Das Sonderthema - Stadt Kehl
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J a h r e s s c h r i f t 2 0 1 3
GRENZÜBERSCHREITENDE ZUSAMMENARBEIT:<br />
Der gemeinsame Protest von <strong>Kehl</strong>ern<br />
und Straßburgern gegen die<br />
vom Land Baden-Württemberg<br />
geplante Sondermüllverbrennungsanlage<br />
im <strong>Kehl</strong>er Hafen<br />
legte die Grundlage für die grenzüberschreitende<br />
Zusammenarbeit.<br />
Von der Information über Konsultation zur Kooperation<br />
Als sich 1987 in <strong>Kehl</strong> der Widerstand gegen die von der<br />
Landesregierung geplante Sondermüllverbrennungsanlage<br />
im <strong>Kehl</strong>er Hafen formierte und sich den Demonstrationen<br />
auch Bürgerinnen und Bürger aus Straßburg anschlossen,<br />
ahnte wohl kaum jemand, dass der gemeinsame Protest die<br />
Grundlage für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit<br />
zwischen den beiden Städten legen würde. Doch die Erfahrung,<br />
den Sondermüllofen gemeinsam verhindert zu haben,<br />
beflügelte Vereine und Institutionen ebenso wie die <strong>Stadt</strong>regierungen<br />
auf beiden Rheinseiten: Wenn man gemeinsam<br />
etwas verhindern konnte, musste man doch auch gemeinsam<br />
etwas realisieren können.<br />
<strong>Das</strong> konzertierte Engagement gegen die Sondermüllverbrennung,<br />
das bis in die Straßburger <strong>Stadt</strong>spitze hineinreichte<br />
und auch die damalige Oberbürgermeisterin und<br />
heutige Europaabgeordnete Catherine Trautmann mobilisierte,<br />
war umso erstaunlicher, weil noch ein Jahr zuvor so getan wurde, als respektierten<br />
Schadstoffe in der Luft die französische Staatsgrenze. Während nämlich in Folge der Kernschmelze<br />
im Reaktorblock 4 im russischen Tschernobyl der Salat auf der deutschen Rheinseite<br />
untergepflügt wurde, konnte dieser jenseits des Rheins offenbar bedenkenlos verzehrt werden.<br />
Die Anfänge der grenzüberschreitenden Kooperation<br />
1982 Empfehlung zur gegenseitigen<br />
Unterrichtung über neue Projekte<br />
im Zuständigkeitsbereich der<br />
Deutsch-Französisch-Schweizerischen<br />
Regierungskommission für<br />
nachbarschaftliche Fragen<br />
1984 Empfehlung der gegenseitigen<br />
Unterrichtung über Planungsund<br />
Umweltschutzmaßnahmen<br />
im Zuständigkeitsbereich der<br />
Deutsch-Französisch-Schweizerischen<br />
Regierungskommission für<br />
nachbarschaftliche Fragen<br />
1996 Empfehlung der Deutsch-<br />
Französisch-Schweizerischen<br />
Regierungskommission über die<br />
Zusammenarbeit bei umweltrelevanten<br />
Vorhaben am Oberrhein<br />
2005 Leitfaden zur grenzüberschreitenden<br />
Behörden- und Öffentlichkeitsbeteiligung<br />
bei umweltrelevanten<br />
Vorhaben am Oberrhein<br />
Fragt man heute Akteure der grenzübergreifenden<br />
Kooperation nach den Ursprüngen,<br />
so wird immer wieder die Zeit Ende der<br />
1980er-Jahre genannt: Die Bürgerinitiative<br />
Umweltschutz knüpfte damals die ersten<br />
Kontakte über den Rhein, die Kirchen ebenso,<br />
die beiden Kirchen gründeten sogar eine<br />
grenzüberschreitende ökumenische Umwelt-<br />
Arbeitsgruppe. Die Städte <strong>Kehl</strong> und Straßburg<br />
feierten 1987 und 1988 ihre ersten gemeinsamen<br />
Rheinfeste – für die Festbesucher war es<br />
die Sensation, sich von den französischen Pionieren<br />
mit Landungsbooten an ungewohnter<br />
Stelle und ganz ohne Ausweiskontrollen<br />
ans andere Rheinufer übersetzen zu lassen.<br />
An einen gemeinsamen Park oder gar eine<br />
Fußgänger- und Radfahrerbrücke über den<br />
Grenzfluss dachte damals noch niemand.<br />
Am Vorabend des Rheinfestes 1988 trafen die<br />
Gemeinderäte von <strong>Kehl</strong> und Straßburg zusammen<br />
und ließen sich von der Straßburger<br />
<strong>Stadt</strong>verwaltung vor allem über Umweltthe-<br />
>><br />
75
76<br />
>><br />
men informieren. Die <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg war damals dabei, die Hausmüllverbrennungsanlage<br />
mit einer Rauchgaswaschanlage auszustatten; die Kläranlage für die Großstadt,<br />
welche die Einleitung der Schmutzwasserfracht in den Rhein von 80 auf vier Prozent reduzieren<br />
sollte, stand kurz vor der Inbetriebnahme. Die Information der <strong>Kehl</strong>er Räte geschah auf freiwilliger<br />
Basis – eine förmliche Beteiligung der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> war damals nicht vorgesehen.<br />
Die Zusammenarbeit im Bereich Umweltschutz<br />
Nachdem der Kampf gegen die Sondermüllverbrennung das Thema Luftverschmutzung in<br />
den Vordergrund gerückt hatte – <strong>Kehl</strong> galt damals als die <strong>Stadt</strong> mit der am stärksten belasteten<br />
Luft in Baden-Württemberg – begann die Zusammenarbeit der Städte Straßburg und <strong>Kehl</strong><br />
1990 folgerichtig in einer Arbeitsgruppe für Umwelt. Erstes großes gemeinsames Projekt war<br />
der Luftreinhalteplan Straßburg-Ortenau, der von der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> und der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft<br />
Straßburg (CUS) initiiert und vorbereitet wurde. Im April 1993 unterzeichneten das französische<br />
Umweltministerium, das Umweltministerium des Landes Baden-Württemberg, die <strong>Stadt</strong>gemeinschaft<br />
Straßburg, der Ortenaukreis, die <strong>Stadt</strong> Offenburg und die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> den Vertrag<br />
über die Erstellung des Luftreinhalteplanes. <strong>Das</strong> 800 000 Mark teure Projekt wurde zur Hälfte<br />
von der Europäischen Union mit Mitteln aus dem ersten Interreg-Programm kofinanziert. Für<br />
die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> und die CUS war es das erste Interreg-Projekt – am Oberrhein gehörte der<br />
Luftreinhalteplan zu den ersten grenzüberschreitenden Projekten überhaupt.<br />
<strong>Das</strong>s dieses grenzübergreifende Vorhaben zur damaligen Zeit außerordentlich war, zeigte sich<br />
auch darin, dass der ehemalige <strong>Kehl</strong>er Beigeordnete Jörg Armbruster den Luftreinhalteplan<br />
zusammen mit dem heutigen Präsidenten<br />
des elsässischen Regionalrates Philippe Richert<br />
(er war damals Präsident der elsässischen<br />
Luftreinhalteorganisation ASPA) im<br />
französischen Parlament in Paris vorstellen<br />
durfte. Ziel des Luftreinhalteplanes, der<br />
1995 vorgelegt wurde, war es nicht nur, flächendeckend<br />
Immissionserhebungen für die<br />
hauptsächlichen Luftschadstoffe vorzunehmen,<br />
sondern auch Maßnahmen zu entwickeln,<br />
welche die Luftqualität verbessern<br />
sollten. Nachdem der Straßenverkehr als ein<br />
wesentliches Problem identifiziert worden<br />
war, vereinbarte man, Straßenbauvorhaben<br />
genau auf ihre Auswirkungen auf die Luftbelastung<br />
zu prüfen (die heutige Pflimlin-<br />
Brücke war damals ein kontrovers diskutiertes<br />
Projekt), alle Möglichkeiten zu nutzen,<br />
um den öffentlichen Nahverkehr zu fördern<br />
und Bürgerinnen und Bürger für die durchs<br />
Autofahren verursachten Probleme zu sensibilisieren<br />
(Jobticket, Fahrgemeinschaften,<br />
mehr Wege mit dem Rad zurücklegen).<br />
Großes Thema in der Umwelt-Arbeitsgruppe<br />
der Städte Straßburg und <strong>Kehl</strong> war auch die<br />
Geruchsbelästigung in <strong>Kehl</strong>, die immer wieder<br />
von Industriebetrieben im Straßburger<br />
Südhafen ausgelöst wurde. Zwar waren die<br />
An diesen durch den Interreg-Fonds der<br />
Europäischen Union mit mehr als neun<br />
Millionen Euro geförderten Projekten war<br />
die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> in den vergangenen 20 Jahren<br />
beteiligt:<br />
· Luftreinhalteplan Straßburg/Ortenau<br />
· Untersuchungen für ein deutschfranzösisches<br />
Touristikbüro im Raum<br />
<strong>Kehl</strong>/Straßburg<br />
· Gründung der grenzüberschreitenden<br />
Einrichtungen INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg,<br />
Euro-Institut und Euro-Info<br />
Verbraucher<br />
· Machbarkeitsstudie für die Tram über<br />
den Rhein<br />
· Altenarbeit <strong>Kehl</strong>/Straßburg<br />
· Touristische Zusammenarbeit Unter-<br />
Elsass/Ortenau<br />
· Jugendkulturwerkstatt Zig-Zack<br />
· Garten der zwei Ufer<br />
· Planung der Passerelle des deux Rives<br />
· Bau der Passerelle<br />
· Einrichtung des Kompetenzzentrums<br />
für grenzüberschreitende Fragen<br />
· Vorprojektplanung für die grenzüberschreitende<br />
Tram<br />
· deutsch-französische, grenzüberschreitende<br />
Kinderkrippe<br />
· Städtebaulicher Wettbewerb für die<br />
beiden Zollhöfe<br />
· Bau der grenzüberschreitenden Tram<br />
Anstoßen auf gelungene<br />
Zusammenarbeit: Mit Robert<br />
Grossmann als Präsidenten der<br />
<strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg<br />
war die Kooperation mit <strong>Kehl</strong><br />
zunächst ins Stocken geraten.
Ein eingespieltes grenzüberschreitendes<br />
Team: die Oberbürgermeister<br />
Günther Petry und<br />
Roland Ries.<br />
in die Luft entlassenen Stoffe nicht giftig, der Geruch war aber so unangenehm und stark,<br />
dass er bei manchen Menschen Würgereiz auslöste. <strong>Das</strong> Trocknen von Wäsche im Freien war<br />
an solchen Tagen nicht zu empfehlen.<br />
Damit die Verursacher des Gestanks identifiziert werden konnten, wurden die <strong>Kehl</strong>erinnen<br />
und <strong>Kehl</strong>er aufgefordert, sich als Schnüffler zu betätigen, üble Gerüche möglichst rasch bei<br />
der Feuer wehr zu melden und so genau wie möglich zu beschreiben. Die Straßburger schlossen<br />
sich der Aktion an, forderten ihre Bürgerinnen und Bürger ebenfalls auf, die Nasen in den<br />
Wind zu halten und richteten ein Geruchstelefon ein. Die Angaben von beiden Rheinseiten<br />
deckten oder ergänzten sich – je nach Windrichtung – und so konnten die Hauptverursacher<br />
der üblen Gerüche ausgemacht werden. Unter Beteiligung des SPPPI (Secrétariat Permanent<br />
pour la Prévention de la Pollution Industrielle = Sekretariat zur Vermeidung von Umweltverschmutzung<br />
durch die Industrie) konnten die Städte mit Firmen auf beiden Rheinseiten eine<br />
sogenannte Geruchscharta aushandeln. Die Unternehmen verpflichteten sich darin, die Geruchsquellen<br />
zu minimieren und in dem Fall, dass doch übelriechende Luft entweicht, die Störung<br />
unverzüglich zu beseitigen. Die Geruchscharta, aber auch die Einstellung der Zellulose-<br />
Produktion beim Straßburger Papierhersteller Stracel sowie die Umstellung der Produktion in<br />
der hefeverarbeitenden Industrie im Straßburger Südhafen haben zu einer deutlichen Verbesserung<br />
der Situation geführt.<br />
Die Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe Umwelt hat zwischen <strong>Kehl</strong> und Straßburg immer<br />
funktioniert – unabhängig davon, welcher politischen Partei die Oberbürgermeister und ihre<br />
Beigeordneten jeweils angehörten. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit funktioniert dann<br />
am besten, wenn die Partner durch ein grenzübergreifendes Projekt ein gemeinsames Problem<br />
lösen können.<br />
Der Bau der Passerelle des deux<br />
Rives und des Gartens der zwei<br />
Ufer legten den Grundstein für den<br />
Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau.<br />
Vom Garten der zwei Ufer zum Eurodistrikt<br />
Eine nie gekannte Intensität hat die Zusammenarbeit zwischen <strong>Kehl</strong> und Straßburg mit dem<br />
Beginn der Planungen für den Garten der zwei Ufer und der Passerelle angenommen. Die Verwaltungen<br />
arbeiteten gemeinsam die europaweit ausgelobten Wettbewerbe für Garten und<br />
Brücke aus, die gewählten Vertreter wählten in tagelangen gemeinsamen Jurysitzungen die<br />
Wettbewerbssieger aus und brachten damit die größten grenzüberschreitenden Projekte in<br />
der gesamten Oberrhein-Region auf den Weg. Zwar wurde in der schwierigen Zeit nach dem<br />
Amtsantritt des konservativen Tandems Robert Grossmann/Fabienne Keller auch der Garten<br />
der zwei Ufer infrage gestellt und zunächst auf Eis gelegt. Doch ungeachtet all dieser Schwierigkeiten,<br />
welche der Wechsel von einer sozialistischen zu einer konservativen <strong>Stadt</strong>regierung<br />
im Frühjahr 2001 mit sich brachte, ist heute klar, dass das erfolgreiche Ringen um den Garten<br />
der zwei Ufer, die Passerelle und die gemeinsam gefeierte Gartenschau die Basis für den<br />
Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau bereitet hat.<br />
Am 22. Januar 2003, am 40. Jahrestag der<br />
Unterzeichnung des Elysée-Vertrags, riefen<br />
Bundeskanzler Gerhard Schröder und der<br />
französische Staatspräsident Jacques Chirac<br />
zur Gründung eines Eurodistriktes Strasbourg-<strong>Kehl</strong><br />
auf – ohne dass die Oberbürgermeister<br />
oder die Gemeinderäte der beiden<br />
Städte davon etwas wussten. Sie erfuhren<br />
erst durch nachfragende Journalisten von<br />
diesen Plänen.<br />
So unscharf die Konturen dieses neuen Gebildes<br />
waren, das da gegründet werden soll-<br />
77<br />
>>
78<br />
>><br />
te, so schwierig und holprig gestaltete sich der Weg hin zum Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau.<br />
Gleichzeitig mit der Eröffnung der grenzüberschreitenden Gartenschau am 23. April 2004<br />
sollte der Gründungsakt mit deutscher und französischer Politprominenz gefeiert werden.<br />
Doch daraus wurde nichts: Während die deutschen und französischen Partner gelernt hatten,<br />
konkrete Projekte gemeinsam zu realisieren, stritt man sich bei dieser neuen Einrichtung,<br />
deren Aufgaben und Kompetenzen nicht klar zu definieren waren, über Formalitäten: In welchem<br />
Land sollte der Eurodistrikt seinen Sitz und wo sein Sekretariat haben?<br />
Weil diese Fragen unlösbar schienen, unterzeichneten der Landrat und die Oberbürgermeister<br />
der fünf großen Kreisstädte für die deutsche Seite, die Oberbürgermeisterin der <strong>Stadt</strong><br />
Straßburg und der Präsident der Straßburger <strong>Stadt</strong>gemeinschaft für die französische Seite<br />
am 17. Oktober 2005 eine Vereinbarung, in der man sich auf den kleinsten gemeinsamen<br />
Nenner geeinigt hatte: Der Eurodistrikt wurde von einem deutsch-französischen Sprecher-<br />
Duo geleitet und von zwei Sekretariaten – einem beim Landratsamt in Offenburg und einem<br />
bei der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg – verwaltet. Wenn auch in dieser Zeit nicht allzu viele<br />
grenzüberschreitende Projekte umgesetzt werden konnten, angestoßen und durch die Akteure<br />
vermittelt wurden dennoch einige Kooperationen, die bis heute bestehen. Vor allem aber<br />
erreichte der Eurodistrikt eines: dass die Kontakte unter den Verwaltungsmitarbeitern durch<br />
eine vergrößerte Themenpalette auf eine viel breitere Ebene ausgedehnt wurden.<br />
Mit der Gründung eines Europäischen Verbundes für Territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) am<br />
4. Februar 2010 hat der Eurodistrikt nicht nur ein Sekretariat im <strong>Kehl</strong>er Torbogengebäude<br />
mit einer Generalsekretärin und vier hauptamtlichen Mitarbeitern bekommen, sondern auch<br />
eine Art grenzüberschreitendes Parlament: Der nach französischem Recht verfasste Zweckverband<br />
ermöglicht es den 24 deutschen und 24 französischen Mitgliedern des Eurodistriktrates,<br />
Mehrheitsentscheidungen zu fällen und – im Prinzip – politische Allianzen über die<br />
Landesgrenze hinweg zu bilden. Was in der Theorie verlockend erscheint, findet in der Realität<br />
allerdings kaum statt – aufgrund der kulturellen Unterschiede. Weil in Frankreich das Mehrheitswahlrecht<br />
sowohl im Gemeinderat der <strong>Stadt</strong> Straßburg als auch im Rat der CUS für stabile<br />
Mehrheiten sorgt, sind es die französischen Mitglieder im Eurodistriktrat gewöhnt, ihrem<br />
Oberbürgermeister oder Präsidenten zu folgen und nichts zu sagen, sofern sie der Mehrheit<br />
angehören. Nur von französischen Oppositionspolitikern werden abweichende Meinungen<br />
geäußert. Darüber hinaus zeigt die Zusammenarbeit im Eurodistrikt, dass die Schwierigkeiten<br />
in der Kooperation mit der Zahl der Partner und der Größe des Gebietes wachsen, weil bisweilen<br />
widerstreitende Interessen auf einen Nenner zu bringen sind.<br />
Die Werkzeuge der grenzüberschreitenden Kooperation<br />
Die Städte <strong>Kehl</strong> und Straßburg haben sich in mehr als 20 Jahre währender grenzüberschreitender<br />
Zusammenarbeit nicht damit aufgehalten, die unterschiedlichen Rechts- und Verwaltungssysteme<br />
zu beklagen, sondern früh<br />
erkannt, dass man sich die Verschiedenheit<br />
der Systeme auch zunutze machen kann.<br />
So hat es sich inzwischen eingespielt, dass<br />
städtebauliche Wettbewerbe – wie der für<br />
den Garten der zwei Ufer oder für die beiden<br />
Zollhöfe – nach deutschem Recht ausgeschrieben<br />
werden. Nach französischem<br />
Wettbewerbsrecht müsste man den Siegerentwurf<br />
umsetzen, nach deutschem Recht<br />
kann man aus den Preisträgerentwürfen<br />
auswählen – auch Kombinationen sind<br />
Die deutsch-französische<br />
Kinderkrippe stellt die komplizierteste<br />
Form grenzüberschreitender<br />
Zusammenarbeit dar:<br />
Elemente aus dem französischen<br />
und dem deutschen System<br />
werden zu einer ganz neuen<br />
Einrichtung vereint.
Der baden-württembergische<br />
Europaminister Peter Friedrich<br />
(Mitte) hält beim Rheinfest 2013<br />
die Festrede zum 50. Jahrestag<br />
der Unterzeichnung des Elysée-<br />
Vertrags. Mit hohem Engagement<br />
setzt er sich dafür ein, dass<br />
die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> die Zuschüsse<br />
sowohl für den Bau der Tram als<br />
auch der deutsch-französischen<br />
Kinderkrippe erhält.<br />
möglich. Die Rheinbrücke für die Tram wurde dagegen nach französischem Recht ausgeschrieben,<br />
weil dieses die Möglichkeit bot, die Kosten zu deckeln und das Kostenrisiko auf den<br />
Auftragnehmer zu verlagern.<br />
Schon bevor es das Karlsruher Übereinkommen gab, schlossen die beiden Städte einfache<br />
Verwaltungsvereinbarungen, die regeln, dass die Buslinie 21 der Straßburger Verkehrsbetriebe<br />
(CTS) die Verbindung zwischen der <strong>Kehl</strong>er <strong>Stadt</strong>halle und der heutigen Endhaltestelle der<br />
Tram herstellt und wie das Defizit zwischen Straßburg und <strong>Kehl</strong> aufgeteilt wird. In einem<br />
ebensolchen Vertrag ist festgelegt, dass die Kosten für die zweisprachigen Animateure in den<br />
<strong>Kehl</strong>er Freibädern (die Konflikte unter Jugendlichen möglichst im Vorfeld verhindern oder aber<br />
schlichten sollen) hälftig geteilt werden.<br />
<strong>Das</strong> Karlsruher Übereinkommen aus dem Jahr 1996 hat es den beiden Städten ermöglicht, die<br />
Kooperationsvereinbarungen zur Vorprojektplanung für die Tram, für den Bau der Tram oder<br />
für den Bau und den Betrieb der deutsch-französischen, grenzüberschreitenden Kinderkrippe<br />
zu schließen. Was sich einfach anhört, erweist sich in der Praxis dennoch als recht kompliziert:<br />
Bei der Erarbeitung der Verträge im Zusammenhang mit der Verlängerung der Straßburger<br />
Tramlinie D nach <strong>Kehl</strong> saßen bisweilen sieben Juristen gleichzeitig am Tisch – die meisten mit<br />
deutsch-französischer Zulassung.<br />
Während das Ziel – der Bau eines gemeinsamen Parks, einer Brücke, einer Tramlinie, einer Kinderkrippe<br />
– auf beiden Seiten identisch ist, ist die Herangehensweise eine andere: Nach mehr<br />
als 20 Jahren grenzüberschreitender Zusammenarbeit verfestigt sich der Eindruck, dass die<br />
französischen Partner eher nach einer konkreten Ermächtigung für ihr Handeln suchen, während<br />
die deutsche Seite sich für ermächtigt hält, sofern kein ausdrückliches Verbot besteht.<br />
Die interkulturellen Unterschiede<br />
Während die Akteure in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit über viele Jahre hinweg<br />
überzeugt waren, es reiche aus, das Rechts- und Verwaltungssystem des Partners auf<br />
der anderen Rheinseite zu kennen, und zu überspielen versuchten, dass man eigentlich auf<br />
verschiedene Weise dachte, werden die interkulturellen Unterschiede seit fünf, sechs Jahren<br />
bewusst thematisiert. Die entsprechenden Seminare des Euro-Instituts haben sich zum<br />
Renner entwickelt und wer über eine Kooperation nachdenkt – sei es die Arbeitsverwaltung<br />
oder die Polizei – lässt sich zunächst in Bikulturalität schulen. Doch trotz allem Wissen, das<br />
sich ansammeln lässt, ist die Qualität der Kooperation in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />
– viel stärker als in anderen Bereichen – von den handelnden Personen abhängig.<br />
Wenn der Wille vorhanden ist, wenn man bereit ist, die Geduld und Energie aufzubringen,<br />
auch schier unüberwindlich scheinende Schwierigkeiten anzugehen, können auch komplizierte<br />
grenzüberschreitende Projekte gelingen.<br />
Die Grenzen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />
Die Grenzen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Straßburg und <strong>Kehl</strong> sowie<br />
im Eurodistrikt zeigen sich ausgerechnet in den Bereichen, die das Gerechtigkeitsempfinden<br />
der Bürgerinnen und Bürger verletzen oder stetige Ärgernisse mit sich bringen: Wenn<br />
Fahrer von Autos mit französischem Kennzeichen auf der deutschen Rheinseite zu schnell<br />
fahren, verhindert ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich, dass sie<br />
Bußgelder unter 70 Euro bezahlen müssen. <strong>Das</strong> Gleiche gilt für deutsche Autofahrer auf der<br />
französischen Rheinseite. In der Praxis führt dies dazu, dass bis zu 60 Prozent der von den<br />
stationären Anlagen geblitzten Autofahrer in den Ortsdurchfahrten Marlen und Goldscheuer<br />
ungeschoren davonkommen. Gerade mal etwas mehr als ein Drittel der Halter von französischen<br />
Fahrzeugen bezahlt die Strafzettel fürs Falschparken – ein Kumulieren der Mandate,<br />
79<br />
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80<br />
bis die Summe von 70 Euro überschritten ist, ist nicht zulässig. Also<br />
bleibt der <strong>Stadt</strong> nur, diejenigen Falschparker abzuschleppen, die ihre<br />
Autos in Brandschutzzonen abstellen oder so parken, dass sie den<br />
Verkehr behindern oder gefährden.<br />
<strong>Das</strong>s es in <strong>Kehl</strong> – auf die Einwohnerzahl bezogen – so viele Geldspielgeräte<br />
gibt wie nirgendwo sonst in Deutschland, ist ebenfalls<br />
der Nachbarschaft zu einer französischen Großstadt geschuldet.<br />
Weil in Frankreich Geldspielautomaten nur in Casinos erlaubt sind,<br />
ist der überwiegende Teil der Spieler in den <strong>Kehl</strong>er Spielhallen und<br />
Automaten-Bistros französischer Nationalität. Automatenaufsteller<br />
und Bistro-Betreiber haben schnell erkannt, dass hier gute Geschäfte<br />
zu machen sind. Der <strong>Kehl</strong>er Gemeinderat hat Resolutionen verfasst,<br />
Oberbürgermeister Günther Petry hat ungezählte Briefe geschrieben,<br />
der Vorstand des Eurodistrikts hat diskutiert, aber es zeigt sich: Diese<br />
Alltagsprobleme im <strong>Kehl</strong>-Straßburger Grenzgebiet sind zu groß für<br />
den Eurodistrikt und zu klein, um die Nationalstaaten zu interessieren.<br />
Die Hauptstädte – Paris, Berlin, Stuttgart – sind weit weg von der<br />
deutsch-französischen Grenzregion.<br />
Wie groß die Entfernung tatsächlich ist, wird in Landesentwicklungsoder<br />
Regionalplänen deutlich: Die Landesgrenze verläuft in der Mitte<br />
des Rheins – dahinter öffnet sich das Nichts, dargestellt durch eine<br />
weiße Fläche. Für <strong>Kehl</strong> ist das mehr als nur ein grafisches Problem:<br />
Weil die Großstadt Straßburg im Landesentwicklungsplan nicht existiert,<br />
gilt <strong>Kehl</strong> als ländlicher Raum. <strong>Das</strong> wiederum bedeutet, dass auch das <strong>Kehl</strong>er Polizeirevier<br />
so mit Beamten ausgestattet wird, als gäbe es die Großstadt Straßburg nicht. <strong>Das</strong>s die<br />
Kriminalitätsrate in Großstädten höher ist als in ländlichen Gebieten, ist eine Tatsache, die<br />
nichts damit zu tun hat, ob diese Großstadt in Deutschland oder Frankreich liegt. Wäre indes<br />
Straßburg eine deutsche Großstadt oder läge <strong>Kehl</strong> vor den Toren Stuttgarts, hätte der Leiter<br />
des <strong>Kehl</strong>er Polizeireviers rund 120 Beamte zur Verfügung – statt 86 Stellen im Plan, von denen<br />
nicht einmal alle besetzt sind. Auch bei der Verlängerung der Straßburger Tramlinie D nach<br />
<strong>Kehl</strong> hätte die Plangrafik zum Verhängnis werden können: Straßenbahnprojekte werden nämlich<br />
grundsätzlich nur in Verdichtungsräumen und keinesfalls im ländlichen Raum gefördert.<br />
Ausnahmsweise wurden <strong>Kehl</strong> in diesem konkreten Fall die Merkmale eines Verdichtungsraumes<br />
zuerkannt.<br />
Die französischen Kollegen kämpfen mit den gleichen Problemen: <strong>Das</strong>s ausgerechnet die Europastadt<br />
Straßburg 20 Jahre länger als andere französische Großstädte auf die Anbindung<br />
ans TGV-Netz warten musste, war nur ihrer Grenzlage geschuldet. Von Paris aus betrachtet,<br />
lagen direkt hinter Straßburg nur der halbe Rhein und eine weiße Fläche. Als die französische<br />
Eisenbahngesellschaft SNCF wenige Monate nach der Inbetriebnahme der TGV-Strecke Paris–<br />
München in einer Pressemitteilung die hohen Auslastungsquoten für die Hochgeschwindigkeitszüge<br />
bekannt gab, konnte man zwischen den Zeilen das Erstaunen darüber herauslesen,<br />
dass es tatsächlich Fahrgäste gab, die hinter Straßburg noch weiterfuhren.<br />
Fazit<br />
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist bisweilen mühsam. Doch jedes erfolgreiche Projekt<br />
ebnet den Weg für neue Projekte und schafft neue Verbindungen zwischen den Menschen<br />
diesseits und jenseits des Rheins. Je enger Deutsche und Franzosen am Oberrhein miteinander<br />
verwoben sind, desto besser für ein friedliches Zusammenleben – ganz im Geiste des Elysée-<br />
Vertrags, dessen 50-jähriges Bestehen wir in diesem Jahr gefeiert haben.<br />
<strong>Das</strong>s auf Landesentwicklungsoder<br />
Regionalplänen in der Mitte<br />
des Rheins das weiße Nichts<br />
beginnt, führt dazu, dass <strong>Kehl</strong> als<br />
ländlicher Raum eingestuft wird –<br />
so als würde der Ballungsraum<br />
Straßburg mit seinen 500 000<br />
Einwohnern nicht existieren.
81<br />
GRENZÜBERSCHREITUNG IN ALLEN LEBENSLAGEN<br />
Wer in <strong>Kehl</strong> lebt, kann an seinem Wohnort die Vorteile zweier Länder nutzen und das sozusagen<br />
in allen Lebenslagen. Die Durchlässigkeit der deutsch-französischen Grenze und<br />
die Errungenschaften der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit können <strong>Kehl</strong>erinnen und<br />
<strong>Kehl</strong>er ein Leben lang begleiten.<br />
Geburt<br />
Als die Geburtshilfe im <strong>Kehl</strong>er Krankenhaus 2012 wegen ihres Defizits von der Schließung<br />
bedroht war, richtete sich der Blick nach Frankreich: Hätten Straßburger Gynäkologen als<br />
Belegärzte im <strong>Kehl</strong>er Krankenhaus Straßburger Kindern auf die Welt helfen können, hätte<br />
die Auslastung deutlich erhöht und die Geburtshilfe vielleicht gerettet werden können.<br />
Doch die Zeitspanne zwischen der Ankündigung der Schließung und deren Vollzug war<br />
zu kurz, um ein solches Modell durchdenken und umsetzen zu können.<br />
Inzwischen wird die umgekehrte Variante vorstellbar: Auf der Straßburger Rheinseite<br />
wird in unmittelbarer Nachbarschaft zum Garten der zwei Ufer bis Ende 2016 für fast<br />
100 Millio nen Euro ein neuer Klinikkomplex mit 376 Betten, mehr als 20 Operationssälen<br />
und einer Geburtshilfe mit sieben Kreißsälen errichtet. <strong>Das</strong> neue Krankenhaus mit dem<br />
klangvollen Namen Tamaris entsteht aus dem Zusammenschluss dreier gemeinnütziger<br />
Straßburger Kliniken: Adassa (jüdisch), Diaconat (evangelisch) und Ste Odile (katholisch).<br />
Was die Staatsbürgerschaft angeht, ist die Geburt auf der anderen Rheinseite kein Problem:<br />
Ein Kind, das mindestens einen deutschen Elternteil hat und in Straßburg zur Welt kommt,<br />
erhält dort eine internationale Geburtsurkunde, die es als deutschen Staatsbürger ausweist.<br />
Wenn die Eltern eine deutsche Geburtsurkunde möchten, können sie in Deutschland<br />
einen Antrag auf Nachbeurkundung stellen. Ein Kind, das keinen französischen Elternteil<br />
hat, aber in Straßburg geboren wird, erwirbt nicht die französische Staatsbürgerschaft.<br />
Mehr als 20 Operationssäle, sieben<br />
Kreißsäle, 800 Beschäftigte:<br />
Am Rande des französischen<br />
Teils des Gartens der zwei Ufer<br />
entsteht ein riesiger Klinikkomplex.<br />
>>
82<br />
Babys und Kleinkinder<br />
Für Babys ab einem Alter von zehn Wochen und Kleinkinder bis drei Jahren errichten<br />
die Städte Straßburg und <strong>Kehl</strong> derzeit gemeinsam eine deutsch-französische und<br />
grenzüberschreitende Kinderkrippe auf dem Gelände der Rheinhafen-Schule gleich<br />
hinter der Europabrücke. In der Einrichtung, die am 31. März 2014 ihren Betrieb aufnehmen<br />
soll, werden je 30 Kinder aus <strong>Kehl</strong> und Straßburg gemeinsam aufwachsen. Ein<br />
zweisprachiges Team wird die Kleinen nach einem pädagogischen Konzept betreuen,<br />
das deutsche und französische Elemente vereint. Eltern, die ihre Kinder in der deutschfranzösischen<br />
Krippe anmelden möchten, wenden sich an die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong>.<br />
>><br />
Kindergarten – Ecole Maternelle<br />
Eltern, deren Kinder die deutsch-französische Krippe besucht haben, können im Anschluss<br />
wählen, ob ihr Kind die deutsch-französische Ecole Maternelle in der Straßburger<br />
Rheinhafenschule oder einen (deutsch-französischen) Kindergarten in <strong>Kehl</strong> besuchen<br />
soll. Aber auch Kinder, die ihre Krippenjahre nicht in der grenzüberschreitenden<br />
Einrichtung verbracht haben, kommen in allen <strong>Kehl</strong>er Kindergärten mit der französischen<br />
Sprache in Kontakt. Ein bis eineinhalb Stunden pro Woche führen Honorarkräfte<br />
die Kinder in den meisten Kindergärten an die französische Sprache heran, zwei Kindergärten<br />
– die Kindertagesstätte Vogesenallee und der Kindergarten St. Josef – sind<br />
bilinguale Einrichtungen, in denen französische Erzieherinnen zum Team gehören.<br />
Erzieher im anderen Land: „Der Unterschied ist gewaltig“<br />
Wenn Christophe Frattini und Stéphanie<br />
Schmidt sich morgens auf den Weg zur Arbeit<br />
machen, dann überqueren sie beide den Rhein:<br />
Der Erzieher, der bei der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> angestellt<br />
ist, pendelt nach Straßburg;<br />
seine Kollegin, die für die<br />
<strong>Stadt</strong> Straßburg arbeitet, fährt<br />
über die Grenze in die <strong>Kehl</strong>er<br />
Kindertagesstätte Vogesenallee.<br />
Sie machen die Kinder<br />
mit der Sprache und Kultur<br />
des Nachbarn vertraut – und<br />
erleben dabei einen sehr unterschiedlichen<br />
Arbeitsalltag.<br />
„In Frankreich ist der Kindergarten<br />
viel strukturierter“,<br />
sagt Stéphanie Schmidt, „das<br />
ist fast wie ein Stundenplan, bei dem von<br />
acht bis neun Uhr alle eine bestimmte Aktivität<br />
machen und von neun bis zehn die<br />
nächste“. In Deutschland hingegen „dürfen<br />
Stéphanie Schmidt<br />
die Kinder machen, was sie wollen“. Tatsächlich<br />
gilt in den <strong>Kehl</strong>er Kindergärten das Prinzip<br />
der Offenen Arbeit, es gibt keine festen<br />
Gruppen, sondern verschiedene Angebote<br />
für Kinder aller Altersstufen<br />
– die Entscheidung, was sie<br />
machen möchten, liegt ganz<br />
bei den Jungen und Mädchen.<br />
„Der Unterschied zum<br />
Kindergarten in Frankreich<br />
ist gewaltig“, stimmt Christophe<br />
Frattini seiner Kollegin<br />
aus <strong>Kehl</strong> zu.<br />
Obwohl sie beide Systeme<br />
gut kennen, können die zwei<br />
Erzieher nicht pauschal sagen,<br />
welche Pädagogik die<br />
größeren Vorteile bietet. „<strong>Das</strong> kommt auf den<br />
Charakter des Kindes an“, meint Stéphanie<br />
Schmidt. „Für manche ist der Kindergarten<br />
in Frankreich vielleicht zu streng, für andere<br />
Die Oberbürgermeister von<br />
Straßburg und <strong>Kehl</strong>, Roland Ries<br />
und Günther Petry, unterzeichnen<br />
die Baupläne der deutsch-französischen,<br />
grenzüberschreitenden<br />
Kinderkrippe, die anschließend in<br />
den Grundstein eingemauert werden.<br />
Wilderich von Droste-Hülshoff<br />
(rechts) überbringt stellvertretend<br />
für Regierungspräsidentin Bärbel<br />
Schäfer den Bescheid über den Zuschuss<br />
zu den Baukosten der <strong>Stadt</strong><br />
<strong>Kehl</strong> in Höhe von 360 000 Euro.
83<br />
ist er hier in Deutschland zu<br />
frei.“ Auch das Alter spiele<br />
eine Rolle, findet Christophe<br />
Frattini. „Für die Kleinen sind<br />
vielleicht strukturierte Gruppen<br />
besser, für die Großen<br />
ist es aber die Offene Arbeit,<br />
weil sie dann schon selbstständig<br />
entscheiden können,<br />
was sie gerne machen<br />
möchten“, sagt der deutsche<br />
Erzieher, der im Jardin<br />
d’enfants in der Straßburger<br />
Rue de Bâle arbeitet.<br />
Ob sie an den Französisch-Aktivitäten, die<br />
Stéphanie Schmidt täglich im Kindergarten Vogesenallee<br />
anbietet, teilnehmen, können sich<br />
die Kinder ebenfalls aussuchen. In ihrem Morgenkreis<br />
werden französische Lieder gesungen,<br />
sie spielt französische Spiele mit den Jungen<br />
und Mädchen und liest aus französischen<br />
Büchern vor. Vor allem aber spricht Stéphanie<br />
Schmidt grundsätzlich Französisch – auch<br />
dann, wenn die Kleinen sie etwas auf Deutsch<br />
fragen. Gibt es Verständnisschwierigkeiten, so<br />
sagt sie einen Satz zuerst auf Französisch und<br />
direkt hinterher noch einmal auf Deutsch, das<br />
ist für sie zur Routine geworden: „Ich merke<br />
gar nicht mehr, dass ich immer doppelt spreche“,<br />
sagt sie schmunzelnd. Bei rund 20 bis<br />
30 Prozent der Kinder ist diese Sofort-Übersetzung<br />
überhaupt nicht notwendig, weil sie<br />
mindestens einen französischen Elternteil<br />
haben und zweisprachig aufwachsen.<br />
Christophe Frattini<br />
Ähnlich sieht es am Arbeitsplatz<br />
von Christophe Frattini<br />
in der Rue de Bâle aus. „Manche<br />
der Eltern sind deutschsprachig<br />
oder auch deutschstämmig.<br />
Wenn ein Elternteil<br />
deutsch ist, sprechen die Kinder<br />
fast nur Deutsch mit mir“,<br />
sagt er. Denjenigen Jungen<br />
und Mädchen hingegen, die<br />
Zuhause ausschließlich Französisch<br />
sprechen, bringt er<br />
die deutsche Sprache durch<br />
„ständige Wiederholung“ näher.<br />
„Wir beginnen mit einfachen<br />
Sachen wie Tiernamen, Zahlen, Farben<br />
und der Begrüßung. <strong>Das</strong> wird immer wiederholt,<br />
bis es irgendwann klappt und ich nicht<br />
mehr übersetzen muss.“<br />
Doch die Idee, die hinter dem schon seit<br />
1992 bestehenden Austausch der Erzieher<br />
zwischen <strong>Kehl</strong> und Straßburg steht, umfasst<br />
mehr als nur das Erlernen der Sprache<br />
des Nachbarn. Genauso geht es darum,<br />
die Kinder mit der Kultur auf der anderen<br />
Rheinseite vertraut zu machen. Jeden Monat<br />
gibt es deshalb eine gemeinsame Dienstbesprechung,<br />
an der Mitarbeiter beider Kindergärten<br />
teilnehmen. Dann wird geplant,<br />
welche Projekte in nächster Zeit zusammen<br />
organisiert werden. „Einmal im Monat gibt es<br />
auch für die Kinder einen Austausch“, erklärt<br />
Christophe Frattini. Dann fährt die Gruppe<br />
aus Straßburg beispielsweise nach <strong>Kehl</strong>,<br />
Französisch sprechen ist angesagt,<br />
wenn Stéphanie Schmidt<br />
mit den Kindern in der Kindertagesstätte<br />
Vogesenallee bastelt.<br />
>>
84<br />
>><br />
um – genau wie die Kinder aus dem Kindergarten<br />
Vogesenallee – an den dortigen Waldtagen<br />
teilzunehmen. „Auch Sankt Martin oder<br />
Fastnacht, also typisch deutsche Bräuche,<br />
bieten sich für die Austauschtage an“, sagt<br />
der 35-jährige Erzieher. In den Austausch<br />
werden auch die Eltern miteinbezogen: Zweibis<br />
dreimal pro Jahr findet ein grenzüberschreitender<br />
Elternabend statt; Tradition hat<br />
inzwischen ein Bastelabend mit Eltern und<br />
Kindern, bei dem kurz vor Sankt Martin in<br />
<strong>Kehl</strong> Laternen gestaltet werden.<br />
Andersherum fährt Stéphanie Schmidt, die<br />
41 Jahre alt ist und fast von Anfang an an<br />
dem Austausch-Projekt beteiligt war, einmal<br />
pro Monat mit den <strong>Kehl</strong>er Kindern nach<br />
Straßburg, um deren Altersgenossen zu treffen.<br />
Zusätzlich besichtigt sie mit den jungen<br />
<strong>Kehl</strong>erinnen und <strong>Kehl</strong>ern die <strong>Stadt</strong>, besucht<br />
mit ihnen den großen Weihnachtsmarkt, beobachtet<br />
die Tiere in der Orangerie oder lädt<br />
die Kinder zur Entdeckertour im Vaisseau,<br />
dem Wissenschaftsmuseum für Kinder und<br />
Jugendliche, in Straßburg ein.<br />
Die Kooperation zwischen den Kindergärten<br />
Vogesenallee und Rue de Bâle ist in ihrer<br />
Intensität bislang einzigartig in der Grenzregion.<br />
Cornel Happe, der 1992 als Leiter des<br />
neuen Kindergartens Kreuzmatt für die <strong>Stadt</strong><br />
<strong>Kehl</strong> arbeitete, erinnert sich an ihre Anfänge:<br />
„In der Kreuzmatt waren früher die französischen<br />
Streitkräfte untergebracht, deshalb<br />
lebten Anfang der 90er-Jahre viele deutschfranzösische<br />
Familien in dem Viertel.“ Als<br />
die <strong>Stadt</strong> das Kindergartengebäude erwarb,<br />
habe der damalige Beigeordnete Jörg Armbruster<br />
die Idee gehabt, „eine echte deutschfranzösische<br />
Kindergartengruppe“ in der<br />
Kreuzmatt einzurichten – mit Pendant in<br />
Straßburg und inklusive Erzieheraustausch.<br />
„Die Projektidee war klasse“, sagt Cornel Happe,<br />
„denn so wurde die Kultur des Nachbarn<br />
in den Kindergarten gebracht“.<br />
Auch die Eltern waren von dem neuen Angebot<br />
begeistert. „<strong>Das</strong> war der Renner“, erinnert<br />
sich der damalige Kindergarten-Chef,<br />
der heute die Gemeinwesenarbeit <strong>Kehl</strong>-Dorf<br />
leitet. Die Gruppe – damals gab es in <strong>Kehl</strong>er<br />
Kindergärten noch feste Gruppen – sei<br />
von allen sozialen Schichten sehr gut nachgefragt<br />
gewesen. Aus Platzmangel wurde<br />
sie irgendwann in den Kindergarten in der<br />
Oberländerstraße verlegt. Als dieser von der<br />
Evangelischen Kirchengemeinde übernommen<br />
wurde, wechselte der Partner für die<br />
Straßburger Rue de Bâle ein zweites Mal: Die<br />
Wahl fiel auf den Kindergarten Vogesenallee.<br />
Während die Eltern auf beiden Rheinseiten<br />
die deutsch-französische Ausrichtung ihrer<br />
Kindergärten begrüßten, war es – zumindest<br />
auf deutscher Seite – nicht immer leicht,<br />
Personal für den Austausch zu finden, sagt<br />
Cornel Happe: „Wir haben mehrfach und<br />
auf regionaler Ebene suchen müssen.“ Bis<br />
Christophe Frattini den Job vor acht Jahren<br />
annahm. Der 35-jährige Erzieher, der selbst<br />
mehrsprachig aufwuchs, seine Kindheit in<br />
Frankreich verbracht hat und seit 13 Jahren<br />
in <strong>Kehl</strong> lebt, hat nicht lange gezögert: „Ich<br />
habe die Chance sofort genutzt, weil ich<br />
etwas Neues kennenlernen wollte.“ Er finde<br />
es wichtig, dass die Kinder möglichst früh in<br />
Kontakt mit der anderen Rheinseite kommen:<br />
„Wir sind hier Grenzgänger, die Kinder sollten<br />
mit beiden Sprachen aufwachsen“, sagt<br />
er. „Dann können sie später problemlos im<br />
Europa ohne Grenzen arbeiten. <strong>Das</strong> sind tolle<br />
Möglichkeiten.“<br />
Tiernamen, Zahlen, Farben,<br />
Begrüßungsformeln: Durch<br />
ständige Wiederholung bringt<br />
Christophe Frattini den Kindern<br />
im Jardin d’enfants in der Straßburger<br />
Rue de Bâle Deutsch bei.
85<br />
Schulzeit<br />
Rund 400 <strong>Kehl</strong>er Kinder – gut die Hälfte davon von französischen Eltern, die ihren<br />
Wohnsitz in <strong>Kehl</strong> haben – besuchen Schulen in Straßburg. Die meisten Kinder und<br />
Jugendlichen sind in der Straßburger Europaschule (von der Vorschule bis zum Abitur<br />
Züge, in denen eine Sprache verstärkt unterrichtet wird), in der internationalen Schule<br />
(von der Vorschule bis zum Abitur Züge in verschiedenen Sprachen) oder in Mittelschulen<br />
und Gymnasien angemeldet, die zum Abi/Bac führen. Gut 100 Kinder aus Straßburg<br />
sind im Gegenzug Schülerinnen und Schüler in <strong>Kehl</strong>er Schulen – vor allem in der Falkenhausenschule<br />
und im Einstein-Gymnasium.<br />
In <strong>Kehl</strong> gibt es zwei Grundschulen, die den Unterricht paritätisch in deutscher und<br />
französischer Sprache gestalten. Von den 344 Grundschülern der Falkenhausenschule<br />
nutzen 202 dieses Angebot. In der Grundschule Sundheim sind im Schuljahr 2013/14<br />
78 Jungs und Mädchen in den paritätischen Klassen eingeschrieben. In der Werkrealschule<br />
Nord-Ost (Kork-Bodersweier) besteht ein freiwilliges Französisch-Angebot für<br />
Schülerinnen und Schüler ab Klasse fünf, das wöchentlich drei Unterrichtsstunden in<br />
der Sprache des Nachbarn umfasst. In den Klassenstufen neun und zehn können die<br />
Jugendlichen an einer Sprachprüfung teilnehmen; sie erhalten dann ein Zusatzzertifikat<br />
zum Prüfungszeugnis. In der Werkrealschule Wilhelmschule sieht es ähnlich<br />
aus: In den Klassenstufen fünf/sechs, sieben/acht und neun/zehn nehmen jeweils acht<br />
bis zehn Schülerinnen und Schüler am freiwilligen Französischunterricht teil. In der<br />
Werkrealschule Hebelschule können die Schülerinnen und Schüler Französisch in einer<br />
dreistündigen Arbeitsgemeinschaft lernen. Insgesamt 75 Kinder und Jugendliche nutzen<br />
dieses Angebot.<br />
Die Kinder der bilingualen<br />
Klassen der Falkenhausenschule<br />
fühlen sich in zwei Kulturen zu<br />
Hause: Im Hanauer Museum<br />
haben sie Mützen von Marianne<br />
und Michel gebastelt.<br />
In einem Brückenkurs können die Fünft- und Sechstklässler in der Tulla-Realschule auf<br />
ihr Grundschul-Französisch aufbauen. Wer möchte, kann dann in Klasse sieben Französisch<br />
als Wahlpflichtfach aussuchen und bis zur Mittleren Reife fortsetzen. Etwa 20<br />
von rund 100 Realschülern pro Jahrgang gehen diesen Weg. Im Einstein-Gymnasium<br />
haben die Fünftklässler die Möglichkeit, den zweisprachigen Zug zu wählen, der sie<br />
zum deutsch-französischen Abi/Bac führt. Jährlich machen zwölf bis 15 Jugendliche<br />
diesen Doppelabschluss. Im Schuljahr 2013/14 haben von 122 Zehn- und Elfjährigen<br />
48 die zweisprachige Gymnasiallaufbahn eingeschlagen.<br />
>>
86<br />
Im Elsass hat sich die Zahl der Kinder, die in der Vor- oder Grundschule zur Hälfte<br />
in französischer und zur Hälfte in deutscher Sprache unterrichtet werden, innerhalb<br />
von zehn Jahren (2002 bis 2012) von 7730 auf 21 517 verdreifacht. Im Département<br />
Unter-Elsass bieten derzeit 23 Collèges zweisprachige Züge an, im Ober-Elsass 26. Die<br />
Schülerzahl in diesen paritätischen Klassen hat sich im genannten Zehnjahreszeitraum<br />
mehr als vervierfacht: von 806 auf 3700 Jugendliche. Nimmt man die Schülerinnen<br />
und Schüler noch hinzu, die zwar nicht in paritätischen Klassen lernen, aber dennoch<br />
am regulären Deutschunterricht teilnehmen, so erwerben 55 Prozent der Jugendlichen<br />
im Elsass Kenntnisse in der deutschen Sprache. Und die Zahl der zweisprachigen<br />
Klassen wächst weiter: Zum Schuljahresbeginn 2013/14 sind im Unter-Elsass 29 neue<br />
Klassen eröffnet worden, im Ober-Elsass 24.<br />
Wer sich einen Überblick über die Schullandschaft im Grenzraum verschaffen will, hat<br />
es schwer: Zwar arbeitet die Bildungsregion Ortenau an einem Online-Bildungsatlas<br />
(www.bildungsatlas-ortenau.de), doch der wird sich zunächst nur auf Kindertageseinrichtungen<br />
und Schulen in der Ortenau beschränken – geplant ist, ihn später auf<br />
den Eurodistrikt auszudehnen. Im Internet findet sich auch eine Liste der Schulen im<br />
Elsass, geordnet nach Städten kann man sich die Profile der öffentlichen und privaten<br />
Schulen anschauen. Wer Schulen mit deutsch-französischen Klassen sucht, muss sich<br />
mühsam durchklicken.<br />
Am 50. Jahrestag der Unterzeichnung<br />
des Elysée-Vertrags am<br />
22. Januar formen Schülerinnen<br />
und Schüler der Falkenhausenschule<br />
ein deutsch-französisches<br />
Herz im Garten der zwei Ufer.<br />
Berufliche Ausbildung<br />
In zahlreichen Lehrberufen besteht die Möglichkeit, die Berufsschule im eigenen Land<br />
zu besuchen und die praktische Ausbildung im Lehrbetrieb auf der jeweils anderen<br />
Rheinseite zu absolvieren. Weil dies jedoch wenig bekannt und die Berufsausbildung<br />
in Deutschland und Frankreich sehr unterschiedlich organisiert ist, nehmen bislang<br />
nur vereinzelt Jugendliche diese Chance wahr. Auch die Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann<br />
kann grenzüberschreitend absolviert werden: Drei junge Leute – zwei<br />
Deutsche und eine Französin – gehen derzeit in Frankreich und Deutschland in die<br />
Berufsschule und machen am Ende den deutsch-französischen Doppelabschluss Bac<br />
Pro Commerce/Einzelhandelskaufmann.<br />
Französisch als Kernprofil: Berufliche Schulen setzen auf Zweisprachigkeit<br />
>><br />
„Prima, das habt ihr super gemacht“, sagt<br />
Prüferin Ursula Méliani, Französischlehrerin<br />
an den Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong> (BSK), und<br />
vergibt viermal die volle Punktzahl. Stefanie<br />
Mack, Steffen Rohrbeck, Tanja Braun und<br />
Aileen Bernhardt haben ihr und dem zweiten<br />
Prüfer Bernd Rother auf Französisch einiges<br />
über sich, ihre Hobbys und ihre Ausbildungsbetriebe<br />
erzählt und in fiktiven Verkaufsgesprächen<br />
aus dem Bereich Spedition miteinander<br />
verhandelt. Damit ist die mündliche<br />
Prüfung für das KMK-Zertifikat Französisch,<br />
Niveau eins, mit Bravour bestanden. <strong>Das</strong><br />
freut nicht nur die Schüler, sondern genauso<br />
die beiden Lehrer, die ihre Schützlinge motiviert<br />
haben, die Zusatzqualifikation „Französisch<br />
im Beruf“ zu erwerben – auch, wenn<br />
das für die Jugendlichen Intensiv-Unterricht<br />
zu viert am Freitagnachmittag bedeutete.<br />
„Wir versuchen, alle Schüler für die französische<br />
Sprache zu begeistern“, sagt Bernd<br />
Rother und Michael Eberhardt, bis Juli 2013<br />
Schulleiter der BSK, bestätigt: „Die Sprach-
kompetenz steht an allererster<br />
Stelle bei uns. Wir sind im<br />
Gegensatz zu allen anderen<br />
Berufsschulen auf die französische<br />
Sprache ausgerichtet.<br />
<strong>Das</strong> ist unser Kernprofil, unser<br />
Alleinstellungsmerkmal.“<br />
<strong>Das</strong> KMK-Zertifikat, das die<br />
vier angehenden Logistikassistenten<br />
bestanden haben,<br />
können Schüler an den Beruflichen<br />
Schulen in den Ausbildungsberufen<br />
Einzelhandel,<br />
Spedition, Gastronomie und<br />
KFZ-Mechatroniker absolvieren, und zwar<br />
in den Stufen eins bis drei. „Damit sind wir<br />
landesweit Spitze, das Niveau drei in Französisch<br />
im Bereich Spedition bieten wir sogar<br />
als einzige Berufsschule an“, sagt Michael<br />
Eberhardt, „da bin ich stolz drauf“.<br />
Die französische Ausrichtung der <strong>Kehl</strong>er Berufsschule<br />
fängt schon bei der Auswahl des<br />
Personals an: „Jeder Lehrer hier ist in irgendeiner<br />
Weise mit Frankreich verknüpft“, sagt<br />
der langjährige Schulleiter, entweder durch<br />
ein Französisch-Studium, durch ein Auslandssemester<br />
oder durch<br />
private Beziehungen. „Diese<br />
Verbindung muss da<br />
sein“, nur dann sei die Motivation<br />
der Lehrkräfte für<br />
die notwendige Mehrarbeit<br />
sichergestellt. Die Mehrarbeit<br />
beginnt damit, die französische<br />
Sprache attraktiv<br />
zu machen, denn viele Jugendliche<br />
können noch gar<br />
kein Französisch, wenn sie<br />
Michael Eberhardt sich bei den BSK anmelden.<br />
„Es ist schwierig, Schüler zu<br />
finden, die auch nur Grundkenntnisse haben“,<br />
sagt Michael Eberhardt. Deshalb lassen sich<br />
die Lehrer so einiges einfallen: „Zum Beispiel<br />
sind wir mit Einzelhandelsklassen nach Paris<br />
gefahren, damit sie sehen, wie Einzelhandel<br />
dort funktioniert“, erzählt Bernd Rother.<br />
„Wenn sie sich dafür begeistern können, beginnen<br />
sie auch, sich für die Sprache zu interessieren.“<br />
Bernd Rother<br />
<strong>Das</strong> ist wichtig, denn an der<br />
<strong>Kehl</strong>er Berufsschule gilt: Egal,<br />
welchen Beruf man anstrebt,<br />
Französisch ist Pflicht. Unterschiede<br />
gibt es nur in der<br />
Intensität und dem Niveau.<br />
„Als Lehrer im Unterricht<br />
müssen wir je nach Französisch-Niveau<br />
einer Klasse<br />
umschalten“, sagt Bernd Rother.<br />
„Es ist ja auch klar, dass<br />
ein Mechatroniker nicht unbedingt<br />
ein Sprachgenie sein<br />
muss, sondern eben eher ein<br />
Techniker.“ Was sie an der Schule an Sprachkenntnissen<br />
erworben haben, setzen viele der<br />
Auszubildenden an ihrem Arbeitsplatz direkt<br />
um. „Wir bilden sie so aus, dass sie in <strong>Kehl</strong>er<br />
Betrieben arbeiten können, da ist Französisch<br />
in fast allen Branchen gefragt“, sagt Michael<br />
Eberhardt. Außerdem absolvieren die Schüler<br />
Praktika im Nachbarland und besuchen dortige<br />
Berufsschulen. „Wir versuchen, so viele<br />
Azubis wie möglich möglichst zweimal nach<br />
Frankreich ins Praktikum zu schicken, für<br />
mindestens drei Wochen.“ Denn das sei die<br />
Voraussetzung, um mit dem Schulabschluss<br />
das trinational anerkannte Euregio-Zertifikat,<br />
eine Art Zusatz-Diplom, zu erhalten. Andersherum<br />
nehmen die BSK französische Schüler<br />
auf, die ein Praktikum in einem Betrieb auf<br />
der deutschen Rheinseite machen.<br />
Dabei geht es nicht ausschließlich um<br />
sprachliche, sondern auch um interkulturelle<br />
Kompetenz. „Die Arbeitsweise in Frankreich<br />
ist eher hierarchieorientiert“, meint Michael<br />
Eberhardt, „deshalb sollen unsere Jugendlichen<br />
auch den Betriebsablauf dort kennenlernen“.<br />
Um die Schüler auf kulturelle Unterschiede<br />
vorzubereiten, mit denen sie sich im<br />
Auslandspraktikum konfrontiert sehen könnten,<br />
werden im Unterricht an den Beruflichen<br />
Schulen <strong>Kehl</strong> in Rollenspielen Verkaufsgespräche<br />
geübt. So lernen die Jugendlichen,<br />
wie sie einen Kunden auf Französisch höflich<br />
bedienen können und worauf Franzosen in<br />
der Geschäftswelt Wert legen. „Die Kultur<br />
hat dort einen ganz anderen Stellenwert“, ist<br />
der langjährige Schulleiter überzeugt, das<br />
>><br />
87
88<br />
fange schon beim Mittagessen an. „Bei uns<br />
pfeift man sich schnell einen Döner rein und<br />
drüben wird heftig diskutiert, damit es in der<br />
Mensa innerhalb von vier Wochen bloß keine<br />
Wiederholung auf der Speisekarte gibt.“<br />
Mit sechs Partnerschulen in Frankreich kooperieren<br />
die Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong>. „<strong>Das</strong><br />
geht nicht ohne dauernde Kontakte“, sagt Michael<br />
Eberhardt. Für jede französische Schule<br />
gibt es an der <strong>Kehl</strong>er Berufsschule deshalb<br />
einen Beauftragten, einen festen Ansprechpartner.<br />
Die Zusammenarbeit ermöglicht<br />
nicht nur Schüleraustausche sondern viele<br />
weitere grenzüberschreitende Aktivitäten:<br />
Gemeinsam mit ihren Partnerklassen realisieren<br />
die <strong>Kehl</strong>er Schüler im Tandem Projekte,<br />
beispielsweise untersuchen angehende Industriekaufleute<br />
mit den Schülern des Lycée<br />
René Cassin in Straßburg Marketingstrategien<br />
für ausgewählte deutsche und französische<br />
Backwaren und einige <strong>Kehl</strong>er Auszubildende<br />
nehmen jährlich an der „Mondial des<br />
Métiers“ teil, einer Messe für Berufsorientierung<br />
und Berufsbildung in Lyon. „Es laufen<br />
ständig grenzüberschreitende Aktionen“,<br />
fasst Michael Eberhardt zusammen, „ich<br />
könnte jeden Tag irgendetwas nennen“.<br />
Sozusagen die Kür der grenzüberschreitenden<br />
Ausbildung ist der doppelte Abschluss,<br />
den künftige Einzelhändler seit 2009 an den<br />
Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong> und dem Lycée<br />
Oberlin in Straßburg erwerben können: Sie<br />
besuchen den Unterricht auf beiden Seiten<br />
des Rheins und legen am Ende ihrer dualen<br />
Ausbildung die Prüfung zum Einzelhändler<br />
wie zum französischen „Bac Pro Commerce“<br />
ab. Für den Ausbildungsbetrieb bedeutet das<br />
zwar zunächst eine Einschränkung, weil die<br />
Jugendlichen mehr Zeit an der Schule verbringen<br />
als andere Auszubildende: „Die Betriebe<br />
leisten Pionierarbeit, weil sie voll bezahlen,<br />
die Azubis aber nur zur Hälfte dort sind“, sagt<br />
Bernd Rother. Letztendlich ist ein doppelt<br />
qualifizierter Lehrling aber ein Aushängeschild<br />
für das Unternehmen, ist sich der Lehrer<br />
an den Beruflichen Schulen sicher. Noch<br />
mehr profitieren die Schüler, die die doppelte<br />
Prüfung bestehen. „Wer die deutsch-französische<br />
Ausbildung macht, hinterlässt quasi<br />
eine Visitenkarte beim Betrieb“, meint Bernd<br />
Rother. Ein Absolvent habe beispielsweise bei<br />
einer Firma gelernt, die später eine Filiale in<br />
Frankreich eröffnete – und bekam dort den<br />
Job des Filialleiters. „Er hatte bewiesen, dass<br />
er mit der Doppelbelastung umgehen konnte“,<br />
erklärt Michael Eberhardt.<br />
Obwohl die duale Ausbildung, die Mischung<br />
aus Schulbesuch und praktischer Lehre in<br />
einem Betrieb, in Frankreich ebenso existiert<br />
wie in Deutschland, gebe es „einen Unterschied<br />
wie Tag und Nacht“ zwischen beiden<br />
Systemen, sagt der langjährige Rektor: „Hier<br />
steht bei der Ausbildung ganz klar der Betrieb<br />
im Vordergrund, dort gilt das Vertrauen<br />
in erster Linie der Schule.“ Wie wichtig es ist,<br />
neben den Fremdsprachenkenntnissen auch<br />
über solche Unterschiede in der Arbeits- und<br />
Ausbildungswelt des Nachbarlands Bescheid<br />
zu wissen, versuchen die Lehrer der BSK ihren<br />
Schülern ebenfalls zu vermitteln, sagt Michael<br />
Eberhardt: „<strong>Das</strong> ist unsere Aufgabe, ihnen<br />
das klar zu machen und das ist eine ewige<br />
Aufgabe.“<br />
Die Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong><br />
kooperieren mit sechs Partnerschulen<br />
in Frankreich:<br />
Jeden Tag laufen grenzüberschreitende<br />
Aktionen.<br />
>>
„Deutsche Lehrer sind viel lockerer“:<br />
Eine Grenzgängerin über ihre duale Ausbildung<br />
89<br />
Auf französische Käseproduzenten<br />
hat sich das Auenheimer<br />
Logistik-Unternehmen Nagel<br />
Albatros Speditions GmbH<br />
spezialisiert. Die Elsässerin<br />
Cyrielle Matterer macht dort<br />
ihre Ausbildung.<br />
Cyrielle Matterer<br />
Cyrielle Matterer aus Rountzenheim im Elsass,<br />
heute 23 Jahre alt, hatte schon früh<br />
eine Idee, welchen Beruf sie einmal ausüben<br />
könnte: Deutschlehrerin. Mit ihren Eltern<br />
sprach sie zu Hause Elsässisch,<br />
die Ferien verbrachte<br />
sie mit ihnen in Deutschland<br />
oder Österreich. Doch<br />
im Deutsch-Studium an der<br />
Universität in Straßburg<br />
merkte sie, dass die Arbeit<br />
mit Kindern doch nicht ganz<br />
ihre Sache war. Sie erwarb ihren<br />
Bachelor und wollte sich<br />
dann umorientieren. Bei der<br />
Berufsberatung sagte man<br />
ihr jedoch, dass sie mit 21 zu<br />
alt sei für eine Ausbildung in<br />
Frankreich. „Da habe ich beschlossen: Wenn<br />
man mich in Frankreich nicht will, gehe ich<br />
eben nach Deutschland“, sagt die Elsässerin.<br />
Sie machte einen Test, um herauszufinden,<br />
wo ihre beruflichen Interessen liegen,<br />
verschickte zehn Bewerbungen und einen<br />
Monat später stand fest: Cyrielle Matterer<br />
macht ihre Ausbildung bei der Nagel Albatros<br />
Speditions GmbH in Auenheim, Teil der<br />
international tätigen Nagel-Group mit europaweit<br />
11 000 Mitarbeitern, und besucht die<br />
Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong>.<br />
Inzwischen ist die 23-Jährige im dritten<br />
Lehrjahr, nach ihrem Abschluss darf sie sich<br />
„Kauffrau für Spedition und Logistik-Dienstleistung<br />
mit Zusatzqualifikation Französisch“<br />
nennen. Damit hat sie einen ähnlichen Weg<br />
eingeschlagen wie ihr Vater, der ebenfalls im<br />
Logistik-Bereich tätig und – genau wie ihre<br />
Mutter – ebenfalls ein Grenzgänger ist. An<br />
den Beruflichen Schulen ist sie als einzige<br />
Französin Teil einer 13-köpfigen Klasse, in<br />
der jeder die Zusatzqualifikation Französisch<br />
anstrebt. „Es gab schon Vorurteile“, erinnert<br />
sie sich an die ersten Schultage. Die Mitschüler<br />
hätten wohl gedacht, sie nehme den<br />
deutschen Auszubildenden einen Platz weg.<br />
„Aber dann haben alle schnell gemerkt, dass<br />
es gut passt“, sagt sie, und fügt schmunzelnd<br />
hinzu: „Außerdem brauchen sie kein Wörterbuch<br />
im Französisch-Unterricht,<br />
wenn ich dabei bin.“<br />
Ihre Erwartungen haben die<br />
Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong> – im<br />
positiven Sinne – nicht erfüllt.<br />
„In Frankreich hat man das<br />
Bild im Kopf, dass die Schule<br />
in Deutschland viel strenger<br />
ist“, sagt sie. „Ich war überrascht,<br />
denn tatsächlich sind<br />
die deutschen Lehrer viel<br />
lockerer als die in Frankreich,<br />
dort gibt es gar keinen persönlichen<br />
Kontakt zwischen Lehrern und<br />
Schülern.“ Die Lehrer in <strong>Kehl</strong> hülfen bei Fragen<br />
und Problemen, sogar Späße im Unterricht<br />
seien hin und wieder erlaubt. „Solange<br />
man respektvoll bleibt, ist alles in Ordnung.“<br />
Einer ihrer Lehrer habe einmal seine Tochter<br />
mit an die Schule gebracht, erzählt sie, und<br />
die Überraschung darüber ist ihr noch immer<br />
anzusehen: „So etwas würde es in Frankreich<br />
nicht geben.“<br />
>>
90<br />
Nicht nur die Berufsschule an sich, sondern<br />
das ganze Ausbildungssystem unterscheidet<br />
sich. Während Cyrielle Matterer immer<br />
abwechselnd einen Tag oder zwei Tage pro<br />
Woche die Beruflichen Schulen <strong>Kehl</strong> besucht<br />
und den Rest ihrer Ausbildungszeit bei der<br />
Nagel-Group verbringt, liegt der Schwerpunkt<br />
in Frankreich auf der Schule, die Praxisphase<br />
erfolgt als Praktikum im Block. „Da<br />
werden die Azubis ins kalte Wasser geworfen“,<br />
sagt die Elsässerin. Auch ihr Ausbilder,<br />
Yves Debruyne, hat diese Erfahrung mit<br />
französischen Praktikanten gemacht. 2012<br />
absolvierte ein Austauschschüler sein Praktikum<br />
in der rund 100 Mitarbeiter starken<br />
Niederlassung in Auenheim. „Er wusste zwar,<br />
was ich meine, wenn ich ihm einen Auftrag<br />
gegeben habe, aber er hatte Schwierigkeiten<br />
es umzusetzen. <strong>Das</strong> waren Welten im<br />
Vergleich zu unseren Azubis“, sagt er. Was<br />
den Wechsel zwischen Schule und Betrieb<br />
betrifft, halte er die deutsche Variante für<br />
die geschicktere: „Man kann besser mit den<br />
Azubis planen und der Stoff bleibt ihnen in<br />
Erinnerung, wenn nicht so lange Pause zwischen<br />
Theorie und Praxis ist.“<br />
Bei der Nagel Albatros Speditions GmbH ist<br />
Cyrielle nicht die einzige Französin. „Für die<br />
grenzüberschreitenden Geschäfte ist es immer<br />
wichtig, Mitarbeiter zu haben, die andere<br />
Sprachen sprechen“, sagt Yves Debruyne<br />
– gerade in dem Auenheimer Logistik-Unternehmen,<br />
das sich auf französische Käseproduzenten<br />
spezialisiert hat. „Unser Kundenstamm<br />
kommt zu 70 Prozent aus Frankreich,<br />
wir sprechen weitgehend Französisch mit<br />
den Kunden.“ Auch viele Mitarbeiter im<br />
Betrieb unterhielten sich grundsätzlich auf<br />
Französisch. <strong>Das</strong>s die Sprache zumindest<br />
verstanden werde, sei eine Voraussetzung<br />
für die Einstellung, sagt Yves Debruyne, Vorstellungsgespräche<br />
würden auf Deutsch und<br />
auf Französisch geführt.<br />
Auch wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen<br />
hat, möchte Cyrielle Matterer nach<br />
Möglichkeit weiterhin in Auenheim arbeiten.<br />
Sie hängt an der Grenzregion, in der<br />
sie aufgewachsen ist und „in der man die<br />
Vorteile beider Länder nutzen kann“. Sollte<br />
sie irgendwann doch wieder in Frankreich<br />
arbeiten wollen, seien ihre Chancen auf einen<br />
dortigen Arbeitsplatz inzwischen wieder<br />
gestiegen, glaubt sie. „Die Ausbildung<br />
in Deutschland hat in Frankreich einen sehr<br />
guten Ruf.“ Ihr Ausbilder Yves Debruyne ist<br />
ebenfalls davon überzeugt, dass sie keine<br />
Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben wird:<br />
„Unser Ziel ist es, Lehrlinge so auszubilden,<br />
dass sie nach drei Jahren loslegen können<br />
ohne den Gedanken ‚Schaffe ich das auch?‘<br />
– und zwar sowohl in Deutschland als auch<br />
in Frankreich.“<br />
Amine fand nach der Schule<br />
in Straßburg weder Job noch<br />
Ausbildungsplatz: Jetzt ist er<br />
glücklich, dass er bei der BAG ein<br />
Einstiegsqualifizierungspraktikum<br />
absolvieren kann, das ihm<br />
die Chance auf eine Ausbildung<br />
zum Facharbeiter eröffnet.<br />
Um der Jugendarbeitslosigkeit auf der französischen Rheinseite ebenso zu begegnen<br />
wie dem Fachkräftemangel auf der deutschen, startet die BAG (BSW Anlagenbau und<br />
Ausbildung GmbH) im Juli ein Projekt, bei dem junge arbeitslose Franzosen über ein<br />
Einstiegsqualifizierungspraktikum die Chance bekommen, in ein festes Ausbildungsverhältnis<br />
übernommen zu werden.<br />
Warum sich französische Jugendliche nicht so einfach exportieren lassen<br />
>><br />
„Noch“, sagt Bernd Wiegele, „noch haben wir<br />
genügend Bewerbungen in allen Bereichen“.<br />
Die Badischen Stahlwerke und ihre Anlagenbau<br />
und Ausbildung GmbH (BAG) profitieren<br />
von ihrem guten Ruf in der Region. „Trotzdem<br />
wollen wir schon jetzt etwas tun“, erklärt<br />
der BAG-Geschäftsführer, warum sich das<br />
Unternehmen auch um Auszubildende von<br />
der anderen Rheinseite bemüht. Sechs junge<br />
Franzosen haben im Juli ein zweitägiges<br />
Schnupperpraktikum absolviert und sind im<br />
Oktober für ein Einstiegsqualifizierungsprak-
Zahlreiche Partner und ein Jahr<br />
Vorbereitungszeit waren notwendig,<br />
bis Pierre und Romain<br />
in die Arbeitskleidung der BAG<br />
schlüpfen durften.<br />
tikum zurückgekehrt, das voraussichtlich<br />
bis Juli 2014 dauern wird. Ziel ist es, dass sie<br />
anschließend eine dreieinhalbjährige gestufte<br />
Ausbildung bis zur Fachkraft für Metalltechnik<br />
oder zum Facharbeiter durchlaufen.<br />
Während dieser Zeit sind sie verpflichtet, an<br />
einem sozialpädagogischen Betreuungsprogramm<br />
und an Stützunterricht teilzunehmen<br />
– in ihrer Freizeit.<br />
Amine (19), Mahmut (17), Dejvid (23), Pierre<br />
(18), Kévin (21) und Romain (20) haben nach<br />
dem Collège keinen Ausbildungsplatz und<br />
keinen Job gefunden, waren arbeitslos. Sie<br />
kommen alle aus Straßburger <strong>Stadt</strong>vierteln,<br />
die im Ruf stehen, sozial schwierig zu sein –<br />
da ist die Adresse schon das erste Hindernis<br />
bei einer Bewerbung. Trotzdem war es schwer,<br />
berichtet Aurore Wenger von der Maison<br />
de l’Emploi (Arbeitsagentur) in Straßburg,<br />
die Jungs als Kandidaten zu gewinnen. <strong>Das</strong><br />
Projekt, das von der Maison de l‘Emploi zusammen<br />
mit der BAG, der Bundesagentur<br />
für Arbeit, der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg,<br />
der Mission Locale, der Région Alsace und<br />
unterstützt von EU-Mitteln entwickelt wurde,<br />
heißt REVE – Traum. Ob sich der Traum<br />
von der abgeschlossenen Berufsausbildung<br />
und einem Arbeitsplatz im Anschluss erfüllt,<br />
„werden wir erst 2018 wissen“, sagt Bernd<br />
Wiegele. „Aber man muss mal anfangen, um<br />
der Region zeigen zu können, es funktioniert<br />
so – oder auch nicht.“<br />
Viereinhalb Jahre wird es dauern, bis<br />
die jungen Männer den Facharbeiter-<br />
Abschluss in der Tasche haben.<br />
Könnten sie besser Deutsch,<br />
könnten sie dem Unterricht<br />
in den Beruflichen<br />
Schulen in <strong>Kehl</strong> folgen,<br />
würde ein Jahr<br />
eingespart. Bernd<br />
Wiegele versteht<br />
nicht wirklich, warum<br />
das so sein<br />
muss: „Es müsste<br />
doch möglich sein,<br />
dass diese Jugendlichen<br />
ihre Prüfung in<br />
ihrer Muttersprache ablegen können“, meint<br />
er. So wie man auch die theoretische Führerscheinprüfung<br />
beispielsweise in Türkisch machen<br />
kann. <strong>Das</strong>s sich hier etwas ändert, dafür<br />
will er sich einsetzen. „Dann wäre eine riesige<br />
Hürde weg.“<br />
Die sechs jungen Männer mussten erst wieder<br />
lernen, sich an Regeln zu gewöhnen. Zum<br />
Beispiel daran, pünktlich am Arbeitsplatz einzutreffen.<br />
Während einer schon eineinhalb<br />
Stunden vor Arbeitsbeginn im Auto auf dem<br />
Parkplatz wartete – vor lauter Angst, zu spät<br />
zu kommen –, hatten andere das Problem,<br />
dass sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln<br />
zwar bis zum <strong>Kehl</strong>er Bahnhof, nicht aber bis<br />
zur BAG in die Weststraße gelangen. Die jungen<br />
Leute oder ihre Familien verfügten nicht<br />
über ausreichend Geld, um sich ein Fahrrad<br />
leisten zu können. Deshalb hat die Région Alsace<br />
den Jungs die Räder gekauft – die Hälfte<br />
des Kaufpreises wird ihnen in Raten vom<br />
Praktikantenlohn abgezogen, den sie während<br />
des Einstiegsqualifizierungspraktikums<br />
bekommen.<br />
„Mir gefällt es sehr gut hier“, sagt Amine und<br />
strahlt. „Wir machen hier richtige Arbeit und<br />
alle sind nett zu uns. Die machen uns nicht so<br />
einen Druck.“ Von sich aus wäre weder Amine<br />
noch Kévin auf die Idee gekommen, sich<br />
auf der deutschen Rheinseite nach einem<br />
Arbeitsplatz umzuschauen – über die Berater<br />
von der Mission Locale in ihrem <strong>Stadt</strong>viertel<br />
wurden sie auf das Projekt aufmerksam gemacht.<br />
Während Kévin schon etwas Deutsch<br />
kann, muss Amine die Sprache von Grund auf<br />
lernen. Sechs Wochen Deutsch-Kompaktkurs<br />
haben die sechs Jugendlichen bereits hinter<br />
sich, bis zum Ende ihrer Ausbildung bekommen<br />
sie weiterhin wöchentlich Deutsch-Stunden<br />
– „anwendungsbezogen“, sagt Bernd Wiegele,<br />
und finanziert von der Région Alsace. In<br />
der Werkstatt haben die Ausbilder Fotos von<br />
den wichtigsten Werkzeugen mit der deutschen<br />
Bezeichnung darunter aufgehängt.<br />
„Für die Jugendlichen war der Gedanke, in<br />
Deutschland zu arbeiten, beängstigend“,<br />
weiß Vincent Horvat von der Maison de<br />
91<br />
>>
92<br />
l’Emploi. Weder die Sprache, noch das System<br />
zu kennen, nicht wirklich zu wissen, worauf<br />
sie sich einlassen, mit administrativen<br />
Problemen konfrontiert zu sein, wie zum Beispiel<br />
dem, dass man ein Konto bei einer deutschen<br />
Bank benötigt – „das war alles nicht so<br />
einfach“. Doch das Versprechen, dass sie bei<br />
der BAG nicht nur eine Ausbildung machen<br />
können, sondern, wenn sie diese mit guten Ergebnissen<br />
abschließen, auch Aussicht auf einen<br />
unbefristeten Arbeitsvertrag haben, hat<br />
die Jungs im Projekt REVE wirklich träumen<br />
lassen. „Für uns ist das eine große Chance“,<br />
sind sich Kévin und Amine einig. Wenn alles<br />
gut läuft, könnte im September eine weitere<br />
Gruppe von französischen Jugendlichen<br />
ein Einstiegsqualifizierungspraktikum nach<br />
gleichem Muster beginnen – Vincent Horvat<br />
und Bernd Wiegele arbeiten daran. Auf jeden<br />
Fall wird jede Phase, welche die sechs Jungs<br />
durchlaufen, genau evaluiert. „Vielleicht<br />
kann man das als Modell weitertragen“, hofft<br />
Bernd Wiegele, vielleicht kann es ein Modell<br />
für andere Betriebe, ja für den gesamten<br />
Oberrhein werden.<br />
Ein Jahr intensiver Vorbereitung hat es bedurft,<br />
bis die erste Gruppe starten konnte.<br />
Erfahrungen, die zeigen, wie viele Hürden<br />
zu überwinden sind, bis französische Jugendliche<br />
eine Ausbildung in Deutschland<br />
beginnen können. 23 Prozent arbeitslose<br />
Jugendliche im Elsass, Betriebe, die keine<br />
oder nicht genügend Auszubildende finden<br />
in Baden – warum die Gleichung nicht aufgeht,<br />
liegt für Jean-Claude Haller von der<br />
Straßburger Industrie- und Handelskammer<br />
auf der Hand: Für elsässische Jugendliche ist<br />
Deutschland „Volksmusik, dm, Bierfest, <strong>Kehl</strong><br />
und vielleicht noch Offenburg“, sagt er beim<br />
Eurodistrikt-Forum über Zweisprachigkeit<br />
und berufliche Ausbildung am 5. November.<br />
Wer elsässische Jugendliche für eine Ausbildung<br />
auf der deutschen Rheinseite gewinnen<br />
wolle, müsse die Eltern sensibilisieren – deren<br />
Deutschland-Bild sei jedoch in den 1970erund<br />
1980er-Jahren verhaftet. Den elsässischen<br />
Grenzgänger sähen sie immer noch als<br />
Fließband- oder Hilfsarbeiter. Die Eltern sagten<br />
sich: „Wenn mein Junger nach Deutschland<br />
geht, hat er zwar einen Job aber keine<br />
Aufstiegschancen.“<br />
„Eigentlich müsste es einen kulturellen Vorspann<br />
geben“, findet auch Bernd Wiegele,<br />
eine Möglichkeit für die Jugendlichen, mehr<br />
über Deutschland und die Gepflogenheiten<br />
auf der anderen Rheinseite zu erfahren. Auch<br />
für ihn ist manche Erfahrung neu: „Die Jungs<br />
stehen auf, wenn der Chef reinkommt“, hat<br />
er festgestellt, und wundern sich, wenn er an<br />
der Werkbank „einfach so“ mit ihnen spricht.<br />
Dazu kommt, dass die betriebliche Ausbildung,<br />
der Lehrberuf im Allgemeinen, in Frankreich<br />
ein schlechtes Ansehen genießt, was selbst elsässische<br />
Politiker wie Regionalrats präsident<br />
Philippe Richert bedauern. Michaël Schmidt,<br />
Straßburger Gemeinderat zuständig für grenzüberschreitende<br />
Zusammenarbeit, berichtet<br />
von Inhabern florierender Handwerksbetriebe<br />
im Elsass, die trotz hoher Arbeitslosigkeit im<br />
eigenen Land keinen Nachfolger finden. „Die<br />
Jungen lassen sich lieber von einem Wachdienst<br />
anstellen, als eine Ausbildung in einem<br />
Beruf zu beginnen, bei der sie sich die Hände<br />
schmutzig machen.“<br />
Über viele Jahre hinweg hat sich die französische<br />
Regierung bemüht, möglichst<br />
viele Schülerinnen<br />
und<br />
Schüler bis zum<br />
Abitur (auch zum<br />
berufsbezogenen)<br />
zu führen. Inzwischen<br />
schließen 80<br />
Prozent jedes Jahrgangs<br />
ihre schulische<br />
Ausbildung<br />
mit der Reifeprüfung<br />
ab – bevorzugen<br />
die „formation<br />
d’excellence“ gegenüber<br />
einer klassischen<br />
Lehre. Nur 25 Prozent<br />
der elsässischen Jugendlichen<br />
lassen sich<br />
noch für Lehrberufe<br />
begeistern.<br />
Mahmut und Dejvid gehören zu<br />
den sechs Straßburger Jugendlichen,<br />
die über das Projekt<br />
REVE zu den BAG kamen. Den<br />
Deutschkurs für die jungen Männer<br />
finanziert die Région Alsace.<br />
Die wichtigsten Werkzeuge<br />
haben die Ausbilder fotografiert<br />
und mit ihren deutschen Namen<br />
an die Pinnwand geheftet.<br />
>>
Hochschule <strong>Kehl</strong><br />
Über das Wirtschaftsrecht, das Verfassungsrecht und sogar das Kommunalrecht hat<br />
das Europarecht Einzug gehalten in die Vorlesungen an der <strong>Kehl</strong>er Hochschule für Verwaltung.<br />
„Die Hochschule bildet in Sachen Europa aus und fort“, sagt Professor Gert<br />
Fieguth und verweist auf das Wahlpflichtfach Europa. Hieraus könnte sich ein Berufsfeld<br />
für die Hochschulabsolventen entwickeln: Immer mehr große Kreisstädte stellen<br />
Europa-Beauftragte ein. Zusammen mit der Universität Straßburg hat die Hochschule<br />
<strong>Kehl</strong> multinationale Seminare entwickelt, die Studierende aus verschiedenen Ländern<br />
mit Bezug zur Verwaltung zusammenbringen – auch mit Studenten aus Großbritannien,<br />
Togo und Schweden.<br />
93<br />
„Stark internationales Studienangebot“ an der <strong>Kehl</strong>er Hochschule<br />
Grenzüberschreitende Projekte und gemeinsame<br />
Exkursionen, Auslandsaufenthalte, Pflichtmodule<br />
an der Straßburger Universität und seit<br />
2012 ein gemeinsamer Studiengang mit dem<br />
Straßburger ITI-RI (Institut für Dolmetscher,<br />
Übersetzer und internationale Beziehungen):<br />
Wer an der <strong>Kehl</strong>er Hochschule für Verwaltung<br />
studiert, hat viele Möglichkeiten, die Kooperationen<br />
mit der Hochschullandschaft<br />
auf der anderen<br />
Rheinseite für sich zu nutzen.<br />
Die engste Zusammenarbeit<br />
besteht im Master-Studiengang<br />
„Management von<br />
Clustern und regionalen<br />
Netzwerken“ der <strong>Kehl</strong>er Hochschule<br />
und des Straßburger<br />
ITI-RI. Derzeit sind zehn Studenten<br />
in dem im September<br />
2012 angelaufenen Studiengang<br />
eingeschrieben, etwa<br />
zur Hälfte Deutsche, zur Hälfte<br />
Franzosen. Die meisten kommen aus Familien<br />
mit sowohl deutschem als auch französischem<br />
Elternteil. Die Entscheidung, aus<br />
dem Studiengang eine grenzüberschreitende<br />
Kooperation zu machen, habe gleich mehrere<br />
Gründe gehabt, wie Professor Hansjörg<br />
Drewello, Studiendekan und Verantwortlicher<br />
des grenzüberschreitenden Studiengangs auf<br />
deutscher Seite, sagt: Zum einen sei der Bedarf<br />
an grenzüberschreitenden Netzwerken<br />
seit der Grenzöffnung immens gestiegen,<br />
Professor Drewello<br />
zum anderen versprechen sich die beiden<br />
kooperierenden Hochschulen einen Synergie-Effekt.<br />
Die Universität Straßburg ist eine<br />
der größten Universitäten Frankreichs mit<br />
Exzellenz-Status. Die Unterrichtsmethoden<br />
an der französischen Universität bieten eine<br />
hohe Qualität an theoretischem Wissen, während<br />
wiederum die Hochschule <strong>Kehl</strong> bekannt<br />
dafür ist, eine hervorragende<br />
Ausbildung im Verwaltungsbereich<br />
mit einem markanten<br />
Teil an Berufspraxis zu leisten.<br />
Derzeit stehen die Chancen<br />
für die zukünftigen Absolventen,<br />
später eine Arbeitsstelle<br />
zu finden, sehr gut, ist<br />
Professor Hansjörg Drewello<br />
überzeugt. Die Qualifika tion,<br />
über die die Studierenden<br />
nach dem Abschluss verfügen,<br />
eröffne ihnen gleich in<br />
mehreren Ländern Zugang<br />
zum Arbeitsmarkt. Beispielsweise könnten<br />
sie dazu eingesetzt werden, Netzwerke in<br />
öffentlich-privater Kooperation zu gestalten<br />
und zu verwalten. Dem zugute komme<br />
der hohe internationale Bedarf an Cluster-<br />
Managern, was sich bereits heute im Praktikumsangebot<br />
für das vierte Semester niederschlägt.<br />
„Unternehmensnetzwerke bis hoch<br />
nach Rotterdam bieten unseren Studenten<br />
solche Plätze an, um sich den eigenen Nachwuchs<br />
zu ziehen“, erzählt der Studiendekan.<br />
>>
94<br />
Einen weiteren Master-Studiengang mit<br />
grenz übergreifender Ausrichtung – „European<br />
Administration“ – bietet die <strong>Kehl</strong>er<br />
Hochschule bereits seit mehreren Jahren<br />
an. Die Studenten besuchen unter anderem<br />
Pflichtmodule wie „European Public Policy“<br />
an der Universität Straßburg und darüber<br />
hinaus auch freiwillige Veranstaltungen,<br />
beispielsweise vergleichende Verwaltungsrechtswissenschaften,<br />
die auf der anderen<br />
Rheinseite angeboten werden.<br />
Außerdem gibt es an der 1971 gegründeten<br />
<strong>Kehl</strong>er Hochschule, an der derzeit 1020 Studierende<br />
eingeschrieben sind, die Möglichkeit,<br />
während des Studiums eine gewisse Zeit im<br />
Ausland zu verbringen, beispielsweise um ein<br />
dreimonatiges Praktikum zu machen. Dem<br />
Studierenden entstehen dadurch keine zeitlichen<br />
Nachteile, da die Praktikumszeit im Ausland<br />
auf den regulären Praxisblock angerechnet<br />
wird. Finanzielle Unterstützung können<br />
die Studenten in Form von Erasmus-Fördergeldern<br />
über die Europäische Union erhalten.<br />
Hinzu kommen einige Projekte an Hochschulen<br />
in Straßburg, die für alle <strong>Kehl</strong>er Studierenden<br />
geöffnet sind. So bietet das IEP<br />
Strasbourg (Institut für Politikwissenschaften)<br />
Projekte zu Fragen des grenzüberschreitenden<br />
Verkehrs und Transports in der Oberrheinregion<br />
an, das ITI-RI veranstaltet UN-Simulationen<br />
für Studierende beiderseits des Rheins.<br />
Darüber hinaus finden regelmäßig gemeinsame<br />
Studien fahrten der Universität Straßburg<br />
und der Hochschule <strong>Kehl</strong> zum Beispiel nach<br />
Brüssel statt. Durch diese Kooperationen<br />
kommen die deutschen und<br />
französischen Studierenden<br />
miteinander und der jeweils<br />
anderen Kultur in Kontakt. Für<br />
Professor Hansjörg Drewello<br />
ist dies besonders wichtig: Er<br />
stellt unter den Studierenden<br />
von beiden Rheinseiten noch<br />
einige Berührungsängste fest.<br />
Die Hochschule arbeite deshalb<br />
daran, diese Ängste stetig<br />
abzubauen. Die angebotenen<br />
Französischkurse seien<br />
immer gut besucht, hinzu komme ein großes<br />
Angebot an Exkursionen nach Straßburg sowie<br />
das mittlerweile stark internationale Studienangebot,<br />
sagt der Studiengangleiter.<br />
Geht es nach Professor Hansjörg Drewello,<br />
so wird die Zusammenarbeit mit Straßburg<br />
fortgesetzt und ausgebaut: „Grenzüberschreitende<br />
Kooperationen sind immer lohnenswert,<br />
gerade im Hinblick auf die konfliktreiche<br />
Vergangenheit, die wir in Europa im<br />
vergangenen Jahrhundert hatten.“ Derzeit<br />
seien die <strong>Kehl</strong>er und Straßburger Hochschulen<br />
dabei, gemeinsam mit der Westschweiz<br />
ein Forschungszentrum für Clustermanagement<br />
aufzubauen. Ziel dieser Forschungsgruppe<br />
soll die wirtschaftliche und politische<br />
Vernetzung der Oberrheinregion sein, damit<br />
auch einzelne Unternehmen von einem<br />
Synergie-Effekt profitieren können. Denn<br />
gerade auf internationaler Ebene sei das Bilden<br />
wirtschaftlicher Netzwerke noch sehr<br />
schwierig und gehe nur schleppend voran,<br />
meint der Studiendekan, der die Nähe zu<br />
Straßburg sehr schätzt, insbesondere was den<br />
französischen Einfluss auf die Gestaltung der<br />
Hochschule <strong>Kehl</strong> angeht. „Sie ist ein interessanter<br />
Mehrwert, der genutzt werden muss.“<br />
So ist bereits ein weiterer Master-Studiengang<br />
an der <strong>Kehl</strong>er Hochschule genehmigt,<br />
der die grenzüberschreitende Kooperation<br />
im Titel trägt: Der Master „Governance und<br />
Nachhaltigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit<br />
und der grenzüberschreitenden<br />
Kooperation“ ist als Fernstudium konzipiert<br />
und soll voraussichtlich 2014 anlaufen.<br />
Der französische Arbeitsminister<br />
Michel Sapin und seine deutsche<br />
Kollegin Ursula von der Leyen<br />
kommen extra nach <strong>Kehl</strong>, um<br />
die Servicestelle für deutschfranzösische<br />
Arbeitsvermittlung<br />
zu eröffnen.<br />
Die <strong>Kehl</strong>er Hochschule für<br />
Verwaltung bietet ihren Studierenden<br />
viele Möglichkeiten, die<br />
Kooperationen mit der Hochschullandschaft<br />
auf der Straßburger<br />
Rheinseite zu nutzen.<br />
>>
Grenzüberschreitende Fortbildung<br />
Die grenzüberschreitende Fortbildung – vor allem von Mitarbeitern von Gebietskörperschaften,<br />
Behörden und anderen staatlichen Einrichtungen am Oberrhein ist die Hauptaufgabe<br />
des 1993 gegründeten Euro-Instituts, das von deutschen und französischen<br />
Partnern getragen wird. Durch unzählige Fortbildungsveranstaltungen hat das Euro-<br />
Institut in den vergangenen 20 Jahren dazu beigetragen, dass sowohl die politischen<br />
Akteure als auch die Praktiker der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den Verwaltungen<br />
Vorurteile ab- und bikulturelles Verständnis aufbauen konnten. Durch seine<br />
Kompetenz in der Wissensvermittlung über die Strukturen in beiden Ländern, der Organisation<br />
und Moderation bikultureller Veranstaltungen sowie in der Erarbeitung zahlreicher<br />
Studien auf diesem Gebiet genießt das Euro-Institut heute europaweit großes Ansehen<br />
in europäischen Netzwerken und anderen Grenzregionen. Kooperationen bestehen auch<br />
mit dem Europarat, dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission.<br />
95<br />
Schon sehr früh hat das Euro-Institut durch maßgeschneiderte Seminarangebote die Kooperation<br />
zwischen deutschen und französischen Partnern erleichtert: So war das Seminar<br />
über die außerschulische Kinderbetreuung in beiden Ländern die Grundlage für den<br />
Austausch der Erzieher zwischen Kindertageseinrichtungen in <strong>Kehl</strong> und Illkirch-Graffenstaden.<br />
Mit Seminaren über Kulturpolitik und grenzüberschreitende Kulturprojekte<br />
sowie über die Gesundheitssysteme in Frankreich und Deutschland hat<br />
das Euro-Institut dazu beigetragen, den Weg für die Zusammenarbeit in diesen<br />
Bereichen vorzubereiten – um nur einige Beispiele zu nennen. Mit inzwischen<br />
etwa 150 Fortbildungs- und mehr als 270 Beratungstagen pro Jahr stößt das<br />
Euro-Institut mit seinen 13 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich zwölf<br />
Vollzeitstellen teilen, an seine Kapazitätsgrenzen.<br />
Während die Nachfrage nach Fortbildung bei Behörden und öffentlichen Einrichtungen<br />
ungebrochen hoch ist, läuft die Kooperation der Volkshochschule zwischen <strong>Kehl</strong> und<br />
Straßburg eher auf Sparflamme: Zwar werden Dozenten und Kursideen ausgetauscht und<br />
gegenseitig die Programme ausgelegt – gemeinsame Projekte gibt es jedoch derzeit keine.<br />
Arbeitsleben<br />
420 000 sozialversicherte Beschäftigte gibt es in der Ortenau und im Bezirk von Pôle de<br />
l’Emploi Straßburg, 150 000 davon auf der deutschen Rheinseite. Während die Arbeitslosenquote<br />
im Großraum Straßburg mehr als doppelt so hoch ist wie in der Ortenau, fehlen<br />
in deutschen Unternehmen vielfach Fachkräfte. 63 000 Grenzgänger gibt es im Elsass,<br />
dennoch geht ihre Zahl stetig zurück: In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der<br />
Arbeitnehmer aus dem Elsass in badischen Betrieben um 18 Prozent gesunken – obwohl<br />
der grenzüberschreitende Alltag leichter geworden ist. Fachleute auf beiden Rheinseiten<br />
gehen davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzt: Der Großteil der in den deutschen Betrieben<br />
verbliebenen Grenzgänger ist zwischen 40 und 60 Jahre alt; der Nachwuchs bleibt<br />
aus. In der Vergangenheit haben zahlreiche Grenzgänger in der industriellen Produktion<br />
gearbeitet, wo ein hohes Sprachniveau nicht gefordert war. Heute suchen die deutschen<br />
Betriebe Fachkräfte in Bereichen, in denen sehr gute Sprachkenntnisse unverzichtbar sind.<br />
Die 2013 eingerichtete Servicestelle für deutsch-französische Arbeitsvermittlung sowie<br />
15 Beraterinnen und Berater aus den Arbeitsverwaltungen und von den Sozialpartnern,<br />
die seit vielen Jahren am trinationalen Netzwerk Eures-T Oberrhein mitwirken, beraten<br />
>>
96<br />
Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Suche nach Arbeitskräften oder Arbeitsplätzen.<br />
Die Eures-T-Berater geben darüber hinaus Auskunft über den Arbeitsmarkt, die Lebensund<br />
Arbeitsbedingungen in beiden Ländern, beantworten Fragen zur Sozialversicherung<br />
oder zum Arbeits- und Steuerrecht und ergänzen dabei den Service, den die Grenzgänger-Beratungsstelle<br />
INFOBEST bietet. Beraten können jedoch alle grenzüberschreitenden<br />
Einrichtungen nur auf der Basis der bestehenden Rechtslage – und hier hemmen<br />
jahrzehntealte Abkommen die grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitnehmer oder<br />
erschweren den grenzüberschreitenden Arbeitsalltag.<br />
Gegen Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel:<br />
Die deutsch-französische Arbeitsvermittlung<br />
Anne François<br />
Franzosen, die sich vorstellen können, in<br />
Deutschland zu arbeiten, Deutsche, die bereit<br />
sind, auch in Frankreich zu arbeiten – das<br />
sind die Kunden der ersten Servicestelle Europas<br />
für grenzüberschreitende Arbeitsvermittlung,<br />
die im Februar 2013 feierlich<br />
von Bundesarbeitsministerin Ursula von der<br />
Leyen und dem französischen Arbeitsminister<br />
Michel Sapin in den Räumen der Arbeitsagentur<br />
<strong>Kehl</strong> eingeweiht wurde. Täglich setzen<br />
sich zwei deutsche und zwei französische<br />
Mitarbeiter mit Arbeitnehmerprofilen und<br />
Stellenangeboten von beiden Rheinseiten<br />
auseinander. Nach 200 Tagen betreuten sie<br />
bereits 230 Arbeitssuchende und hatten 121<br />
Menschen wieder zu Arbeit verholfen, 78 auf<br />
der deutschen Rheinseite, 36 auf der französischen<br />
und den Übrigen in der Schweiz,<br />
in Luxemburg und in Italien. 41 Arbeitssuchende<br />
hatte die Servicestelle direkt und<br />
erfolgreich bei neuen Arbeitgebern platziert.<br />
Ziel der deutsch-französischen Servicestelle<br />
ist es, Menschen in Arbeit zu bringen. Ganz<br />
egal, ob es sich um deutsche oder französische<br />
Arbeitssuchende handelt, wird versucht,<br />
sie in der Region Straßburg/Ortenau zu vermitteln,<br />
stellt Horst Sahrbacher, Vorsitzender<br />
der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit<br />
Offenburg, klar. „Wir zeigen die Möglichkeiten<br />
auf der deutschen Seite auf, aber auch<br />
im Elsass.“ Die Arbeitsvermittler müssen<br />
dafür den Arbeitsmarkt auf beiden Rheinseiten<br />
kennen. Sie müssen nicht nur die Funktionsweise<br />
verstehen, sondern auch wissen,<br />
„was macht der Industriemechaniker auf der<br />
deutschen und was auf der französischen<br />
Rheinseite“, erläutert Horst Sahrbacher. Eine<br />
Steue rungsfunktion sollen die Arbeitsvermittler<br />
dabei bewusst nicht übernehmen.<br />
„Die Profile sind ganz unterschiedlich, es<br />
kommen sowohl Handwerker, Verkäufer<br />
als auch Manager zu uns“, erklärt<br />
Anne François, die für die französi sche<br />
Arbeitsagentur Pôle de l’Emploi<br />
in der Arbeitsvermittlungsstelle<br />
arbeitet, „und sie kommen von<br />
überall aus dem Grenzgebiet,<br />
>>
Elke Phillips<br />
In den Räumen der Bundesagentur<br />
für Arbeit ist seit Februar<br />
die Servicestelle für deutschfranzösische<br />
Arbeitsvermittlung<br />
untergebracht.<br />
um nach einem Job zu suchen“. Die meisten<br />
hätten aus den Medien von der neuen Servicestelle<br />
erfahren und sich direkt gemeldet, weitere<br />
Arbeitssuchende hätten über andere Arbeitsvermittlungsstellen<br />
aus der Region den Weg<br />
nach <strong>Kehl</strong> gefunden, erklärt Elke Phillips, die<br />
als deutsche Mitarbeiterin bei der grenzüberschreitenden<br />
Vermittlungsstelle beschäftigt ist.<br />
Die deutschen Mitarbeiter sind bei der Arbeitsagentur<br />
angestellt, die französischen bei Pôle<br />
de l’Emploi. „Hier arbeiten zwei autonome<br />
staatliche Institutionen zusammen“, macht<br />
Horst Sahrbacher deutlich, „wir bieten einen<br />
gemeinsamen Service unter Wahrung aller<br />
nationalen rechtlichen Vorschriften“. Weil die<br />
EDV-Systeme nicht kompatibel sind, müssen<br />
die Arbeitsvermittler die Bewerber in beiden<br />
Systemen erfassen, alle Beratungsvermerke<br />
und alle Abmeldungen doppelt eingeben. „Jeder<br />
Vermittler hat zwei PC auf dem Schreibtisch<br />
stehen“, bedauert Horst Sahrbacher<br />
und setzt eine gemeinsame Datenbank ganz<br />
oben auf die Wunschliste. <strong>Das</strong>s die deutschen<br />
Mitarbeiter 41 Stunden pro Woche arbeiten,<br />
die französischen Kollegen 35 und die Feiertage<br />
nicht alle deckungsgleich sind, sind im<br />
Vergleich dazu vernachlässigbare Probleme.<br />
Seit dem Start des Services für grenzüberschreitende<br />
Arbeitsvermittlung Strasbourg/<br />
Ortenau im Februar 2013 konnten die deutschen<br />
und französischen Mitarbeiter statistisch<br />
betrachtet an jedem zweiten Tag einem<br />
Arbeitssuchenden einen Job verschaffen.<br />
Ferner werden im Durchschnitt rund 230<br />
Bewerber umfassend beraten. Eine deutliche<br />
Mehrheit der Arbeitnehmer stammt dabei aus<br />
Frankreich. Während die Arbeitslosenquote<br />
im Elsass 2012 bei etwa 9,5 – in Straßburg bei<br />
10,6 – Prozent lag, betrug sie in der Ortenau<br />
um die vier Prozent. Außerdem arbeiten seit<br />
Jahren mehr Elsässer in Baden als Badener<br />
im Elsass: Während aus Frankreich 23 000<br />
Arbeitnehmer täglich auf die deutsche Rheinseite<br />
pendeln, sind es nur rund 300 Badener,<br />
die ihren Arbeitsplatz im Elsass haben.<br />
Im Moment sieht es nicht danach aus, als<br />
könnte sich das Verhältnis in naher Zukunft<br />
umkehren: „In den nächsten 15 Jahren werden<br />
knapp 23 Prozent der Beschäftigten im<br />
Ortenaukreis in den Ruhestand gehen“, weiß<br />
Horst Sahrbacher, gleichzeitig sinke die Zahl<br />
der jungen Menschen, die eine Ausbildung<br />
beginnen, ebenfalls um 30 Prozent. Im Elsass<br />
nehme zwar die Zahl der älteren Menschen<br />
ebenfalls zu, dafür betrage der Anteil der<br />
jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung<br />
aber 33 Prozent, im Vergleich zu 26 Prozent<br />
im Ortenaukreis. Für den Arbeitsmarkt<br />
bedeute dies, dass auf der französischen<br />
Rhein seite ein ausreichendes Angebot an Arbeitskräften<br />
vorhanden sein werde, auf der<br />
deutschen Rheinseite kündige sich der Mangel<br />
bereits an.<br />
Um die Erwartungen der Arbeitnehmer und<br />
Arbeitgeber aus dem Nachbarland besser verstehen<br />
zu können, haben die zwei deutschen<br />
und zwei französischen Arbeitsvermittler<br />
an einem interkulturellen Training des Euro-<br />
Instituts teilgenommen. Unterschiede zwischen<br />
der deutschen und der französischen<br />
Arbeitswelt gibt es nämlich zuhauf. Schon die<br />
Bewerbungsunterlagen haben in beiden Systemen<br />
verschieden auszusehen: Ein ausführliches<br />
Arbeitszeugnis gibt es zum Beispiel in<br />
Frankreich nicht. Die Chance eines Kandidaten,<br />
ohne Arbeitszeugnis einen Job zu finden,<br />
ist in Deutschland jedoch eher gering. „Deshalb<br />
ist es sehr wichtig, die deutschen Arbeitgeber<br />
über die französische Vorgehensweise<br />
zu informieren“, erklärt Anne François. Auch<br />
Bewerbungsfotos sind in Frankreich nicht üblich:<br />
„Wenn man französische Arbeitnehmer<br />
nach einem Bewerbungsfoto fragt, kommen<br />
sie oft mit einem Passfoto oder einem ausgeschnittenen<br />
Ferienfoto wieder“, berichtet Elke<br />
Phillips lächelnd. „Dann raten wir ihnen, bei<br />
einem Fotografen in Deutschland ein professionelles<br />
Bewerbungsfoto machen zu lassen.“<br />
Einmal vermittelt, ist der Kulturschock für die<br />
französischen Arbeitnehmer in der deutschen<br />
Arbeitswelt nicht mehr allzu groß: Dank eines<br />
von Pôle de l’Emploi organisierten „Ortenau-<br />
Workshops“ wissen sie schon vor Arbeitsbeginn<br />
in etwa, was auf sie zukommt. „Viele<br />
haben auch schon vorher Arbeitserfahrung<br />
97<br />
>>
98<br />
in Deutschland gesammelt“, berichtet Anne<br />
François. Sprachlich gebe es allerdings manchmal<br />
Schwierigkeiten, denn selbst wenn das nötige<br />
Sprachniveau von dem gesuchten Job abhänge,<br />
sei eine solide sprachliche Grundlage<br />
auf jeden Fall notwendig. Wer beide Sprachen<br />
fließend beherrscht, habe einen großen Vorteil:<br />
„<strong>Das</strong> macht einen Kandidaten in der Grenzregion<br />
sehr attraktiv“, sagt Anne François, viele<br />
Unternehmen aus verschiedenen Bereichen<br />
seien an solchen Bewerbern interessiert.<br />
Mit den registrierten Arbeitssuchenden halten<br />
die Vermittler regelmäßig direkten Kontakt<br />
– per Telefon, E-Mail oder im persönlichen<br />
Gespräch. Da die zu betreuende Arbeitnehmerzahl<br />
im Vergleich zu einer normalen Arbeitsvermittlungsstelle<br />
niedriger ist, haben<br />
die deutschen und französischen Vermittler<br />
die Möglichkeit, den einzelnen Bewerbern individuell<br />
mehr Zeit zu widmen. „Der Kontakt<br />
zu den Menschen ist direkter und intensiver“,<br />
sagt Vermittlerin Elke Phillips. Außerdem<br />
habe die Arbeit in der deutsch-französischen<br />
Servicestelle einen weiteren, entscheidenden<br />
Vorteil, meint ihre Kollegin Anne François: „Die<br />
Motivation der grenzüberschreitenden Kandidaten<br />
ist riesengroß.“<br />
>><br />
Ein Gewinn für beide Seiten: Ein junger Straßburger lernt in Kittersburg<br />
Ein <strong>Kehl</strong>er Unternehmen, das die Vorteile<br />
des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes<br />
in der Region sehr schätzt, ist die auf<br />
Sanitär- und Heizungsanlagen sowie erneuerbare<br />
Energien spezialisierte Firma<br />
Egg in Kittersburg: Drei ihrer elf Mitarbeiter<br />
kommen aus dem Elsass. „Wir sind<br />
viel in Frankreich beschäftigt“, sagt Geschäftsführer<br />
Klaus Egg, „deshalb haben<br />
wir schon 1987 erstmals Elsässer eingestellt“.<br />
Bei seinen Mitarbeitern lege er Wert<br />
auf „das Menschliche, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit,<br />
Arbeitswille“ – die Nationalität<br />
hingegen spiele keine Rolle. Aufgrund seiner<br />
guten Erfahrungen hat der Firmenchef<br />
im Juli einen weiteren jungen Franzosen<br />
eingestellt, den die <strong>Kehl</strong>er Servicestelle für<br />
grenzüberschreitende Arbeitsvermittlung<br />
zu ihren erfolgreich vermittelten Arbeitnehmern<br />
zählt.<br />
Der 19-jährige Gaetan Kuhn nimmt an einem<br />
Programm der AFPA Alsace teil, dem<br />
Verband für berufliche Erwachsenenbildung<br />
im Elsass. Dabei erwerben junge<br />
Elsässer den französischen Elektriker-<br />
Abschluss und absolvieren anschließend<br />
in einem deutschen Betrieb sowie bei der<br />
Berufsschule und der Gewerbeakademie<br />
in Offenburg eine duale Ausbildung. Dem<br />
Ausbildungsbetrieb werden vom Partner<br />
der AFPA, der Bundesagentur für Arbeit,<br />
50 Prozent des Arbeitnehmerbruttogehalts<br />
sowie die Lehrgangskosten erstattet.<br />
Im Gegenzug bietet das Unternehmen dem<br />
Arbeitnehmer einen unbefristeten Arbeitsvertrag.<br />
„Wir haben Schwierigkeiten, qualifizierte<br />
Fachkräfte zu finden und drüben<br />
stehen die Jugendlichen ohne Ausbildung<br />
da“, sagt Klaus Egg, „deshalb ist dieses<br />
Programm für beide Seiten sinnvoll“.<br />
Gaetan Kuhn, der in Straßburg wohnt,<br />
kann sich noch entscheiden, ob er sich bei<br />
der Ausbildung zum Anlagenmechaniker<br />
in Kittersburg auf den Bereich Sanitärund<br />
Heizungstechnik oder erneuerbare<br />
Energien spezialisieren will, beide Möglichkeiten<br />
bietet ihm die Firma Egg. Sprachlich<br />
sei er froh, im Betrieb hauptsächlich an<br />
der Seite eines französischen Kollegen zu<br />
arbeiten, sagt er: „<strong>Das</strong> ist learning by doing.“<br />
Deutsche Fachbegriffe lerne er nach<br />
und nach – was er nicht versteht, übersetzen<br />
die anderen Mitarbeiter für ihn. Auch<br />
habe er festgestellt, dass in Deutschland<br />
manche Arbeiten anders ausgeführt werden:<br />
„<strong>Das</strong> ist alles sehr genau, jedes Detail<br />
ist wichtig“, meint Gaetan Kuhn, und sein<br />
Chef fügt ein erklärendes Beispiel hinzu:<br />
„Auf gerade verlaufende Rohrführungen<br />
wird in Frankreich nicht unbedingt Wert<br />
gelegt, schräge Anschlüsse kommen bei<br />
uns hingegen gar nicht in Frage.“<br />
Klaus Egg (rechts) beschäftigt in<br />
seiner Firma in Kittersburg bereits<br />
seit 1987 Elsässer. Seit Juli<br />
zählt auch Gaetan Kuhn dazu.
BSW: Langfristige Personalplanung auch über die Landesgrenze hinaus<br />
Wenn die Badischen Stahlwerke<br />
Fachkräfte suchen, schaltet das<br />
Unternehmen auch Anzeigen auf<br />
der französischen Rheinseite –<br />
allerdings in deutscher Sprache.<br />
Die Badischen Stahlwerke (BSW) kooperieren<br />
mit Schulen in Straßburg und finanzieren eine<br />
private Ingenieursschule mit. <strong>Das</strong> Unternehmen<br />
und seine Anlagenbau<br />
und Ausbildung GmbH (BAG)<br />
stellen sich auf den Berufsbildungsmessen<br />
in Straßburg<br />
und Colmar vor; wenn Fachkräfte<br />
gesucht werden, schalten<br />
die BSW auch Anzeigen in<br />
französischen Zeitungen. Allerdings<br />
in deutscher Sprache.<br />
Fachkräfte, vor allem Ingenieure,<br />
sind Mangelware<br />
in Deutschland, doch Mindestkenntnisse<br />
in Deutsch<br />
sind unverzichtbar, weiß Personalchef Torsten<br />
Berger aus Erfahrung. Menschen aus<br />
18 Nationen arbeiten bei den BSW – einige<br />
davon haben einen Teil ihres Studiums an einer<br />
deutschen Universität absolviert. 1989<br />
gehörten 110 Grenzgänger aus dem Elsass<br />
zur Stammbelegschaft der BSW, heute sind<br />
es noch 70 von insgesamt mehr als 850 Mitarbeitern,<br />
sagt Torsten Berger. Ein Gutteil der<br />
Grenzgänger ist bereits in Rente gegangen,<br />
bei anderen steht der Ruhestand kurz bevor.<br />
„Da waren viele Meister dabei.“ Heute sind<br />
die Grenzgänger eher unter den Hilfskräften<br />
Michel Hamy<br />
zu finden – ein Umstand, den Michel Hamy,<br />
Technischer Geschäftsführer bei den BSW und<br />
selber Grenzgänger, „sehr, sehr traurig“ findet.<br />
In Deutschland gebe es einen<br />
hohen Bedarf an Fachkräften<br />
und Ingenieuren, in Frankreich<br />
eine hohe Arbeitslosigkeit,<br />
„aber das Elsass ist nicht<br />
vorbereitet“. Ohne Deutsch-<br />
Kenntnisse „haben Sie in<br />
Mittelstands-Firmen keine<br />
Chance“, weiß Michel Hamy<br />
auch von Geschäftsführern<br />
anderer deutscher Unternehmen.<br />
<strong>Das</strong> Elsass und Baden<br />
„werden nicht als gemeinsame<br />
Wirtschafts region gesehen“, bedauert<br />
Bernd Wiegele, Geschäftsführer der BAG.<br />
„Wir wissen zu wenig voneinander.“<br />
Der Versuch, eine deutsch-französische Meisterausbildung<br />
zu installieren, ist mehr oder<br />
weniger an den Unterschieden im System gescheitert.<br />
Französischen Jugendlichen, die in<br />
Frankreich auf dem beruflichen Gymnasium<br />
ihr Fachabitur gemacht hatten, „war es schwer<br />
zu vermitteln, dass sie in Deutschland wieder<br />
in die Berufsschule müssen“, hat Bernd Wiegele<br />
festgestellt. Einer von zehn Teilnehmern<br />
hat es am Ende zum Meister geschafft. „<strong>Das</strong><br />
deutsche System der dualen Ausbildung ist<br />
perfekt“, sagt der Franzose Michel Hamy. Die<br />
französischen Jugendlichen hätten im Gegensatz<br />
zu ihren deutschen Altersgenossen mit 18<br />
oder 19 Jahren keinerlei Praxiserfahrung.<br />
Die BSW engagieren sich seit Jahren in der<br />
ECAM Strasbourg-Europe, einer privaten<br />
technischen Hochschule, direkt in der Ausbildung<br />
junger Studenten des Ingenieurwesens.<br />
Seit Juni ist Michel Hamy der neue<br />
Präsident. „Wir sind als Stahlindustrie nicht<br />
sexy“, sagt der Geschäftsführer, dennoch<br />
wissen die BSW, was sie zu bieten haben: Einer<br />
ECAM-Studentin hat das Unternehmen<br />
99<br />
>>
100<br />
angeboten, ihre Diplom-Arbeit in den USA<br />
zu schreiben, auch Aufenthalte in Mexiko<br />
oder Australien haben die BSW angehenden<br />
Ingenieuren schon ermöglicht. Michel Hamy<br />
nimmt junge Ingenieure mit auf Auslandsreisen,<br />
„um die Attraktivität des Berufes zu<br />
zeigen“. Mehrsprachige Mitarbeiter mit interkulturellen<br />
Fähigkeiten sind für das Unternehmen<br />
ein Gewinn.<br />
Studenten und Auszubildende werden zudem<br />
mit zusätzlichen Angeboten unterstützt wie<br />
Teamtraining, Unterweisung in Präsentationstechnik,<br />
Training für freie Rede, Wiederholung<br />
des Unterrichtsstoffs aus der Berufsschule<br />
für schwächere Schulabgänger,<br />
Sprachkurse. Ziel all dieser Aktionen ist zum<br />
einen die langfristige Personalentwicklung,<br />
zum andern geht es darum, die qualifizierten<br />
Fachkräfte an das Unternehmen zu binden,<br />
stellt Torsten Berger klar. 40- bis 45-jährige<br />
Betriebszugehörigkeit ist bei den BSW eher die<br />
Regel als die Ausnahme – von vielen der rund<br />
1400 Mitarbeitern in den zwölf zur Firmengruppe<br />
der BSW gehörenden Unternehmen<br />
„hat der Großvater schon hier gearbeitet“, weiß<br />
der Personalchef. Die Fluktuation ist gering,<br />
„wer hier ist, hat gute Entwicklungschancen“.<br />
Damit das auch bei der sogenannten „Generation<br />
Y“ so bleibt, für die nicht nur gute<br />
Bezahlung, sondern auch ausreichend Freizeit<br />
die Lebensqualität bestimmt, beschäftigen<br />
die BSW eine Gesundheitsmanagerin.<br />
Die klärt nicht nur über gesunde Ernährung<br />
auf, die Auszubildenden kochen auch mal<br />
gemeinsam oder fahren für einen Lehrgang<br />
eine Woche lang zusammen in den Schwarzwald<br />
– in ein Gebiet, wenn möglich, gänzlich<br />
ohne Handy-Empfang.<br />
Hemmnis für den grenzenlosen Arbeitsmarkt:<br />
Grenzgänger-Abkommen „nicht mehr zeitgemäß“<br />
Bernhard Honauer, Geschäftsführer<br />
von Press Control<br />
(rechts), würde französische<br />
Mitarbeiter wie den elsässischen<br />
Ingenieur Guy Spohr gerne<br />
genauso einsetzen wie deutsche<br />
– doch das Grenzgänger-<br />
Abkommen setzt nicht mehr<br />
zeitgemäße Schranken.<br />
>><br />
Techniker, Ingenieure, Projektplaner: Bernhard<br />
Honauer, Geschäftsführer von Press Control,<br />
hat Mühe die offenen Stellen in der Firma mit<br />
deutschen Bewerbern zu besetzen. Deshalb<br />
gibt das Unternehmen seine Jobangebote<br />
auch an die Servicestelle für deutsch-französische<br />
Arbeitsvermittlung, deshalb sucht der<br />
Geschäftsführer Ingenieure auch mit Stellenausschreibungen<br />
auf der französischen<br />
Rheinseite.<br />
Vier von 42 Mitarbeitern von Press Control<br />
sind Franzosen – alle sind Elsässer, Verständigungsprobleme<br />
gibt es kaum. Die Schwierigkeiten<br />
mit der Beschäftigung französischer<br />
Techniker liegen für Bernhard Honauer auf<br />
einem ganz anderen Gebiet: Ihn – und seine<br />
französischen Mitarbeiter – ärgert das<br />
deutsch-französische Grenzgänger-Abkommen.<br />
„<strong>Das</strong> ist nicht mehr zeitgemäß.“ Ein französischer<br />
Mitarbeiter, der in Frankreich wohnt,<br />
zahlt seine Lohn- oder Einkommenssteuer in<br />
Frankreich. Allerdings gilt das nur so lange, wie<br />
er nicht mehr als 45 Tage im Jahr außerhalb<br />
der Grenzzone eingesetzt ist. Wer für seinen<br />
Betrieb häufiger Montage- oder Wartungsarbeiten<br />
in anderen Teilen der Bundesrepublik<br />
oder in anderen europäischen Ländern ausführt,<br />
der verliert den Grenzgängerstatus und<br />
muss seine Steuern in Deutschland bezahlen.<br />
Für die Betroffenen wird das teuer – die<br />
Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern zahlt in<br />
Deutschland im Regelfall fast doppelt so viel<br />
Einkommenssteuer wie in Frankreich. Der Franzose,<br />
der in Deutschland besteuert wird, aber<br />
in Frankreich lebt, muss zusätzlich die lokalen<br />
Steuern vor Ort entrichten. Größter Brocken<br />
ist die Taxe d’habitation, die Wohnsteuer, die<br />
von Hausbesitzern wie von Mietern zu zahlen<br />
ist und mehrere Tausend Euro im Jahr ausmachen<br />
kann. Bernhard Honauer hat deshalb<br />
Verständnis, wenn die französischen Mitarbeiter<br />
darauf achten, dass sie die 45-Tage-<br />
Regelung einhalten. Für das Unternehmen ist<br />
es jedoch problematisch: „Ich würde französische<br />
Mitarbeiter gerne genauso einsetzen wie<br />
die deutschen“, sagt der Geschäftsführer.
Grenzgänger-Abkommen: Alle sechs Monate geht ein Brief ans Finanzamt<br />
„Ich kann Ihnen sagen, das war sehr viel Geld“:<br />
Michel Hamy, seit 2004 Technischer Geschäftsführer<br />
bei den Badischen Stahlwerken (BSW),<br />
hat seine ganz persönlichen Erfahrungen mit<br />
dem Grenzgänger-Abkommen gemacht, als<br />
das <strong>Kehl</strong>er Finanzamt vor einigen Jahren zur<br />
Kontrolle kam. Auch drei Ingenieure, die beruflich<br />
viel reisen mussten, waren betroffen.<br />
„Wir haben die 45-Tage-Regelung sehr gut<br />
gelernt“, erklärt der Geschäftsführer, der damals<br />
150 bis 160 Tage im Jahr unterwegs war –<br />
meist außerhalb der Grenzzone. Bei der nächsten<br />
Kontrolle, fünf Jahre später, sei auch der<br />
Samstag als Arbeitstag gezählt worden – „da<br />
hat es mich noch einmal getroffen“. Er wollte<br />
daraufhin seine Privilegien als Grenzgänger<br />
aufgeben und grundsätzlich in Deutschland<br />
steuerpflichtig werden – doch das ließ die<br />
französische Finanzverwaltung nicht zu.<br />
Seither beschäftigen die BSW zwei Wirtschaftsprüfer,<br />
einen deutschen und einen<br />
französischen, die das Unternehmen beraten.<br />
Alle sechs Monate geht ein Brief ans Finanzamt,<br />
um nachzufragen, ob es in Sachen<br />
Grenzgänger-Abkommen irgendwelche Änderungen<br />
gegeben hat.<br />
101<br />
70 000 grenzüberschreitende Beratungsgespräche in 20 Jahren<br />
70 000 Menschen, Franzosen und Deutsche,<br />
die einen grenzüberschreitenden Alltag gelebt<br />
haben oder sich darin versuchen wollten,<br />
hat die deutsch-französische Beratungsstelle<br />
INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg seit ihrer<br />
Gründung 1993 beraten. In den Anfragen,<br />
die sich in den vergangenen Jahren bei mehr<br />
als 4000 jährlich stabilisiert haben, spiegeln<br />
sich die aktuellen Probleme der Grenzgänger<br />
wider. Waren es in den 90er-Jahren vermehrt<br />
deutsche Staatsbürger, die sich wegen eines<br />
avisierten Umzugs nach Frankreich beraten<br />
ließen, hat sich diese Situation seit der<br />
Jahrtausendwende verändert: Seither ziehen<br />
deutlich mehr Menschen von der französischen<br />
auf die deutsche Rheinseite um.<br />
Die Rehfus-Villa beherbergt seit<br />
20 Jahren grenzüberschreitende<br />
Einrichtungen, die dazu beitragen,<br />
den Menschen im Grenzgebiet<br />
den deutsch-französischen<br />
Alltag zu erleichtern.<br />
In Krisenzeiten ist das INFOBEST-Team<br />
als Berater in Sachen Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit<br />
sehr gefragt, auch Sozialversicherungsfragen,<br />
Kinder-, Erziehungs- oder<br />
Elterngeld sind Themen, bei denen sich für<br />
Menschen, die ihren Arbeitsplatz im einen,<br />
ihren Wohnort aber im anderen Land haben,<br />
bisweilen immer noch komplizierte Fragen<br />
stellen. Bereits seit vielen Jahren übersteigt<br />
der Anteil der französischen Ratsuchenden<br />
den der deutschen bei weitem. <strong>Das</strong> liegt<br />
einfach darin begründet, dass viel mehr<br />
Menschen, die im Elsass wohnen, auf der<br />
deutschen Rheinseite arbeiten, als dies umgekehrt<br />
der Fall ist.<br />
>>
Wirtschaft<br />
102<br />
Die wirtschaftlichen Verflechtungen über die Grenze hinweg sind vielfältig; die Wege,<br />
welche die Unternehmen wählen, unterschiedlich: Während Firmen wie der Wohnmobil-Hersteller<br />
Bürstner im <strong>Kehl</strong>er Hafen und in Wissembourg produzieren, hat auch<br />
die Actimage GmbH (IT-Lösungen) neben der Dependance in der <strong>Kehl</strong>er Kaserne eine<br />
weitere in Straßburg. Die Dalim Software GmbH ist in Kellerräumen der Straßburger<br />
Universität entstanden und agiert heute von <strong>Kehl</strong> aus weltweit; die Sparkasse<br />
Hanauer land kooperiert mit der Caisse d’Epargne d’Alsace, die Volksbanken in der<br />
Region betreuen Kunden gemeinsam mit der Banque Populaire d’Alsace.<br />
Ein weiteres Beispiel für grenzüberschreitende Verflechtungen ist die Firma Optronis:<br />
<strong>Das</strong> Unternehmen, das als Spin-Off einer französischen Forschungsgruppe der Uni<br />
Straßburg entstanden ist, entwickelt seit den 80er-Jahren Streakkameras. Heute sind<br />
Streakkameras, die kurze optische Impulse messen und in der Grundlagenforschung<br />
eingesetzt werden und Highspeed-Videokameras, die bis zu 1000 Bilder pro Sekunde<br />
aufnehmen und schnell laufende Produktionsprozesse sichtbar machen können, die<br />
beiden Standbeine der Firma. Mitarbeiter und Praktikanten von Optronis kommen<br />
häufig aus dem Umfeld der Straßburger Universität. <strong>Das</strong> Unternehmen war bis Mitte<br />
2013 in der <strong>Kehl</strong>er Honsellstraße untergebracht. Inzwischen hat Optronis seinen<br />
Neubau in der Ludwigstraße im Gebiet des <strong>Kehl</strong>er Hafens bezogen. Bei der von der<br />
<strong>Kehl</strong>er Wirtschaftsförderung begleiteten Standortsuche ging es Geschäftsführer Patrick<br />
Summ vor allem um eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr nach<br />
Straßburg und Offenburg.<br />
Bei der Firma Nußbaum kommen<br />
von 500 Mitarbeitern 200 aus<br />
dem Elsass. Ohne sie, sagt Firmen -<br />
chef Hans Nußbaum, wäre das<br />
schnelle Wachstum des Unternehmens<br />
nicht möglich gewesen.<br />
>><br />
Beim Hebebühnen-Hersteller Nußbaum in Bodersweier kommen von 500 Mitarbeitern<br />
200 aus dem Elsass. Darunter seien gebürtige Elsässer, Franzosen aus Zentralfrankreich<br />
und Franzosen aus den Maghreb-Ländern, berichtet Firmenchef Hans Nußbaum.<br />
„Wir sind dankbar und froh über diese Mitarbeiter – ohne sie wäre unser schnelles<br />
Unternehmenswachstum nicht<br />
möglich gewesen.“ Auch Hans<br />
Nußbaums Sekretärin und die<br />
seines Sohnes sind Französinnen.<br />
Die Kinder der französischen<br />
Mitarbeiter absolvierten zwar<br />
Praktika im Betrieb, um Ausbildungsplätze<br />
bewerben sie sich<br />
jedoch nicht – zu groß sind die<br />
Unterschiede in der Ausbildung,<br />
schätzt Hans Nußbaum. Unter<br />
Von 4282 Beschäftigten bei den Firmen im<br />
<strong>Kehl</strong>er Hafen kommen 683 aus Straßburg<br />
und dem Elsass. Bei der Hafenverwaltung<br />
selber arbeitet bislang nur ein Franzose als<br />
Umschlagsarbeiter. Schreibt die Hafenverwaltung<br />
eine Stelle aus, so geschieht das aktuell<br />
nur in der Ortenau.<br />
den 50 Lehrlingen der Otto Nußbaum GmbH ist seit dem 26. August ein französischer<br />
Jugendlicher – und der ist über private Beziehungen ins Unternehmen gekommen.<br />
Seine theoretische Ausbildung macht er in Mulhouse in größeren Blöcken – das Lehrlingsgehalt<br />
bezahlt in dieser Zeit die Région Alsace. Nach zwei Jahren bekommt er<br />
in Frankreich seinen Abschluss. Allerdings einen, der in Deutschland nicht anerkannt<br />
wird. Um sein Facharbeiter-Zeugnis zu bekommen, müsste der französische Jugendliche<br />
seine Ausbildung um eineinhalb Jahre verlängern und in dieser Zeit die deutsche<br />
Berufsschule besuchen. Hans Nußbaum hofft nun, dass die Industrie- und Handelskammer<br />
– vorausgesetzt, dass der junge Mann gute Leistungen erbringt – eine Ausnahme<br />
zulässt.
Die älteste grenzüberschreitende Liaison:<br />
Die Kooperation der Rheinhäfen <strong>Kehl</strong> und Straßburg<br />
Von der breiten Öffentlichkeit ziemlich unbemerkt<br />
arbeiten die Rheinhäfen <strong>Kehl</strong> und<br />
Straßburg seit 62 Jahren grenzüberschreitend<br />
zusammen: geräuschlos und einmütig.<br />
Seit das Land Baden-Württemberg und<br />
der vom französischen Staat ermächtigte<br />
Straßburger Hafen (Port Autonome de<br />
Strasbourg) am 19. Oktober 1951 das <strong>Kehl</strong>er<br />
Hafenabkommen unterzeichnet und damit<br />
bestimmt haben, dass der Verwaltungsrat<br />
der <strong>Kehl</strong>er Hafenverwaltung paritätisch mit<br />
deutschen und französischen Mitgliedern<br />
besetzt werden muss, wurden dem Gremium<br />
mehr als 2000 Vorschläge der <strong>Kehl</strong>er Hafen-<br />
Direktion zur Entscheidung<br />
vorgelegt. Alle Beschlüsse<br />
wurden einstimmig gefasst.<br />
Im Straßburger Hafenrat,<br />
wo drei deutsche Vertreter<br />
sitzen, ist es nicht anders:<br />
nur einstimmige Beschlüsse.<br />
Die drei deutschen Mitglieder<br />
im Straßburger Hafenrat<br />
verfügen ebenso über volles<br />
Stimmrecht wie die drei<br />
Straßburger Mitglieder im<br />
<strong>Kehl</strong>er Hafenrat. Und nicht<br />
nur das: „Jeder kann dem anderen<br />
in alle Geschäftsvorfälle sehen, wenn<br />
er will. Jeder kann die Gewinn- und Verlustrechnung,<br />
alle Unterlagen einsehen“, erklärt<br />
der <strong>Kehl</strong>er Hafendirektor Karlheinz Hillenbrand.<br />
Was normalerweise unter das Stichwort<br />
Geschäftsgeheimnis fällt, wird in den<br />
Sitzungen der Hafenräte offen besprochen.<br />
Über die Jahre ist ein „enormes Vertrauensverhältnis“<br />
gewachsen – unabhängig von den<br />
Personen, welche die Ratssitze innehatten.<br />
Konkurrenzdenken ist allen Beteiligten fremd:<br />
„Es sind die Unternehmen, die sich Konkurrenz<br />
machen, nicht die Hafenverwaltungen.“<br />
Die sind nach Aussagen von Karlheinz Hillenbrand<br />
eher darauf aus, sich zu ergänzen<br />
und sich zu unterstützen, wenn es Ausfälle<br />
Karlheinz Hillenbrand<br />
gibt. Technische Pannen oder kritische Situationen<br />
an Wochenenden, wenn Schiffe, die<br />
beladen werden müssen, zu spät eintreffen.<br />
Die werden dann dort beladen, wo noch Mitarbeiter<br />
des Hafens zur Verfügung stehen.<br />
„Es ist wichtig, dass wir gewisse Kapazitäten<br />
vorhalten.“ Preisabsprachen im Containergeschäft<br />
gibt es nicht, sie würden sich, sagt der<br />
<strong>Kehl</strong>er Hafendirektor, auch gar nicht lohnen,<br />
„weil der Hafen in diesem Bereich nicht viel<br />
Geld verdienen kann“. Stattdessen suchen<br />
die beiden Häfen aktuell lieber nach einer<br />
gemeinsamen Lagerfläche für Leercontainer.<br />
Für Karlheinz Hillenbrand ist das eine äußerst<br />
positive Entwicklung, die<br />
von den Verfassern des <strong>Kehl</strong>er<br />
Hafenabkommens 1951<br />
– Teile der <strong>Kehl</strong>er Innenstadt<br />
waren damals noch französisch<br />
– nicht so gedacht war.<br />
<strong>Das</strong> damalige Abkommen,<br />
das aus der Hafenverwaltung<br />
<strong>Kehl</strong> eine Körperschaft<br />
öffentlichen Rechts machte,<br />
hatte vor allem das Ziel, dass<br />
der <strong>Kehl</strong>er Hafen nach dem<br />
Krieg wieder aufgebaut und<br />
verwaltet werden konnte. Am<br />
10. Mai 1994 wurde es durch ein vom Land<br />
Baden-Württemberg und dem französischen<br />
Staat unterzeichnetes Abkommen ersetzt,<br />
das die Fortsetzung der Zusammenarbeit regelt<br />
und die wechselseitige Vertretung in den<br />
Aufsichtsgremien festlegt.<br />
In den vielen Jahren der vertrauensvollen<br />
Zusammenarbeit kann sich Karlheinz Hillenbrand<br />
nur an eine - kurzfristig – schwierige<br />
Situation erinnern: Als das Land Baden-Württemberg<br />
Ende der 80er-Jahre im <strong>Kehl</strong>er Hafen<br />
eine Sondermüllverbrennungsanlage errichten<br />
wollte, formierte sich auch auf der Straßburger<br />
Rheinseite Widerstand gegen das<br />
Projekt. Als Körperschaft des Landes konnte<br />
sich die Hafenverwaltung jedoch nicht gegen<br />
>><br />
103
104<br />
die Pläne der baden-württembergischen Regierung<br />
wenden. Als der Vorvertrag für das<br />
Grundstück im <strong>Kehl</strong>er Hafen auf der Tagesordnung<br />
des Hafenrates stand, meldete sich<br />
die damalige Straßburger Oberbürgermeisterin<br />
Catherine Trautmann kritisch zu Wort.<br />
Um heftige Diskussionen oder gar Zwist zu<br />
ver meiden, fand man schnell eine salomonische<br />
Lösung: <strong>Das</strong> Thema wurde von der<br />
Tagesordnung genommen. „Wir wollten auf<br />
keinen Fall stellvertretend für die großen<br />
Entscheider den Zoff“, erinnert sich Karlheinz<br />
Hillenbrand, der Hafenrat wäre dafür der falsche<br />
Platz gewesen. In all den Jahren war es<br />
„der einzige Fall von gewissem Dissens“.<br />
In den Sitzungen des <strong>Kehl</strong>er Hafenrates wird<br />
Deutsch gesprochen, in den Sitzungen des<br />
Straßburger Hafenrates Französisch. <strong>Das</strong><br />
funktioniert inzwischen ganz selbstverständlich,<br />
auch an das „technische Französisch“, das<br />
nicht immer einfach ist, haben sich die deutschen<br />
Mitglieder des Straßburger Gremiums<br />
mittlerweile gewöhnt. Wenn es einen Wechsel<br />
bei den Vertretern gibt, wird es manchmal<br />
schwierig: „Man muss halt immer Personen<br />
finden, die Französisch sprechen.“ <strong>Das</strong>s die<br />
Strukturen auf beiden Rheinseiten verschieden<br />
sind und „der Formalismus ein anderer ist“,<br />
spielt in der alltäglichen Zusammenarbeit keine<br />
Rolle. Karlheinz Hillenbrand beschreibt das<br />
Verhältnis als „freundschaftlich, sachlich“, von<br />
wechselseitigen Vorurteilen hat er in den vergangenen<br />
30 Jahren nichts bemerkt.<br />
Noch enger könnte die Kooperation der beiden<br />
Häfen durch die Mitarbeit im Transeuropäischen<br />
Netzwerk der neun Oberrhein-<br />
Häfen werden: Ziel dieses Großprojektes ist<br />
es, Güterverkehr von der Straße aufs Wasser<br />
und auf die Schiene zu verlagern. Bei dem<br />
von der EU-Kommission geförderten Projekt<br />
sollen Probleme in den Häfen aufgezeigt und<br />
Lösungen gesucht werden. Karlheinz Hillenbrand<br />
nennt ein Beispiel: Müsse ein Güterzug,<br />
der aus dem <strong>Kehl</strong>er Hafen kommt, in Straßburg<br />
noch zuladen, sei das zu langsam, zu<br />
kompliziert und damit zu teuer. „Es geht, es<br />
geht aber auch nicht“, beschreibt der Hafendirektor<br />
das Dilemma.<br />
In einer weiteren Studie werden Materialund<br />
Energieflüsse untersucht. Zwölf bis 18<br />
Firmen in den Häfen <strong>Kehl</strong> und Straßburg werden<br />
dabei genauer unter die Lupe genommen.<br />
„Es geht um Nachhaltigkeit“, erklärt Karlheinz<br />
Hillenbrand, Ergebnis soll ein gemeinsamer<br />
Ressourcenplan sein.<br />
Kooperation der Banken: Europa-Konto bleibt (noch) ein Traum<br />
Die Sparkasse Hanauerland<br />
kooperiert seit 2009 mit der<br />
Caisse d’Epargne d’Alsace.<br />
Trotz der grenzüberschreitenden<br />
Zusammenarbeit der Banken<br />
bleibt das Europa-Konto noch<br />
ein Traum.<br />
>><br />
Seit 2009 arbeitet die Sparkasse Hanauerland<br />
mit der Caisse d’Epargne d’Alsace auf<br />
der Basis einer Kooperationsvereinbarung<br />
eng zusammen. In grenzüberschreitenden<br />
Finanzfragen haben deutsche und französische<br />
Kunden damit einen Ansprechpartner.<br />
Privat- und Firmenkunden werden von<br />
beiden Geldinstituten gemeinsam beraten;<br />
„die Kunden erhalten das für sie beste Angebot<br />
aus beiden Häusern“, erklärt Hartmut<br />
Stephan, Abteilungsdirektor für den Bereich<br />
Marketing bei der Sparkasse Hanauerland.<br />
Durch ein Repräsentanz-Büro der Caisse<br />
d’Epargne in den Räumen der <strong>Kehl</strong>er Sparkasse<br />
verkürzen sich die Wege für die Kunden<br />
erheblich. Darüber hinaus bieten die<br />
beiden Sparkassen gemeinsame<br />
Themenabende, Seminare oder<br />
Veranstaltungen für Existenzgründer<br />
und Unternehmen an.<br />
„Dieser grenzüberschreitende Service<br />
wird von unseren Kunden<br />
sehr positiv aufgenommen“, freut<br />
sich Hartmut Stephan. Gerne würden<br />
die beiden Geldinstitute ihren<br />
Kunden ein einheitliches Europa-<br />
Konto oder andere gemeinsame<br />
Finanzprodukte anbieten – doch<br />
bislang verhindern technische<br />
und rechtliche Restriktionen diese<br />
weitergehende Kooperation.
Zwei Franzosen gehören seit langen Jahren<br />
zum Personal der Sparkasse Hanauerland.<br />
Zusammen mit vier deutschen Mitarbeiterinnen,<br />
die in Frankreich leben, arbeiten sie<br />
als Sachbearbeiter im Auslandsgeschäft, als<br />
Service- und Kassenmitarbeiter sowie in<br />
der Kundenberatung. Die Sparkasse sucht<br />
aktuell nicht aktiv nach Mitarbeitern auf<br />
der französischen Rheinseite. Über interessierte<br />
Bewerber für die Ausbildungsjahre ab<br />
2015 freut sich die Sparkasse Hanauerland<br />
jedoch sehr. Von den 120<br />
jungen Menschen, welche<br />
die Sparkasse in den vergangenen<br />
14 Jahren ausgebildet<br />
hat, war ein Jugendlicher<br />
Franzose – der Sohn einer<br />
deutschen Mitarbeiterin, die<br />
in Frankreich verheiratet ist.<br />
Fünf Auszubildende kamen<br />
und kommen aus deutschfranzösischen<br />
Familien, die<br />
in Deutschland leben. Auszubildende<br />
der Sparkasse<br />
Hanauerland profitieren von<br />
der grenzüberschreitenden<br />
Kooperation, indem sie mehrere Praxiswochen<br />
in Filialen der Caisse d’Epargne verbringen<br />
und damit neben interessanten beruflichen<br />
Erfahrungen auch das Euregio-Zertifikat<br />
der Industrie- und Handelskammer erwerben<br />
können. Umgekehrt absolvierten schon viele<br />
junge Franzosen Praktika bei der Sparkasse.<br />
Die unterschiedlichen Sprachen stellen im<br />
Arbeitsalltag der Bank-Mitarbeiter keine<br />
Barriere dar, weiß Tanja Bender, Abteilungsleiterin<br />
Personal. Wer regelmäßig in der<br />
grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu<br />
tun hat, kann auf Kosten der Sparkasse an<br />
professionellen Sprachkursen teilnehmen.<br />
Claus Preiss<br />
Ein Jubiläum in der grenzüberschreitenden<br />
Zusammenarbeit konnten die vier Volksbanken<br />
Achern, Lahr, Baden-Baden/Rastatt und<br />
Bühl sowie die französische Banque Populaire<br />
d’Alsace mit rund 100 Filialen im Elsass<br />
und Hauptsitz in Straßburg 2013 feiern: Seit<br />
zehn Jahren gibt es die gemeinsam gegründete<br />
„VR Kooperation Deutschland-Frankreich“.<br />
„Es ist eine kleine Consulting-Gesellschaft<br />
für grenzüberschreitende Belange“,<br />
sagt Claus Preiss, Vorsitzender des Beirats der<br />
VR-Kooperation und gleichzeitig Vorstandsvorsitzender<br />
der Volksbank Bühl, zu der auch<br />
die <strong>Kehl</strong>er Filialen gehören. <strong>Das</strong> bedeutet:<br />
Möchte ein französisches Unternehmen in<br />
Deutschland investieren, ein elsässischer<br />
Privatkunde eine Immobilie in der Ortenau<br />
erwerben oder ein deutscher Handwerker in<br />
Frankreich Aufträge akquirieren, so finden<br />
alle Drei bei der VR Kooperation<br />
einen Ansprechpartner,<br />
der sie berät und bei dem<br />
Vorhaben begleitet. Angestellt<br />
sind dort ein Geschäftsführer,<br />
Pierre Klein, und eine Assistentin.<br />
Sie verfügen jeweils<br />
über ein Büro bei der Volksbank<br />
Baden-Baden/Rastatt<br />
und bei der Banque Populaire<br />
in Straßburg. Neben der zweisprachigen<br />
Beratung vermitteln<br />
sie bei Bedarf Kontakte<br />
zu Wirtschaftsprüfern, länderspezifischen<br />
Versicherern<br />
oder Steuerrechtlern aus ihrem grenzüberschreitenden<br />
Expertennetzwerk.<br />
„Die Nachfrage ist da“, sagt Claus Preiss, seit<br />
Gründung der VR Kooperation vor zehn<br />
Jahren werden insgesamt rund 12 000 Privatkunden<br />
und 1200 Firmenkunden grenzüberschreitend<br />
betreut. Aufgrund dieses<br />
Erfolgs wurde 2013 eine Fortsetzung der<br />
VR Kooperation beschlossen, außerdem will<br />
noch ein sechster Partner mit einsteigen: der<br />
Baden-Württembergische Genossenschaftsverband.<br />
Geplant ist zudem, dass Auszubildende von<br />
beiden Rheinseiten künftig gezielt an die<br />
Partnerbanken im Nachbarland vermittelt<br />
werden. „Es wäre schlicht ein falsches Signal,<br />
wenn wir die Europäische Union gerade<br />
hier im Grenzbereich nicht leben würden“,<br />
bekräftigt Claus Preiss die Entscheidung.<br />
„Die Zusammenarbeit ergibt sich per se. Als<br />
Dienstleister müssen wir so etwas einfach<br />
anbieten.“<br />
>><br />
105
Die Nachwuchsförderung im Fokus: <strong>Das</strong> Handwerk setzt auf Kooperation<br />
106<br />
Mitten auf der Passerelle des deux Rives treffen<br />
sich am 10. Oktober 2013 deutsche und<br />
französische Handwerker. Sie haben die Brücke<br />
als symbolträchtigen Ort ausgesucht, um einen<br />
vorbereiteten Partnerschaftsvertrag zu<br />
unterschreiben. Die Innung Blechnerei, Sanitär-<br />
und Heizungstechnik <strong>Kehl</strong>-Hanauerland-<br />
Lahr und die Innung der Klempner und Installateure<br />
des Unter-Elsass (COPFI) halten fest,<br />
dass sie künftig gemeinsame Versammlungen<br />
abhalten, Informationsmaterial untereinander<br />
austauschen und vor allem: die grenzüberschreitende<br />
Lehrlingsausbildung und Berufsfortbildung<br />
fördern.<br />
>><br />
Schon seit rund 25 Jahren stehen die beiden<br />
Innungen in Kontakt. „Seitdem gab es hier<br />
mal ein Treffen und da mal ein Gespräch, intensiviert<br />
hat sich die Kooperation aber erst<br />
in den letzten paar Jahren“, sagt Obermeister<br />
Michael Pfütze von der Innung <strong>Kehl</strong>-Hanauerland-Lahr.<br />
<strong>Das</strong> gemeinsame Interesse, den<br />
Nachwuchs zu fördern, die Ausbildung und<br />
Qualifizierung zu verbessern, habe die beiden<br />
Innungen näher zusammengebracht. „<strong>Das</strong><br />
liegt uns allen besonders am Herzen.“ Bei einer<br />
gemeinsamen Vorstandssitzung schlug die elsässische<br />
Innung deshalb den Partnerschaftsvertrag<br />
vor. „Wir haben uns in verschiedenen<br />
Berufsschulen und überbetrieblichen Ausbildungsstätten<br />
auf beiden Seiten getroffen, um<br />
zu sehen, wie die Ausbildung dort jeweils abläuft“,<br />
erzählt Michael Pfütze. Anschließend<br />
sei das Abkommen erarbeitet worden. Danach<br />
sollen junge Arbeitskräfte bei Bedarf gezielt<br />
über den Rhein vermittelt werden oder zumindest<br />
zum Austausch in Betriebe des Nachbarlands<br />
gehen und sich auf diese Weise untereinander<br />
kennenlernen. „Wenn man sieht, dass<br />
drüben genauso mit Wasser gekocht wird wie<br />
hier, fällt es vielleicht leichter, die Sprache zu<br />
lernen. Die Motivation ist größer, wenn der Kontakt<br />
erst einmal da ist“, meint der Obermeister.<br />
Nicht nur bei den Blechnereien, Sanitär- und<br />
Heizungstechnikern, sondern auch in anderen<br />
Handwerksberufen gibt es Kooperationen<br />
in der Aus- und Weiterbildung. Die Handwerkskammer<br />
Freiburg, der auch die <strong>Kehl</strong>er<br />
Betriebe angehören, organisiert seit 1998<br />
Umschulungs- und Weiterbildungskurse mit<br />
der AFPA, dem französischen Verband für berufliche<br />
Erwachsenenbildung. „Französische<br />
Arbeitnehmer können zum Beispiel unsere<br />
Gewerbe-Akademie an allen drei Standorten<br />
besuchen, um fit für den deutschen Arbeitsmarkt<br />
zu werden“, erklärt Martin Düpper<br />
von der Handwerkskammer Freiburg. Aktuell<br />
würden Umschulungen im Elektro- und Sanitärbereich<br />
speziell für Arbeitskräfte von der<br />
anderen Rheinseite angeboten.<br />
Außerdem gibt es – nach dem Start im Eurodistrikt<br />
Strasbourg-Ortenau – inzwischen in<br />
der gesamten Oberrheinregion die Möglichkeit<br />
einer grenzüberschreitenden Ausbildung<br />
in insgesamt 19 Berufen. Ein entsprechendes<br />
Abkommen wurde am 12. September 2013<br />
auf Initiative der Oberrheinkonferenz in Saint<br />
Louis von 28 deutschen und französischen<br />
Institutionen unterzeichnet. <strong>Das</strong> bedeutet:<br />
Ein junger Franzose kann eine betriebliche<br />
Ausbildung in Deutschland machen, aber die<br />
Schule in Frankreich besuchen – oder andersherum.<br />
Dabei übernimmt die Région Alsace<br />
für deutsche Unternehmen, die junge Elsäs-<br />
Ein Partnerschaftsvertrag<br />
verbindet neuerdings die<br />
Innung Blechnerei, Sanitärund<br />
Heizungstechnik <strong>Kehl</strong>-<br />
Hanauerland-Lahr und die<br />
Innung der Klempner und<br />
Installateure des Unter-Elsass.
ser ausbilden, die Finanzierung der Berufsschulkosten<br />
in Frankreich. „Damit so etwas<br />
funktioniert, mussten sich beide Seiten ein<br />
bisschen aufeinander zubewegen“, sagt Martin<br />
Düpper, „denn unterschiedlichen Ausbildungssysteme<br />
aufeinander abzustimmen ist<br />
manchmal schwieriger als die gemeinsame<br />
Formulierung des politischen Willens“. Derzeit<br />
gebe es zwar nur drei junge Menschen, die im<br />
Eurodistrikt den Weg der grenzüberschreitenden<br />
Berufsausbildung gewählt haben, „aber<br />
da kommt mit dem neuen Abkommen Bewegung<br />
rein“, ist sich Martin Düpper sicher. Um<br />
das Abkommen bekannter zu machen, hat<br />
sich die Handwerkskammer Freiburg auf der<br />
Messe für Bildung und Beschäftigung, die<br />
im Januar 2014 in Colmar stattfindet, einen<br />
Stand gesichert. „Dort wollen wir Jugendliche,<br />
Eltern und Lehrer darüber informieren, welche<br />
Möglichkeiten eine Ausbildung auf deutscher<br />
Seite bietet“, sagt Martin Düpper.<br />
Neben dem Bereich Ausbildung arbeitet die<br />
Handwerkskammer Freiburg mit ihren Pendants<br />
im Elsass, in der Pfalz, in Karlsruhe sowie<br />
mit der Wirtschaftskammer Baselland<br />
seit 1996 zusammen an einem grenzüberschreitenden<br />
Internetportal. Auf der Seite<br />
www.transinfonet.org finden Betriebe aus<br />
Deutschland, Frankreich und der Schweiz aktuelle<br />
Informationen darüber, was sie beachten<br />
müssen, wenn sie in einem der Nachbarländer<br />
aktiv werden wollen. „Wenn es eine Gesetzesänderung<br />
gibt, beispielsweise neue Mindestlöhne,<br />
werden die Betriebe auf dem Portal umgehend<br />
informiert“, sagt Martin Düpper. „Für<br />
jedes einzelne Unternehmen wäre es fast nicht<br />
leistbar, sich ständig selbst auf den aktuellen<br />
Stand zu bringen.“ Über hilfreiche Informationen<br />
hinaus gibt es auf der Internetseite Ansprechpartner<br />
in jedem der beteiligten Länder,<br />
die bei Problemen weiterhelfen können. <strong>Das</strong><br />
Portal pflegen Vertreter der beteiligten Handwerkskammern,<br />
die sich zwei- bis dreimal<br />
pro Jahr treffen und noch deutlich öfter telefonisch<br />
miteinander in Kontakt stehen. „Der<br />
Austausch ist lebendig“, sagt Martin Düpper.<br />
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit<br />
ist aus Sicht der Handwerkskammer ein großes<br />
Plus – und zwar deshalb, „weil der Dialog<br />
auf Augenhöhe geführt wird“, wie Martin<br />
Düpper es formuliert. Man müsse so zusammenarbeiten,<br />
dass es für beide Seiten von<br />
Vorteil ist, „damit Vorurteile und Ängste weiter<br />
abgebaut werden“.<br />
107<br />
Wohnen<br />
Die in der Europäischen Union geltende Freizügigkeit nutzen deutsche wie französische<br />
Bürgerinnen und Bürger: In <strong>Kehl</strong> leben 2258 Einwohner mit französischem Pass und<br />
605 <strong>Kehl</strong>erinnen und <strong>Kehl</strong>er mit deutscher und französischer Staatsangehörigkeit (Stand:<br />
Ende November); in der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg wird die Zahl der deutschen Einwohner<br />
auf 4000 bis 5000 geschätzt. Nach der grenzüberschreitenden Gartenschau<br />
2004 ist die Zahl der Umzüge französischer Familien nach <strong>Kehl</strong> stark gestiegen: Acht von<br />
zehn zum Verkauf stehenden Immobilien in<br />
der Kernstadt wurden in den Folgejahren<br />
von Franzosen erworben. Entsprechend<br />
schnellten die Anfragen bei der deutschfranzösischen<br />
Beratungsstelle INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg in die Höhe: Ließen sich vor<br />
2004 noch annährend doppelt so viele Deutsche wegen eines Umzugs nach Frankreich<br />
beraten, wie Franzosen einen Umzug nach Deutschland ins Auge fassten, so kontaktierten<br />
in den Jahren ab 2005 jährlich mehrere Hundert französische Bürger die INFOBEST-<br />
Referentinnen wegen eines Umzugs auf die deutsche Rheinseite.<br />
Inzwischen hat der Boom etwas nachgelassen: Der Anteil der Franzosen unter den<br />
Käufern von Häusern und Wohnungen in <strong>Kehl</strong> liegt konstant bei rund 40 Prozent, was<br />
>>
108<br />
sich auch in den Beratungsanfragen bei der INFOBEST niederschlägt: Mit 210 Anfragen<br />
pro Jahr machen die Umzugswilligen noch einen Anteil von fünf Prozent der<br />
Ratsuchenden aus. In den vergangenen zwei Jahren haben erste Umzügler aus dem<br />
Nachbarland ihre Häuser und Wohnungen in <strong>Kehl</strong> wieder verkauft (meist erneut an<br />
Franzosen). Der Hauptgrund: Französische Mitbürger, die in <strong>Kehl</strong> wohnen und in Straßburg<br />
in der freien Wirtschaft arbeiten, zahlen ihre Lohn- oder Einkommenssteuer in<br />
Deutschland. Die direkten Steuern einer durchschnittlichen Familie mit zwei Kindern<br />
sind auf der deutschen Rheinseite etwa doppelt so hoch wie in Frankreich. Deshalb<br />
arbeiten viele Franzosen, die in <strong>Kehl</strong> wohnen, im öffentlichen Dienst oder in Unternehmen,<br />
die dem öffentlichen Dienst gleichgestellt sind. Dann bezahlen sie ihre Steuern<br />
nämlich weiterhin in Frankreich. Die INFOBEST organisiert seit vielen Jahren Steuersprechtage,<br />
bei denen bislang Vertreter der Finanzämter aus beiden Ländern die Ratsuchenden<br />
gemeinsam beraten haben. Inzwischen ist die französische Finanzverwaltung<br />
aus der Beratung ausgestiegen. Als Grund wird Arbeitsüberlastung angegeben.<br />
Bauvorhaben in Deutschland und Frankreich:<br />
Vieles ist ähnlich und doch ist alles anders<br />
Verschiedene Regelungen, andere Normen,<br />
unterschiedliche Auslegung europäischen<br />
Rechts: Als sich die Straßburger Wohnungsbaugesellschaft<br />
Habitation Moderne entschlossen<br />
hat, auf <strong>Kehl</strong>er Territorium unweit<br />
der Europabrücke ein Gebäude mit 52 Wohnungen<br />
zu errichten, waren Generaldirektor<br />
Jean-Bernard Dambier und der technische<br />
Leiter Jean-Marc Eich auf Komplikationen eingestellt.<br />
<strong>Das</strong>s es jedoch für ein französisches<br />
Unternehmen so schwierig werden könnte,<br />
nur wenige Meter von der Grenze entfernt<br />
im vereinten Europa ein Bauprojekt umzusetzen,<br />
hätten sie sich nicht träumen lassen.<br />
In Deutschland sind Zimmertüren zum Beispiel<br />
entweder 1,98 Meter hoch oder 2,10<br />
Meter. In Frankreich hat der Türrahmen eine<br />
lichte Höhe von 2,04 Meter. Und selbstverständlich<br />
sind auch die Breiten unterschiedlich.<br />
Damit entscheiden wenige Zentimeter<br />
darüber, dass sich ein französischer Schreiner<br />
gar nicht erst um den Auftrag bemüht,<br />
den Habitation Moderne für das Gebäude<br />
Ecke Straßburger Straße/Schulstraße ausgeschrieben<br />
hat. „Die französischen Handwerker<br />
wollen das Risiko nicht eingehen“, sagt<br />
Jean-Marc Eich und zeigt Verständnis: Jeder<br />
französische Handwerker hat seine Zulieferer,<br />
seine Einkaufskonditionen, seine Rabatte.<br />
Müsse er sich sein Material in Deutschland<br />
besorgen, müsse er mit ganz anderen Kosten<br />
kalkulieren; schon die Erstellung des Angebots<br />
stelle ihn vor Probleme.<br />
So wird sich der vom <strong>Kehl</strong>er<br />
Architekturbüro Grossmann<br />
geplante und von Habitation<br />
Moderne errichtete Neubau<br />
in die Silhouette der Straßburger<br />
Straße einfügen.<br />
>>
In den 52 Wohnungen mit einer<br />
Grundfläche von 40 bis 118<br />
Quadratmetern sollen sich<br />
sowohl deutsche als auch französische<br />
Mieter wohlfühlen.<br />
Was für die Türen<br />
gilt, ist bei den<br />
Fenstern nicht anders<br />
und auch unter<br />
behindertengerechten<br />
Wohnungen verstehen<br />
der deutsche<br />
und der französische<br />
Gesetzgeber<br />
etwas völlig anderes.<br />
Während in<br />
Deutschland gilt,<br />
dass bei Wohngebäuden<br />
mit mehr<br />
als vier Wohneinheiten<br />
die Wohnungen<br />
eines Geschosses<br />
barrierefrei zu erreichen<br />
sein müssen, muss nach<br />
französischen Vorschriften<br />
jede Wohnung rollstuhlgerecht umzubauen<br />
sein, ohne dass eine Wand versetzt<br />
oder herausgebrochen werden muss. Wenn<br />
in Frankreich ein Bauvorhaben mit den<br />
städte baulichen Vorgaben übereinstimmt,<br />
bekommt der Bauherr die Baugenehmigung.<br />
<strong>Das</strong>s in Deutschland detaillierte Pläne des<br />
Architekten Grundlage für die Erteilung der<br />
Baugenehmigung sind, hat Jean-Marc Eich<br />
überrascht: „Es ist hinterher viel schwieriger,<br />
noch etwas zu verändern“, bedauert er.<br />
Nachdem die Ausschreibung der einzelnen<br />
Lose nach europäischem Recht erfolgte, hätte<br />
es eigentlich – könnte man meinen – keine<br />
Probleme geben dürfen. Doch die deutsche<br />
Vergabeordnung Bau (VOB) ist „deutlich restriktiver<br />
als die französischen Regelungen“,<br />
musste Jean-Marc Eich feststellen. Um sich<br />
zurechtzufinden, hat Habitation Moderne<br />
eine deutsch-französische Rechtsanwaltskanzlei<br />
beauftragt und die Vergabeordnung<br />
Bau ins Französische übersetzen lassen. „<strong>Das</strong><br />
Recht ermöglicht allein schon viele Interpretationen“,<br />
seufzt Jean-Marc Eich, wenn dann<br />
noch Anwälte aus zwei Ländern und unterschiedliche<br />
Sprachen hinzukommen, kann es<br />
richtig kompliziert werden. So kompliziert,<br />
dass die Kosten allein für die Rechtsberatung<br />
in die Zehntausende gehen.<br />
20 000 Euro hat Habitation Moderne allein<br />
für die Ausschreibungen in den Zeitungen<br />
ausgegeben – trotzdem ist für vier Lose kein<br />
einziges Angebot eingegangen. Für weitere<br />
fünf Lose hat das Unternehmen nur ein<br />
oder zwei Angebote erhalten. „In Frankreich<br />
bekommen wir bei ähnlich großen Projekten<br />
150 bis 170 Angebote“, zieht Jean-Bernard<br />
Dambier den Vergleich.<br />
Um Kostensicherheit zu bekommen, hat<br />
Habitation Moderne alle Lose gleichzeitig<br />
ausgeschrieben und mit Kostengrenzen versehen.<br />
In Frankreich ist es durchaus üblich,<br />
mit den Unternehmen Pauschalpreise zu<br />
vereinbaren. Gelingt es dem Auftragnehmer,<br />
die Arbeiten kostengünstiger auszuführen,<br />
erhöht er seinen Gewinn, überschreitet er<br />
den Kostenrahmen, dann geht das zu seinen<br />
Lasten. Die deutschen Unternehmen zierten<br />
sich, aber „wir wollten uns nicht auf ein<br />
Abenteuer einlassen“, erklärt Jean-Bernard<br />
Dambier, warum Habitation Moderne lange<br />
verhandelt hat, um auch bei den deutschen<br />
Partnern Pauschalpreise durchzusetzen.<br />
Selbst ein Unternehmen für den Rohbau des<br />
Großprojektes zu finden, war nicht einfach:<br />
Acht deutsche Unternehmen hat das Architekturbüro<br />
Grossmann im Auftrag von Habitation<br />
Moderne angeschrieben, zwei französische<br />
hat die Wohnungsbaugesellschaft selber<br />
kontaktiert. Am Ende sind zwei Unternehmen<br />
übriggeblieben, mit denen weiter verhandelt<br />
wurde: ein deutsches und ein französisches.<br />
Für die Klempner- und die Schreinerarbeiten<br />
hat Habitation Moderne lange gar kein Unternehmen<br />
gefunden, das Gleiche galt für die<br />
Eindeckung des Flachdaches.<br />
„Vieles ist ähnlich und doch nicht gleich“, sagt<br />
Jean-Bernard Dambier. „Man lernt viel“, fügt<br />
Jean-Marc Eich hinzu, leichte Resignation<br />
schwingt in der Stimme mit. Ob Habitation<br />
Moderne noch weitere Projekte in <strong>Kehl</strong> verwirklichen<br />
wird – der Generaldirektor möchte<br />
darüber erst mal nicht sprechen. Zunächst<br />
will er abwarten, wie sich die Bauphase gestaltet<br />
und wie sich die Wohnungen vermieten<br />
lassen.<br />
109<br />
>>
Ein Haus für deutsche und französische Mieter<br />
110<br />
52 Mietwohnungen in der Größe von 40<br />
bis 118 Quadratmetern Fläche errichtet die<br />
Straßburger Wohnungsbaugesellschaft Habitation<br />
Moderne auf dem Grundstück Ecke<br />
Straßburger Straße/Schulstraße. Mit den<br />
Abrissarbeiten des bestehenden Gebäudes<br />
an der B28, den Garagen und Kleinbauten<br />
im rückwärtigen Teil an der Schulstraße<br />
wird in den ersten September-Tagen begonnen.<br />
<strong>Das</strong> Gebäude, in dessen Erdgeschoss<br />
die Sparkassenfiliale wieder einzieht, ist das<br />
erste Bauvorhaben, das die französische<br />
Wohnungsbaugesellschaft mit sozialem<br />
Auftrag auf deutschem Territorium verwirklicht.<br />
Voraussichtliche Baukosten: rund elf<br />
Millionen Euro.<br />
2010 ist die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> (Klein-)Aktionär bei<br />
Habitation Moderne geworden – mit dem<br />
Ziel, gemeinsam mit dem Unternehmen, an<br />
dem die <strong>Stadt</strong> Straßburg 52,75 Prozent der<br />
Anteile hält, Projekte auf <strong>Kehl</strong>er Gemarkung<br />
realisieren zu können. Auch der mögliche<br />
Wissensaustausch zwischen Habitation<br />
Moderne und der Städtischen Wohnbau<br />
<strong>Kehl</strong> waren ein Grund für die städtische<br />
Beteiligung. Im Februar 2011 hat sich Habitation<br />
Moderne um das damals ausgeschriebene<br />
rund 2200 Quadratmeter große<br />
Grundstück an der Ecke Straßburger Straße/<br />
Schulstraße beworben und im April 2011<br />
den Zuschlag erhalten.<br />
Architekt Jürgen Grossmann hat Habitation<br />
Moderne in der Folge den Auftrag erteilt,<br />
ein Gebäude zu planen, in dem sowohl<br />
deutsche als auch französische Mieter<br />
gerne wohnen. Die Lage ist aus<br />
Sicht von Jean-Bernard Dambier,<br />
Generaldirektor des Straßburger<br />
Unternehmens mit 158 Mitarbeitern<br />
und einem Bestand von<br />
8878 Wohnungen (davon 7787<br />
mit sozialer Bindung) ideal: gegenüber<br />
vom <strong>Kehl</strong>er Bahnhof und<br />
in unmittelbarer Nähe zur künftigen<br />
Tramhaltestelle auf dem grünen<br />
Mittelstreifen der B28.<br />
Den Verkehrslärm wollen die Planer mit<br />
Hilfe von Lärmschutzfenstern und zur B28<br />
hin vorgehängten Laubengängen bannen.<br />
Der Gebäudekomplex mit der Fassade zur<br />
Straßburger Straße wird vorrangig fertiggestellt,<br />
damit die Sparkasse ihre neuen Räume<br />
so früh wie möglich – voraussichtlich im<br />
April 2015 – beziehen kann. In den Geschossen<br />
darüber entstehen 20 Wohnungen plus<br />
ein Penthouse. Unter dem Gebäude wird<br />
eine Tiefgarage mit 23 Stellplätzen angelegt.<br />
Im zweiten Gebäudeteil zur Schulstraße<br />
hin, der eine Etage niedriger ist als der zur<br />
Straßburger Straße, sind 31 Wohnungen<br />
vorgesehen, ebenso wie 25 Stellplätze in<br />
der Tiefgarage. <strong>Das</strong> Parkplatzangebot wird<br />
durch etwa 20 oberirdische Stellflächen ergänzt.<br />
Sowohl bei der Größe als auch beim<br />
Zuschnitt der Wohnungen hat Habitation<br />
Moderne einen deutsch-französischen Spagat<br />
versucht und hofft, einen Kompromiss<br />
gefunden zu haben, der sowohl <strong>Kehl</strong>er als<br />
auch Straßburger Mietern gefällt. Mehr als<br />
die Hälfte der Wohnungen (28) haben drei<br />
Zimmer und eine Grundfläche von durchschnittlich<br />
75 Quadratmetern. Dazu kommen<br />
14 Zwei-Zimmer-Wohnungen (Wohnfläche<br />
um die 50 Quadratmeter), acht Vier-<br />
Zimmer-Wohnungen (Wohnfläche circa<br />
95 Quadratmeter) und jeweils eine Fünf-<br />
Zimmer-Wohnung (118 Quadratmeter) sowie<br />
ein Ein-Zimmer-Appartement mit 40<br />
Quadratmetern. Alle Wohnungen bleiben im<br />
Besitz von Habitation Moderne, Eigentumswohnungen<br />
sind nicht vorgesehen.<br />
Unter den beiden Gebäudekomplexen<br />
entstehen Tiefgaragen<br />
mit insgesamt 48 Stellplätzen.<br />
>>
Bis zu 45 Prozent der Kunden,<br />
die in der <strong>Kehl</strong>er Innenstadt<br />
einkaufen, kommen aus Frankreich.<br />
Sehr beliebt ist bei den<br />
französischen Nachbarn auch<br />
der <strong>Kehl</strong>er Wochenmarkt.<br />
Einkaufen und Gastronomie<br />
Lange bevor jemand an den Euro dachte, hatten sich die <strong>Kehl</strong>er Einzelhändler bereits<br />
auf die Kunden aus dem Nachbarland eingestellt: In den meisten Geschäften gab es<br />
Französisch sprechende Mitarbeiter; wer wollte, konnte fast überall in der Innenstadt<br />
mit Francs bezahlen und bekam auch das Wechselgeld in Francs zurück – dank eines<br />
Systems mit zwei Kassen. Der Binnenmarkt und damit der Wegfall der Zollkontrollen<br />
und noch stärker die Einführung des Euro, welche die Preise auf beiden Rheinseiten<br />
direkt vergleichbar machte, beflügelten die Kunden auf beiden Rheinseiten. Vor allem<br />
<strong>Kehl</strong> profitiert von dieser Entwicklung: Bis zu 45 Prozent der Kunden in der Innenstadt<br />
sowie ein noch höherer Prozentsatz in den Märkten am Rande der Kernstadt kommen<br />
aus Straßburg und Umgebung. Die Einkaufsstadt <strong>Kehl</strong> erreicht Bindungsquoten, von<br />
denen andere Städte nur träumen können: Weil im Bereich Parfümerie/Drogerie die<br />
Preisunterschiede eklatant sind, wird hier eine Bindungsquote von mehr als 300 Prozent<br />
erreicht. Der dm-Markt an der Straßburger Straße gilt – bezogen auf den Quadratmeter<br />
Verkaufsfläche – als der umsatzstärkste in der gesamten Republik. Aber<br />
auch bei Schuhen und Lederwaren wird ein Wert nahe 250 Prozent erreicht, im Blumenund<br />
Zoohandel, bei Möbeln und Antiquitäten verfehlt die Bindungsquote knapp die<br />
200-Prozent-Marke. Mehr als 40 Prozent des Umsatzes in den Geschäften der <strong>Kehl</strong>er<br />
Innenstadt stammt von französischen Kunden, wie ein 2012 erstelltes Gutachten des<br />
Büros „Dr. Donato Acocella <strong>Stadt</strong>- und Regionalentwicklung“ gezeigt hat.<br />
Nicht viel anders stellt sich die Situation in der <strong>Kehl</strong>er Gastronomie dar, auch in den<br />
Restaurants belegen die französischen Gäste einen Gutteil der Tische – genaue Zahlen<br />
gibt es hier allerdings nicht. Die <strong>Kehl</strong>er Hoteliers profitieren in hohem Maße vom Sitz<br />
des Europaparlaments in Straßburg – in den Sitzungswochen sind die meisten Übernachtungsmöglichkeiten<br />
ausgebucht, Ähnliches gilt für die fünf Wochen, in denen der<br />
Straßburger Weihnachtsmarkt stattfindet. Die EU-Parlamentarier und ihre Mitarbeiter<br />
haben ihren Anteil daran, dass <strong>Kehl</strong> hinter Rust mit dem Europapark mit Abstand die<br />
zweitgrößte Übernachtungs-Destination in der Ortenau ist. 206 390 Übernachtungen<br />
hat das Statistische Landesamt 2012 registriert. Viele Gäste, die in Ferienwohnungen<br />
unterkommen, werden dem Statistischen Landesamt allerdings gar nicht gemeldet; das<br />
Gleiche gilt für die Touristen, die auf dem Wohnmobilstellplatz einen Stopp über Nacht<br />
einlegen, so dass die tatsächliche Zahl der Übernachtungen vermutlich noch deutlich<br />
darüber liegt. Wegen des Preis-Leistungs-Verhältnisses oder weil sie nicht mit dem<br />
eigenen Auto nach Straßburg fahren möchten, ziehen es zahlreiche Touristen vor, in<br />
<strong>Kehl</strong> zu übernachten.<br />
111<br />
Europäischer Verbraucherschutz spielt eine immer größere Rolle<br />
<strong>Das</strong> Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz<br />
im Glasbau am <strong>Kehl</strong>er Bahnhof ist in<br />
Europa einzigartig: Nur in <strong>Kehl</strong> finden sich<br />
zwei nationale europäische Verbraucherzentren<br />
– nämlich das deutsche und das französische<br />
– vereint. Zu diesen von Brüssel unterstützten<br />
Einrichtungen kommen noch die<br />
E-Commerce-Verbindungsstelle Deutschland<br />
sowie der Online-Schlichter für die Bundesländer<br />
Baden-Württemberg, Hessen, Bayern,<br />
Berlin und Rheinland-Pfalz. Entstanden ist<br />
das Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz<br />
vor 20 Jahren aus dem drei Mitarbeiter<br />
zählenden Verein Euro-Info Verbraucher, der<br />
im Flachbau an der Ecke Straßburger Straße/<br />
Kinzigstraße untergebracht war. Inzwischen<br />
>>
112<br />
arbeiten 40 zweisprachige Beschäftigte im<br />
Zentrum – die meisten sind Juristen.<br />
64 000 Anfragen und knapp 15 000 Beschwerden<br />
von Verbrauchern wurden 2012<br />
vom Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz<br />
bearbeitet. Etwa 70 Prozent der Streitfälle<br />
konnten nach Intervention der Mitarbeiter<br />
des Zentrums außergerichtlich gelöst<br />
werden. Dabei handelte es sich jedoch nicht<br />
nur um Fälle im <strong>Kehl</strong>-Straßburger Grenzgebiet<br />
– die in <strong>Kehl</strong> unter einem Dach vereinten<br />
französischen und deutschen europäischen<br />
Verbraucherzentren waren mit mehr als der<br />
Hälfte aller an das europaweite Netzwerk der<br />
von Brüssel unterstützten Verbraucherzentren<br />
herangetragenen Streitigkeiten befasst.<br />
Die Hauptthemen, mit denen sich die Verbraucherzentren<br />
mittlerweile auseinandersetzen,<br />
sind Transport und Tourismus, dicht<br />
gefolgt vom Wareneinkauf in einem anderen<br />
europäischen Land. Immer häufiger geht es<br />
dabei um Schwierigkeiten mit Einkäufen im<br />
Internet – die bereits auf einen Anteil von 70<br />
Prozent angewachsen sind.<br />
Weil gerade die Jugendlichen, die sich häufig<br />
im Internet bewegen, die Gruppe sind, die<br />
sich am wenigsten mit den Verbraucherrechten<br />
auskennt, hat das Zentrum für Europäischen<br />
Verbraucherschutz 2012 – unterstützt<br />
vom Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau<br />
– das Projekt „Verbraucherschutz macht<br />
Schule“ gestartet. Dabei werden Schulklassen<br />
auf der deutschen und der französischen<br />
Rheinseite zum einen über ihre Rechte als<br />
Verbraucher informiert, zum anderen für die<br />
Risiken sensibilisiert, die sich durch die Preisgabe<br />
von Daten im Internet ergeben.<br />
www.cec-zev.eu<br />
Die beliebteste <strong>Kehl</strong>er Freizeiteinrichtung<br />
bei den französischen<br />
Nachbarn: Bis zu 80 Prozent der<br />
Besucher des Freibades kommen<br />
aus Straßburg und Umgebung.<br />
Französische Lust auf Vollkorn: Dreher-Filiale mitten in Straßburg<br />
Laugenbrezeln, Kürbiskernbrot, Vollkorngebäck<br />
– made in <strong>Kehl</strong> – gibt es seit dem 25.<br />
September auch in Straßburg zu kaufen. Und<br />
zwar in der besten Innenstadtlage in der Rue<br />
des Grandes-Arcades. „Ich habe es noch keine<br />
Stunde bereut“, sagt Thomas Dreher über<br />
seine neue Filiale im Herzen der Europastadt,<br />
obwohl er, um den 50 Quadratmeter großen<br />
Laden betreiben zu können, viele bürokratische<br />
Hürden nehmen und eine französische<br />
Tochterfirma – Dreher (Straback) – gründen<br />
musste. „Man kann nicht immer nur sagen,<br />
ich warte, bis der Markt zu mir kommt“ – nach<br />
27 Jahren in <strong>Kehl</strong> kennt Thomas Dreher seine<br />
französische Kundschaft so gut, dass er weiß,<br />
dass sich die Ernährungsgewohnheiten auf der<br />
anderen Rheinseite gewandelt haben: Viele Elsässer<br />
suchen eine Alternative zum Weißbrot,<br />
wenden sich hin zu Körnern und Vollkorn.<br />
Nähe von <strong>Kehl</strong> und Straßburg bietet und die<br />
Filiale zu eröffnen. Fünfmal täglich fährt ein<br />
Dreher-Auto nach Straßburg, um dort Brote,<br />
Patisserie und Teiglinge anzuliefern. Brezeln,<br />
Brötchen, alle Kleinteile eben, werden vor Ort<br />
gebacken – in einer Bäckerei muss es nach<br />
Frischgebackenem riechen, findet Thomas<br />
Dreher. „<strong>Das</strong> gehört zur Atmosphäre.“<br />
Er selber und sein Sohn sind die Geschäftsführer<br />
von Dreher (Straback), die acht Vollzeitmitarbeiterinnen<br />
in der Rue des Grandes-Arcades<br />
kommen aus Straßburg und Umgebung, das<br />
Tochter-Unternehmen zahlt seine Steuern in<br />
Nachdem Sohn Benjamin in Paris studiert<br />
und in Frankreich als Boulanger (Bäcker) und<br />
Patissier (Konditor) gearbeitet hatte, war der<br />
günstige Zeitpunkt gekommen, den Standortvorteil<br />
zu nutzen, den die geographische<br />
Nicht nur warten, bis die<br />
Kunden nach <strong>Kehl</strong> kommen:<br />
<strong>Das</strong> Backhaus Dreher ist jetzt<br />
auch in bester Straßburger<br />
Einkaufslage präsent.<br />
>>
Frankreich. So wollte es Thomas Dreher. Die<br />
Zusammenarbeit mit der <strong>Stadt</strong> Straßburg, lobt<br />
er, sei sehr gut gewesen. Unter anderem wurde<br />
ihm eine Sommerterrasse mit 25 Sitzplätzen<br />
genehmigt, fürs nächste Jahr ist eine Erweiterung<br />
in Aussicht gestellt.<br />
Freizeit, Vereine und Tourismus<br />
Die beiden Freibäder sind seit vielen Jahren unangefochten die <strong>Kehl</strong>er Freizeiteinrichtungen,<br />
die am meisten Bürgerinnen und Bürger aus dem Nachbarland anziehen: Etwa<br />
80 Prozent der Besucher des <strong>Kehl</strong>er Freibades sind Franzosen, im Auenheimer Bad<br />
beläuft sich ihr Anteil auf rund 70 Prozent. Darunter sind ab und an Gruppen von<br />
wenig angepassten Jugendlichen, die auf unterschiedliche Weise für Unruhe sorgen.<br />
Um Ärger und Streit erst gar nicht aufkommen zu lassen, beschäftigen die <strong>Stadt</strong>gemeinschaft<br />
Straßburg und die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> seit dem Sommer 2000 an fünf Tagen in der<br />
Woche drei junge, zweisprachige Animateure, welche die Jugendlichen in den Bädern<br />
gezielt ansprechen, zu gemeinsamen sportlichen Aktivitäten auffordern oder schlichtend<br />
eingreifen, wenn sich Schwierigkeiten anbahnen. Die Kosten für den Einsatz der<br />
Animateure übernehmen Straßburg und <strong>Kehl</strong> zu gleichen Teilen.<br />
113<br />
Auch in <strong>Kehl</strong>er Vereinen – vor allem in Sportvereinen – sind die Nachbarn von der anderen<br />
Rheinseite präsent. Der <strong>Kehl</strong>er Fußballverein (KFV) und die <strong>Kehl</strong>er Turnerschaft<br />
unterhalten, wie auch viele andere <strong>Kehl</strong>er Vereine, Kooperationen oder Kontakte mit<br />
Gleichgesinnten auf dem Gebiet der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg. Seit zwei Jahren<br />
unterstützt der Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau Vereine, wenn sie grenzüberschreitende<br />
Veranstaltungen planen. Über den sogenannten Mikro-Projekte-Fonds der Europäischen<br />
Union können Organisationen, Clubs und Vereine dann Zuschüsse erhalten,<br />
wenn sie dafür sorgen, dass sich Menschen von beiden Rheinseiten begegnen. Die bevorzugte<br />
Freizeiteinrichtung für <strong>Kehl</strong>er Familien und Schulklassen in Straßburg ist das<br />
Vaisseau: 2012 wurden dort 17 500 deutsche Besucher gezählt, darunter waren 150<br />
Schulklassen mit insgesamt 4500 Schülerinnen und Schülern sowie Begleitpersonen.<br />
Beliebt und häufig rasch ausgebucht sind geführte Straßburg-Touren zu bestimmten<br />
Themen – meist mit geschichtlichem Hintergrund –, die über die Tourist-Information<br />
von den <strong>Kehl</strong>er Gästeführern angeboten werden. Auch geführte Radexkursionen in die<br />
Nachbarstadt werden von <strong>Kehl</strong>erinnen und <strong>Kehl</strong>ern gerne genutzt, um weniger bekannte<br />
Ecken Straßburgs kennen zu lernen. Wer Straßburger Ereignisse wie die Weihnachtsmärkte<br />
oder die Münsterbeleuchtung und das sommerliche Licht- und Laser-<br />
Spektakel gerne in der Gruppe entdecken möchte, findet bei der Tourist-Information<br />
entsprechende Angebote.<br />
Die <strong>Kehl</strong>er Tourist-Information<br />
ist Anlaufstelle für <strong>Kehl</strong>er und<br />
Straßburger gleichermaßen:<br />
Während sich die französischen<br />
Nachbarn für <strong>Kehl</strong>er Spezialitäten<br />
interessieren, lassen sich<br />
<strong>Kehl</strong>er von den Gästeführern<br />
gerne Straßburg erklären.<br />
>>
Fußball, Zumba, Fahrradtour:<br />
Wie <strong>Kehl</strong>er Vereine die Nähe zu Straßburg nutzen<br />
114<br />
>><br />
„Eine Kooperation drängt sich geradezu auf“,<br />
meint Claus Haberecht, Präsident des <strong>Kehl</strong>er<br />
Fußballvereins (KFV). Im September 2013<br />
hat er gemeinsam mit dem Präsidenten und<br />
dem Vereinsvorsitzenden des Straßburger<br />
Fußballclubs Racing, Marc Keller und Patrick<br />
Spielmann, eine Vereinbarung unterzeichnet.<br />
Darin ist eine Exklusivpartnerschaft für<br />
Jugendliche geregelt, von der sowohl die<br />
Vereine als auch junge Fußballtalente aus<br />
der Region profitieren. „Eine klassische Winwin-Situation“,<br />
freut sich der KFV-Präsident.<br />
Besonders talentierte junge<br />
<strong>Kehl</strong>er Kicker haben nach<br />
der neuen Vereinbarung die<br />
Möglichkeit, zwei- bis dreimal<br />
pro Woche in der anspruchsvollen<br />
Racing-Fußballschule<br />
in Straßburg mitzutrainieren.<br />
Sie können weiterhin beim<br />
KFV spielen oder dem französischen<br />
Club beitreten. „Die<br />
Schule hat Bundesliga-Niveau“,<br />
sagt Claus Haberecht,<br />
entsprechend groß sei die<br />
Chance für die Jugendlichen.<br />
Wer fit genug ist für das Training, entscheiden<br />
zum einen die <strong>Kehl</strong>er Jugendtrainer, zum<br />
anderen sogenannte Scouts, die den KFV und<br />
weitere Vereine aus der Ortenau besuchen<br />
und dem Straßburger Club auf diese Weise<br />
Zugang zu Talenten von der deutschen Rheinseite<br />
verschaffen.<br />
„Bislang ist es ein letter of intent“, eine Absichtserklärung,<br />
sagt Claus Haberecht. Nun<br />
komme es auf die Mitarbeit der Jugendabteilung<br />
inklusive der Trainer an, die die Vereinbarung<br />
mit Leben füllen und den Austausch<br />
im Detail ausarbeiten sollen. „<strong>Das</strong> muss von<br />
unten nach oben laufen, damit es funktioniert“,<br />
ist der KFV-Präsident überzeugt. Angedacht<br />
ist ebenfalls, dass Racing-Fußballer,<br />
die es in Straßburg nicht in den ersten Kader<br />
Claus Haberecht<br />
schaffen, in der Oberliga-Mannschaft des<br />
KFV mitspielen – wiederum ein Vorteil für<br />
beide Seiten. Um die neue Partnerschaft zu<br />
festigen, soll der nächste Elsass Spring Cup,<br />
das große europäische Jugendfußballturnier,<br />
das der KFV jährlich organisiert, gemeinsam<br />
mit Straßburg geplant werden und zum Teil<br />
im Meinau-Stadion stattfinden. Darüber hinaus<br />
soll Racing ein Vorbereitungsspiel gegen<br />
einen anderen Club im <strong>Kehl</strong>er Rheinstadion<br />
austragen: „So kann sich der Straßburger<br />
Vorzeigeverein präsentieren und Fußball, der<br />
in Straßburg gespielt wird,<br />
auch für die deutschen Zuschauer<br />
interessant werden.“<br />
Eine Kooperation in der Jugendarbeit<br />
mit einem größeren<br />
Verein bestehe beim KFV<br />
zwar schon länger, nämlich<br />
mit dem Karlsruher SC, „aber<br />
die Wege sind einfach zu<br />
weit“, sagt Claus Haberecht.<br />
Aufgrund der Entfernung<br />
hätten die Jugendlichen Probleme,<br />
Schule und Training<br />
unter einen Hut zu bringen.<br />
„Es ist ein großer Vorteil, wenn die Ausbildung<br />
heimatnah möglich ist“, meint der<br />
Präsident des Fußballvereins. Er rechnet damit,<br />
dass fünf bis sechs junge Kicker von der<br />
deutschen Rheinseite bald mit Racing trainieren<br />
können.<br />
<strong>Das</strong>s es sprachlich auf dem Rasen keine Probleme<br />
gibt, zeigt die Erfahrung: Rund 40 der<br />
350 aktiven Jugendlichen im KFV sind Franzosen.<br />
„Fußballtechnisch funktioniert die<br />
Verständigung in jedem Fall“, schmunzelt der<br />
KFV-Chef. <strong>Das</strong>s der neue Partner nicht nur<br />
ein großer Verein ist, sondern auch auf der<br />
anderen Rheinseite spielt, ist für Claus Haberecht<br />
ein besonderer Vorteil. Der Präsident,<br />
der sich bereits als langjähriger Vorstand des<br />
<strong>Stadt</strong>jugendrings und als Präsident der grenz-<br />
Wer Zumba-Kurse anbieten<br />
möchte, braucht eine spezielle<br />
Ausbildung und eine Lizenz.<br />
Auf der Suche nach Trainern ist<br />
die <strong>Kehl</strong>er Turnerschaft in Straßburg<br />
fündig geworden.
überschreitenden Jugendkulturwerkstatt<br />
Zig-Zack für<br />
deutsch-französische Jugendprojekte<br />
engagiert hatte, ist<br />
überzeugt: „Beide Staaten<br />
sind Vorreiter für Europa, wir<br />
haben fast einen gewissen<br />
Auftrag, den Rhein als Bindeglied<br />
anzunehmen und nicht<br />
mehr als Grenze zu sehen.“<br />
Die Region sei die Keimzelle<br />
Europas, meint er, und stellt<br />
die rhetorische Frage: „Wenn<br />
wir es hier nicht schaffen zusammenzuarbeiten,<br />
wo denn dann?“<br />
Der KFV ist indes nicht der einzige Verein, der<br />
den Blick auf die andere Rheinseite richtet:<br />
Die <strong>Kehl</strong>er Turnerschaft (KT) hat 2013 erstmals<br />
gemeinsam mit dem Verein Randonneurs<br />
de Strasbourg eine grenzüberschreitende<br />
„Vélo Tour“ organisiert, die es in den<br />
vergangenen Jahren nur auf der französischen<br />
Rheinseite gab. Die Radler hatten die<br />
Auswahl zwischen fünf verschieden langen<br />
Strecken, die sowohl durch die Straßburger<br />
Umgebung als auch durch die Ortenau führten.<br />
Start und Ziel waren jeweils im Garten<br />
der zwei Ufer. Die Fahrradtour, an deren Organisation<br />
Vereinsmitglieder der KT wie der<br />
Randonneurs beteiligt waren, wurde vom<br />
Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau kofinanziert<br />
und soll 2014 wiederholt werden.<br />
Klaus Groß<br />
Auch im sportlichen Alltag der KT wird die<br />
deutsch-französische Freundschaft gelebt.<br />
„Wir haben ein gutes und herzliches Verhältnis<br />
mit den Elsässern entwickelt“, meint<br />
Klaus Groß, Vorsitzender des Sportvereins.<br />
Zehn Prozent der Mitglieder<br />
seien Franzosen, „das<br />
zieht sich durch alle Sportgruppen<br />
durch“. Darüber<br />
hinaus gebe es zahlreiche<br />
Kooperationen, beispielsweise<br />
mit dem Baseball-<br />
Partner aus Straßburg,<br />
den Outlaws. Die Mannschaft<br />
spielt nicht in der<br />
französischen Baseball-Liga,<br />
sondern nimmt als Gastmannschaft<br />
am deutschen<br />
Ligabetrieb teil. Ihre Spiele<br />
trägt sie auf dem Platz der<br />
<strong>Kehl</strong>er Turnerschaft aus, zum<br />
Teil trainiert sie auch dort. „In<br />
Frankreich müssten die Outlaws<br />
viel weitere Wege zu<br />
den anderen Spielorten zurücklegen“,<br />
begründet Klaus<br />
Groß die Kooperation.<br />
Ein großer Vorteil für die KT<br />
war die Grenznähe, als der<br />
Trendsport Zumba vermehrt nachgefragt<br />
wurde. „Um das anzubieten, benötigt man<br />
Trainer, die eine spezielle Ausbildung und<br />
eine Lizenz haben“, sagt Klaus Groß. „Man<br />
kann nicht einfach rumhopsen und sagen:<br />
‚<strong>Das</strong> ist jetzt Zumba‘.“ Da der Trendsport in<br />
Straßburg längst angekommen war, ging die<br />
<strong>Kehl</strong>er Turnerschaft eine Kooperation mit der<br />
dortigen Association Boeneema Europe-Afrique<br />
ein. So können in <strong>Kehl</strong> inzwischen vier<br />
Zumba-Kurse angeboten werden, die Trainer<br />
kommen allesamt von der anderen Rheinseite.<br />
„<strong>Das</strong> hat eingeschlagen, die Stunden sind<br />
voll“, freut sich Klaus Groß über den Erfolg.<br />
Auch der Trainer der ersten Handball-Mannschaft<br />
ist ein Elsässer, zudem bietet die KT im<br />
Fitnessbereich einen Afro-Aerobic-Kurs in<br />
Zusammenarbeit mit einem professionellen<br />
Musiker der Straßburger Gruppe Sokan an.<br />
115<br />
Rund zehn Prozent der Vereinsmitglieder<br />
der <strong>Kehl</strong>er Turnerschaft<br />
sind Franzosen.<br />
Schließlich gibt es Sportgruppen, die keine<br />
KT-Mitglieder sind, aber auf dem Platz des<br />
Vereins trainieren. Dazu zählt eine Cricket-<br />
Gruppe aus Straßburg, ebenso wie eine Jugendfußballmannschaft<br />
des Eurokorps, die<br />
sich als eingetragener Verein FC Eurodistrict<br />
nennt: Die 40 bis 50 Kinder, zum Teil Deutsche,<br />
zum Teil Franzosen, treffen sich jeden<br />
Samstag in <strong>Kehl</strong>. Die Grenzüberschreitung<br />
sei völlig selbstverständlich geworden, sagt<br />
Klaus Groß. Die Grenze sei quasi gar nicht<br />
mehr existent – ein Vorteil für den größten<br />
<strong>Kehl</strong>er Verein, ist der Vorsitzende überzeugt:<br />
„Wir haben eine Großstadt nebenan. Dieses<br />
Potenzial an Mitgliedern können wir uns<br />
nicht entgehen lassen.“<br />
>>
Garten//Jardin setzt sich für die Tram ein<br />
116<br />
<strong>Kehl</strong> ohne Passerelle des deux Rives? Auch<br />
wenn man es sich heute nur noch schwer<br />
vorstellen kann: Vor elf Jahren war die Brücke,<br />
welche die beiden Teile des Gartens der zwei<br />
Ufer über den Rhein hinweg verbinden sollte,<br />
höchst umstritten. 4000 Unterschriften<br />
hatten <strong>Kehl</strong>er Bürgerinnen und Bürger gegen<br />
das von Marc Mimram geplante Bauwerk<br />
gesammelt und die damalige, konservative<br />
Straßburger <strong>Stadt</strong>regierung hätte die Gartenschau<br />
lieber ohne Brücke gefeiert. In diesen<br />
bewegten Zeiten hat sich der Verein Garten//<br />
Jardin zusammengefunden und für die Passerelle<br />
gekämpft. Zu einer kleinen Demo für die<br />
Brücke fuhren die Mitglieder sogar mit dem<br />
Kirchenschiff in die Nachbarstadt. Heute setzt<br />
sich der deutsch-französische Verein, dessen<br />
erste Mitglieder sich bei den Veranstaltungen<br />
zur Bürgerbeteiligung zum Garten der zwei<br />
Ufer und zur grenzüberschreitenden Gartenschau<br />
kennen gelernt haben, für die Verlängerung<br />
der Straßburger Tramlinie D nach <strong>Kehl</strong> ein.<br />
Jeden ersten Mittwoch im Monat von 16 Uhr<br />
an treffen sich die badischen und elsässischen<br />
Mitglieder von Garten//Jardin und ihre noch<br />
viel zahlreicheren Sympathisanten auf der<br />
Plattform der Passerelle. Ob Sonnenschein, Regen<br />
oder Schnee – das Rendezvous über dem<br />
Strom findet statt. Jeder bringt etwas mit; zu<br />
trinken und zu essen – vorwiegend Selbstgemachtes<br />
– gibt es immer reichlich. Beim Picknick<br />
tauscht man sich aus über alle Themen,<br />
die grenzübergreifend interessieren – ob es die<br />
Entwicklung Straßburgs Richtung Rhein ist, das<br />
neue Wohnquartier, das am Rande des französischen<br />
Teils des Gartens der zwei Ufer empor<br />
wächst oder eben die geplante Verlängerung<br />
der Tramlinie D von der heutigen Endhaltestelle<br />
Aristide Briand bis zum <strong>Kehl</strong>er Rathaus.<br />
Wenn es die Windverhältnisse erlauben, heftet<br />
Christel Schumm – Mitgründerin von Garten//<br />
Jardin – die Zeitungsartikel ans Brückengeländer,<br />
die zu grenzüberschreitenden Themen in<br />
den zurückliegenden Wochen in deutschen<br />
und französischen Zeitungen erschienen sind.<br />
Darunter immer wieder Texte über die Fortschritte<br />
bei den Planungen für die Tram. Für<br />
die Mitglieder und Sympathisanten von Garten//Jardin<br />
wäre die Tram über den Rhein nach<br />
dem Garten der zwei Ufer und der Passerelle<br />
die Erfüllung eines weiteren Wunschtraums.<br />
Wer mehr Informationen über die Aktivitäten<br />
des Vereins bekommen möchte, kann sich auf<br />
dessen Homepage unter www.gartenjardin.eu<br />
informieren oder sich unter gartenjardin@<br />
yahoo.eu in die Rundmailliste eintragen lassen.<br />
Vor elf Jahren hat der Verein<br />
Garten//Jardin für die Passerelle<br />
gekämpft, heute setzt er sich<br />
für die Tram ein. Beim Rheinfest<br />
zeigten die Vereinsmitglieder eine<br />
Ausstellung historischer Trambilder.<br />
Deutsch-französischer Brunch<br />
beim Rheinfest im Garten der<br />
zwei Ufer: Wer etwas zum<br />
großen Buffet beisteuerte,<br />
konnte mitessen. Betreut wurde<br />
das Buffet von Mitgliedern<br />
von Garten//Jardin.<br />
>>
Zum Open-Air-Konzert der<br />
Straßburger Philharmoniker<br />
kommen alljährlich zwischen<br />
10 000 und 15 000 Besucher<br />
von beiden Rheinseiten in den<br />
Garten der zwei Ufer.<br />
Kultur<br />
Korrespondierende Kunstwerke und das Open-Air-Konzert der Straßburger Philharmoniker<br />
im Garten der zwei Ufer, Kooperation des <strong>Kehl</strong>er Kulturbüros mit dem Straßburger<br />
Maillon-Theater, Straßburger Opern-Aufführungen im<br />
<strong>Kehl</strong>er Theater-Abonnement inklusive Mitfahrgelegenheit<br />
– Kulturinteressierten eröffnet sich durch die Grenzüberschreitung<br />
ein breites Spektrum. Vor allem durch das gemeinsame<br />
Veranstaltungsprogramm, das Straßburg und<br />
<strong>Kehl</strong> für die grenzüberschreitende Gartenschau 2004 organisiert<br />
haben, ist die Zusammenarbeit im Kulturbereich<br />
enger geworden.<br />
Mit der Gartenschau hat grenzüberschreitende Kunst dauerhaft<br />
Einzug in den Garten der zwei Ufer gehalten: Sylvie<br />
Blochers leuchtend gelb-orangene Ellipsen muten an wie<br />
fliegende Untertassen, sollen aber schwebende Inseln über<br />
dem Uferbereich darstellen, auf denen der Parkbesucher<br />
sitzend oder liegend die Aussicht über den Rhein genießen kann – idealerweise nimmt<br />
er dabei Blickkontakt zu einem Inselsitzer auf der französischen Rheinseite auf. <strong>Das</strong> zumindest<br />
ist die Intention der Künstlerin. Sitzen muss man dabei keineswegs allein: Bis<br />
zu 18 Personen oder 1200 Kilogramm kann jede der Ellipsen tragen. Der ebenfalls international<br />
renommierte Künstler Akio Suzuki hat zur Gartenschau im Straßburger Teil<br />
des Gartens ein Kunstwerk errichtet, das aus zwei wie Ohrmuscheln in einander verschlungenen<br />
Mauern besteht. Auf der deutschen Seite gibt es dazu drei kleine Platten<br />
mit Fußabdrücken – wer sich darauf stellt, soll den Garten und den Rhein in besonderer<br />
Weise hören können. Eine Grenzrose des Essener Künstlers Thomas Rother erinnert seit<br />
dem 28. Juni auf Höhe des Dammdurchbruchs in der Hagenstraße an die neun von den<br />
Nazis wenige Stunden nach der Befreiung Straßburgs am <strong>Kehl</strong>er Rheinufer ermordeten<br />
Widerstandskämpfer des Réseau Alliance. Eine weitere Grenzrose hat Oberbürgermeister<br />
Günther Petry am gleichen Tag seinem Straßburger Kollegen geschenkt – sie soll auf der<br />
gegenüberliegenden Rheinseite ihren Platz finden.<br />
2003 haben die <strong>Kehl</strong>er <strong>Stadt</strong>bibliothek und die Médiathèque Sud in Illkirch-Graffenstaden<br />
ein Partnerschaftsabkommen geschlossen. Mindestens einmal jährlich tauschen<br />
die beiden Einrichtungen rund hundert Medien (Kinder- und Jugendbücher und Kinderhörbücher)<br />
aus. Zweimal pro Jahr liest eine Mitarbeiterin der <strong>Kehl</strong>er Mediathek französischen<br />
Kindern aus deutschen Büchern vor, eine französische Kollegin revanchiert<br />
sich, indem sie <strong>Kehl</strong>er Kindern Geschichten aus französischen Büchern erzählt. Zu den<br />
Veranstaltungen kommen jeweils um die 90 Schülerinnen und Schüler.<br />
Seit 2005 konzertiert das Philharmonische Orchester alljährlich Ende Juni im Garten<br />
der zwei Ufer unter freiem Himmel und lockt jeweils 10 000 bis 15 000 Besucher von<br />
beiden Rheinseiten in den Park. In manchen Jahren haben die Städte Straßburg und<br />
<strong>Kehl</strong> das Konzert in ein zweitägiges, gemeinsames Rheinfest eingebunden, zu dem<br />
bei gutem Wetter mehrere Zehntausend Besucher in den Park strömten. Auch wenn<br />
die Philharmonie im Straßburger Musik- und Kongress-Zentrum konzertiert, kommen<br />
etwa 20 Prozent der Zuhörer von der deutschen Rheinseite; in der Rheinoper stellen die<br />
deutschen Opernfans einen Anteil von 15 Prozent an den 3700 Abonnenten und von 23<br />
Prozent an den rund 100 000 Einzelkarten-Käufern.<br />
117<br />
>>
„Grenzüberschreibung“ ist mit Edelstahlplatten zugedeckt<br />
118<br />
Sie sollten die Grenze auslöschen, die Europabrücke<br />
zum Ort machen, an dem Europa<br />
sich konkretisiert, allen Europäern Heimat<br />
geben: Mit solchen hehren Erwartungen ist<br />
das „Grenzüberschreibung“ genannte Kunstwerk<br />
aus 40 Edelstahlstelen mit Texten von<br />
Autoren aus ebenso vielen europäischen<br />
Ländern im Mai 1999 feierlich eingeweiht<br />
worden. Seit mehr als einem Jahr sind die<br />
Textfenster in den Säulen am Brückengeländer<br />
mit Edelstahlplatten abgedeckt.<br />
Die Idee, dass 40 Autoren aus den damaligen<br />
Mitgliedsstaaten des Europarates zu dessen<br />
50. Geburtstag Texte in ihrer Muttersprache<br />
über die Grenze schreiben sollten, stammt<br />
von dem Straßburger Künstler Michel Krieger,<br />
der auch der geistige Vater des Gartens<br />
der zwei Ufer ist. Die Stelen hat der in Leipzig<br />
geborene Designer Andreas Brandolini<br />
entwickelt – sie waren mit kleinen Neonröhren<br />
versehen und brachten die Texte in der<br />
Dunkelheit in allen Regenbogenfarben zum<br />
Leuchten. Die Freude an dem symbolträchtigen<br />
Kunstwerk währte allerdings nicht lange:<br />
Immer wieder wurden die Kunststoffplatten,<br />
welche die Texte schützten, zerkratzt, eingeschlagen<br />
oder mit Farbe beschmiert. Die<br />
Kabel, über die die Leuchtröhren im Innern<br />
der Kästen mit Strom versorgt wurden, wurden<br />
abgeschnitten und in den vergangenen<br />
Jahren – weil aus Kupfer – immer wieder<br />
gestohlen. Sogar die auf Platten gedruckten<br />
Texte wurden entwendet.<br />
Weil nicht klar ist, wie das Kunstwerk auf<br />
der Europabrücke so wiederhergestellt und<br />
geschützt werden kann, dass es nicht gleich<br />
wieder zerstörungswütigen Zeitgenossen<br />
zum Opfer fällt, haben sich die Städte Straßburg<br />
und <strong>Kehl</strong> auf eine Übergangslösung<br />
verständigt: Die Textkästen der Stelen wurden<br />
mit Edelstahlplatten verschlossen.<br />
Zirkus auf französische Art oder<br />
modernes Tanztheater:<br />
<strong>Das</strong> Programm des Straßburger<br />
Maillon-Theaters zieht auch<br />
deutsche Zuschauer an.<br />
<strong>Das</strong> älteste grenzüberschreitende<br />
Kunstwerk – die Grenzüberschreibung<br />
auf der Europabrücke<br />
– wurde immer wieder mutwillig<br />
zerstört.<br />
Kultur auf der anderen Rheinseite oder:<br />
„Die Deutschen lachen an anderen Stellen“<br />
>><br />
Schwindelerregende Akrobatik, französischer<br />
Zirkus und hochkarätige Theatergruppen – das<br />
Straßburger Theater Le Maillon bringt zeitgenössische<br />
Kunst auf die Bühne, die auch<br />
deutsche Kulturliebhaber fasziniert. Rund 250<br />
Abonnenten kommen inzwischen aus Deutschland,<br />
vorwiegend aus <strong>Kehl</strong> und der Ortenau – ein<br />
Erfolg, der unter anderem der langjährigen Kooperation<br />
zwischen dem Straßburger Theater<br />
und dem <strong>Kehl</strong>er Kulturbüro zuzuschreiben ist.<br />
Wenn das Programm für die folgende Kultursaison<br />
geplant wird, setzen sie sich alljährlich<br />
zusammen an einen Tisch: Bernard Fleury,<br />
Direktor des Straßburger Maillon-Theaters,<br />
Stefanie Bade, Leiterin des <strong>Kehl</strong>er Kulturbüros,<br />
sowie Mitarbeiter des Kulturbüros und<br />
der Kunstschule Offenburg. Gemeinsam wird<br />
überlegt, bei welchen Stücken sich eine grenzüberschreitende<br />
Zusammenarbeit anbietet.<br />
„Wir legen immer Wert darauf, dass ein Zirkus<br />
darunter ist“, sagt Stefanie Bade, „weil französischer<br />
Zirkus eine ganz besondere Sparte<br />
ist, viel poetischer und artistischer als Zirkus<br />
in Deutschland“. Eine Veranstaltung könne<br />
ein Konzert sein oder etwas Tänzerisches –
Unterhaltung fürs Auge:<br />
Bei vielen kulturellen Veranstaltungen<br />
sind Fremdsprachenkenntnisse<br />
nicht vonnöten.<br />
„etwas, das wir hier in <strong>Kehl</strong><br />
nicht anbieten können“. Besonders<br />
wichtig ist es ihr<br />
allerdings, dass die <strong>Kehl</strong>er im<br />
Straßburger Maillon in den Genuss<br />
eines bedeutenden deutschen,<br />
zeitgenössischen Theater-Ensembles<br />
kommen, wie<br />
beispielsweise der Volksbühne<br />
Berlin, die schon öfters in der<br />
Nachbarstadt zu Gast war.<br />
„Wir laden regelmäßig deutsche<br />
Theatergruppen nach<br />
Frankreich ein“, sagt Bernard Fleury, der das<br />
Maillon-Theater seit 2002 leitet, „nicht nur<br />
aus Berlin, auch aus Dresden, Düsseldorf oder<br />
Köln“. Zu solchen Aufführungen kommen besonders<br />
viele deutsche Zuschauer, weiß der<br />
Maillon-Direktor aus Erfahrung. „So etwas<br />
gibt es in ihren eigenen Städten oft nicht“,<br />
erklärt er und fügt schmunzelnd hinzu: „So<br />
gesehen hilft der Austausch an der deutschfranzösischen<br />
Grenze auch der Beziehung<br />
der Deutschen zum deutschen Theater“.<br />
Der Austausch, von dem er spricht, besteht<br />
zum einen darin, dass die ausgewählten<br />
Stücke in die Theaterprogramme in <strong>Kehl</strong> und<br />
Offenburg aufgenommen und vor Ort Karten<br />
dafür verkauft werden. <strong>Das</strong> Maillon-Theater<br />
sorgt außerdem – falls die Veranstaltung<br />
es erfordert – für eine Untertitelung, damit<br />
deutsche Besucher keine Verständnisschwierigkeiten<br />
haben. Zum anderen fährt<br />
bereits seit 2005 ein sogenannter Kulturbus<br />
über den Rhein. Er bringt Interessierte aus<br />
Bernard Fleury<br />
Offenburg und <strong>Kehl</strong> direkt<br />
ins Maillon-Theater oder umgekehrt<br />
auch Straßburger<br />
zu Veranstaltungen auf die<br />
deutsche Rheinseite. „20<br />
bis 25 <strong>Kehl</strong>erinnen und <strong>Kehl</strong>er<br />
nutzen den Kulturbus im<br />
Durchschnitt, wenn er zu einer<br />
Zirkus-Aufführung nach<br />
Straßburg fährt“, sagt Stefanie<br />
Bade, bei Theaterstücken<br />
seien es weniger. Pro Saison<br />
gibt es derzeit drei Veranstaltungen<br />
im Maillon-Theater,<br />
zu dem <strong>Kehl</strong>er Kulturfreunde per Kulturbus<br />
anreisen können.<br />
„Unser Publikum ist jetzt teilweise deutsch, das<br />
hat sich mit der Kooperation so entwickelt“,<br />
freut sich Bernard Fleury. Von den 2800 Abonnenten<br />
des Theaters seien rund 250 Deutsche.<br />
„<strong>Das</strong> ist ein großer Anteil für ein Theater“, sagt<br />
der Direktor. „Im Musikbereich sind solche<br />
Zahlen natürlich ganz normal, aber im Theaterund<br />
Tanzbereich mit zeitgenössischer Kunst<br />
ist das ein besonderer Erfolg.“ Der grenzüberschreitende<br />
Kulturbus, der als Kooperation<br />
zwischen dem Maillon und der Kunstschule Offenburg<br />
entstanden ist und zeitweise vom Eurodistrikt<br />
Strasbourg-Ortenau gefördert wurde,<br />
habe dazu entscheidend beigetragen. „Ich weiß,<br />
dass es Zuschauer gibt, die erst mit dem Kulturbus<br />
gekommen sind und die sich inzwischen<br />
privat organisieren, um herzukommen“, erzählt<br />
Bernard Fleury. Durch die vielen Zuschauer<br />
von der anderen Rheinseite hat er inzwischen<br />
auch gelernt: Die Deutschen haben einen anderen<br />
Humor als ihre französischen Nachbarn.<br />
„Wenn wir ein volles Haus haben und ein Drittel<br />
des Publikums deutsch ist, dann ist es sehr<br />
lustig zu sehen, dass die Deutschen an anderen<br />
Stellen lachen. Und das liegt nicht nur an<br />
der zeitlichen Verzögerung durch die Übersetzung.“<br />
Bernard Fleury wünscht sich, die grenzüberschreitende<br />
Zusammenarbeit noch weiter<br />
ausbauen zu können – sofern die finanziellen<br />
Mittel es erlauben. „Denn ich denke, dass sich<br />
Europa auch über die Kultur entwickeln wird.<br />
Und das Maillon ist ein französisches Theater<br />
mit einem europäischen Konzept.“<br />
>><br />
119
Medien<br />
50 Jahre deutsch-französische Freundschaft, 20 Jahre offene Grenzen – eigentlich<br />
müsste man sich kennen. <strong>Das</strong> Nachbarland ist so nah – und doch ist alles anders. Die<br />
Unterschiede aufzuzeigen und zu erklären, dazu tragen auch die Medien der Region<br />
bei. Doch wie sieht die Berichterstattung abseits von festlichen Anlässen und Jahrestagen<br />
aus?<br />
Grenzüberschreitende Berichterstattung oder:<br />
Was interessiert den Nachbarn?<br />
120<br />
>><br />
Der deutsch-französische Sender arte, der<br />
2012 sein 20-jähriges Bestehen feierte, verdankt<br />
dem grenzüberschreitenden Blick<br />
seine gesamte Existenz. Doch Themen aus<br />
der Region sind – trotz artes Hauptsitzes<br />
in Straßburg – nicht zwangsläufig die Regel.<br />
„Unsere Innenpolitik ist die Europapolitik“,<br />
sagt Sinje Matzner, Leiterin der Nachrichtensendung<br />
„arte journal“. Sprich: „Wenn<br />
der Euro gerettet werden muss, wenn Griechenland<br />
Hilfe braucht – das ist unser Kern.“<br />
Trotzdem wagt arte immer wieder den Blick<br />
vor die eigene Haustür, häufig<br />
in Fünf-Minuten-Reportagen<br />
am Sonntag. Da<br />
werden dann zum Beispiel<br />
das Schicksal der Raffinerie<br />
Petroplus in Reichstett thematisiert<br />
oder die Sparpläne<br />
beim PSA-Werk (Peugeot/<br />
Citroën) in Mulhouse. „Die<br />
Probleme sind oft beidseits<br />
des Rheins die gleichen“, sagt<br />
Sinje Matzner. Insofern sei es<br />
interessant, immer wieder in<br />
diesen Mikrokosmos Straßburg-Ortenau<br />
hineinzuschauen, welche Antworten<br />
sich hier für welche Fragestellungen<br />
ergeben. Generell liege für den Zuschauer<br />
der Reiz des „arte journals“ in der Erwartung,<br />
etwas zu sehen, „was man zuhause in<br />
seinem nationalen Mediensystem nicht bekommt.<br />
Und das entsteht, weil Deutsche und<br />
Franzosen gemeinsam in einer Redaktion<br />
sitzen und stundenlang über Themen diskutieren.“<br />
<strong>Das</strong> Ergebnis könne dann schon mal<br />
„sehr speziell sein“, räumt sie ein. „Manchmal<br />
Sinje Matzner<br />
fallen Dinge raus, weil eine der beiden Seiten<br />
sagt: <strong>Das</strong> versteht bei uns keiner. Oder: <strong>Das</strong><br />
interessiert bei uns keinen.“<br />
Mit seinem Ansatz und seiner binationalen<br />
Entstehungsweise hat arte freilich eine Sonderposition<br />
unter den Medien der Region.<br />
Meist sind die Themen am Quai du Chanoine<br />
Winterer planbarer, hintergründiger als bei<br />
den Mitbewerbern, die mehr auf lokale Aktualität<br />
reagieren müssen. „Wenn ein schwerer<br />
Unfall passiert, wie zum Beispiel im Sommer<br />
auf der A5 bei Rust, holen wir<br />
uns selbstverständlich Bildmaterial<br />
von den Kollegen<br />
vom SWR“, sagt John Reichenbach,<br />
stellvertretender<br />
Chefredakteur von France<br />
3 in Straßburg. „Auch die<br />
Eröffnung eines besonderen<br />
Supermarktes kann ein<br />
Thema für uns sein“ – bis<br />
hinunter nach Basel, denn<br />
Grenzen überschreitet man<br />
bei France 3 dreieckförmig<br />
mit der Schweiz. Doch die<br />
entsprechenden Inhalte werden weniger: Im<br />
Juni 2013 hat der Kanal seine Sendung „Deux<br />
Rives“ eingestellt – nach rund zwölf Jahren.<br />
Der Straßburger Gemeinderat nahm dies zum<br />
Anlass, in einer Resolution Ende September<br />
die Aufrechterhaltung des lokalen Formats zu<br />
fordern. Als festes Programmelement bleibt<br />
„Rund Um“, ein montags bis freitags ausgestrahltes<br />
Nachrichtenjournal mit Reportagen<br />
aus der Region. „Manchmal kaufen wir interessante<br />
Programminhalte aus Deutschland<br />
John Reichenbach, stellvertretender<br />
Chefredakteur von France 3:<br />
„Was wir über die andere Rheinseite<br />
machen, interessiert in<br />
Paris eher wenig.“
oder der Schweiz dazu“, sagt John Reichenbach.<br />
Er weiß aber auch: „Was wir über die andere<br />
Rheinseite machen, interessiert in Paris eher<br />
wenig.“ Für Paris ist das Straßburger Studio<br />
hauptsächlich wegen der EU-Institutionen<br />
relevant. Trotzdem hat er das Gefühl, „dass<br />
wir uns unseren Nachbarn immer mehr öffnen“.<br />
In seinen Augen nicht<br />
von ungefähr: „Die Elsässer<br />
sind vielleicht europäischer<br />
als der Rest Frankreichs.“<br />
Vielleicht finden sie es aber<br />
auch einfach nur praktisch,<br />
in Deutschland einkaufen zu<br />
können. Oder sie gehen gerne<br />
ins Theater oder in eine Ausstellung.<br />
Viele Elsässer greifen<br />
dann zur DNA (Dernières<br />
Nouvelles d’Alsace), die zweimal<br />
im Monat ihre „Kulturagenda“<br />
herausbringt: Zwei Seiten mit allen<br />
wichtigen Terminen zwischen Karlsruhe und<br />
Basel. Außerdem gibt es weitere Tipps und<br />
Berichte in der Wochenendbeilage „Reflets“.<br />
Bis 2012 hatte die DNA sogar eine deutschsprachige<br />
Ausgabe, die als „Straßburger Neueste<br />
Nachrichten“ bereits 1877 geboren wurde.<br />
<strong>Das</strong> Ende folgte nicht zuletzt aufgrund der<br />
strengen Sprachpolitik der französischen Regierung,<br />
die es nicht erlaubte, bestimmte Teile<br />
der Zeitung auf Deutsch zu veröffentlichen.<br />
Heute erhalten die Abonnenten der zweisprachigen<br />
Ausgabe eine dünnere deutsche<br />
Beilage mit der regulären DNA mitgeliefert.<br />
Eine deutschsprachige Internetseite gibt es<br />
weiterhin. Der stellvertretende Chefredakteur<br />
Jean-Marc Thiébaut verweist auf besondere<br />
Projekte, wie „Salut Voisin“, um die mediale<br />
Verbundenheit beider Länder zu demonstrieren.<br />
Eine der Geschichten in „Salut Voisin“<br />
handelt von zwei Reportern aus beiden Ländern,<br />
die einen Tag am Rhein entlang spaziert<br />
sind und ihre Eindrücke anschließend gemeinsam<br />
aufgeschrieben haben. Solche journalistischen<br />
Gelegenheiten sind selten geworden<br />
in einer Branche, die sparen muss.<br />
Ob eine Geschichte gemacht wird oder nicht,<br />
ist für Jean-Marc Thiébaut allein eine Frage<br />
Jean-Marc Thiébaut<br />
des gesellschaftlichen Auftrags. „Wir verkaufen<br />
keine Schuhe oder Currywürste. Eine Beilage<br />
wie ,Salut Voisin’ machen wir nicht, damit<br />
sie gut ankommt. Sondern weil sie für das<br />
Zusammenleben beider Nationen einen Sinn<br />
ergibt.“ Dazu gehörte auch 2013 wieder eine<br />
intensive Berichterstattung rund um die Bundestagswahl,<br />
bei der während<br />
der heißen Phase in der DNA<br />
jeden Tag ein Leitartikel zu<br />
lesen war. Relevant seien Themen<br />
auch dann, wenn sie Vergleiche<br />
zulassen, sagt Jean-<br />
Marc Thiébaut. „Wir schauen<br />
zum Beispiel regelmäßig, was<br />
in Baden-Württemberg besser<br />
läuft als bei uns und<br />
erklären es unseren Lesern.<br />
Einen Artikel über das Schulsystem<br />
und die Sprachen<br />
kann man dann hervorragend<br />
verbinden mit ökonomischen Fakten. Oder<br />
wir schicken einen Mitarbeiter nach Freiburg<br />
zur Eröffnung eines Öko-Viertels. Warum?<br />
Weil wir im Elsass auch Öko-Viertel haben.“<br />
„Unsere Berichterstattung hat sich verändert“,<br />
sagt Hubert Röderer von der Badischen Zeitung,<br />
Redaktion Offenburg. „Spätestens seit<br />
dem Schengener Abkommen und der Tatsache,<br />
dass die Grenze heute kinderleicht<br />
zu passieren ist, sind die Menschen von hier<br />
neugieriger geworden auf ihre Nachbarn. Und<br />
das ist gut so.“ Bei der BZ liefert eine Korrespondentin<br />
regelmäßig Berichte über das<br />
Elsass, die teilweise nicht nur in der Offenburger,<br />
sondern gleich in der Gesamtausgabe<br />
erscheinen. Jeden Samstag gibt es zudem die<br />
Rubrik „Blick ins Elsass“, mit „allen möglichen<br />
Terminen, vom historischen Dorffest über eine<br />
Theaterpremiere bis zum Fußballspiel im großen<br />
Straßburger Stadion. Aber auch politische<br />
Entwicklungen und Tourismus. Wir betrachten<br />
das als grundlegenden Service.“<br />
Mit ihrem wöchentlichen Serviceteil kommen<br />
die Badischen Neuesten Nachrichten (BNN)<br />
nach Aussage von Frank Löhnig von der Lokalausgabe<br />
Acher- und Bühler Bote gut an.<br />
„Vor allem für die jugendliche Zielgruppe lie-<br />
>><br />
121
SONDERBEILAGE MITT<br />
122<br />
>><br />
fern wir grenzüberschreitend Infos, die relevant<br />
sind.“ Dazu kommt einmal im Monat ein<br />
Blick auf das Straßburger Kulturprogramm.<br />
Themen, die für einen größeren Leserkreis<br />
wichtig sein könnten, wie etwa die Bebauung<br />
Straßburgs in Richtung Rhein, schafften es<br />
auch in den Regionalteil der Zeitung. Generell<br />
ist die Aufteilung folgendermaßen: Die Lokalredaktion<br />
in Bühl betreut auf französischer<br />
Seite Haguenau und das Umland. Von Achern<br />
aus blickt man südlicher, auf Straßburg und<br />
Umgebung. Zu besonderen Anlässen kann die<br />
Berichterstattung im Lokalteil auch mal bis<br />
ins elsässische Rosheim gehen, schließlich ist<br />
es die Partnerstadt von Kappelrodeck.<br />
Der regionale Bezug ist auch<br />
für die Zeitungen der Mittelbadischen<br />
Presse (Reiff<br />
Medien) mitunter ausschlaggebend,<br />
damit sie grenzüberschreitend<br />
berichten. Häufig<br />
werden dann Ereignisse von<br />
weiter weg lokal verortet, wie<br />
beim Besuch von Bundespräsident<br />
Gauck in Oradour-sur-<br />
Glane Anfang September,<br />
wo im Zweiten Weltkrieg<br />
Hunderte Bewohner von der<br />
deutschen Waffen-SS getötet<br />
wurden. Auch elsässische Zwangsrekrutierte<br />
waren damals beteiligt – die Mittelbadische<br />
Presse hat das Thema deshalb anlassbezogen<br />
in der Region verankert. Wirtschaftsthemen<br />
spielen ebenfalls eine Rolle, wenn etwa<br />
das deutsche Sparkonzept Auswirkungen auf<br />
die Hochgeschwindigkeitstrasse für TGV und<br />
ICE hat. „Wir lassen immer wieder einflussreiche<br />
Persönlichkeiten aus Straßburg und<br />
dem Elsass zu Wort kommen“, sagt Sigrid<br />
Hafner von der Mittelbadischen Presse, „von<br />
der Handwerks- zur Handelskammer, von der<br />
Straßburger <strong>Stadt</strong>führung bis zum Präsidenten<br />
des elsässischen Regionalrats“.<br />
Sigrid Hafner<br />
Neuland betrat Reiff vor einigen Jahren mit<br />
speziellen Magazinen über den Eurodistrikt<br />
und die Metropolregion Oberrhein, die komplett<br />
in deutscher und französischer Sprache<br />
erscheinen, wie „360 Grad“ oder das „Metromagazin“.<br />
Dabei handelt es<br />
sich um Kooperationsprojekte<br />
mit der Wirtschaftsregion<br />
Offenburg/Ortenau,<br />
der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg<br />
und dem Eurodistrikt,<br />
mit denen auf Messen „die<br />
Stärken und Chancen der<br />
Grenzregion präsentiert werden“,<br />
sagt Sigrid Hafner.<br />
Außerdem produziert Reiff<br />
mit „Salut l’Ortenau“ und<br />
„Bienvenue – willkommen in<br />
Straßburg“ zwei Magazine,<br />
die sich an französische Leser<br />
in den Randgemeinden Straßburgs<br />
beziehungsweise an<br />
deutsche Leser im Verbreitungsgebiet<br />
der Mittelbadischen<br />
Presse richten. „Salut“<br />
erschien erstmals 2003 und<br />
wird heute siebenmal pro<br />
Jahr kostenlos verteilt. Den<br />
Schwerpunkt bilden Termine<br />
aller Art: Kulturelle Veranstaltungen,<br />
Feste, verkaufsoffene<br />
Sonntage. „Daneben<br />
werden Land, Leute, Tradi tio -<br />
nen, Brauchtum aber auch<br />
Neuigkeiten aus Politik und<br />
Wirtschaft thematisiert“ erklärt Sigrid Hafner.<br />
„Bienvenue“, ein Kooperationsprojekt mit der<br />
Händlervereinigung Vitrines de Strasbourg<br />
und Reiff Medien, gibt es seit 2005. Es erscheint<br />
viermal jährlich und fußt auf einem<br />
ähnlichen Prinzip wie sein Pendant.<br />
„Verbraucherthemen gehen immer“, sagt<br />
Markus Knoll, der Geschäftsführer von Hitradio<br />
Ohr, das ebenfalls zu Reiff gehört. Gerade<br />
deshalb könnten die Medien auf der<br />
anderen Rheinseite in Bezug auf Deutschland<br />
manchmal ein bisschen mehr machen,<br />
findet er. „Die Franzosen gehen heute bei<br />
uns essen und trinken – und vielleicht bestellen<br />
sie sich einen deutschen Wein dazu,<br />
was noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen<br />
wäre. Darüber könnten sie mehr berichten.“<br />
Seit sechs Jahren widmet sich Hitradio<br />
Ohr jeden zweiten Sonntag in der Sendung<br />
Gleich in mehreren Magazinen<br />
werden den Lesern die Besonderheiten<br />
auf der jeweils anderen<br />
Rheinseite nahegebracht.<br />
Unsere Themen<br />
Freibad Wacken:<br />
»Nordisches«<br />
Becken erlaubt<br />
Nutzung das<br />
gesamte Jahr.<br />
Forscher von<br />
Weltruf arbeiten<br />
an der Universität<br />
Straßburg.<br />
Europäische Forschungseinrichtung<br />
muss wohl<br />
Arbeit einstellen.<br />
Für die Kleinen:<br />
Am 27. und 30.<br />
März überreichen<br />
übergroße Osterhasen<br />
auf dem<br />
Gutenbergplatz<br />
kleine Geschenke.
ELBADISCHE PRESSE www.bo.de Mittwoch, 20. März 2013<br />
Dans ce numéro<br />
Fête du vin<br />
d’Offenbourg :<br />
un moment exceptionnel<br />
avec le<br />
couronnement de<br />
la Reine des vins<br />
allemande<br />
Saveurs automnales<br />
: les auberges<br />
de vignerons<br />
ouvrent leurs<br />
portes<br />
A Lahr, le festival<br />
floral Chrysanthema<br />
est sur le<br />
point d’éclore<br />
Saison<br />
des vendanges<br />
: l’occasion<br />
de découvrir les<br />
marchés paysans<br />
de la région<br />
Festival « Rheingeflüster<br />
» à<br />
<strong>Kehl</strong> : ambiance<br />
garantie sur les<br />
rives du fleuve<br />
La Oberrheinmesse<br />
fête son<br />
75e anniversaire<br />
MITTELBADISCHE PRESSE www.bo.de Septembre 2013<br />
„Bienvenue“ der Aufgabe,<br />
den Deutschen ihre<br />
französischen Nachbarn<br />
näherzubringen<br />
und umgekehrt – drei<br />
Stunden lang. Da werden<br />
dann zum Beispiel die<br />
Unterschiede zwischen<br />
Abitur und Baccalaureat<br />
erläutert oder Sommerferien<br />
im Schwarzwald<br />
aus Sicht der Franzosen<br />
beschrieben. Es wird viel<br />
französische Musik gespielt,<br />
was für zahlreiche Hörer<br />
schon ein Wert an sich ist.<br />
Außerdem verpacken Markus<br />
Knoll und „Bienvenue“-Produzentin<br />
Wiebke Ecklé in ihrer eigenen Kult-Rubrik<br />
„Französisch mit Wiebke und Markus“ die<br />
feinen Unterschiede zwischen den Kulturen.<br />
„Wir mokieren uns gegenseitig über unsere<br />
Nationen“, sagt Markus Knoll über die<br />
gebürtige Deutsche Wiebke Ecklé, die aber<br />
in Frankreich wohnt. „Ansonsten möchten<br />
wir in den drei Stunden alles abbilden, was<br />
für einen Deutschen im Elsass relevant sein<br />
könnte: Ausflugstipps, Politisches, bunte<br />
Meldungen.“ Oft kämen die Anregungen für<br />
Themen auch von den Hörern, sagt Wiebke<br />
Ecklé. Und natürlich die Termine. „Anfangs<br />
mussten wir uns die Quellen zusammensuchen.<br />
Heute können wir uns kaum retten.“<br />
Wenn Infos besonders interessant oder wichtig<br />
seien, schiebt Wiebke Ecklé sie auch mal<br />
ihren Kollegen aus der Nachrichten redaktion<br />
zu. „Meine Informationen kommen aus dem<br />
gesamten Elsass, das kann schon mal 250<br />
Kilometer vom Sender in Offenburg entfernt<br />
sein.“ Markus Knoll formuliert es so: „Es ist<br />
durchaus politisch gewollt, dass wir diese<br />
Sendung machen. Als Medienschaffende<br />
verstehen wir uns auch als Mittler zwischen<br />
den beiden Nationen.“<br />
123<br />
Kirchen<br />
Seit etwa 25 Jahren pflegen die beiden großen Kirchen in <strong>Kehl</strong> Kontakte zu Partnergemeinden<br />
in Straßburg. Daraus ist eine grenzüberschreitende Ökumene gewachsen.<br />
Grenzüberschreitende Ökumene: „Es sind feste Brücken entstanden“<br />
Ob bei der grenzüberschreitenden Gartenschau<br />
oder beim Rheinfest der Städte Straßburg<br />
und <strong>Kehl</strong>: Grenzüberschreitende ökumenische<br />
Gottesdienste waren und sind ein<br />
Anziehungspunkt. Selbst in Zeiten, in denen<br />
die großen Kirchen über eine schwindende<br />
Zahl von sonntäglichen Kirchgängern<br />
klagen, füllt sich das Rheinvorland, wenn<br />
die Menschen von beiden Rheinseiten zum<br />
Open-Air-Gottesdienst eingeladen werden.<br />
Doch auch über diese Gottesdienste hinaus<br />
haben sich die Kontakte der Kirchen über die<br />
deutsch-französische Grenze mit den Jahren<br />
verfestigt. „Ein gemeinsames ökumenisches<br />
Bewusstsein über den Rhein hinweg ist entstanden“,<br />
sagt Alban Meier. „Im kirchlichen<br />
Leben in <strong>Kehl</strong> ist die grenzüberschreitende<br />
Ökumene nicht mehr wegzudenken“, ergänzt<br />
Günter Ihle, der als <strong>Kehl</strong>er Dekan von der<br />
evangelischen Landeskirche in Baden eigens<br />
damit beauftragt ist, die deutsch-französischen<br />
Kontakte zu pflegen.<br />
Fragt man den katholischen Pfarrer im Ruhestand<br />
danach, wann alles begonnen hat, muss<br />
er nicht lange nachdenken: Als sich <strong>Kehl</strong>erinnen<br />
und <strong>Kehl</strong>er Ende der 80er-Jahre gegen die<br />
vom Land im <strong>Kehl</strong>er Hafen geplante Sondermüllverbrennungsanlage<br />
wehrten, „haben wir<br />
uns mit der Bitte um Unterstützung auch an<br />
Frankreich gewandt“. Aus dieser Kontaktaufnahme<br />
entstand eine gemeinsame, ökumenische<br />
Arbeitsgemeinschaft der Kirchen von beiden<br />
Rheinseiten. Katholiken und Protestanten<br />
>>
124<br />
haben sich nicht nur Demonstrationen gegen<br />
die Sondermüllverbrennungsanlage angeschlossen,<br />
sondern sich in der Folge jahrelang<br />
abwechselnd in <strong>Kehl</strong> und Straßburg getroffen,<br />
um über Umweltthemen aus theologischer<br />
Sicht zu sprechen. Bei diesen Treffen ist die<br />
Idee entstanden, jeweils am dritten Adventssonntag<br />
um 16 Uhr im Straßburger Münster<br />
einen deutsch-französischen ökumenischen<br />
Friedensgottesdienst zu feiern. Während sich<br />
die Umwelt-Arbeitsgruppe nach der Gartenschau<br />
aufgelöst hat, wird der Advents-Gottesdienst<br />
immer noch begangen.<br />
Ebenfalls in den 80er-Jahren hat die katholische<br />
Kirche damit begonnen, die katholische<br />
Gemeinde aus dem grenznahen Straßburger<br />
<strong>Stadt</strong>teil Neuhof zum Fronleichnamsfest nach<br />
<strong>Kehl</strong> einzuladen. Dieser katholische Festtag<br />
wird heute noch gemeinsam gefeiert. Weil<br />
Fronleichnam im Elsass kein Feiertag ist, können<br />
daran jedoch nur die älteren Gemeindemitglieder<br />
teilnehmen, bedauert Alban Meier.<br />
1989 erwarb die evangelische Landeskirche<br />
der Pfalz die „Wichern“, verhalf damit Schifferpfarrer<br />
Heino Pönitz zu einem Schiff und<br />
schickte ihn an den Rhein. Die „Wichern“ war<br />
von Anfang an grenzüberschreitend gedacht,<br />
erklärt Heino Pönitz, der – des Französischen<br />
problemlos mächtig – auf dem Schiff<br />
deutsch-französische Paare traute und auch<br />
französische Kinder taufte. Als nach den<br />
Kommunalwahlen in Frankreich 2001 das<br />
Straßburger Tandem Fabienne Keller/Robert<br />
Grossmann die Führung im Straßburger Rathaus<br />
übernahm und von der Idee des Gartens<br />
der zwei Ufer und der Passerelle anfangs wenig<br />
erbaut war, fuhr Heino Pönitz mit der „Wichern“<br />
mit Mitgliedern des Vereins Garten//<br />
Jardin über den Rhein, um am französischen<br />
Ufer für die Passerelle zu kämpfen.<br />
1994 hat die evangelische Kirche damit begonnen,<br />
unter dem Titel „Zwei Ufer, eine<br />
Quelle“ grenzüberschreitende Gottesdienste,<br />
Konzerte und Begegnungen zu organisieren.<br />
Der Titelsong dieses Treffens gehört heute<br />
zum festen Bestandteil des gemeinsamen<br />
Gesangbuches der evangelischen Kirchen im<br />
Elsass und in Baden. Partnerschaften zwischen<br />
evangelischen Kirchengemeinden auf<br />
beiden Rheinseiten sind ebenso entstanden<br />
wie eine gemeinsame Arbeitsgruppe, die der<br />
gegenseitigen Information und Kontaktpflege<br />
dient, die aber auch gemeinsame Vorhaben<br />
plant. „Es ist einfach gut, wenn man sich<br />
kennt und zueinander Vertrauen hat“, betont<br />
Günter Ihle, der selber das Leben an der Grenze<br />
als eine große Bereicherung empfindet.<br />
Regelmäßig treffen sich zudem die Pfarrerinnen<br />
und Pfarrer der Dekanate <strong>Kehl</strong> und<br />
Straßburg, um sich über Themen auszutauschen,<br />
die beide Seiten beschäftigen („Kirche<br />
und Diakonie“, „Aktive und passive Sterbehilfe“,<br />
Vorbereitung des großen Taizé-Treffens).<br />
Ebenso wird ein regelmäßiger Gedankenaustausch<br />
auf leitender Ebene zwischen beiden<br />
Kirchen gepflegt.<br />
Die rheinübergreifenden Kontakte beider<br />
Kirchen haben sich im Vorfeld der grenzüberschreitenden<br />
Gartenschau „wunderbar<br />
bewährt“, sagt Alban Meier. Die Kirchen veranstalteten<br />
im <strong>Kehl</strong>-Straßburger Festsommer<br />
2004 nicht nur ein halbes Jahr lang an<br />
Sonntagen ökumenische Gottesdienste auf<br />
der Hauptbühne im Kasernenareal, sondern<br />
betrieben gemeinsam die „Arche“, die neben<br />
der Passerelle vor Anker lag. Dieses speziell<br />
für die Gartenschau erbaute Kirchenschiff<br />
entwickelte sich während der 171 Tage zu<br />
einem Ort der Begegnung und der Information<br />
– Mitarbeiter der Kirchen waren immer<br />
vor Ort, mit zahllosen Veranstaltungen konnten<br />
Tausende von Menschen erreicht werden.<br />
„Die Landesgartenschau<br />
hat einen großen Schub<br />
gebracht“, erinnert sich<br />
Alban Meier. Auch Heino<br />
Pönitz schwärmt heute<br />
noch von der damaligen<br />
Gemeinschaft und der Begeisterung<br />
fürs gemeinsame<br />
Arbeiten.<br />
Geblieben sind von der<br />
Gartenschau der Biblische<br />
Garten, der von katho-<br />
Die Arche bei der Gartenschau:<br />
171 Tage lang war das Kirchenschiff<br />
ein Ort der grenzübergreifenden<br />
ökumenischen Begegnung.<br />
Geblieben sind von der Gartenschau<br />
2004 der Biblische Garten<br />
und der grenzüberschreitende<br />
Versöhnungsweg.<br />
>>
lischen Gemeindegliedern regelmäßig gepflegt<br />
wird, ebenso wie der grenzüberschreitende<br />
Versöhnungsweg, der von Rothau<br />
und Schirmeck in den Vogesen über <strong>Kehl</strong> bis<br />
nach Rastatt führt. Die Broschüre, welche<br />
die Stationen der Erinnerungen aufführt und<br />
beschreibt, sei immer noch sehr gefragt, berichtet<br />
Alban Meier.<br />
Geblieben sind überdies zahlreiche private<br />
Kontakte, welche über die Jahre hinweg<br />
durch die grenzüberschreitende Kooperation<br />
entstanden sind. Über private Beziehungen<br />
kam der elsässische Schriftsteller und Poet<br />
André Weckmann in die Gottesdienste in<br />
der katholischen Gemeinde St. Maria, wo er<br />
immer wieder elsässische Texte gelesen hat.<br />
Wie der evangelische Straßburger Pfarrer<br />
Jean-Jacques Reutenauer hat auch André<br />
Weckmann beim Volkstrauertag in <strong>Kehl</strong> eine<br />
vielbeachtete Rede gehalten. „Man ist sich<br />
mit den Jahren nähergekommen“, sagt Alban<br />
Meier, der regelmäßig seine engen freundschaftlichen<br />
Kontakte über den Rhein pflegt,<br />
„es sind feste Brücken entstanden, man begegnet<br />
sich laufend“. Wenn er früher in Straßburg<br />
gefragt habe: „Kennt ihr <strong>Kehl</strong>?“, habe er<br />
meist zur Antwort erhalten: Ja, Aldi und Tanken.<br />
„<strong>Das</strong>s hier auch Katholiken wohnen, war<br />
gar nicht im Blickfeld. <strong>Das</strong>s Begegnungen<br />
heute häufig und selbstverständlich geworden<br />
sind, dazu denke ich, haben wir von kirchlicher<br />
Seite auch etwas beitragen können.“<br />
In einer Zeit, in der „allgemein eine gewisse<br />
Europamüdigkeit zunimmt“ und die evangelischen<br />
Kirchen hüben wie drüben aufgrund<br />
ihrer Struktur- und Finanzprobleme „zu sehr<br />
mit sich selbst beschäftigt sind“, wünscht sich<br />
Dekan Günter Ihle, eine „breitere Basis“ für die<br />
flussübergreifenden Beziehungen, eine, die<br />
über „die Kreise von Freunden“ hinausgeht.<br />
Durch eine gegenseitige Repräsentanz in den<br />
Gremien würde er gerne „die Verbindlichkeit<br />
des Miteinanders“ erhöhen. Ansätze gibt es<br />
schon: So ist zum Beispiel in der <strong>Kehl</strong>er Regionalsynode<br />
automatisch ein Mitglied der elsässischen<br />
Schwesterkirche vertreten. Könnte<br />
Personal rheinübergreifend eingesetzt werden,<br />
könnten die Kirchen Synergien nutzen und<br />
über eine gemeinsame Jugendarbeit die künftige<br />
Generation enger einbeziehen.<br />
Dieses besondere Miteinander an der Grenze<br />
führt auch dazu, dass <strong>Kehl</strong>-Straßburg immer<br />
wieder in den Fokus der großen Kirchen<br />
genommen wird – sei es bei einem ökumenischen<br />
Fernsehgottesdienst in der Friedenskirche,<br />
der in viele Teile der französischsprachigen<br />
Welt übertragen wurde, sei es als<br />
Veranstaltungsort des „Tages der Schöpfung“,<br />
den die christlichen Kirchen diesseits und jenseits<br />
des Rheins in <strong>Kehl</strong> veranstaltet haben<br />
oder sei es als Gastgeberregion für das europaweite<br />
Taizé-Treffen am Jahresende, das<br />
sonst als Veranstaltungsorte eher Weltstädte<br />
wie Rom, Berlin oder Paris kennt.<br />
125<br />
Gesundheit<br />
Bereits seit 2004 haben gesetzlich versicherte Patienten grundsätzlich Anspruch auf<br />
Kostenerstattung, wenn sie sich in einem anderen Land der Europäischen Union behandeln<br />
lassen. Planbare Krankenhausaufenthalte müssen sie sich allerdings im Voraus<br />
von ihrer Krankenkasse genehmigen lassen. <strong>Das</strong> Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz<br />
hat im Dezember 2012 eine Broschüre herausgegeben (www.cec-zev.eu),<br />
in der sich Patienten über ihre Rechte informieren können, wenn sie sich zum Beispiel<br />
im Nachbarland behandeln lassen möchten. Die zweisprachigen Juristen des Zentrums<br />
beantworten über die Broschüre hinausgehende Fragen oder helfen bei Erstattungsproblemen.<br />
Außerdem hat die Bundesrepublik eine Kontaktstelle bei der Deutschen<br />
Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland (DVKA) eingerichtet. Auf der Internetseite<br />
www.eu-patienten.de können sich Patienten ebenfalls über ihre Ansprüche<br />
und die Gesundheitsdienstleister im EU-Ausland informieren. Im März 2013 hat das<br />
Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz im Auftrag des Eurodistrikts Strasbourg-<br />
>>
126<br />
Ortenau eine umfangreiche Studie zum Thema Gesundheit vorgelegt. Diese umfasst<br />
nicht nur eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Situation (welche medizinischen<br />
Leistungen werden wo angeboten), sondern wartet zugleich mit Vorschlägen auf, wie<br />
der Eurodistrikt zu einer Pilotregion für den Zugang zu grenzüberschreitenden medizinischen<br />
Leistungen werden kann. Der Eurodistriktrat hat daraufhin in seiner Sitzung<br />
im März die Absicht bekräftigt, eine solche Pilotregion einrichten zu wollen. Begonnen<br />
werden soll mit Projekten im Bereich der Krebsbehandlung. Im September hat der<br />
Euro distriktrat beschlossen, in folgenden Bereichen Kooperationen prioritär umzusetzen:<br />
bei den bildgebenden Verfahren (zumindest im Bereich der Krebsbehandlung), in<br />
der ambulanten Chirurgie (Gastroenterologie, Hepatologie, Gynäkologie und Augenheilkunde)<br />
sowie in der Notfallversorgung (im Bereich Neurologie).<br />
<strong>Das</strong> Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz hat 2012 außerdem die Preise von<br />
mehr als 150 Medikamenten, davon 22 Generika, in <strong>Kehl</strong> und Straßburg verglichen.<br />
Unter die Lupe genommen wurden sowohl rezeptfreie als auch verschreibungspflichtige<br />
Medikamente, hierbei wiederum solche die nicht, teilweise oder komplett erstattet<br />
werden. <strong>Das</strong> Ergebnis war eindeutig: Die Mehrzahl der verglichenen Arzneien war in<br />
Frankreich günstiger als in Deutschland.<br />
Auch im Epilepsiezentrum der Diakonie Kork werden seit Jahren Patienten aus Frankreich<br />
behandelt. Stationär waren 2012 13 französische Patienten in der Klinik aufgenommen,<br />
246 wurden seit 2009 im sogenannten SEEK-Projekt grenzüberschreitend<br />
behandelt. Von den 114 Schülerinnen und Schülern der Oberlinschule kommen 13<br />
aus Frankreich. 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie sind französische<br />
Grenzgänger.<br />
- Aus der französischen Studie übersetzt ins Deutsche -<br />
© Europäische Kommi sion<br />
Neue Substitutionspraxis „auf richtig gutem Weg“<br />
>><br />
Die Begeisterung ist Michèle Falch-Knappe<br />
anzumerken: Die am 16. September eröffnete<br />
Substitutionspraxis mit grenzüberschreitendem<br />
Charakter und großer finanzieller Unterstützung<br />
des Eurodistrikts (150 000 Euro,<br />
verteilt auf drei Jahre) ist gut angelaufen.<br />
„Wir sind auf richtig gutem Weg“, berichtet die<br />
Leiterin der Jugend- und Drogenberatungsstelle<br />
(DROBS).<br />
<strong>Das</strong> selbergesteckte Planziel<br />
von 20 Patienten nach drei<br />
Monaten ist erreicht. Darunter<br />
sind, was Michèle Falch-<br />
Knappe besonders freut, zwei<br />
Patienten, die bisher noch nie<br />
in der Substitution waren. Die<br />
haben sich – unterstützt von<br />
ihren Familien – aufgrund<br />
der kurzen Wege entschieden,<br />
mit der Substitution zu<br />
Michèle Falch-Knappe<br />
beginnen. Auch das Zusammenspiel der drei<br />
Ärzte – Patrick Gassmann aus Straßburg, Dr.<br />
Frieder Baldner und Dr. Claus-Dieter Seufert<br />
aus <strong>Kehl</strong> – klappt gut. Außerdem konnten die<br />
Patienten bereits die Vorteile nutzen, die das<br />
nach <strong>Kehl</strong> importierte französische System<br />
der Microstructure bietet: Erste gemeinsame<br />
Gespräche mit Arzt, Patient,<br />
Psychologin und Sozialarbeiterin<br />
haben bereits stattgefunden,<br />
wie die Leiterin<br />
der DROBS berichtet. An drei<br />
Tagen pro Woche ist zu den<br />
Öffnungszeiten der Praxis<br />
die Psychologin vor Ort, an<br />
weiteren drei Tagen die Sozialarbeiterin.<br />
Die jeweils andere<br />
Kollegin kann bei Bedarf<br />
hinzugerufen werden. (siehe<br />
auch Chronik, Seite 49)
Studie über die Schaffung einer Pilotregion für<br />
den Zugang zu grenzüberschreitenden<br />
medizinischen Leistungen im Eurodistrikt<br />
Strasbourg-Ortenau<br />
Endbericht<br />
Januar 2013<br />
Studie beauftragt durch den<br />
Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau<br />
Durchgeführt vom<br />
Zentrum für Europäischen Verbraucherschutz e.V.<br />
Zugang zu Gesundheitsleistungen<br />
ist ein sehr wichtiges,<br />
grenzüberschreitendes Thema<br />
geworden. Die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter des Europäischen<br />
Verbraucherzentrums<br />
sind mittlerweile Experten<br />
auf diesem Gebiet.<br />
„Es ist eine Mission, das zu machen“: Kooperation mit Straßburg<br />
bringt Korker Epilepsiekliniken auf europäisches Parkett<br />
Korker Patienten in Straßburg, Straßburger<br />
Patienten in Kork, „hochprofessionelle klinische<br />
Zusammenarbeit“, konzertierte Beteiligung<br />
an internationalen Kongressen und<br />
gemeinsame Mitarbeit in einem europäischen<br />
Projekt: Professor Dr. Bernhard Steinhoff, leitender<br />
ärztlicher Direktor der Epilepsieklinik<br />
der Diakonie Kork, wird regelrecht euphorisch,<br />
wenn er über die grenzüberschreitende<br />
Zusammenarbeit mit dem Hôpital Civil in<br />
Straßburg spricht. „Es ist eine Mission das zu<br />
machen“, schwärmt er, „wenn man einmal<br />
weggeht und hat das nicht gemacht, dann<br />
kann man ja gleich aufhören“.<br />
Es ist ein Kooperationsprojekt wie aus dem<br />
Bilderbuch: 2008 haben die Straßburger<br />
Uniklinik und die Epilepsiekliniken Kork – mit<br />
Unterstützung des Eurodistrikts – beschlossen,<br />
an Epilepsie leidende Patienten gemeinsam zu<br />
betreuen und zudem in der Forschung zusammenzuarbeiten.<br />
<strong>Das</strong> sogenannte SEEK-Projekt<br />
mit einem Volumen von 2,4 Millionen Euro<br />
wurde von 2009 bis 2012 von der Europäischen<br />
Union mit 1,2 Millionen Euro aus dem<br />
Interreg-Fonds gefördert. In diesen vier Jahren<br />
haben Bernhard Steinhoff und sein Straßburger<br />
Kollege Eduard Hirsch so viel erreicht,<br />
dass auch nach dem Auslaufen der Förderung<br />
klar war: „Wir machen auf jeden Fall weiter.“<br />
<strong>Das</strong> Interreg-Projekt sah unter anderem vor,<br />
dass Epilepsiekranke von der<br />
Straßburger Uniklinik nach<br />
Kork geschickt werden, damit<br />
dort durch sogenannte Ableitungen<br />
der Herd, welcher die<br />
Anfälle auslöst, exakt lokalisiert<br />
werden kann. Patienten<br />
aus Kork sollten die zur Ableitung<br />
notwendigen Elektroden<br />
in Straßburg eingesetzt werden,<br />
Patienten mit operablen<br />
Epilepsien aus Kork sollten in<br />
Straßburg operiert werden<br />
Bernhard Steinhoff<br />
können. Mit dieser Kooperation wollten die<br />
Partner den Patienten lange Wege ersparen.<br />
Inzwischen ist die Zusammenarbeit erprobt<br />
und eingespielt und geht viel weiter: „Wir<br />
haben ständig gemeinsame Besprechungen“,<br />
berichtet Professor Steinhoff. Wenn ein<br />
deutscher Patient entscheidet, sich in Straßburg<br />
operieren zu lassen, braucht er wegen<br />
der fremden Sprache keine Angst zu haben:<br />
„Eine Oberärztin aus Kork fährt mit rüber.“<br />
Zwei Ärztinnen aus der Straßburger Uniklinik<br />
haben in Kork gearbeitet, eine vier Jahre<br />
lang, die andere im Rahmen einer Facharzt-<br />
Rotation, jetzt sind beide wieder zurück auf<br />
der französischen Rheinseite. Zwei Neuropsychologinnen,<br />
die bei Professor Steinhoff<br />
gearbeitet haben, wurden in Straßburg mit<br />
Arbeiten promoviert, die sie in Kork verfasst<br />
haben. „Die persönlichen Kontakte helfen, wir<br />
haben ziemlich viel bilinguales Fachpersonal“,<br />
freut sich Bernhard Steinhoff. Die Patienten<br />
reagieren auf die enge Kooperation und die<br />
damit verbundenen Angebote „überwiegend<br />
positiv“, hat der Epilepsie-Professor festgestellt.<br />
Insgesamt sind von 2009 bis Ende 2012<br />
246 Patienten im SEEK-Projekt grenzüberschreitend<br />
behandelt worden.<br />
Allerdings muss in jedem Einzelfall mit den<br />
Krankenkassen noch über eine Kostenübernahme<br />
verhandelt werden. Um diese Prozedur<br />
zu vereinfachen, arbeiten<br />
die beiden Kliniken an einer<br />
grenzüberschreitenden Vereinbarung,<br />
die das in Straßburg<br />
und Kork zur Verfügung<br />
stehende Programm in einer<br />
deutschen und einer französischen<br />
Pauschale zusammenfasst.<br />
Patienten mit einer<br />
komplizierten Epilepsie sollen<br />
„in dieses Programm eintauchen<br />
können“, wünschen sich<br />
die Professoren Steinhoff<br />
>><br />
127
und Hirsch, „egal, ob sie aus Deutschland<br />
oder Frankreich kommen“.<br />
Zusammen mit Kliniken aus Oslo, Athen, Budapest,<br />
Prag, Zagreb, Sofia und Lyon wird<br />
Kork mit hoher Wahrscheinlichkeit in ein<br />
europäisches Modellprojekt aufgenommen<br />
werden, in dessen Rahmen verbindliche Qualitätsstandards<br />
für Epilepsie-Operationen erarbeitet<br />
werden sollen. „Ohne die Verbindung<br />
der Straßburger Uniklinik zu Lyon wären wir<br />
da gar nicht reingekommen“, ist sich Bernhard<br />
Steinhoff sicher. Ziel des Großprojektes,<br />
für das europäische Fördergelder in Aussicht<br />
gestellt sind, ist ein EU-Konsortium, sind Spitzenzentren<br />
für Epileptologie für ganz Europa.<br />
Sicherheit und Ordnung<br />
128<br />
Als 1993 die Grenzen ge- und der europäische Binnenmarkt eröffnet wurden, machten<br />
sich dies auch Straftäter zunutze. Um auf diese neue Qualität grenzüberschreitender<br />
Kriminalität reagieren zu können, trafen sich Vertreter der lokalen und regionalen Polizeibehörden<br />
aus beiden Ländern bereits 1994 und 1995, um sich, begleitet vom Euro-<br />
Institut, über die unterschiedlichen Rechtssysteme, Befugnisse und Vorgehensweisen<br />
auszutauschen. 1996 kamen bei einer weiteren Tagung Vertreter der Justiz hinzu. Die<br />
vom Euro-Institut organisierten und moderierten Seminare waren so erfolgreich, dass<br />
1999 gleich zwei davon stattfanden und daraus im Jahr 2000 die deutsch-französische<br />
Fortbildungsreihe „Polizei- und Justizzusammenarbeit“ entwickelt wurde, die bis heute<br />
fortgesetzt wird. 180 bis 200 Polizei- und Justizbeamte nehmen jährlich an diesen<br />
Veranstaltungen teil. Außerdem moderieren Mitarbeiter des Euro-Instituts die Sitzungen<br />
des 1999 gegründeten Lenkungsausschusses, der sich aus Vertretern der badenwürttembergischen<br />
Polizei und Justiz, der Police Nationale, der Gendarmerie Natio nale<br />
und der französischen Justizverwaltung zusammensetzt. In diesen Besprechungen<br />
wird dann das Programm für die gemeinsamen Tagungen festgelegt – zugeschnitten<br />
auf die aktuellen Probleme der Strafverfolgungsbehörden.<br />
Obwohl diese Kooperation schon so lange läuft, steht am Beginn der Tagungen alljährlich<br />
eine Einführung in die unterschiedlichen Strukturen und gesetzlichen Grundlagen<br />
in beiden Ländern, weil diese Gegebenheiten Basis der Zusammenarbeit sind. Für die<br />
Teilnehmer ist über die Aneignung von Wissen hinaus der persönliche Austausch bei<br />
diesen Seminaren sehr wichtig: Weil die Veranstaltungen zugleich grenz- und behördenübergreifend<br />
sind, können Probleme mit unterschiedlichen Partnern besprochen<br />
und Kontakte geknüpft werden.<br />
Auch im Polizeialltag ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit gegenwärtig: Auf<br />
Eurodistrikts-Ebene wurde 2013 eine deutsch-französische Fahrradstreife eingerichtet<br />
– die Polizeibeamten kontrollieren mit<br />
ihren Mountainbikes überall dort, wo<br />
Streifenwagen nicht hinkommen: auf<br />
großen Plätzen, in Fußgängerzonen<br />
und in Parks. Seit die Einfuhr von<br />
Feuerwerkskörpern nach Frankreich<br />
verboten ist, informieren Straßburger<br />
und <strong>Kehl</strong>er Polizeibeamte in den<br />
Tagen vor Silvester gemeinsam französische<br />
Besucher der <strong>Kehl</strong>er Innenstadt<br />
über die geltende Gesetzeslage.<br />
Deutsch-französische Fahrradstreifen<br />
kontrollieren überall dort,<br />
wo man mit dem Streifenwagen<br />
nicht hinkommt: in Fußgängerzonen,<br />
auf öffentlichen Plätzen,<br />
aber auch in Parks.<br />
>>
Kriminalität kennt keine Grenze:<br />
Die deutsch-französische Polizei- und Zollzusammenarbeit<br />
<strong>Das</strong> Gemeinsame Zentrum der<br />
deutsch-französischen Polizei-<br />
und Zollzusammenarbeit<br />
im Nordgebäude der <strong>Kehl</strong>er<br />
Großherzog-Friedrich-Kaserne<br />
sehen sowohl der deutsche<br />
Polizeihauptkommissar und<br />
stellvertretende Koordinator<br />
des Zentrums Albrecht Endres<br />
als auch seine französische<br />
Kollegin Anne Gindensperger<br />
als Erfolgsmodell.<br />
Es ist ein Erfolgsmodell, das vielen anderen<br />
Grenzregionen Europas als Vorbild dient: Im<br />
Gemeinsamen Zentrum der deutsch-französischen<br />
Polizei- und Zollzusammenarbeit<br />
(GZ), das 1999 in Offenburg gegründet wurde<br />
und 2002 nach <strong>Kehl</strong> umgezogen ist, arbeiten<br />
32 Deutsche und 30 Franzosen unter einem<br />
Dach, um die Sicherheit im Grenzgebiet zu<br />
verbessern. Als Unterstützungseinheit sorgt<br />
das Zentrum für den Austausch, die Steuerung<br />
und Analyse von Informationen<br />
zwischen den deutschen<br />
und den französischen<br />
Sicherheitsbehörden. Täglich<br />
gehen bei den Mitarbeitern<br />
zahlreiche Anfragen von<br />
natio nalen Dienststellen ein –<br />
pro Jahr sind es etwa 17 000.<br />
Anne Gindensperger<br />
Meistens handelt es sich um<br />
Verkehrsdelikte, Diebstähle<br />
oder aufenthaltsrechtliche<br />
Fragen, bei denen eine grenzüberschreitende<br />
Informationsvermittlung<br />
notwendig ist. <strong>Das</strong> Zentrum soll<br />
die nationalen Dienststellen so gut unterstützen,<br />
dass sie den jeweiligen Fall „wie einen<br />
Fall im Inland“ behandeln können, erklärt<br />
der deutsche Polizeihauptkommissar und<br />
stellvertretende Koordinator des Zentrums<br />
Albrecht Endres. So könnten deutsche und<br />
französische Polizei- und Zolleinheiten sehr<br />
„schnell und effektiv“ zusammenarbeiten, bestätigt<br />
auch seine französische Kollegin Anne<br />
Gindensperger und nennt als Beispiel einen<br />
Kupferdiebstahl im Grenzgebiet, den deutsche<br />
und französische Behörden im Tandem<br />
bearbeiten konnten: Der Diebstahl erfolgte<br />
gegen 22 Uhr auf französischem Boden in einem<br />
Unternehmen, das Kupfer lagerte. Als die<br />
französische Polizei die Diebe identifizieren<br />
konnte, waren sie schon auf der Flucht. Dank<br />
der Fahndung, die das GZ auslöste, wurde die<br />
gestohlene Ware aber noch vor Sonnenaufgang<br />
mitsamt einem schlafenden Täter auf<br />
dem Parkplatz eines deutschen Unternehmens<br />
von der deutschen Polizei sichergestellt.<br />
„Der Mann wartete anscheinend auf die Öffnung<br />
des Betriebs“, erzählt Anne Gindensperger,<br />
„einige Stunden später wäre das Kupfer<br />
verkauft gewesen und wir hätten die Beweise<br />
und die Täter aus den Augen verloren“.<br />
Oft wissen die Sicherheitsbehörden eines<br />
Landes nämlich nicht genau, an welche Behörde<br />
im Nachbarland sie<br />
sich wenden sollen und verlieren<br />
deshalb bei der Suche<br />
Zeit, erklärt Albrecht Endres.<br />
<strong>Das</strong> GZ greift in diesem Fall<br />
ein, löst innerhalb kurzer Zeit<br />
eine Fahndung aus oder leitet<br />
die wichtigen Informationen<br />
an die passende Behörde<br />
weiter. Auch in ganz einfachen<br />
Fällen hilft das Zentrum<br />
weiter: Fährt jemand über<br />
die deutsche Grenze und<br />
bemerkt erst bei einer Polizei-<br />
>><br />
129
130<br />
>><br />
oder Zollkontrolle im Nachbarland, dass er<br />
seinen Führerschein oder Ausweis vergessen<br />
hat, so muss er normalerweise mit eingehenden<br />
Überprüfungen rechnen. Der Polizist vor<br />
Ort muss erst den richtigen Ansprechpartner<br />
im Herkunftsland finden und das kann im<br />
Zweifelsfall mehrere Stunden dauern. Nicht<br />
so an der deutsch-französischen Grenze<br />
entlang des Rheins: Mit einem einzigen Anruf<br />
kann ein französischer Polizist zu jeder<br />
Tages- und Nachtzeit innerhalb<br />
von ein paar Minuten<br />
herausfinden, ob zu einem<br />
kontrollierten deutschen<br />
Bürger polizeiliche Erkenntnisse<br />
vorliegen und ob er im<br />
Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis<br />
ist – dank des gemeinsamen<br />
Zentrums in <strong>Kehl</strong>.<br />
<strong>Das</strong> GZ hat sich im Laufe<br />
der Zeit als „notwendiges<br />
Element“ durchgesetzt, darüber<br />
sind sich Anne Gindensperger<br />
und Albrecht Endres einig. „Wir<br />
sind der Beweis dafür, dass die deutschfranzösische<br />
Freundschaft nicht nur symbolisch<br />
ist, sondern die Zusammenarbeit<br />
im Alltag wirklich funktioniert. Immer<br />
gibt es neue Herausforderungen, neue<br />
Fallkonstellationen, die den Mehrwert der<br />
Kooperation unter Beweis stellen“, sagt Albrecht<br />
Endres. Die enge Zusammenarbeit<br />
im gemeinsamen Zentrum gehe weit über<br />
die Kooperation der Sicherheitsbehörden in<br />
anderen Grenzgebieten hinaus, für die das<br />
Schengener Durchführungsübereinkommen<br />
von 1990 das Fundament gelegt habe. Beschäftigt<br />
sind im GZ gleich mehrere Einheiten<br />
aus beiden Nationen: Auf der deutschen<br />
Seite beteiligen sich Landespolizisten, Bundespolizisten<br />
und Zollbeamte, während auf<br />
der französischen Seite die Gendarmerie<br />
Nationale, die Schutzpolizeidirektion für das<br />
Département Bas-Rhin in Straßburg und die<br />
französische Kriminalpolizei vertreten sind.<br />
Auch sprachlich ist die Kooperation im<br />
Gemeinsamen Zentrum kein Problem: Die<br />
Mitarbeiter schreiben und sprechen in ihrer<br />
Albrecht Endres<br />
Muttersprache, aber „jeder versteht jeden“,<br />
berichten die beiden Ordnungshüter, zudem<br />
gebe es auch zweisprachige Mitarbeiter.<br />
Auch wenn es noch kleine nationale Eigenheiten<br />
gebe, passe man sich insgesamt in der<br />
Zusammenarbeit sehr gut an, meint die französische<br />
Koordinatorin: „On a gommé nos<br />
différences“, sagt sie, sie hätten die Unterschiede<br />
„ausradiert“. Ein großer Vorteil sei die<br />
Lage des Zentrums an der <strong>Kehl</strong>er Hafenstraße.<br />
Die unmittelbare Nähe<br />
der Grenze ermöglicht es den<br />
französischen Mitarbeitern<br />
beispielsweise, französische<br />
Informationssysteme und Telefonnetze<br />
zu verwenden und<br />
somit effektiver zu arbeiten<br />
und Kosten zu sparen. „Wir<br />
arbeiten hier, als stünde unser<br />
Schreibtisch mit zwei<br />
Beinen in Frankreich und mit<br />
zwei Beinen in Deutschland“,<br />
sagt Anne Gindensperger.<br />
Dabei beschränkt sich die Arbeit des Gemeinsamen<br />
Zentrums nicht auf das unmittelbare<br />
Grenzgebiet. Etwa die Hälfte der Anfragen<br />
kommt aus ganz Frankreich und dem<br />
gesamten Bundesgebiet. So kann ein Polizist<br />
aus Marseille, der dringend Informationen<br />
über einen deutschen Bürger oder Ausländer<br />
mit deutschem Aufenthaltsrecht braucht,<br />
seinen Fall so effizient klären, als befände<br />
sich seine Dienststelle im Grenzgebiet. Ein<br />
Fall, der viel öffentliches Aufsehen erregte,<br />
war eine Entführung 2012: Die 15-jährige<br />
Chloé Rodriguez aus der Nähe der französischen<br />
<strong>Stadt</strong> Nîmes war spurlos verschwunden.<br />
In der Region wurde tagelang nach ihr<br />
gesucht – ohne Erfolg. Zur selben Zeit wurde<br />
der deutschen Polizei ein Computerdiebstahl<br />
auf einem Parkplatz in der Nähe von<br />
Offenburg gemeldet. Als das Auto des Verdächtigen<br />
lokalisiert war, begann eine Verfolgungsjagd,<br />
die mit einem Unfall des verfolgten<br />
Autos endete. Die Polizisten öffneten<br />
den Kofferraum und fanden ein Mädchen:<br />
Chloé Rodriguez berichtete den Polizisten,<br />
dass sie in Südfrankreich entführt worden<br />
sei. Um ihre Identität zu überprüfen, schick-<br />
Seit 2012 arbeiten Deutsche und<br />
Franzosen in der ersten völlig<br />
integrierten grenzüberschreitenden<br />
Wasserschutzpolizeieinheit<br />
Europas – mit Sitz in <strong>Kehl</strong> –<br />
zusammen.
ten die französischen Behörden über das<br />
deutsch-französische Zentrum Fotos und<br />
Informationen nach Deutschland. So konnte<br />
das Mädchen schnell identifiziert werden,<br />
seine Eltern wurden umgehend kontaktiert.<br />
Seit der Gründung des Gemeinsamen Zentrums<br />
der deutsch-französischen Polizei- und<br />
Zollzusammenarbeit haben viele Länder Europas<br />
das Modell übernommen: Mehr als 30<br />
neue Zentren und vergleichbare kleinere Einrichtungen<br />
wurden in verschiedenen Grenzgebieten<br />
ins Leben gerufen. Im Jahr 2007<br />
nahmen beispielsweise zwei neue Zentren<br />
an der deutsch-polnischen und der deutschtschechischen<br />
Grenze ihre Arbeit auf.<br />
Gendarmen und Polizisten im selben Boot:<br />
Die deutsch-französische Wasserschutzpolizei<br />
Sitzen in einem Boot: deutsche<br />
Polizisten und französische<br />
Gendarmen, Peter Schulze (links)<br />
und Nicolas Künkel.<br />
Schiffskontrolle, Streifenfahrten, Tauch- oder<br />
Sucheinsätze: Seit März 2012 arbeiten deutsche<br />
Polizisten und französische Gendarmen<br />
gemeinsam in der ersten völlig integrierten<br />
grenzüberschreitenden Wasserschutzpolizeieinheit<br />
Europas mit Sitz in <strong>Kehl</strong>. Durch den Zusammenschluss<br />
„ist die Arbeit auf dem Rhein<br />
viel effizienter und sparsamer“ geworden, betont<br />
der französische Kommandant Nicolas<br />
Künkel, der die deutsch-französische Wasserschutzpolizeieinheit<br />
gemeinsam mit seinem<br />
deutschen Kollegen Peter Schulze, Erster Polizeihauptkommissar,<br />
leitet. Seit der Gründung<br />
der gemeinsamen Einheit hat sich die Präsenz<br />
der Polizei auf ihrem 160 Kilometer langen<br />
Einsatzstreifen auf dem Rhein verdoppelt.<br />
„Bis Ende 2011 standen wir uns bei Überwachungen<br />
auf unseren Booten manchmal gegenüber,<br />
die Deutschen und Franzosen jeweils<br />
an ihrem Ufer“, erzählt Nicolas Künkel. Wo<br />
damals also zwei Boote denselben Streifen<br />
überwachten, kann jetzt ein einziges deutschfranzösisches<br />
Boot die Arbeit erledigen. Für<br />
die Schiffsführer war das anfangs ein ungewohnter<br />
Anblick: „Viele waren sehr erstaunt,<br />
wenn auf einem deutschen Boot der Wasserschutzpolizei<br />
plötzlich ein Franzose erschien,<br />
um sie zu kontrollieren“, erzählt Nicolas Künkel.<br />
Dabei hat die rheinübergreifende Zusammenarbeit<br />
der Einheiten nicht erst mit der<br />
Gründung der deutsch-französischen Wasserschutzpolizeieinheit<br />
begonnen. „Wir haben<br />
uns schon lange vorher unterstützt – ohne<br />
offizielle Verträge“, sagt Peter Schulze. Daraus<br />
sei mit der Zeit auf beiden Seiten der starke<br />
Wille erwachsen, noch intensiver zusammenzuarbeiten.<br />
Die deutsch-französische Freundschaft<br />
ermöglichte nach und nach durch<br />
verschiedene Abkommen eine immer engere<br />
Kooperation der französischen Gendarmen<br />
und der deutschen Polizisten. „So fehlte vor<br />
Beginn unseres Projekts eigentlich nur noch<br />
das gemeinsame Dach“, sagt Peter Schulze.<br />
Durch die Zusammenarbeit der beiden Leiter<br />
der Einheit habe sich sogar eine Freundschaft<br />
entwickelt: „Nous avons deux têtes mais<br />
avec un même esprit“, meint Nicolas Künkel,<br />
sie hätten zwei Köpfe, aber denselben Geist.<br />
Nicht nur an der Spitze, sondern auf allen<br />
Ebenen arbeiten die 28 deutschen Polizisten<br />
und 28 französischen Gendarmen Hand in<br />
Hand, im <strong>Kehl</strong>er Hauptrevier sowie in den beiden<br />
Außenstellen Vogelgrun und Gambsheim.<br />
131<br />
>>
132<br />
Auch Ermittlungen bei schifffahrtsrechtlichen<br />
Verstößen oder Straftaten auf dem<br />
Rhein gehören zu den Aufgaben der gemeinsamen<br />
Einheit. „Für Täter bietet der Fluss<br />
einfache Fluchtmöglichkeiten in ein anderes<br />
Land“, sagt Peter Schulze. In solchen Fällen<br />
arbeite die gemeinsame Wasserschutzpolizei<br />
besonders effektiv – Peter Schulze nennt als<br />
Beispiel eine Fahrerflucht bei Ichenheim: Dort<br />
war ein Schiff auf ein Strombauwerk gefahren<br />
und hatte es beschädigt. Der Schiffsführer<br />
hatte das Weite gesucht. Entdeckt wurden<br />
das Schiff und sein Schiffsführer später<br />
im Straßburger Hafen. Weil bei Unfällen auf<br />
der internationalen Schifffahrtsstraße Rhein<br />
das Territorialprinzip gilt, fanden Ermittlungsverfahren<br />
und Verurteilung zwar auf<br />
deutscher Seite statt – die<br />
Beweissicherung und die<br />
Vernehmungen mussten<br />
zunächst jedoch in Frankreich<br />
erfolgen.<br />
„Ausschlaggebend ist, wer am schnellsten<br />
einsatzfähig sein kann.“<br />
Obwohl Deutsch die Amtssprache auf dem<br />
Rhein ist, sprechen die Kollegen miteinander<br />
Deutsch und Französisch, um die alltägliche<br />
Zusammenarbeit so einfach wie möglich zu<br />
gestalten. „Wir legen großes Augenmerk auf<br />
die Sprachausbildung. Die Franzosen sprechen<br />
sehr gut Deutsch, aber inzwischen haben<br />
die deutschen Kollegen aufgeholt“, erklärt<br />
Peter Schulze. Die Zweisprachigkeit sei<br />
Voraussetzung für effiziente Zusammenarbeit,<br />
betont auch sein Kollege Nicolas Künkel. Deshalb<br />
organisiert er für seine Mitarbeiter der<br />
Gendarmerie interne wöchentliche Sprachkurse.<br />
Außerdem nehmen die deutschen und<br />
französischen Kollegen einmal<br />
pro Jahr im gemeinsamen<br />
Sprachzentrum in<br />
Lahr an einem zweiwöchigen<br />
Sprachtraining teil.<br />
>><br />
Gefragt ist die gemeinsame<br />
Polizeieinheit, wenn<br />
nach Vermissten gesucht<br />
wird. Mit einem speziellen<br />
Sonargerät kann die<br />
deutsch-französische<br />
Wasserschutzpolizei Gegenstände<br />
und Personen unter<br />
Wasser ausfindig machen. Ist ein Taucheinsatz<br />
notwendig, so kommen den deutschen<br />
und französischen Kollegen ihre unterschiedlichen<br />
Kompetenzen zugute: Während die<br />
deutschen Taucher maximal 30 Meter tief<br />
tauchen dürfen, sind den französischen Tauchern<br />
nach nationaler Regelung bis zu 40<br />
Meter erlaubt. „Wir ergänzen uns in allen<br />
Bereichen“, erklärt Nicolas Künkel. Wichtig<br />
sei dies beispielsweise im Herbst 2012 gewesen,<br />
als im 39 Meter tiefen Titisee nach einem<br />
Vermissten gesucht werden musste und die<br />
französischen Gendarmen den Tauchgang<br />
übernehmen konnten. Überhaupt sei die<br />
deutsch-französische Einheit bei Notfällen<br />
sehr effizient, sagt deren deutscher Chef.<br />
Egal ob eine Rettung in Frankreich oder in<br />
Deutschland stattfindet, beide Kollegen können<br />
nationale Dienststellen zur Hilfe rufen.<br />
Wenn man die Leiter der<br />
deutsch-französischen<br />
Wasserschutzpolizeieinheit<br />
nach kulturellen Unterschieden<br />
fragt, nennt Nicolas<br />
Künkel spontan: „die<br />
Mittagspause“ – und beide<br />
lachen. In der Tat musste<br />
zwischen der fast zweistündigen Pause der<br />
Franzosen und der sehr kurzen Pause der<br />
Deutschen ein Kompromiss gefunden werden,<br />
der bei etwa einer Stunde liegt. Auch der<br />
berufliche Status und die Arbeitsmethoden<br />
sind auf beiden Rheinseiten unterschiedlich.<br />
Die französischen Gendarmen gehören zum<br />
Militär, deshalb müssen sie auch außerhalb<br />
der normalen Arbeitszeiten ständig einsatzbereit<br />
sein und haben zwei Ruhetage pro<br />
Woche. Dagegen arbeiten die deutschen<br />
Polizeibeamten an fünf Tagen pro Woche,<br />
Notfälle außerhalb der Arbeitszeiten gelten<br />
als Überstunden. Ansonsten gebe es natürlich<br />
Unterschiede in der Gesetzgebung der<br />
beiden Nationalstaaten, sagen die beiden<br />
Chefs – und genau das versuchen die deutschen<br />
und französischen Wasserschutzpolizisten<br />
für ihre Arbeit bestmöglich zu nutzen.
<strong>Das</strong> Feuerlöschboot Europa 1<br />
wurde speziell nach den<br />
Wünschen und Bedürfnissen<br />
der Straßburger und <strong>Kehl</strong>er<br />
Feuerwehren gebaut.<br />
Feuerlöschboot Europa 1: Deutsch-französische Maßarbeit<br />
133<br />
Die Vorgehensweise bei Bränden<br />
ist in Deutschland und Frankreich<br />
genau definiert – aber auf<br />
unterschiedliche Weise.<br />
23 Meter lang, 6,20 Meter breit, 40 Stundenkilometer<br />
schnell und mit acht Mann Besatzung<br />
voll einsatzfähig: <strong>Das</strong> Feuerlöschboot Europa 1,<br />
das im Sommer 2007 in Dienst gestellt wurde,<br />
ist echte deutsch-französische Maßarbeit und<br />
damit ein Musterbeispiel grenzüberschreitender<br />
Kooperation. Mit der Europa 1, welche<br />
die Europäische Union, mehrere französische<br />
Gebietskörperschaften und das Land Baden-<br />
Württemberg finanziert haben, ist auf der<br />
Werft der Firma Neckar-Bootsbau Ebert in<br />
Neckarsteinach ein Löschboot gebaut worden,<br />
das exakt den heutigen Anforderungen an die<br />
Gefahrenabwehr auf dem Rhein entspricht.<br />
Die Konzeption für das Boot und dessen<br />
Betrieb wurden bei ungezählten Treffen akribisch<br />
gemeinsam ausgetüftelt. <strong>Das</strong>s die Finanzpartner<br />
bereit waren, 2,5 Millionen Euro<br />
für das Löschboot aufzuwenden, hat einen<br />
guten Grund: Bis zu acht Stunden würde es<br />
im Brandfalle dauern, bis ein Löschboot aus<br />
Mannheim oder Basel auf dem Rhein zwischen<br />
Straßburg und <strong>Kehl</strong> eintreffen würde.<br />
Ihren Liegeplatz hat die Europa 1, die pro Jahr<br />
zehn bis zwölf Einsätze fährt, im Straßburger<br />
Nord-Hafen – vier Kilometer von der <strong>Kehl</strong>er<br />
Feuerwache entfernt. Vor Ort sind die <strong>Kehl</strong>er<br />
Feuerwehrleute im Einsatzfall mindestens so<br />
schnell wie ihre Kollegen von der Straßburger<br />
Berufsfeuerwehr, die aus der Innenstadt<br />
anfahren müssen. Muss die Europa 1 auslaufen,<br />
übernimmt unter der Woche tagsüber die<br />
Straßburger Berufsfeuerwehr den Dienst auf<br />
dem Schiff, an Wochenenden und nachts sind<br />
die <strong>Kehl</strong>er Feuerwehrleute in Alarmbereitschaft.<br />
Diese Aufteilung funktioniert bereits<br />
seit 2007 und sie funktioniert gut. <strong>Das</strong> Ziel<br />
beider Feuerwehren, dass auch aus deutschen<br />
und französischen Wehrmännern gemischte<br />
Mannschaften den Löscheinsatz übernehmen<br />
können, ist jedoch in weite Ferne gerückt. „In<br />
Frankreich ist vieles anders“, sagt Feuerwehrkommandant<br />
Gerhard Stech, „es gibt Unterschiede<br />
in der taktischen und technischen<br />
Vorgehensweise“. Dazu kommt, dass sich die<br />
deutschen und französischen Feuerwehrkollegen<br />
dank der Teilnahme an Sprachkursen<br />
zwar halbwegs verständigen können, im<br />
Einsatzfalle jedoch „muss man sich zu hundert<br />
Prozent verstehen“, weiß Gerhard Stech.<br />
>>
Symbol der grenzüberschreitenden Kooperation:<br />
Die deutsch-französische Schlauchkupplung<br />
134<br />
Sie ist das Symbol der grenzüberschreitenden<br />
Zusammenarbeit schlechthin: die deutschfranzösische<br />
Schlauchkupplung. Sie zeichnet<br />
sich dadurch aus, dass auf der einen Seite ein<br />
französischer Feuerwehrschlauch angeschlossen<br />
werden kann, auf der anderen ein deutscher.<br />
Alle Feuerlösch-Fahrzeuge in <strong>Kehl</strong> und<br />
Straßburg sind seit vielen Jahren mit diesem<br />
Kupplungsstück ausgestattet, damit<br />
sich die Feuerwehren beim Löschen<br />
gegenseitig unterstützen können.<br />
So pragmatisch wie das Kuppeln<br />
der Schläuche lässt<br />
sich die Kooperation der<br />
staatlichen französischen<br />
Feuerwehr mit einer deutschen<br />
Gemeinde-Feuerwehr<br />
nicht regeln. Weil der Straßburger Osten<br />
verkehrstechnisch recht weit von der Straßburger<br />
Innenstadt-Feuerwache entfernt<br />
liegt, wollte die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> ihre Feuerwache<br />
erweitern und in diesem Anbau die Straßburger<br />
Feuerwache Ost unterbringen. <strong>Das</strong><br />
hätte beiden Partnern geholfen: Für die<br />
Straßburger Wehrmänner wären die östlichen<br />
<strong>Stadt</strong>gebiete leichter erreichbar geworden;<br />
der <strong>Kehl</strong>er Wehr hätte die Anwesenheit<br />
hauptamtlicher Straßburger Feuerwehrleute<br />
tagsüber geholfen, die Alarmierungsfähigkeit<br />
sicherzustellen. Tagsüber hat die <strong>Kehl</strong>er<br />
Feuerwehr inzwischen Probleme, weil viele<br />
freiwillige Feuerwehrleute ihren Arbeitsplatz<br />
außerhalb von <strong>Kehl</strong> haben und im Brandfall<br />
nicht schnell genug zur Stelle sein können.<br />
An diesem – bislang gescheiterten Vorhaben<br />
– zeigt sich die Komplexität der grenzüberschreitenden<br />
Kooperation beispielhaft:<br />
In Frankreich unterliegen die Feuerwehren<br />
staatlicher Zuständigkeit, in Baden-Württemberg<br />
aber sind sie Aufgabe der Gemeinden.<br />
Die Einrichtung einer deutsch-französischen<br />
Feuerwache nach Maßgabe des Karlsruher<br />
Übereinkommens war deshalb nicht<br />
möglich, weil der französische Staat nicht<br />
Vertragspartner einer Kooperationsvereinbarung<br />
oder eines<br />
Zweckverbandes nach dem<br />
Karlsruher Übereinkommen<br />
sein kann. Über einen<br />
EVTZ (Europäischer Verbund<br />
für territoriale Zusammenarbeit)<br />
könnte die gemeinsame<br />
Feuerwache nur dann betrieben<br />
werden, wenn die französische<br />
Seite die Beschränkungen des EVTZ beiseiteschieben<br />
würde, die besagen, dass keine Aufgaben<br />
in Ausübung hoheitlicher Befugnisse<br />
oder Verpflichtungen zur Wahrung der allgemeinen<br />
Interessen des Staates übertragen<br />
werden können. Würden die beiden Partner<br />
eine gemeinsame juristische Person gründen,<br />
würde dies voraussetzen, dass die gesetzlichen<br />
Aufgaben der deutschen Gemeinde<br />
nach Paragraph 3 Feuerwehrgesetz auf einen<br />
solchen grenzüberschreitenden Verband<br />
übertragen werden dürften. Eine ausdrückliche<br />
gesetzliche Regelung hierzu fehlt jedoch.<br />
Fast schon ein Symbol der<br />
grenzüberschreitenden Zusammenarbeit:<br />
die Kupplung,<br />
die auf der einen Seite den Anschluss<br />
eines deutschen und<br />
auf der anderen Seite den<br />
Anschluss eines französischen<br />
Feuerwehrschlauches erlaubt.<br />
Umwelt und Energie<br />
Als die baden-württembergische Landesregierung 1987 plant, im <strong>Kehl</strong>er Hafen eine<br />
Sondermüllverbrennungsanlage zu errichten, formiert sich in <strong>Kehl</strong> Widerstand. Im Januar<br />
1988 wird die „Bürgerinitiative gegen Giftmüllverbrennung“ als eingetragener<br />
Verein gegründet. Durch die persönliche Freundschaft eines Gründungsmitglieds mit<br />
der Straßburger Gemeinderätin Yveline Moeglen entsteht rasch der Kontakt zu Straßburger<br />
Gleichgesinnten. Mehrere Straßburger treten der Bürgerinitiative bei, andere<br />
mobilisieren Vereine im Elsass, die sich den Demonstrationen und Protestaktionen an-<br />
>>
Weil die Luftverschmutzung<br />
keine Landesgrenzen kennt,<br />
arbeiten <strong>Kehl</strong> und Straßburg<br />
seit 1990 im Umweltbereich<br />
eng zusammen.<br />
schließen. Auch die damalige Straßburger Oberbürgermeisterin und heutige Europaabgeordnete<br />
Catherine Trautmann wendet sich gegen die Sondermüllverbrennungsanlage<br />
auf deutschem Territorium.<br />
Nachdem die Landesregierung am 10. Mai 1994 das Aus für den <strong>Kehl</strong>er Müllofen bekannt<br />
gibt, löst sich die 1200 Mitglieder starke <strong>Kehl</strong>er Bürgerinitiative nicht auf, sondern<br />
nimmt sich weiterhin Umweltthemen an, engagiert Gutachter und gibt Expertisen<br />
zu verschiedenen Vorhaben in Auftrag. Am 3. Dezember 1996 ändert sie ihren Namen<br />
in „Bürgerinitiative Umweltschutz <strong>Kehl</strong>“. Die grenzüberschreitenden Kontakte werden<br />
weiter ausgebaut: Die BI intensiviert ihre Verbindungen zu Alsace Nature, tritt der<br />
Organisation zur Vermeidung von Umweltrisiken durch die Industrie (SPPPI) bei, arbeitet<br />
mit Straßburger Bürgerinitiativen – vor allem aus der Robertsau – zusammen<br />
und schließt sich dem französischen Protest gegen das Atomkraftwerk in Fessenheim<br />
an. Gemeinsam mit Greenpeace Frankreich startet die BI Aktionen gegen die frühere<br />
Firma Stracel im Straßburger Hafen, die Abwässer aus der Zellstoffproduktion in den<br />
Rhein leitet. Seit 2007 wird alljährlich mit dem französischen Verein „Objectif climat“<br />
eine gemeinsame Fahrrad-Demonstration zum Klimaschutz organisiert. Über die Jahre<br />
sind über die politischen Aktivitäten hinaus freundschaftliche Verbindungen gewachsen<br />
– man trifft sich auch mal zum abendlichen Gasthaus-Besuch. Derzeit beteiligt<br />
sich die Bürgerinitiative am grenzüberschreitenden und vom Interreg-Fonds der Europäischen<br />
Union unterstützten Projekt Atmo-IDEE.<br />
135<br />
Weil Schadstoffe in der Luft an der Grenze nicht haltmachen, arbeitet die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> seit<br />
1990 in einer grenzüberschreitenden Umwelt-Arbeitsgruppe mit der <strong>Stadt</strong> Straßburg<br />
zusammen. Mindestens dreimal im Jahr bespricht die Gruppe aktuelle Umweltthemen.<br />
Dabei geht es sowohl um Information des jeweils anderen Partners über umweltrelevante<br />
Vorhaben (von der Ansiedlung neuer Betriebe über Produktionserweiterungen bis<br />
zur Errichtung neuer Heizkraftwerke) als auch darum, voneinander zu lernen (Verwendung<br />
von Feuchtsalz im Winter, Verzicht auf chemische Unkrautvernichtung). Auch die<br />
Ausweisung grenzüberschreitender Radwege oder die Erarbeitung gemeinsamer Karten<br />
und Natur-Führer gehören zu den Aufgaben der grenzüberschreitenden Umwelt-AG.<br />
Zunehmend rückt die Kooperation im Bereich Energieversorgung in den Vordergrund:<br />
So ist zum Beispiel die Nutzung eines Teils der Abwärme der Badischen Stahlwerke<br />
zur Wärmeversorgung eines grenznahen Straßburger Wohnviertels im Gespräch.<br />
>>
Seit November 1992 gibt es in Straßburg das Secrétariat Permanent pour la Prévention<br />
des Pollutions Industrielles (SPPPI). In dieser Organisation arbeiten Gebietskörperschaften,<br />
Umweltverbände, Unternehmen und Behörden zusammen. Die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong><br />
ist seit 1992 Mitglied bei SPPPI, seit 2008 gibt es eine rheinübergreifende Gruppe,<br />
die sich speziell grenzüberschreitenden Themen widmet. Seit der Jahrtausendwende<br />
hat SPPPI die Städte Straßburg und <strong>Kehl</strong> in ihrem Kampf gegen die von Industriebetrieben<br />
verursachte – häufig sehr starke – Geruchsbelästigung unterstützt. Auf beiden<br />
Rheinseiten wurde ein Geruchstelefon eingerichtet – die Bürgerinnen und Bürger<br />
wurden aufgerufen, unangenehme Gerüche zu melden und so exakt wie möglich zu<br />
beschreiben. 2007 gelang es, die so genannte Geruchscharta zu unterzeichnen. Darin<br />
verpflichteten sich die etwa 20 teilnehmenden Unternehmen von beiden Rheinseiten<br />
zum einen zur Transparenz und zum anderen dazu, schnelle Abhilfe zu schaffen, wenn<br />
es zu Geruchsbelästigungen kommt. Seither hat sich die Situation in <strong>Kehl</strong> deutlich<br />
verbessert.<br />
Atmo-IDEE: ein Projekt zur rheinüberschreitenden Luftreinhaltung<br />
136<br />
Was bedeutet es für die Luftqualität im Eurodistrikt,<br />
wenn sich ein neuer Industriebetrieb<br />
ansiedelt? Selbst wenn jede Anlage für sich<br />
genommen die vorgeschriebenen Grenzwerte<br />
beim Schadstoffausstoß einhält, kann in<br />
der Summe eine enorme Luftbelastung entstehen<br />
– im gesamten Ballungsraum. Wie<br />
sich solche zusätzlichen Emissionen auf die<br />
Luftqualität auswirken, war bis vor kurzem<br />
nicht darstellbar: Zu unterschiedlich waren<br />
die Methoden, mit denen die vorhandene<br />
Schadstoffkonzentration beidseits des<br />
Rheins berechnet und modelliert wurde.<br />
An diesem Problem setzt das mit Interreg-<br />
Geldern geförderte Projekt Atmo-IDEE an,<br />
an dem neben dem Träger ASPA (Verein zur<br />
Überwachung der Luftbelastung im Elsass)<br />
unter anderem die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong>, die <strong>Stadt</strong>gemeinschaft<br />
Straßburg, der Eurodistrikt<br />
Strasbourg-Ortenau und die Landesanstalt<br />
für Umwelt, Messungen und Naturschutz<br />
Baden-Württemberg (LUBW) beteiligt sind.<br />
Im März 2012 wurde der Startschuss für<br />
Atmo-IDEE gegeben. Seitdem hat die ASPA<br />
gemeinsam mit den technisch involvierten<br />
Partnern – der LUBW, der Universität Straßburg<br />
und dem Unternehmen Numtech – eine<br />
gemeinsame Datenbasis für Emissionen und<br />
Immissionen erarbeitet. In vier je ein- oder<br />
dreimonatigen Messkampagnen, im Sommer<br />
und im Winter, wurden die<br />
Basisdaten erhoben. Insgesamt<br />
mehr als 20 Messstationen im<br />
gesamten Eurodistrikt erfassten<br />
beispielsweise die Konzentration<br />
von Feinstaub, Stickstoffoxiden,<br />
Schwefeldioxid und Benzol, aber<br />
auch meteorologische Daten, die<br />
Einfluss auf die Luftqualität haben,<br />
wie Windprofile oder die Niederschläge.<br />
Die ASPA und die LUBW einigten<br />
sich auf ein für beide Seiten annehmbares<br />
Verfahren, nach dem<br />
die Projektpartner von nun an die<br />
lokalen Daten so erheben, dass<br />
diese jederzeit zusammengeführt<br />
und gemeinsam dargestellt werden<br />
können. Werden sie in ein spezielles<br />
Computerprogramm, ein für<br />
Atmo-IDEE entwickeltes Webtool,<br />
eingegeben, so lassen sich sowohl<br />
die einzelnen Emissionen als auch die aktuelle<br />
Grundbelastung anzeigen, und das von<br />
kleinen Ebenen wie der <strong>Kehl</strong>er Innenstadt<br />
bis hin zur großen Fläche des Eurodistrikts.<br />
Eine Farbkennzeichnung macht deutlich, wo<br />
vorgeschriebene Grenzwerte annähernd erreicht<br />
werden. Ab dem Frühjahr 2014 werden<br />
die Ergebnisse der Emissionserhebung<br />
Mehr als 20 Messstationen im<br />
Eurodistrikt zeichnen die<br />
Konzentration verschiedener<br />
Luftschadstoffe auf.<br />
>>
und der Modellierung der Schadstoffkonzentration<br />
für jeden zugänglich im Internet<br />
unter www.atmo-idee.eu zu sehen sein.<br />
Anschließend soll das Atmo-IDEE-Webtool<br />
auch in Genehmigungsverfahren zum Einsatz<br />
kommen. Möchte sich ein neuer Industriebetrieb<br />
im Eurodistrikt ansiedeln oder ein<br />
bereits niedergelassenes Unternehmen eine<br />
neue Anlage in Betrieb nehmen, so muss die<br />
Firma dafür bei der zuständigen Behörde<br />
eine Genehmigung einholen und dabei den<br />
exakten Standort und die künftigen Emissionen<br />
angeben. Mithilfe des Webtools kann<br />
die Belastung durch die zusätzlichen Schadstoffe<br />
mit der Ausgangssituation verglichen<br />
werden: Auf einen Blick ist zu erkennen, ob<br />
durch den neuen Betrieb Grenzwerte überschritten<br />
werden – in unmittelbarer Nähe<br />
des Unternehmens sowie auch auf der jeweils<br />
anderen Rheinseite. Die betroffene<br />
Gebietskörperschaft wird somit besser in<br />
die Lage versetzt, Stellung zu dem Projekt zu<br />
beziehen.<br />
Oberbürgermeister Günther Petry denkt<br />
bei dem Projekt zur rheinüberschreitenden<br />
Luftreinhaltung noch ein paar Schritte weiter:<br />
„Die Modelle könnten Argumente dafür<br />
schaffen, dass die bestehenden Gesetze nicht<br />
ausreichen.“ Er könne sich einen Emissionshandel<br />
für den Eurodistrikt vorstellen, wie es<br />
ihn in ähnlicher Form in der Europäischen<br />
Union gibt. Nach diesem Prinzip würde eine<br />
Höchstgrenze an Emissionen für den Eurodistrikt<br />
festgelegt. Den Industriebetrieben<br />
würden Zertifikate für Emissionen zugeteilt,<br />
die in der Summe die festgelegte Höchstgrenze<br />
nicht überschreiten. Mit den Zertifikaten<br />
könnten die Unternehmen dann untereinander<br />
handeln, ohne dass dies Auswirkungen<br />
auf die Luftbelastung insgesamt hätte.<br />
137<br />
Klimaschutz am Oberrhein: Wissenstransfer über Grenzen hinweg<br />
Die Energiewende voranzutreiben und den<br />
Oberrhein als Vorbildregion in Sachen Klimaschutz<br />
zu etablieren, das hat sich eine<br />
deutsch-französisch-schweizerische Einrichtung<br />
zur Aufgabe gemacht, die ihren Sitz<br />
in <strong>Kehl</strong> hat: TRION, das Energie-Netzwerk<br />
der Trinationalen Metropolregion<br />
Oberrhein, sorgt<br />
seit seiner Gründung 2010<br />
dafür, dass Unternehmen<br />
und Gebietskörperschaften<br />
in diesem Bereich von- und<br />
miteinander lernen können<br />
– zweisprachig und über drei<br />
Ländergrenzen hinweg.<br />
„Der Oberrhein drängt sich<br />
als Vorbildregion für den<br />
Klimaschutz und die Nutzung<br />
erneuerbarer Energien<br />
geradezu auf“, sagt Vulla Parasote, die das<br />
TRION-Büro im <strong>Kehl</strong>er Torbogengebäude<br />
leitet. „Allein schon Freiburg weckt mit dem<br />
nachhaltigen Vauban-Viertel internationales<br />
Vulla Parasote<br />
Interesse“, sagt sie, „das Elsass übernimmt in<br />
Frankreich eine Vorreiterrolle und auch in der<br />
Schweiz gibt es viele Initiativen, die sich für<br />
die Einsparung von Energieressourcen einsetzen“.<br />
Wenn sich diese Unternehmen und<br />
Institutionen untereinander austauschen,<br />
ist Vulla Parasote überzeugt,<br />
wird ein grenzüberschreitender<br />
Mehrwert geschaffen.<br />
„Wir müssen einen Technologie-<br />
und Wissenstransfer<br />
erreichen, zwischen Unternehmen<br />
und auch von der<br />
Wissenschaft zur Wirtschaft“,<br />
sagt sie. „Die Ergebnisse aus<br />
der Forschung sollen für die<br />
Wirtschaft nutzbar sein.“<br />
Um diesen Austausch zu fördern,<br />
hat TRION, das funktional<br />
beim Regierungspräsidium Freiburg<br />
angesiedelt ist, mithilfe von Interreg-Geldern<br />
der Europäischen Union ein Energienetzwerk<br />
von Kooperationspartnern aus den drei Län-<br />
>>
138<br />
dern aufgebaut. Dazu zählen vor allem Energieagenturen,<br />
Eurodistrikte, Regionalverbände,<br />
Bildungseinrichtungen, Energie- und<br />
Bauunternehmen sowie Handwerks-, Industrie-<br />
und Handelskammern. Ihre Mitglieder<br />
oder Mitarbeiter sollen von gemeinsamen<br />
Projekten und Veranstaltungen besonders<br />
profitieren. <strong>Das</strong> können zum Beispiel Fachvorträge<br />
sein, wie das dreiteilige Kolloquium<br />
„Nachhaltiges Bauen am Oberrhein“,<br />
das TRION 2011 in Basel, 2012 in Straßburg<br />
und 2013 in Karlsruhe organisiert hat. Oder<br />
Fortbildungsreihen für Fachleute aus der<br />
Oberrhein-Region, die TRION gemeinsam mit<br />
seinen Partnern anbietet, wie 2012 beispielsweise<br />
zur Energieeffizienz in Gebäuden. „Ich<br />
war überrascht, wie technisch und detailliert<br />
sich die Teilnehmer ausgetauscht haben“, berichtet<br />
Vulla Parasote. Wie verarbeiten die<br />
Kollegen im Nachbarland ein bestimmtes<br />
Produkt? Welches Material verwenden sie?<br />
Und wie sieht der Markt jenseits der Grenze<br />
dafür aus? Solche Fragen seien lebhaft diskutiert<br />
worden. „Da hat sich ganz klar gezeigt:<br />
Man kann voneinander lernen“, sagt die<br />
TRION-Leiterin.<br />
Weiter stärken will TRION das Netzwerk mit<br />
sogenannten Speed Meetings, bei denen wenige<br />
Unternehmen aus Deutschland, Frankreich<br />
und der Schweiz sich auf Einladung von<br />
TRION treffen, sich einander vorstellen und<br />
dann Gelegenheit haben, sich auszutauschen.<br />
„<strong>Das</strong> soll klein, kurz, intensiv sein“, sagt Vulla<br />
Parasote. Die Speed Meetings sollen dazu<br />
führen, dass Arbeitsgemeinschaften gegründet<br />
und eine geschäftliche, grenzüberschreitende<br />
Zusammenarbeit aufgebaut werden<br />
kann. Ebenso wird ein Best-Practice-Katalog<br />
erarbeitet, also eine Zusammenstellung interessanter<br />
Vorbild-Projekte aus den Bereichen<br />
erneuerbare Energien und nachhaltiges<br />
Bauen am Oberrhein.<br />
Eines der größten Projekte, das TRION bislang<br />
realisiert hat, war eine Marktstudie zum Potenzial<br />
der Gebäudesanierung am Oberrhein,<br />
die der Politik Entscheidungsgrundlagen liefern<br />
und den Unternehmen Markteinschätzungen<br />
ermöglichen soll. Die Auftragnehmer<br />
waren drei Unternehmen aus Deutschland,<br />
Frankreich und der Schweiz, TRION leitete<br />
einen Lenkungsausschuss, in dem ebenfalls<br />
Energie-Experten aus der gesamten<br />
Oberrhein-Region vertreten waren. „Mit drei<br />
Ländern und drei Auftragnehmern war diese<br />
Studie sehr ambitioniert“, sagt Vulla Parasote<br />
im Rückblick. „Wir mussten ein gemeinsames<br />
Szenario aufstellen. Aber schon die Visionen<br />
waren sehr unterschiedlich.“ Die Inhalte<br />
länderübergreifend zu harmonisieren, das<br />
sei eine Herausforderung gewesen. Die länderspezifischen<br />
Inhalte mussten nicht nur<br />
zusammengeführt, sondern auch übersetzt<br />
werden. „<strong>Das</strong> Thema war schon komplex, aber<br />
zweisprachig wurde es noch einmal komplexer.“<br />
Auch bei den Treffen des Lenkungsausschusses<br />
sei die Zweisprachigkeit nicht ganz<br />
unproblematisch gewesen: „<strong>Das</strong> Dolmetschen<br />
hemmt den Fluss der Sitzungen.“<br />
Trotz der Schwierigkeiten ist klar: Alles, was<br />
TRION macht, betrifft die drei Länder am<br />
Oberrhein und ist zweisprachig. „Einen Mehrwert<br />
für die Region zu schaffen, einen gemeinsamen<br />
Blick zu ermöglichen, dafür sind<br />
wir da“, sagt Vulla Parasote, die im Torbogengebäude<br />
gemeinsam mit zwei weiteren Teilzeitkräften<br />
für TRION arbeitet. Der Standort<br />
in <strong>Kehl</strong>, „mitten in Europa“ und in direkter<br />
Nachbarschaft zu anderen grenzüberschreitenden<br />
Einrichtungen wie dem Eurodistrikt,<br />
Damit der Oberrhein Vorbildregion<br />
für Klimaschutz und die<br />
Nutzung erneuerbarer Energien<br />
werden kann, wurde die deutschfranzösisch-schweizerische<br />
Einrichtung TRION gegründet.<br />
Vulla Parasote leitet das Büro<br />
im <strong>Kehl</strong>er Kompetenzzentrum<br />
für grenzüberschreitende<br />
Zusammenarbeit.<br />
>>
dem Euro-Institut oder dem Sekretariat der<br />
deutsch-französisch-schweizerischen Oberrheinkonferenz,<br />
aus deren Kommission Klima<br />
und Energie TRION 2010 hervorgegangen ist,<br />
sei für die Arbeit hilfreich. In der Grenzstadt<br />
will TRION auch dann bleiben, wenn 2015<br />
die Interreg-Förderung ausläuft. Bis dahin<br />
soll das Netzwerk sich fest etabliert und eine<br />
Rechtsform erhalten haben. „<strong>Das</strong> Ziel ist,<br />
dass wir dann auch direkt Dienstleistungen<br />
für Unternehmen vermarkten können“, erklärt<br />
Vulla Parasote.<br />
Der grenzüberschreitende Bus<br />
der Linie 21 der Straßburger Verkehrsbetriebe<br />
(CTS) ist ein Opfer<br />
seines Erfolges: Weil an manchen<br />
Tagen mehr als 5000 Menschen<br />
mitfahren wollen, muss ein<br />
fünfter Gelenkbus auf die Strecke<br />
von der <strong>Kehl</strong>er <strong>Stadt</strong>halle bis zur<br />
Endhaltestelle der Straßburger<br />
Tram geschickt werden.<br />
Verkehr<br />
Der kleine Grenzverkehr – also<br />
der motorisierte Austausch<br />
zwischen dem Ballungsraum<br />
Straßburg und dem Raum <strong>Kehl</strong><br />
– macht mit 65 Prozent den<br />
größten Anteil des grenzüberschreitenden<br />
Verkehrs aus. In<br />
absoluten Zahlen bedeutet<br />
dies, dass an Wochentagen<br />
insgesamt 36 000, an Samstagen<br />
42 000 Fahrzeuge über die<br />
Europabrücke rollen. In seinem<br />
Mobilitätskonzept prophezeit Dr. Frank Gericke vom Karlsruher Büro Modus Consult<br />
eine weitere Zunahme des grenzüberschreitenden Verkehrs bis zum Jahr 2025 um 33<br />
Prozent. Dabei setzt der Verkehrsplaner bereits voraus, dass die Tramlinie D im Zwölf-<br />
Minuten-Takt über den Rhein fährt. <strong>Das</strong>s immer mehr Menschen zwischen Straßburg<br />
und <strong>Kehl</strong> pendeln, zeigen auch die steigenden Fahrgastzahlen in den Bussen der grenzüberschreitenden<br />
Linie 21 der Straßburger Verkehrsbetriebe (CTS): Im Juni 2013 muss<br />
ein fünfter Bus auf dem Rundkurs Tramhaltestelle Jean-Jaurès und <strong>Stadt</strong>halle <strong>Kehl</strong><br />
eingesetzt und der Takt der Fahrten von 15 auf neun Minuten verkürzt werden – innerhalb<br />
von fünf Jahren sind die Fahrgastzahlen um 65 Prozent gestiegen. Eine solche<br />
Zunahme ist einzigartig im Netz der CTS. An manchen Tagen nutzen mehr als 5000<br />
Fahrgäste die Busse der Linie 21.<br />
139<br />
Seit 16 Jahren gibt es den Euro-<br />
Pass, das 24-Stunden-Ticket, mit<br />
dem alle öffentlichen Verkehrsmittel<br />
im Ortenaukreis und in der<br />
<strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg<br />
genutzt werden können.<br />
Folgerichtig ist auch der Euro-Pass eine Erfolgsgeschichte:<br />
<strong>Das</strong> Ticket, mit dem alle Verkehrsmittel des<br />
öffentlichen Personennahverkehrs im Ortenaukreis<br />
und auf dem Gebiet der <strong>Stadt</strong>gemeinschaft Straßburg<br />
(CUS) 24 Stunden lang genutzt werden können,<br />
wurde vor 16 Jahren eingeführt, vor zwei Jahren kam<br />
der Euro-Pass Mini dazu, der während 24 Stunden<br />
Fahrten auf dem Territorium der <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> und der<br />
CUS erlaubt. Während neue Produkte normalerweise<br />
einige Jahre Anlaufzeit benötigen, war der Euro-Pass<br />
Mini von Anfang an ein Erfolg: Gleich im ersten Jahr<br />
wurden 10 000 Stück verkauft, plus 1000 Monatskarten.<br />
Trotz der Einführung des Euro-Pass Mini stiegen die<br />
Verkaufszahlen des Euro-Passes ebenfalls um weitere<br />
fünf Prozent auf rund 110 000 Tagestickets und rund<br />
2000 Monatskarten.<br />
>>
140<br />
<strong>Stadt</strong>- und Raumplanung<br />
Bereits Anfang der 1970er-Jahre sah Sigrun Lang, damals <strong>Stadt</strong>planerin in <strong>Kehl</strong>, später<br />
Oberbürgermeisterin in Baden-Baden, voraus, dass zukunftsorientierte Raumplanung<br />
im Ballungsraum Straßburg-<strong>Kehl</strong> eigentlich nur grenzüberschreitend möglich ist.<br />
Der Weg dorthin begann jedoch erst 1995. Der Fall der Berliner Mauer 1989 und der<br />
Wegfall der Grenzkontrollen im Zuge des Schengener Abkommens 1993 bildeten den<br />
Hintergrund für die Überlegungen des Straßburger Künstlers und damaligen <strong>Stadt</strong>rates<br />
Michel Krieger, im Grenzraum am Rhein ein Symbol für die Einigung Europas zu<br />
schaffen. Seine Vision vom „Jardin des deux Rives“, einem Park entlang des Straßburger<br />
und <strong>Kehl</strong>er Rheinufers, war damals so überzeugend wie kühn: Der Strom sollte<br />
einen Bedeutungswandel erfahren – vom Grenzfluss zum integralen Bestandteil eines<br />
gemeinsamen Gartens. Er sollte nicht länger trennen, sondern verbinden. Die Zustimmung<br />
Straßburgs zum Bau dieses Parks war gleichzeitig die Weichenstellung für eine<br />
neue <strong>Stadt</strong>entwicklung: Während <strong>Kehl</strong> schon immer eine <strong>Stadt</strong> am Rhein war, war<br />
Straßburg seit Jahrhunderten eine Metropole an der Ill. Ihre Entwicklung suchte sie<br />
zuerst im Norden, dann im Süden, später im Westen, aber nie im Osten.<br />
Die gemeinsamen Pläne für den Garten der zwei Ufer, die Passerelle und die grenzüberschreitende<br />
Gartenschau haben die Zusammenarbeit zwischen den beiden Städten<br />
intensiviert. Trotz des beachtlichen Größenunterschieds war klar, dass jede raumplanerische<br />
Entwicklung auf der einen Rheinseite Auswirkungen auf das andere Ufer<br />
haben würde. Nach Straßburger Vorstellungen sollte der Garten der zwei Ufer kein<br />
solitäres Element am Rhein sondern der Endpunkt einer Entwicklungsachse werden,<br />
die am Parc de l’Etoile beginnt und sich bis zum Rhein hinzieht. Gemeinsam gaben die<br />
beiden Städte <strong>Kehl</strong> und Straßburg bereits im Jahr 2000 eine Machbarkeitsstudie für<br />
die Tram über den Rhein in Auftrag, die – nach damaligen Plänen – bereits 2011 den<br />
<strong>Kehl</strong>er Bahnhof mit dem Straßburger <strong>Stadt</strong>zentrum verbinden sollte. In den Plänen für<br />
den Garten der zwei Ufer war auf Straßburger Seite bereits zur Jahrtausendwende ein<br />
neues Wohngebiet vorgesehen. Die Entwicklung, welche die rot-grüne Straßburger<br />
<strong>Stadt</strong>regierung heute in Richtung Rhein vorsieht, beziehungsweise bereits begonnen<br />
hat, ist die konsequente Fortsetzung dieser Pläne – mit dem Schéma des deux Rives<br />
ist zum ersten Mal ein über den Rhein hinausreichender, das <strong>Kehl</strong>er Bahnhofs- und<br />
Kasernenareal mit umfassender städtebaulicher Rahmenplan entstanden.<br />
380 Wohnungen für rund<br />
1000 Menschen am Rande des<br />
französischen Teils des Gartens<br />
der zwei Ufer werden 2014<br />
bezugsfertig sein.<br />
Mit der sechsmonatigen grenzüberschreitenden<br />
Gartenschau<br />
ist der Garten der zwei Ufer 2004<br />
eingeweiht worden.<br />
>>
Die neue Neustadt oder: Straßburg am Rhein<br />
Jahrhundertelang war Straßburg die <strong>Stadt</strong> an<br />
der Ill, die dem Rhein den Rücken zuwandte.<br />
Mit dem Projekt Deux Rives entwickelt<br />
sich die Großstadt in Richtung Rhein – nach<br />
dem Bau der Neustadt unter deutscher Herrschaft<br />
von 1871 bis 1918 handelt es sich dabei<br />
um das größte <strong>Stadt</strong>entwicklungsprojekt,<br />
das je in Angriff genommen wurde. Von der<br />
180-Grad-Großstadt soll sich Straßburg nach<br />
dem Willen der rot-grünen <strong>Stadt</strong>regierung zur<br />
360-Grad-Metropole wandeln. Vorgesehen<br />
ist, auf den ehemaligen Hafenflächen entlang<br />
der Verlängerung der Tramlinie D nach <strong>Kehl</strong><br />
auf rund 250 Hektar Fläche Wohnraum für<br />
rund 18 000 Menschen zu schaffen.<br />
2010 haben die <strong>Stadt</strong> Straßburg und der<br />
Straßburger Hafen begonnen, gemeinsam<br />
und mit umfangreicher Bürgerbeteiligung den<br />
städtebaulichen Rahmenplan Richtung Rhein<br />
eine deutsch-französische Jury die Wettbewerbssieger<br />
gekürt (siehe Seite 6), die zusammen<br />
mit <strong>Stadt</strong>planern der beiden Städte<br />
an einem gemeinsamen Masterplan arbeiten.<br />
Was die Umsetzung des Schéma des deux<br />
Rives ganz konkret bedeutet, kann man am<br />
französischen Rheinufer in unmittelbarer<br />
Nachbarschaft zum Garten der zwei Ufer<br />
bereits sehen: Der Bau von 380 Wohnungen<br />
(190 Eigentumswohnungen, 110 Seniorenwohnungen<br />
und 80 Sozialwohnungen) steht<br />
kurz vor dem Abschluss. Neben der kleinen<br />
Kirche Ste Jeanne d’Arc errichtet Habitation<br />
Moderne weitere 140 Wohnungen (davon<br />
60 Sozialwohnungen). Allein durch diese beiden<br />
Wohnungsbauprojekte wird das Quartier<br />
du Port du Rhin seine Einwohnerzahl<br />
2014 in etwa verdoppeln. Auch der Bau des<br />
zweitgrößten Straßburger Krankenhauses im<br />
141<br />
Unweit der kleinen Kirche im<br />
Port-du-Rhin-Viertel baut<br />
Habitation Moderne 140<br />
Wohnungen.<br />
zu entwickeln. Die <strong>Stadt</strong> <strong>Kehl</strong> wurde eingeladen,<br />
sich an der Erarbeitung des Schéma des<br />
deux Rives zu beteiligen, das auf diese Weise<br />
über den Rhein hinaus um das Kasernen- und<br />
Bahnhofsareal erweitert werden konnte. Im<br />
Frühsommer 2012 haben die Städte <strong>Kehl</strong> und<br />
Straßburg einen gemeinsamen städtebaulichen<br />
Wettbewerb für die beiden Zollhöfe europaweit<br />
ausgeschrieben. Im Januar 2013 hat<br />
<strong>Stadt</strong>teil Port du Rhin wird den gehobenen<br />
Wohnungsbau beflügeln – es ist davon auszugehen,<br />
dass zumindest ein Teil der rund 800<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des neuen<br />
Klinikums gerne in der Nähe des Arbeitsplatzes<br />
wohnen möchte.<br />
<strong>Das</strong> neue Wohnviertel Bruckhoff rund um die<br />
heutige Endhaltestelle der Tramlinie D Aristide<br />
>>
Wohnen am Wasser ist das Motto<br />
in den neuen großstädtischen<br />
<strong>Stadt</strong>quartieren, welche die <strong>Stadt</strong><br />
Straßburg auf den Industriebrachen<br />
des Hafens entwickeln<br />
möchte. Fortbewegen sollen sich<br />
die neuen Bewohner zu Fuß, mit<br />
dem Rad und mit der Tram.<br />
142<br />
Briand mit seinen 657 neuen Wohnungen (davon<br />
241 Appartements für Studenten) ist bereits<br />
fertig gestellt und weitgehend bezogen.<br />
Unweit von Bruckhoff, in strategisch günstiger<br />
Lage am neuen <strong>Stadt</strong>boulevard, der von<br />
der <strong>Kehl</strong>er Geiger-Kreuzung bis zum Parc de<br />
l’Etoile reichen wird, laufen die Bauarbeiten<br />
für das Öko-Wohnviertel Danube mit weiteren<br />
650 Wohnungen. Zusätzlich sind hier 18 000<br />
Quadratmeter Nutzfläche für Büros und Einzelhandel<br />
vorgesehen. Die Realisierung des<br />
Öko-Quartiers erfolgt in drei Bauabschnitten.<br />
Mit ihrer ersten neuen Haltestelle auf der<br />
Halbinsel Môle de la Citadelle wird die Tramlinie<br />
D in ihrer Verlängerung einen besonderen<br />
Ort erschließen: Direkt am Wasser sollen<br />
hier ein Hotel und der Yachthafen der <strong>Stadt</strong><br />
Straßburg entstehen, geplant sind auch<br />
Wohnungen im gehobenen Preissektor sowie<br />
Tourismus- und Freizeiteinrichtungen.<br />
Wohnen am Wasser ist auch die Devise für<br />
die Gestaltung des 176 000 Quadratmeter<br />
großen Starlette-Areals – wie in allen neuen<br />
Quartieren werden hier Niedrig- oder Null-<br />
Energie-Häuser entstehen; der Autoverkehr<br />
soll aus den Vierteln weitgehend verbannt<br />
werden; die Bewohner sollen sich zu Fuß, mit<br />
dem Fahrrad oder mit Bus und Tram bewegen.<br />
Privatautos können in Sammelgaragen<br />
oder Parkhäusern abgestellt werden.<br />
Die schwierigste Aufgabe stellt sich den<br />
<strong>Stadt</strong>planern wohl in der Umgestaltung des<br />
Coop-Halbmondes: Dort sollen vorhandene<br />
Industrie- und Gewerbebauten erhalten und<br />
für kulturelle Nutzung hergerichtet werden.<br />
Diese könnten einen (Lärmschutz-)Riegel zur<br />
geplanten Wohnbebauung in der Nachbarschaft<br />
aktiver Industriebetriebe des Straßburger<br />
Hafens bilden.<br />
Die Halbinsel Môle de la Citadelle<br />
(unten links) ist das Prachtstück<br />
unter den <strong>Stadt</strong>entwicklungsflächen.<br />
Mit Yachthafen und<br />
Hotel wird die Freizeitnutzung in<br />
den Vordergrund gestellt.<br />
Die Verlängerung der Tramlinie D<br />
bis nach <strong>Kehl</strong> zieht sich wie ein<br />
roter Faden durch die neuen<br />
<strong>Stadt</strong>entwicklungsgebiete,<br />
die bis zu 18 000 Einwohner<br />
aufnehmen sollen.<br />
>>
Senioren<br />
Über viele Jahre hinweg trafen sich Senioren aus <strong>Kehl</strong> und Straßburg regelmäßig<br />
zum geselligen Beisammensein – mit und ohne Programm. Seit dem Tod der Organisatoren<br />
beschränken sich die Kontakte auf eine lockere Kooperation zwischen den<br />
Straßburger Museen und dem <strong>Kehl</strong>er Seniorenbüro. <strong>Das</strong> Seniorenbüro wird über die<br />
laufenden Ausstellungen informiert und auf Wunsch von Straßburger Senioren geführt.<br />
Auf Eurodistrikt-Ebene sind Arbeitsgruppen zu Senioren-Themen wie zum Beispiel<br />
betreutes Wohnen oder Erkrankungen im Alter zwar angedacht, aber noch nicht<br />
zustande gekommen.<br />
In den Fokus der Öffentlichkeit sind die Senioren jedoch aus ganz anderen Gründen<br />
gerückt: 2005 wurde das Alterseinkünftegesetz so geändert, dass Renten besteuert<br />
werden können, wenn sie eine bestimmte Höhe überschreiten. <strong>Das</strong> gilt freilich auch für<br />
ehemalige Grenzgänger, die in Frankreich leben und jahrelang in Deutschland gearbeitet<br />
haben. Doch anders als die Einkünfte der Rentner, die in Deutschland ihren Lebensabend<br />
verbringen, können die Renten der französischen Grenzgänger schon vom ersten<br />
Euro an besteuert werden. Dies ist im Falle einer beschränkten Steuerpflicht möglich,<br />
einen Grundfreibetrag gibt es hier nicht.<br />
Verzweifelte Rentner, nicht selten hochbetagt und in schwierigen finanziellen Verhältnissen<br />
lebend, prägten seither den Arbeitsalltag der deutsch-französischen Beratungsstelle<br />
INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg. 2012 betrafen allein 37 Prozent der 4174 vom INFOBEST-<br />
Team bearbeiteten Anfragen die Rentenbesteuerung. Mit fast jedem Fall verbindet sich<br />
ein menschliches Schicksal, was die Beraterinnen auch emotional fordert. Häufig erhalten<br />
nämlich Rentner und Rentnerinnen, oft auch die Ehefrauen längst verstorbener,<br />
ehemaliger Grenzgänger, Steuerrechnungen vom Finanzamt Neubrandenburg, obwohl<br />
sie nur sehr kleine Renten beziehen. Wer die richtigen Formulare ausfüllt und die Fristen<br />
wahrt, kann die Zahlungen verhindern, doch den meisten Betroffenen fehlen die dazu<br />
notwendigen Kenntnisse des deutschen Steuersystems. Wenn sich Angehörige – häufig<br />
die Kinder oder die Witwe – des einstigen Grenzgängers um das Verfahren kümmern<br />
müssen, mangelt es nicht selten zusätzlich an den Sprachkenntnissen.<br />
143<br />
Was die Senioren angeht, ist die<br />
grenzüberschreitende Kooperation<br />
noch entwicklungsfähig.<br />
Um die deutsch-französischen Beratungsstellen am Oberrhein zu entlasten und die<br />
Rentner auch vor Ort in den Gemeinden beraten zu können, haben die Oberrheinkonferenz<br />
(30 000 Euro), die INFOBEST <strong>Kehl</strong>-Strasbourg (20 000 Euro), die Région Alsace<br />
(15 000 Euro), die Eurodistrikte<br />
Pamina und Strasbourg-Ortenau<br />
(jeweils<br />
10 000 Euro) sowie das<br />
Sozialministerium Baden-<br />
Württemberg (5000 Euro)<br />
im Juni 2013 gemeinsam<br />
eine Task-Force mit zwei<br />
Mitarbeitern gebildet:<br />
Allein in den ersten vier<br />
Monaten wurden Beratungsgespräche<br />
mit rund<br />
800 Rentnern geführt.<br />
>>
Lebensende<br />
Lange Jahre ließ das <strong>Kehl</strong>er Bestattungsinstitut Klein verstorbene <strong>Kehl</strong>erinnen und<br />
<strong>Kehl</strong>er im Straßburger Krematorium einäschern – der Weg war deutlich schneller zurückzulegen<br />
als die Fahrt nach Lahr. Doch während mit dem Binnenmarkt lebende<br />
Europäer die deutsch-französische Grenze ohne Ausweis und ohne Zollkontrolle überqueren<br />
konnten, war für tote Europäer weiterhin ein sogenannter Leichenpass vonnöten.<br />
Dieser ist beim Standesamt unbürokratisch für eine Gebühr von 17 Euro erhältlich<br />
– wirtschaftlich betrachtet war damit die Einäscherung der Toten in Straßburg immer<br />
noch günstiger als in Lahr. 2009 trat jedoch eine Änderung des Bestattungsgesetzes<br />
in Kraft, wonach eine zweite Leichenschau notwendig wird, wenn der oder die Tote ins<br />
benachbarte Ausland oder auch in ein anderes Bundesland transportiert werden soll.<br />
Diese kostet etwa 80 Euro; außerdem können durch diese zweite Leichenschau zeitliche<br />
Verzögerungen auftreten. Zwei Gründe, weshalb die <strong>Kehl</strong>er Bestattungsinstitute<br />
Verstorbene seither grundsätzlich zur Einäscherung ins Lahrer Krematorium bringen.<br />
Hat indes ein Verstorbener zu Lebzeiten den Wunsch geäußert, dass seine Asche in den<br />
Rhein gestreut werden möge, kann sein Wille – obwohl in Deutschland verboten – am<br />
Straßburger Flussufer erfüllt werden. Mitarbeiter des Bestattungsinstituts begleiten<br />
die trauernden Angehörigen dann auf die französische Rheinseite.<br />
144