Das</strong> Ziel<br />

beider Feuerwehren, dass auch aus deutschen<br />

und französischen Wehrmännern gemischte<br />

Mannschaften den Löscheinsatz übernehmen<br />

können, ist jedoch in weite Ferne gerückt. „In<br />

Frankreich ist vieles anders“, sagt Feuerwehrkommandant<br />

Gerhard Stech, „es gibt Unterschiede<br />

in der taktischen und technischen<br />

Vorgehensweise“. Dazu kommt, dass sich die<br />

deutschen und französischen Feuerwehrkollegen<br />

dank der Teilnahme an Sprachkursen<br />

zwar halbwegs verständigen können, im<br />

Einsatzfalle jedoch „muss man sich zu hundert<br />

Prozent verstehen“, weiß Gerhard Stech.<br />

>>


Symbol der grenzüberschreitenden Kooperation:<br />

Die deutsch-französische Schlauchkupplung<br />

134<br />

Sie ist das Symbol der grenzüberschreitenden<br />

Zusammenarbeit schlechthin: die deutschfranzösische<br />

Schlauchkupplung. Sie zeichnet<br />

sich dadurch aus, dass auf der einen Seite ein<br />

französischer Feuerwehrschlauch angeschlossen<br />

werden kann, auf der anderen ein deutscher.<br />

Alle Feuerlösch-Fahrzeuge in <strong>Kehl</strong> und<br />

Straßburg sind seit vielen Jahren mit diesem<br />

Kupplungsstück ausgestattet, damit<br />

sich die Feuerwehren beim Löschen<br />

gegenseitig unterstützen können.<br />

So pragmatisch wie das Kuppeln<br />

der Schläuche lässt<br />

sich die Kooperation der<br />

staatlichen französischen<br />

Feuerwehr mit einer deutschen<br />

Gemeinde-Feuerwehr<br />

nicht regeln. Weil der Straßburger Osten<br />

verkehrstechnisch recht weit von der Straßburger<br />

Innenstadt-Feuerwache entfernt<br />

liegt, wollte die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> ihre Feuerwache<br />

erweitern und in diesem Anbau die Straßburger<br />

Feuerwache Ost unterbringen. <strong>Das</strong><br />

hätte beiden Partnern geholfen: Für die<br />

Straßburger Wehrmänner wären die östlichen<br />

<strong>Stadt</strong>gebiete leichter erreichbar geworden;<br />

der <strong>Kehl</strong>er Wehr hätte die Anwesenheit<br />

hauptamtlicher Straßburger Feuerwehrleute<br />

tagsüber geholfen, die Alarmierungsfähigkeit<br />

sicherzustellen. Tagsüber hat die <strong>Kehl</strong>er<br />

Feuerwehr inzwischen Probleme, weil viele<br />

freiwillige Feuerwehrleute ihren Arbeitsplatz<br />

außerhalb von <strong>Kehl</strong> haben und im Brandfall<br />

nicht schnell genug zur Stelle sein können.<br />

An diesem – bislang gescheiterten Vorhaben<br />

– zeigt sich die Komplexität der grenzüberschreitenden<br />

Kooperation beispielhaft:<br />

In Frankreich unterliegen die Feuerwehren<br />

staatlicher Zuständigkeit, in Baden-Württemberg<br />

aber sind sie Aufgabe der Gemeinden.<br />

Die Einrichtung einer deutsch-französischen<br />

Feuerwache nach Maßgabe des Karlsruher<br />

Übereinkommens war deshalb nicht<br />

möglich, weil der französische Staat nicht<br />

Vertragspartner einer Kooperationsvereinbarung<br />

oder eines<br />

Zweckverbandes nach dem<br />

Karlsruher Übereinkommen<br />

sein kann. Über einen<br />

EVTZ (Europäischer Verbund<br />

für territoriale Zusammenarbeit)<br />

könnte die gemeinsame<br />

Feuerwache nur dann betrieben<br />

werden, wenn die französische<br />

Seite die Beschränkungen des EVTZ beiseiteschieben<br />

würde, die besagen, dass keine Aufgaben<br />

in Ausübung hoheitlicher Befugnisse<br />

oder Verpflichtungen zur Wahrung der allgemeinen<br />

Interessen des Staates übertragen<br />

werden können. Würden die beiden Partner<br />

eine gemeinsame juristische Person gründen,<br />

würde dies voraussetzen, dass die gesetzlichen<br />

Aufgaben der deutschen Gemeinde<br />

nach Paragraph 3 Feuerwehrgesetz auf einen<br />

solchen grenzüberschreitenden Verband<br />

übertragen werden dürften. Eine ausdrückliche<br />

gesetzliche Regelung hierzu fehlt jedoch.<br />

Fast schon ein Symbol der<br />

grenzüberschreitenden Zusammenarbeit:<br />

die Kupplung,<br />

die auf der einen Seite den Anschluss<br />

eines deutschen und<br />

auf der anderen Seite den<br />

Anschluss eines französischen<br />

Feuerwehrschlauches erlaubt.<br />

Umwelt und Energie<br />

Als die baden-württembergische Landesregierung 1987 plant, im <strong>Kehl</strong>er Hafen eine<br />

Sondermüllverbrennungsanlage zu errichten, formiert sich in <strong>Kehl</strong> Widerstand. Im Januar<br />

1988 wird die „Bürgerinitiative gegen Giftmüllverbrennung“ als eingetragener<br />

Verein gegründet. Durch die persönliche Freundschaft eines Gründungsmitglieds mit<br />

der Straßburger Gemeinderätin Yveline Moeglen entsteht rasch der Kontakt zu Straßburger<br />

Gleichgesinnten. Mehrere Straßburger treten der Bürgerinitiative bei, andere<br />

mobilisieren Vereine im Elsass, die sich den Demonstrationen und Protestaktionen an-<br />

>>


Weil die Luftverschmutzung<br />

keine Landesgrenzen kennt,<br />

arbeiten <strong>Kehl</strong> und Straßburg<br />

seit 1990 im Umweltbereich<br />

eng zusammen.<br />

schließen. Auch die damalige Straßburger Oberbürgermeisterin und heutige Europaabgeordnete<br />

Catherine Trautmann wendet sich gegen die Sondermüllverbrennungsanlage<br />

auf deutschem Territorium.<br />

Nachdem die Landesregierung am 10. Mai 1994 das Aus für den <strong>Kehl</strong>er Müllofen bekannt<br />

gibt, löst sich die 1200 Mitglieder starke <strong>Kehl</strong>er Bürgerinitiative nicht auf, sondern<br />

nimmt sich weiterhin Umweltthemen an, engagiert Gutachter und gibt Expertisen<br />

zu verschiedenen Vorhaben in Auftrag. Am 3. Dezember 1996 ändert sie ihren Namen<br />

in „Bürgerinitiative Umweltschutz <strong>Kehl</strong>“. Die grenzüberschreitenden Kontakte werden<br />

weiter ausgebaut: Die BI intensiviert ihre Verbindungen zu Alsace Nature, tritt der<br />

Organisation zur Vermeidung von Umweltrisiken durch die Industrie (SPPPI) bei, arbeitet<br />

mit Straßburger Bürgerinitiativen – vor allem aus der Robertsau – zusammen<br />

und schließt sich dem französischen Protest gegen das Atomkraftwerk in Fessenheim<br />

an. Gemeinsam mit Greenpeace Frankreich startet die BI Aktionen gegen die frühere<br />

Firma Stracel im Straßburger Hafen, die Abwässer aus der Zellstoffproduktion in den<br />

Rhein leitet. Seit 2007 wird alljährlich mit dem französischen Verein „Objectif climat“<br />

eine gemeinsame Fahrrad-Demonstration zum Klimaschutz organisiert. Über die Jahre<br />

sind über die politischen Aktivitäten hinaus freundschaftliche Verbindungen gewachsen<br />

– man trifft sich auch mal zum abendlichen Gasthaus-Besuch. Derzeit beteiligt<br />

sich die Bürgerinitiative am grenzüberschreitenden und vom Interreg-Fonds der Europäischen<br />

Union unterstützten Projekt Atmo-IDEE.<br />

135<br />

Weil Schadstoffe in der Luft an der Grenze nicht haltmachen, arbeitet die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> seit<br />

1990 in einer grenzüberschreitenden Umwelt-Arbeitsgruppe mit der <strong>Stadt</strong> Straßburg<br />

zusammen. Mindestens dreimal im Jahr bespricht die Gruppe aktuelle Umweltthemen.<br />

Dabei geht es sowohl um Information des jeweils anderen Partners über umweltrelevante<br />

Vorhaben (von der Ansiedlung neuer Betriebe über Produktionserweiterungen bis<br />

zur Errichtung neuer Heizkraftwerke) als auch darum, voneinander zu lernen (Verwendung<br />

von Feuchtsalz im Winter, Verzicht auf chemische Unkrautvernichtung). Auch die<br />

Ausweisung grenzüberschreitender Radwege oder die Erarbeitung gemeinsamer Karten<br />

und Natur-Führer gehören zu den Aufgaben der grenzüberschreitenden Umwelt-AG.<br />

Zunehmend rückt die Kooperation im Bereich Energieversorgung in den Vordergrund:<br />

So ist zum Beispiel die Nutzung eines Teils der Abwärme der Badischen Stahlwerke<br />

zur Wärmeversorgung eines grenznahen Straßburger Wohnviertels im Gespräch.<br />

>>


Seit November 1992 gibt es in Straßburg das Secrétariat Permanent pour la Prévention<br />

des Pollutions Industrielles (SPPPI). In dieser Organisation arbeiten Gebietskörperschaften,<br />

Umweltverbände, Unternehmen und Behörden zusammen. Die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong><br />

ist seit 1992 Mitglied bei SPPPI, seit 2008 gibt es eine rheinübergreifende Gruppe,<br />

die sich speziell grenzüberschreitenden Themen widmet. Seit der Jahrtausendwende<br />

hat SPPPI die Städte Straßburg und <strong>Kehl</strong> in ihrem Kampf gegen die von Industriebetrieben<br />

verursachte – häufig sehr starke – Geruchsbelästigung unterstützt. Auf beiden<br />

Rheinseiten wurde ein Geruchstelefon eingerichtet – die Bürgerinnen und Bürger<br />

wurden aufgerufen, unangenehme Gerüche zu melden und so exakt wie möglich zu<br />

beschreiben. 2007 gelang es, die so genannte Geruchscharta zu unterzeichnen. Darin<br />

verpflichteten sich die etwa 20 teilnehmenden Unternehmen von beiden Rheinseiten<br />

zum einen zur Transparenz und zum anderen dazu, schnelle Abhilfe zu schaffen, wenn<br />

es zu Geruchsbelästigungen kommt. Seither hat sich die Situation in <strong>Kehl</strong> deutlich<br />

verbessert.<br />

Atmo-IDEE: ein Projekt zur rheinüberschreitenden Luftreinhaltung<br />

136<br />

Was bedeutet es für die Luftqualität im Eurodistrikt,<br />

wenn sich ein neuer Industriebetrieb<br />

ansiedelt? Selbst wenn jede Anlage für sich<br />

genommen die vorgeschriebenen Grenzwerte<br />

beim Schadstoffausstoß einhält, kann in<br />

der Summe eine enorme Luftbelastung entstehen<br />

– im gesamten Ballungsraum. Wie<br />

sich solche zusätzlichen Emissionen auf die<br />

Luftqualität auswirken, war bis vor kurzem<br />

nicht darstellbar: Zu unterschiedlich waren<br />

die Methoden, mit denen die vorhandene<br />

Schadstoffkonzentration beidseits des<br />

Rheins berechnet und modelliert wurde.<br />

An diesem Problem setzt das mit Interreg-<br />

Geldern geförderte Projekt Atmo-IDEE an,<br />

an dem neben dem Träger ASPA (Verein zur<br />

Überwachung der Luftbelastung im Elsass)<br />

unter anderem die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong>, die <strong>Stadt</strong>gemeinschaft<br />

Straßburg, der Eurodistrikt<br />

Strasbourg-Ortenau und die Landesanstalt<br />

für Umwelt, Messungen und Naturschutz<br />

Baden-Württemberg (LUBW) beteiligt sind.<br />

Im März 2012 wurde der Startschuss für<br />

Atmo-IDEE gegeben. Seitdem hat die ASPA<br />

gemeinsam mit den technisch involvierten<br />

Partnern – der LUBW, der Universität Straßburg<br />

und dem Unternehmen Numtech – eine<br />

gemeinsame Datenbasis für Emissionen und<br />

Immissionen erarbeitet. In vier je ein- oder<br />

dreimonatigen Messkampagnen, im Sommer<br />

und im Winter, wurden die<br />

Basisdaten erhoben. Insgesamt<br />

mehr als 20 Messstationen im<br />

gesamten Eurodistrikt erfassten<br />

beispielsweise die Konzentration<br />

von Feinstaub, Stickstoffoxiden,<br />

Schwefeldioxid und Benzol, aber<br />

auch meteorologische Daten, die<br />

Einfluss auf die Luftqualität haben,<br />

wie Windprofile oder die Niederschläge.<br />

Die ASPA und die LUBW einigten<br />

sich auf ein für beide Seiten annehmbares<br />

Verfahren, nach dem<br />

die Projektpartner von nun an die<br />

lokalen Daten so erheben, dass<br />

diese jederzeit zusammengeführt<br />

und gemeinsam dargestellt werden<br />

können. Werden sie in ein spezielles<br />

Computerprogramm, ein für<br />

Atmo-IDEE entwickeltes Webtool,<br />

eingegeben, so lassen sich sowohl<br />

die einzelnen Emissionen als auch die aktuelle<br />

Grundbelastung anzeigen, und das von<br />

kleinen Ebenen wie der <strong>Kehl</strong>er Innenstadt<br />

bis hin zur großen Fläche des Eurodistrikts.<br />

Eine Farbkennzeichnung macht deutlich, wo<br />

vorgeschriebene Grenzwerte annähernd erreicht<br />

werden. Ab dem Frühjahr 2014 werden<br />

die Ergebnisse der Emissionserhebung<br />

Mehr als 20 Messstationen im<br />

Eurodistrikt zeichnen die<br />

Konzentration verschiedener<br />

Luftschadstoffe auf.<br />

>>


und der Modellierung der Schadstoffkonzentration<br />

für jeden zugänglich im Internet<br />

unter www.atmo-idee.eu zu sehen sein.<br />

Anschließend soll das Atmo-IDEE-Webtool<br />

auch in Genehmigungsverfahren zum Einsatz<br />

kommen. Möchte sich ein neuer Industriebetrieb<br />

im Eurodistrikt ansiedeln oder ein<br />

bereits niedergelassenes Unternehmen eine<br />

neue Anlage in Betrieb nehmen, so muss die<br />

Firma dafür bei der zuständigen Behörde<br />

eine Genehmigung einholen und dabei den<br />

exakten Standort und die künftigen Emissionen<br />

angeben. Mithilfe des Webtools kann<br />

die Belastung durch die zusätzlichen Schadstoffe<br />

mit der Ausgangssituation verglichen<br />

werden: Auf einen Blick ist zu erkennen, ob<br />

durch den neuen Betrieb Grenzwerte überschritten<br />

werden – in unmittelbarer Nähe<br />

des Unternehmens sowie auch auf der jeweils<br />

anderen Rheinseite. Die betroffene<br />

Gebietskörperschaft wird somit besser in<br />

die Lage versetzt, Stellung zu dem Projekt zu<br />

beziehen.<br />

Oberbürgermeister Günther Petry denkt<br />

bei dem Projekt zur rheinüberschreitenden<br />

Luftreinhaltung noch ein paar Schritte weiter:<br />

„Die Modelle könnten Argumente dafür<br />

schaffen, dass die bestehenden Gesetze nicht<br />

ausreichen.“ Er könne sich einen Emissionshandel<br />

für den Eurodistrikt vorstellen, wie es<br />

ihn in ähnlicher Form in der Europäischen<br />

Union gibt. Nach diesem Prinzip würde eine<br />

Höchstgrenze an Emissionen für den Eurodistrikt<br />

festgelegt. Den Industriebetrieben<br />

würden Zertifikate für Emissionen zugeteilt,<br />

die in der Summe die festgelegte Höchstgrenze<br />

nicht überschreiten. Mit den Zertifikaten<br />

könnten die Unternehmen dann untereinander<br />

handeln, ohne dass dies Auswirkungen<br />

auf die Luftbelastung insgesamt hätte.<br />

137<br />

Klimaschutz am Oberrhein: Wissenstransfer über Grenzen hinweg<br />

Die Energiewende voranzutreiben und den<br />

Oberrhein als Vorbildregion in Sachen Klimaschutz<br />

zu etablieren, das hat sich eine<br />

deutsch-französisch-schweizerische Einrichtung<br />

zur Aufgabe gemacht, die ihren Sitz<br />

in <strong>Kehl</strong> hat: TRION, das Energie-Netzwerk<br />

der Trinationalen Metropolregion<br />

Oberrhein, sorgt<br />

seit seiner Gründung 2010<br />

dafür, dass Unternehmen<br />

und Gebietskörperschaften<br />

in diesem Bereich von- und<br />

miteinander lernen können<br />

– zweisprachig und über drei<br />

Ländergrenzen hinweg.<br />

„Der Oberrhein drängt sich<br />

als Vorbildregion für den<br />

Klimaschutz und die Nutzung<br />

erneuerbarer Energien<br />

geradezu auf“, sagt Vulla Parasote, die das<br />

TRION-Büro im <strong>Kehl</strong>er Torbogengebäude<br />

leitet. „Allein schon Freiburg weckt mit dem<br />

nachhaltigen Vauban-Viertel internationales<br />

Vulla Parasote<br />

Interesse“, sagt sie, „das Elsass übernimmt in<br />

Frankreich eine Vorreiterrolle und auch in der<br />

Schweiz gibt es viele Initiativen, die sich für<br />

die Einsparung von Energieressourcen einsetzen“.<br />

Wenn sich diese Unternehmen und<br />

Institutionen untereinander austauschen,<br />

ist Vulla Parasote überzeugt,<br />

wird ein grenzüberschreitender<br />

Mehrwert geschaffen.<br />

„Wir müssen einen Technologie-<br />

und Wissenstransfer<br />

erreichen, zwischen Unternehmen<br />

und auch von der<br />

Wissenschaft zur Wirtschaft“,<br />

sagt sie. „Die Ergebnisse aus<br />

der Forschung sollen für die<br />

Wirtschaft nutzbar sein.“<br />

Um diesen Austausch zu fördern,<br />

hat TRION, das funktional<br />

beim Regierungspräsidium Freiburg<br />

angesiedelt ist, mithilfe von Interreg-Geldern<br />

der Europäischen Union ein Energienetzwerk<br />

von Kooperationspartnern aus den drei Län-<br />

>>


138<br />

dern aufgebaut. Dazu zählen vor allem Energieagenturen,<br />

Eurodistrikte, Regionalverbände,<br />

Bildungseinrichtungen, Energie- und<br />

Bauunternehmen sowie Handwerks-, Industrie-<br />

und Handelskammern. Ihre Mitglieder<br />

oder Mitarbeiter sollen von gemeinsamen<br />

Projekten und Veranstaltungen besonders<br />

profitieren. <strong>Das</strong> können zum Beispiel Fachvorträge<br />

sein, wie das dreiteilige Kolloquium<br />

„Nachhaltiges Bauen am Oberrhein“,<br />

das TRION 2011 in Basel, 2012 in Straßburg<br />

und 2013 in Karlsruhe organisiert hat. Oder<br />

Fortbildungsreihen für Fachleute aus der<br />

Oberrhein-Region, die TRION gemeinsam mit<br />

seinen Partnern anbietet, wie 2012 beispielsweise<br />

zur Energieeffizienz in Gebäuden. „Ich<br />

war überrascht, wie technisch und detailliert<br />

sich die Teilnehmer ausgetauscht haben“, berichtet<br />

Vulla Parasote. Wie verarbeiten die<br />

Kollegen im Nachbarland ein bestimmtes<br />

Produkt? Welches Material verwenden sie?<br />

Und wie sieht der Markt jenseits der Grenze<br />

dafür aus? Solche Fragen seien lebhaft diskutiert<br />

worden. „Da hat sich ganz klar gezeigt:<br />

Man kann voneinander lernen“, sagt die<br />

TRION-Leiterin.<br />

Weiter stärken will TRION das Netzwerk mit<br />

sogenannten Speed Meetings, bei denen wenige<br />

Unternehmen aus Deutschland, Frankreich<br />

und der Schweiz sich auf Einladung von<br />

TRION treffen, sich einander vorstellen und<br />

dann Gelegenheit haben, sich auszutauschen.<br />

„<strong>Das</strong> soll klein, kurz, intensiv sein“, sagt Vulla<br />

Parasote. Die Speed Meetings sollen dazu<br />

führen, dass Arbeitsgemeinschaften gegründet<br />

und eine geschäftliche, grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit aufgebaut werden<br />

kann. Ebenso wird ein Best-Practice-Katalog<br />

erarbeitet, also eine Zusammenstellung interessanter<br />

Vorbild-Projekte aus den Bereichen<br />

erneuerbare Energien und nachhaltiges<br />

Bauen am Oberrhein.<br />

Eines der größten Projekte, das TRION bislang<br />

realisiert hat, war eine Marktstudie zum Potenzial<br />

der Gebäudesanierung am Oberrhein,<br />

die der Politik Entscheidungsgrundlagen liefern<br />

und den Unternehmen Markteinschätzungen<br />

ermöglichen soll. Die Auftragnehmer<br />

waren drei Unternehmen aus Deutschland,<br />

Frankreich und der Schweiz, TRION leitete<br />

einen Lenkungsausschuss, in dem ebenfalls<br />

Energie-Experten aus der gesamten<br />

Oberrhein-Region vertreten waren. „Mit drei<br />

Ländern und drei Auftragnehmern war diese<br />

Studie sehr ambitioniert“, sagt Vulla Parasote<br />

im Rückblick. „Wir mussten ein gemeinsames<br />

Szenario aufstellen. Aber schon die Visionen<br />

waren sehr unterschiedlich.“ Die Inhalte<br />

länderübergreifend zu harmonisieren, das<br />

sei eine Herausforderung gewesen. Die länderspezifischen<br />

Inhalte mussten nicht nur<br />

zusammengeführt, sondern auch übersetzt<br />

werden. „<strong>Das</strong> Thema war schon komplex, aber<br />

zweisprachig wurde es noch einmal komplexer.“<br />

Auch bei den Treffen des Lenkungsausschusses<br />

sei die Zweisprachigkeit nicht ganz<br />

unproblematisch gewesen: „<strong>Das</strong> Dolmetschen<br />

hemmt den Fluss der Sitzungen.“<br />

Trotz der Schwierigkeiten ist klar: Alles, was<br />

TRION macht, betrifft die drei Länder am<br />

Oberrhein und ist zweisprachig. „Einen Mehrwert<br />

für die Region zu schaffen, einen gemeinsamen<br />

Blick zu ermöglichen, dafür sind<br />

wir da“, sagt Vulla Parasote, die im Torbogengebäude<br />

gemeinsam mit zwei weiteren Teilzeitkräften<br />

für TRION arbeitet. Der Standort<br />

in <strong>Kehl</strong>, „mitten in Europa“ und in direkter<br />

Nachbarschaft zu anderen grenzüberschreitenden<br />

Einrichtungen wie dem Eurodistrikt,<br />

Damit der Oberrhein Vorbildregion<br />

für Klimaschutz und die<br />

Nutzung erneuerbarer Energien<br />

werden kann, wurde die deutschfranzösisch-schweizerische<br />

Einrichtung TRION gegründet.<br />

Vulla Parasote leitet das Büro<br />

im <strong>Kehl</strong>er Kompetenzzentrum<br />

für grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit.<br />

>>


dem Euro-Institut oder dem Sekretariat der<br />

deutsch-französisch-schweizerischen Oberrheinkonferenz,<br />

aus deren Kommission Klima<br />

und Energie TRION 2010 hervorgegangen ist,<br />

sei für die Arbeit hilfreich. In der Grenzstadt<br />

will TRION auch dann bleiben, wenn 2015<br />

die Interreg-Förderung ausläuft. Bis dahin<br />

soll das Netzwerk sich fest etabliert und eine<br />

Rechtsform erhalten haben. „<strong>Das</strong> Ziel ist,<br />

dass wir dann auch direkt Dienstleistungen<br />

für Unternehmen vermarkten können“, erklärt<br />

Vulla Parasote.<br />

Der grenzüberschreitende Bus<br />

der Linie 21 der Straßburger Verkehrsbetriebe<br />

(CTS) ist ein Opfer<br />

seines Erfolges: Weil an manchen<br />

Tagen mehr als 5000 Menschen<br />

mitfahren wollen, muss ein<br />

fünfter Gelenkbus auf die Strecke<br />

von der <strong>Kehl</strong>er <strong>Stadt</strong>halle bis zur<br />

Endhaltestelle der Straßburger<br />

Tram geschickt werden.<br />

Verkehr<br />

Der kleine Grenzverkehr – also<br />

der motorisierte Austausch<br />

zwischen dem Ballungsraum<br />

Straßburg und dem Raum <strong>Kehl</strong><br />

– macht mit 65 Prozent den<br />

größten Anteil des grenzüberschreitenden<br />

Verkehrs aus. In<br />

absoluten Zahlen bedeutet<br />

dies, dass an Wochentagen<br />

insgesamt 36 000, an Samstagen<br />

42 000 Fahrzeuge über die<br />

Europabrücke rollen. In seinem<br />

Mobilitätskonzept prophezeit Dr. Frank Gericke vom Karlsruher Büro Modus Consult<br />

eine weitere Zunahme des grenzüberschreitenden Verkehrs bis zum Jahr 2025 um 33<br />

Prozent. Dabei setzt der Verkehrsplaner bereits voraus, dass die Tramlinie D im Zwölf-<br />

Minuten-Takt über den Rhein fährt. <strong>Das</strong>s immer mehr Menschen zwischen Straßburg<br />

und <strong>Kehl</strong> pendeln, zeigen auch die steigenden Fahrgastzahlen in den Bussen der grenzüberschreitenden<br />

Linie 21 der Straßburger Verkehrsbetriebe (CTS): Im Juni 2013 muss<br />

ein fünfter Bus auf dem Rundkurs Tramhaltestelle Jean-Jaurès und <strong>Stadt</strong>halle <strong>Kehl</strong><br />

eingesetzt und der Takt der Fahrten von 15 auf neun Minuten verkürzt werden – innerhalb<br />

von fünf Jahren sind die Fahrgastzahlen um 65 Prozent gestiegen. Eine solche<br />

Zunahme ist einzigartig im Netz der CTS. An manchen Tagen nutzen mehr als 5000<br />

Fahrgäste die Busse der Linie 21.<br />

139<br />

Seit 16 Jahren gibt es den Euro-<br />

Pass, das 24-Stunden-Ticket, mit<br />

dem alle öffentlichen Verkehrsmittel<br />

im Ortenaukreis und in der<br />

<strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg<br />

genutzt werden können.<br />

Folgerichtig ist auch der Euro-Pass eine Erfolgsgeschichte:<br />

<strong>Das</strong> Ticket, mit dem alle Verkehrsmittel des<br />

öffentlichen Personennahverkehrs im Ortenaukreis<br />

und auf dem Gebiet der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg<br />

(CUS) 24 Stunden lang genutzt werden können,<br />

wurde vor 16 Jahren eingeführt, vor zwei Jahren kam<br />

der Euro-Pass Mini dazu, der während 24 Stunden<br />

Fahrten auf dem Territorium der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> und der<br />

CUS erlaubt. Während neue Produkte normalerweise<br />

einige Jahre Anlaufzeit benötigen, war der Euro-Pass<br />

Mini von Anfang an ein Erfolg: Gleich im ersten Jahr<br />

wurden 10 000 Stück verkauft, plus 1000 Monatskarten.<br />

Trotz der Einführung des Euro-Pass Mini stiegen die<br />

Verkaufszahlen des Euro-Passes ebenfalls um weitere<br />

fünf Prozent auf rund 110 000 Tagestickets und rund<br />

2000 Monatskarten.<br />

>>


140<br />

<strong>Stadt</strong>- und Raumplanung<br />

Bereits Anfang der 1970er-Jahre sah Sigrun Lang, damals <strong>Stadt</strong>planerin in <strong>Kehl</strong>, später<br />

Oberbürgermeisterin in Baden-Baden, voraus, dass zukunftsorientierte Raumplanung<br />

im Ballungsraum Straßburg-<strong>Kehl</strong> eigentlich nur grenzüberschreitend möglich ist.<br />

Der Weg dorthin begann jedoch erst 1995. Der Fall der Berliner Mauer 1989 und der<br />

Wegfall der Grenzkontrollen im Zuge des Schengener Abkommens 1993 bildeten den<br />

Hintergrund für die Überlegungen des Straßburger Künstlers und damaligen <strong>Stadt</strong>rates<br />

Michel Krieger, im Grenzraum am Rhein ein Symbol für die Einigung Europas zu<br />

schaffen. Seine Vision vom „Jardin des deux Rives“, einem Park entlang des Straßburger<br />

und <strong>Kehl</strong>er Rheinufers, war damals so überzeugend wie kühn: Der Strom sollte<br />

einen Bedeutungswandel erfahren – vom Grenzfluss zum integralen Bestandteil eines<br />

gemeinsamen Gartens. Er sollte nicht länger trennen, sondern verbinden. Die Zustimmung<br />

Straßburgs zum Bau dieses Parks war gleichzeitig die Weichenstellung für eine<br />

neue <strong>Stadt</strong>entwicklung: Während <strong>Kehl</strong> schon immer eine <strong>Stadt</strong> am Rhein war, war<br />

Straßburg seit Jahrhunderten eine Metropole an der Ill. Ihre Entwicklung suchte sie<br />

zuerst im Norden, dann im Süden, später im Westen, aber nie im Osten.<br />

Die gemeinsamen Pläne für den Garten der zwei Ufer, die Passerelle und die grenzüberschreitende<br />

Gartenschau haben die Zusammenarbeit zwischen den beiden Städten<br />

intensiviert. Trotz des beachtlichen Größenunterschieds war klar, dass jede raumplanerische<br />

Entwicklung auf der einen Rheinseite Auswirkungen auf das andere Ufer<br />

haben würde. Nach Straßburger Vorstellungen sollte der Garten der zwei Ufer kein<br />

solitäres Element am Rhein sondern der Endpunkt einer Entwicklungsachse werden,<br />

die am Parc de l’Etoile beginnt und sich bis zum Rhein hinzieht. Gemeinsam gaben die<br />

beiden Städte <strong>Kehl</strong> und Straßburg bereits im Jahr 2000 eine Machbarkeitsstudie für<br />

die Tram über den Rhein in Auftrag, die – nach damaligen Plänen – bereits 2011 den<br />

<strong>Kehl</strong>er Bahnhof mit dem Straßburger <strong>Stadt</strong>zentrum verbinden sollte. In den Plänen für<br />

den Garten der zwei Ufer war auf Straßburger Seite bereits zur Jahrtausendwende ein<br />

neues Wohngebiet vorgesehen. Die Entwicklung, welche die rot-grüne Straßburger<br />

<strong>Stadt</strong>regierung heute in Richtung Rhein vorsieht, beziehungsweise bereits begonnen<br />

hat, ist die konsequente Fortsetzung dieser Pläne – mit dem Schéma des deux Rives<br />

ist zum ersten Mal ein über den Rhein hinausreichender, das <strong>Kehl</strong>er Bahnhofs- und<br />

Kasernenareal mit umfassender städtebaulicher Rahmenplan entstanden.<br />

380 Wohnungen für rund<br />

1000 Menschen am Rande des<br />

französischen Teils des Gartens<br />

der zwei Ufer werden 2014<br />

bezugsfertig sein.<br />

Mit der sechsmonatigen grenzüberschreitenden<br />

Gartenschau<br />

ist der Garten der zwei Ufer 2004<br />

eingeweiht worden.<br />

>>


Die neue Neustadt oder: Straßburg am Rhein<br />

Jahrhundertelang war Straßburg die <strong>Stadt</strong> an<br />

der Ill, die dem Rhein den Rücken zuwandte.<br />

Mit dem Projekt Deux Rives entwickelt<br />

sich die Großstadt in Richtung Rhein – nach<br />

dem Bau der Neustadt unter deutscher Herrschaft<br />

von 1871 bis 1918 handelt es sich dabei<br />

um das größte <strong>Stadt</strong>entwicklungsprojekt,<br />

das je in Angriff genommen wurde. Von der<br />

180-Grad-Großstadt soll sich Straßburg nach<br />

dem Willen der rot-grünen <strong>Stadt</strong>regierung zur<br />

360-Grad-Metropole wandeln. Vorgesehen<br />

ist, auf den ehemaligen Hafenflächen entlang<br />

der Verlängerung der Tramlinie D nach <strong>Kehl</strong><br />

auf rund 250 Hektar Fläche Wohnraum für<br />

rund 18 000 Menschen zu schaffen.<br />

2010 haben die <strong>Stadt</strong> Straßburg und der<br />

Straßburger Hafen begonnen, gemeinsam<br />

und mit umfangreicher Bürgerbeteiligung den<br />

städtebaulichen Rahmenplan Richtung Rhein<br />

eine deutsch-französische Jury die Wettbewerbssieger<br />

gekürt (siehe Seite 6), die zusammen<br />

mit <strong>Stadt</strong>planern der beiden Städte<br />

an einem gemeinsamen Masterplan arbeiten.<br />

Was die Umsetzung des Schéma des deux<br />

Rives ganz konkret bedeutet, kann man am<br />

französischen Rheinufer in unmittelbarer<br />

Nachbarschaft zum Garten der zwei Ufer<br />

bereits sehen: Der Bau von 380 Wohnungen<br />

(190 Eigentumswohnungen, 110 Seniorenwohnungen<br />

und 80 Sozialwohnungen) steht<br />

kurz vor dem Abschluss. Neben der kleinen<br />

Kirche Ste Jeanne d’Arc errichtet Habitation<br />

Moderne weitere 140 Wohnungen (davon<br />

60 Sozialwohnungen). Allein durch diese beiden<br />

Wohnungsbauprojekte wird das Quartier<br />

du Port du Rhin seine Einwohnerzahl<br />

2014 in etwa verdoppeln. Auch der Bau des<br />

zweitgrößten Straßburger Krankenhauses im<br />

141<br />

Unweit der kleinen Kirche im<br />

Port-du-Rhin-Viertel baut<br />

Habitation Moderne 140<br />

Wohnungen.<br />

zu entwickeln. Die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> wurde eingeladen,<br />

sich an der Erarbeitung des Schéma des<br />

deux Rives zu beteiligen, das auf diese Weise<br />

über den Rhein hinaus um das Kasernen- und<br />

Bahnhofsareal erweitert werden konnte. Im<br />

Frühsommer 2012 haben die Städte <strong>Kehl</strong> und<br />

Straßburg einen gemeinsamen städtebaulichen<br />

Wettbewerb für die beiden Zollhöfe europaweit<br />

ausgeschrieben. Im Januar 2013 hat<br />

<strong>Stadt</strong>teil Port du Rhin wird den gehobenen<br />

Wohnungsbau beflügeln – es ist davon auszugehen,<br />

dass zumindest ein Teil der rund 800<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des neuen<br />

Klinikums gerne in der Nähe des Arbeitsplatzes<br />

wohnen möchte.<br />

<strong>Das</strong> neue Wohnviertel Bruckhoff rund um die<br />

heutige Endhaltestelle der Tramlinie D Aristide<br />

>>


Wohnen am Wasser ist das Motto<br />

in den neuen großstädtischen<br />

<strong>Stadt</strong>quartieren, welche die <strong>Stadt</strong><br />

Straßburg auf den Industriebrachen<br />

des Hafens entwickeln<br />

möchte. Fortbewegen sollen sich<br />

die neuen Bewohner zu Fuß, mit<br />

dem Rad und mit der Tram.<br />

142<br />

Briand mit seinen 657 neuen Wohnungen (davon<br />

241 Appartements für Studenten) ist bereits<br />

fertig gestellt und weitgehend bezogen.<br />

Unweit von Bruckhoff, in strategisch günstiger<br />

Lage am neuen <strong>Stadt</strong>boulevard, der von<br />

der <strong>Kehl</strong>er Geiger-Kreuzung bis zum Parc de<br />

l’Etoile reichen wird, laufen die Bauarbeiten<br />

für das Öko-Wohnviertel Danube mit weiteren<br />

650 Wohnungen. Zusätzlich sind hier 18 000<br />

Quadratmeter Nutzfläche für Büros und Einzelhandel<br />

vorgesehen. Die Realisierung des<br />

Öko-Quartiers erfolgt in drei Bauabschnitten.<br />

Mit ihrer ersten neuen Haltestelle auf der<br />

Halbinsel Môle de la Citadelle wird die Tramlinie<br />

D in ihrer Verlängerung einen besonderen<br />

Ort erschließen: Direkt am Wasser sollen<br />

hier ein Hotel und der Yachthafen der <strong>Stadt</strong><br />

Straßburg entstehen, geplant sind auch<br />

Wohnungen im gehobenen Preissektor sowie<br />

Tourismus- und Freizeiteinrichtungen.<br />

Wohnen am Wasser ist auch die Devise für<br />

die Gestaltung des 176 000 Quadratmeter<br />

großen Starlette-Areals – wie in allen neuen<br />

Quartieren werden hier Niedrig- oder Null-<br />

Energie-Häuser entstehen; der Autoverkehr<br />

soll aus den Vierteln weitgehend verbannt<br />

werden; die Bewohner sollen sich zu Fuß, mit<br />

dem Fahrrad oder mit Bus und Tram bewegen.<br />

Privatautos können in Sammelgaragen<br />

oder Parkhäusern abgestellt werden.<br />

Die schwierigste Aufgabe stellt sich den<br />

<strong>Stadt</strong>planern wohl in der Umgestaltung des<br />

Coop-Halbmondes: Dort sollen vorhandene<br />

Industrie- und Gewerbebauten erhalten und<br />

für kulturelle Nutzung hergerichtet werden.<br />

Diese könnten einen (Lärmschutz-)Riegel zur<br />

geplanten Wohnbebauung in der Nachbarschaft<br />

aktiver Industriebetriebe des Straßburger<br />

Hafens bilden.<br />

Die Halbinsel Môle de la Citadelle<br />

(unten links) ist das Prachtstück<br />

unter den <strong>Stadt</strong>entwicklungsflächen.<br />

Mit Yachthafen und<br />

Hotel wird die Freizeitnutzung in<br />

den Vordergrund gestellt.<br />

Die Verlängerung der Tramlinie D<br />

bis nach <strong>Kehl</strong> zieht sich wie ein<br />

roter Faden durch die neuen<br />

<strong>Stadt</strong>entwicklungsgebiete,<br />

die bis zu 18 000 Einwohner<br />

aufnehmen sollen.<br />

>>


Senioren<br />

Über viele Jahre hinweg trafen sich Senioren aus <strong>Kehl</strong> und Straßburg regelmäßig<br />

zum geselligen Beisammensein – mit und ohne Programm. Seit dem Tod der Organisatoren<br />

beschränken sich die Kontakte auf eine lockere Kooperation zwischen den<br />

Straßburger Museen und dem <strong>Kehl</strong>er Seniorenbüro. <strong>Das</strong> Seniorenbüro wird über die<br />

laufenden Ausstellungen informiert und auf Wunsch von Straßburger Senioren geführt.<br />

Auf Eurodistrikt-Ebene sind Arbeitsgruppen zu Senioren-Themen wie zum Beispiel<br />

betreutes Wohnen oder Erkrankungen im Alter zwar angedacht, aber noch nicht<br />

zustande gekommen.<br />

In den Fokus der Öffentlichkeit sind die Senioren jedoch aus ganz anderen Gründen<br />

gerückt: 2005 wurde das Alterseinkünftegesetz so geändert, dass Renten besteuert<br />

werden können, wenn sie eine bestimmte Höhe überschreiten. <strong>Das</strong> gilt freilich auch für<br />

ehemalige Grenzgänger, die in Frankreich leben und jahrelang in Deutschland gearbeitet<br />

haben. Doch anders als die Einkünfte der Rentner, die in Deutschland ihren Lebensabend<br />

verbringen, können die Renten der französischen Grenzgänger schon vom ersten<br />

Euro an besteuert werden. Dies ist im Falle einer beschränkten Steuerpflicht möglich,<br />

einen Grundfreibetrag gibt es hier nicht.<br />

Verzweifelte Rentner, nicht selten hochbetagt und in schwierigen finanziellen Verhältnissen<br />

lebend, prägten seither den Arbeitsalltag der deutsch-französischen Beratungsstelle<br />

INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg. 2012 betrafen allein 37 Prozent der 4174 vom INFOBEST-<br />

Team bearbeiteten Anfragen die Rentenbesteuerung. Mit fast jedem Fall verbindet sich<br />

ein menschliches Schicksal, was die Beraterinnen auch emotional fordert. Häufig erhalten<br />

nämlich Rentner und Rentnerinnen, oft auch die Ehefrauen längst verstorbener,<br />

ehemaliger Grenzgänger, Steuerrechnungen vom Finanzamt Neubrandenburg, obwohl<br />

sie nur sehr kleine Renten beziehen. Wer die richtigen Formulare ausfüllt und die Fristen<br />

wahrt, kann die Zahlungen verhindern, doch den meisten Betroffenen fehlen die dazu<br />

notwendigen Kenntnisse des deutschen Steuersystems. Wenn sich Angehörige – häufig<br />

die Kinder oder die Witwe – des einstigen Grenzgängers um das Verfahren kümmern<br />

müssen, mangelt es nicht selten zusätzlich an den Sprachkenntnissen.<br />

143<br />

Was die Senioren angeht, ist die<br />

grenzüberschreitende Kooperation<br />

noch entwicklungsfähig.<br />

Um die deutsch-französischen Beratungsstellen am Oberrhein zu entlasten und die<br />

Rentner auch vor Ort in den Gemeinden beraten zu können, haben die Oberrheinkonferenz<br />

(30 000 Euro), die INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg (20 000 Euro), die Région Alsace<br />

(15 000 Euro), die Eurodistrikte<br />

Pamina und Strasbourg-Ortenau<br />

(jeweils<br />

10 000 Euro) sowie das<br />

Sozialministerium Baden-<br />

Württemberg (5000 Euro)<br />

im Juni 2013 gemeinsam<br />

eine Task-Force mit zwei<br />

Mitarbeitern gebildet:<br />

Allein in den ersten vier<br />

Monaten wurden Beratungsgespräche<br />

mit rund<br />

800 Rentnern geführt.<br />

>>


Lebensende<br />

Lange Jahre ließ das <strong>Kehl</strong>er Bestattungsinstitut Klein verstorbene <strong>Kehl</strong>erinnen und<br />

<strong>Kehl</strong>er im Straßburger Krematorium einäschern – der Weg war deutlich schneller zurückzulegen<br />

als die Fahrt nach Lahr. Doch während mit dem Binnenmarkt lebende<br />

Europäer die deutsch-französische Grenze ohne Ausweis und ohne Zollkontrolle überqueren<br />

konnten, war für tote Europäer weiterhin ein sogenannter Leichenpass vonnöten.<br />

Dieser ist beim Standesamt unbürokratisch für eine Gebühr von 17 Euro erhältlich<br />

– wirtschaftlich betrachtet war damit die Einäscherung der Toten in Straßburg immer<br />

noch günstiger als in Lahr. 2009 trat jedoch eine Änderung des Bestattungsgesetzes<br />

in Kraft, wonach eine zweite Leichenschau notwendig wird, wenn der oder die Tote ins<br />

benachbarte Ausland oder auch in ein anderes Bundesland transportiert werden soll.<br />

Diese kostet etwa 80 Euro; außerdem können durch diese zweite Leichenschau zeitliche<br />

Verzögerungen auftreten. Zwei Gründe, weshalb die <strong>Kehl</strong>er Bestattungsinstitute<br />

Verstorbene seither grundsätzlich zur Einäscherung ins Lahrer Krematorium bringen.<br />

Hat indes ein Verstorbener zu Lebzeiten den Wunsch geäußert, dass seine Asche in den<br />

Rhein gestreut werden möge, kann sein Wille – obwohl in Deutschland verboten – am<br />

Straßburger Flussufer erfüllt werden. Mitarbeiter des Bestattungsinstituts begleiten<br />

die trauernden Angehörigen dann auf die französische Rheinseite.<br />

144

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