01 inhalt - Salzgehalt.org
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plattenpresse<br />
Tocotronic<br />
Pure Vernunft damals niemals siegen<br />
(L'Age d'Or/ Rough Trade)<br />
JG. Tocotronic waren mal die Slogan-Kapelle, auf die<br />
sich alle einigen konnten: "Ich möchte Teil einer<br />
Jugendbewegung sein" und "Wir kommen um uns zu<br />
beschweren", erzählten vom Sitzen auf<br />
Teppichböden, von Gitarrenhändlern und von samstäglicher<br />
Freizeitgestaltung. Die irrtümlich meist als<br />
authentisch verstandene Lyrik war unterfüttert von<br />
Gitarrenrock aus der Garage, die Haltung war<br />
Bedeutungsträger für politische Inhalte, vielmehr<br />
sind Versatzstücke des Politischen Teil des alles und<br />
nichts umfassenden Stream of Consciousness. Es<br />
geht um Eskapismus in diesen Liedern, um das Recht<br />
auf Illusionen. Im Treibsand der Gedanken wird von<br />
Spiegeln erzählt, von Echos, vom Idiotenfest, und<br />
immer wieder: vom Weltall. Von der metaphorischen<br />
Liebesreflexion "Der achte Ozean" über die schier<br />
unglaubliche Hymne "Pure Vernunft darf niemals<br />
siegen" bis zum bedrohlichen "Ich habe Stimmen<br />
gehört" (der letzte Satz in Hitchcocks "Vertigo") entsteht<br />
ein Raunen, ein Flüstern, das Ängste, Zweifel,<br />
Wahnsinn feiert. Von Mut ist hier die Rede, von<br />
Bewusstsein, von der eigenen Entscheidungskraft.<br />
Von Selbstvertrauen, das auch das Scheitern in die<br />
Arme schließt. Let’s fetz!<br />
Oma Hans<br />
Peggy (Schiffen)<br />
bewusst jugendlich, das Handwerk betont dilettantisch.<br />
War das 2002er Album "Tocotronic" noch die<br />
Ausschöpfung sämtlicher zu Gebote stehender musikalischer<br />
Mittel - Bombast galore sozusagen -, so<br />
herrscht jetzt wieder Beschränkung vor, die<br />
Reduktion auf die klassische Gitarrenband.<br />
Direkter, bissiger als zuletzt kämpft sich Dirk von<br />
Lowtzows Stimme gleich zu Beginn durch das<br />
Assoziationsdickicht von "Aber hier leben, nein<br />
danke", der großartigen Single: Zwischen Volker<br />
Lechtenbrink und Gang of Four sagt da einer "Nein"<br />
zur grassierenden Nationalstolz-Debatte und<br />
Deutschrockquote. Im Grunde aber dient die surreale<br />
Poesie auf "Pure Vernunft" wohl weniger als<br />
Wer ein Genre wie<br />
Deutsch-Punk<br />
wählt, um seinen<br />
Mitmenschen<br />
etwas mitzuteilen,<br />
und trotzdem<br />
nicht zu den Toten<br />
Hosen mutiert<br />
oder zwischen<br />
Heerscharen von<br />
AJZ-Bands mit der<br />
Halbwertzeit von<br />
zwei Samplerbeiträgen versinkt, muss schon<br />
Persönlichkeit besitzen. Jens Rachut, seit vielen<br />
Jahren unterwegs in Sachen Deutsch-Punk, hat mit<br />
diversen Bands/Projekten konsequent nie mehr als 2<br />
Platten veröffentlicht, ist ein eigenwilliger Live-<br />
Performer und Texter. Wäre Helge Schneider voller<br />
Agonie und Wut gewesen, er hätte vielleicht ähnliche<br />
Texte geschrieben, musikalisch regiert hier aber nicht<br />
das wohlig enthemmte Klavier, sondern eben die alte<br />
Störtebeker-Schule, und was eben noch wundersame<br />
Lyrix waren, entpuppt sich musikalisch umgesetzt oft<br />
als Resultat scharfer Beobachtung, unvermittelt,<br />
überraschend, intelligent, pointiert, hart, satirisch,<br />
voller Witz. Deutsch-Punk 05, wer hätte das gedacht?<br />
André Pluskwa