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Cicero Der Blutrausch der Medien (Vorschau)

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Nº12<br />

DEZEMBER<br />

2013<br />

€ 8.50<br />

CHF 13<br />

Neu!<br />

J E T Z T J E D E N M O N A T<br />

M I T E X T R A-SEITEN<br />

Li teraturen<br />

Fass!<br />

<strong>Der</strong> <strong>Blutrausch</strong> <strong>der</strong> <strong>Medien</strong><br />

und <strong>der</strong> Schaden<br />

für die Demokratie<br />

Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €<br />

Spanien: 9.50 €, Finnland: 12.80 €<br />

12<br />

„ Beim Islam<br />

ist es heikler “<br />

<strong>Der</strong> Philosoph Rémi Brague<br />

über den Wettstreit<br />

<strong>der</strong> Weltreligionen<br />

Wer ist<br />

Edward Snowden?<br />

Porträt eines Rätselhaften –<br />

und seiner Jäger<br />

4 196392 008505


Die<br />

Kunst,<br />

voraus zu sein.<br />

<strong>Der</strong> neue Audi A8.<br />

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ATTICUS<br />

N°-12<br />

HEISSGELAUFEN<br />

Titelbild: Jens Bonnke; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Oft reicht es, nach Großbritannien<br />

zu blicken, um zu ermessen,<br />

was gesellschaftlich auf uns zukommt.<br />

Die Bil<strong>der</strong> des gehetzten Limburger<br />

Bischofs in Rom erinnerten mich an den<br />

Fall Kelly. David Kelly war ein britischer<br />

Biowaffen experte und vor zehn Jahren<br />

vermuteter Kronzeuge für eine BBC-<br />

Geschichte, wonach die Blair-Regierung<br />

ein Irak-Dossier wahrheitswidrig aufgemotzt<br />

hatte. <strong>Der</strong> Wissenschaftler sah sich<br />

einem enormen Druck durch die Boulevardpresse<br />

ausgesetzt. Drei Wochen später<br />

lag er tot auf einem Acker. Selbstmord.<br />

Sind wir so weit davon entfernt?<br />

Ist das rechte Maß noch gewahrt? War<br />

Horst Köhler wirklich ein „Horst Lübke“<br />

und deshalb untragbar im Amt des<br />

Bundespräsidenten? Musste man seinem<br />

Nachfolger Christian Wulff auch noch<br />

den Anspruch auf den Ehrensold absprechen?<br />

Darf Bischof Tebartz-van Elst<br />

keinen Kaffee auf <strong>der</strong> Piazza trinken?<br />

War Rainer Brü<strong>der</strong>les dämlicher Ausfall<br />

wirklich diese Aufregung wert?<br />

Da läuft etwas schief. Da läuft etwas<br />

heiß. Die <strong>Medien</strong> stehen unter existenziellem<br />

ökonomischen Druck, <strong>der</strong> dazu<br />

verleitet, Tabus fallen zu lassen. In Großbritannien<br />

hatte eine Boulevardzeitung<br />

auf <strong>der</strong> Jagd nach exklusiven Storys<br />

Mobiltelefone von Politikern und Royals<br />

systematisch angezapft. Das Presserecht<br />

wird jetzt deshalb dort verschärft.<br />

<strong>Der</strong> rasende Takt <strong>der</strong> Online-<strong>Medien</strong><br />

gibt Richtung und Tempo einer zunehmend<br />

besinnungslosen Hatz vor. Heraus<br />

kommt Hochfrequenz-Journalismus,<br />

<strong>der</strong> keine Zeit mehr zum Nachdenken<br />

lässt. Es geht zu wie an <strong>der</strong> Schießbude:<br />

Je<strong>der</strong> darf mal draufhalten.<br />

<strong>Der</strong> frühere Kulturstaatsminister<br />

und Philosoph Julian Nida-Rümelin<br />

macht sich Gedanken über die Folgen<br />

<strong>der</strong> permanenten Skandalisierung<br />

für die Demo kratie ( ab Seite 20 ).<br />

Unsere Reporterin Merle Schmalenbach<br />

berichtet aus <strong>der</strong> Kampfzone führen<strong>der</strong><br />

deutscher Online-Portale ( ab Seite 28 ).<br />

„Weniger Hype, mehr Recherche“, for<strong>der</strong>t<br />

Georg Mascolo ( ab Seite 34 ), fünf<br />

Jahre lang Chefredakteur des Spiegel<br />

und einer <strong>der</strong> namhaften Investigativjournalisten<br />

des Landes. Susanne Gaschke,<br />

gelernte Journalistin und zurückgetretene<br />

Kieler Oberbürgermeisterin, berichtet<br />

über ihre Wochen im Sperrfeuer <strong>der</strong><br />

<strong>Medien</strong> ( ab Seite 32 ).<br />

Was tun? Besinnen, zur Ruhe kommen –<br />

und mehr Bücher lesen. Von dieser<br />

Aus gabe an finden Sie Literaturen jeden<br />

Monat auf vier Seiten in <strong>Cicero</strong>.<br />

Und zweimal im Jahr als eigenes Heft.<br />

Mit besten Grüßen<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Chefredakteur<br />

5<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


PUSCHLAV (SCHWEIZ), 2005<br />

DER GEHILFE<br />

Während eines Ausfl ugs ins Schweizer Berggebiet Puschlav hielt unser<br />

Zug auf offener Strecke an. Neugierig steckten meine Frau und ich unsere<br />

Köpfe aus dem Fenster. Am Ende des Zugs: dichter Rauch. Zugbegleiter<br />

und Lokführer stiegen aus, man hantierte und debattierte. Schliesslich<br />

fragte jemand unter unserem Fenster nach einem Taschenmesser. Ich<br />

kramte mein Victorinox-Messer hervor. Wenige Minuten später setzte sich<br />

<strong>der</strong> Zug wie<strong>der</strong> in Bewegung. Die Bridenschraube des Bremsschlauchs sei<br />

locker gewesen, erklärte <strong>der</strong> Zug begleiter, als er mein Messer zurückbrachte.<br />

Er bedankte sich überschwänglich – als wäre ich ein Held. Ich nahm<br />

mir vor, den SBB vorzuschlagen, das gesamte Zugpersonal mit Victorinox-<br />

Messern auszustatten.<br />

Dieter Portmann, August 2005<br />

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Sie damit erleben: Erzählen Sie es uns auf victorinox.com<br />

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INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

20<br />

DER SCHÄDLICHE SKANDAL<br />

Die Jagd auf Wulff, Steinbrück und Brü<strong>der</strong>le<br />

lehrt: Wir müssen zur Besinnung kommen<br />

Von JULIAN NIDA-RÜMELIN<br />

28<br />

DIE KLICKFABRIK<br />

Online-<strong>Medien</strong> folgen an<strong>der</strong>en Gesetzen.<br />

Ein Bericht aus <strong>der</strong> Schlagzeilenproduktion<br />

Von MERLE SCHMALENBACH<br />

Illustration: Jens Bonnke<br />

32<br />

„GNADENLOS DURCH DEN WOLF GEDREHT“<br />

Kiels Ex-Oberbürgermeisterin Susanne Gaschke<br />

im Interview über die Mechanismen <strong>der</strong> <strong>Medien</strong><br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

34<br />

MUT, STOLZ UND STORYS<br />

Was ist guter, zukunftstauglicher Journalismus?<br />

For<strong>der</strong>ungen an eine Profession<br />

Von GEORG MASCOLO<br />

7<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />

40 PAU STATT PFAU<br />

Bundestagsvizepräsidentin<br />

Petra Pau: Eine Außenseiterin<br />

wird zur Autorität<br />

Von TIMO STEIN<br />

42 UNTER KONTROLLE<br />

CSU-Generalsekretär<br />

Alexan<strong>der</strong> Dobrindt<br />

mo<strong>der</strong>nisiert sich nach oben<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

44 DER WERT DES MENSCHEN<br />

<strong>Der</strong> Mindestlohn ist keine<br />

Frage des Marktes. Weil<br />

Arbeiter keine Ware sind<br />

Von FRANK A. MEYER<br />

46 DAS GEISTERSCHIFF<br />

Von hier aus wollte die<br />

SPD Deutschland erobern:<br />

Das Willy-Brandt-Haus,<br />

Zentrale <strong>der</strong> Lähmung<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

49 FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… ob wir in einer<br />

Wohlfühldiktatur leben<br />

Von AMELIE FRIED<br />

52 MACHT UND KAMERA<br />

Die Stasi hätte sie<br />

geliebt. Das Potenzial <strong>der</strong><br />

Datenbrille Google Glass<br />

Von ROLAND JAHN<br />

56 KOKETT UND KNALLHART<br />

James Clapper wirkt wie ein Opa, ist<br />

aber <strong>der</strong> Chef aller US-Geheimdienste<br />

Von WILLIAM DROZDIAK<br />

58 EIN ZÄHER BROCKEN<br />

Obamas Sicherheitsberaterin<br />

Susan Rice verteidigt die NSA<br />

Von ANSGAR GRAW<br />

60 DER COWBOY<br />

NSA-Chef Keith Alexan<strong>der</strong> ist<br />

sich keiner Schuld bewusst<br />

Von SHANE HARRIS<br />

64 DER VERRÄTER<br />

Wer ist <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> die NSA<br />

entblößte? Rekonstruktion von<br />

Edward Snowdens Weg<br />

Von THOMAS SCHULER<br />

72 TRAU. SCHAU, WEM<br />

Sind die USA noch ein<br />

verlässlicher Partner?<br />

Von WILLIAM J. DOBSON<br />

76 JESUS KAM BIS SIBIRIEN<br />

Beten bei minus 40 Grad.<br />

Ein Fotoessay über die<br />

Religion des Wissarion<br />

Von DAVIDE MONTELEONE<br />

86 GESCHICKT EINGEFÄDELT<br />

Christoph Rickerl stellt<br />

Schnürsenkel her.<br />

Und ein Geflecht für<br />

Nobelpreisträger<br />

Von CAROLA SONNET<br />

88 DER PUNKROCK-STRATEGE<br />

Wie wird einer Milliardär,<br />

dem Geld egal ist?<br />

<strong>Der</strong> Weg von Jack Dorsey,<br />

Twitter-Erfin<strong>der</strong><br />

Von CHRISTINE MATTAUCH<br />

92 „ICH MÜSSTE DIE<br />

HÄLFTE ENTLASSEN“<br />

Ein Taxifahrer und sein<br />

Chef machen sich Gedanken<br />

über den Mindestlohn<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

94 EWIGER ETATSTREIT<br />

Was <strong>der</strong> zerbrechliche<br />

Haushaltskompromiss<br />

in den USA bewirkt<br />

Von HENRIK ENDERLEIN<br />

96 MEISTER DES GELDES<br />

Zentralbankchef<br />

Mario Draghi<br />

ist <strong>der</strong> mächtigste<br />

Mann <strong>der</strong> EU.<br />

Wie tickt er?<br />

Von TIL KNIPPER und<br />

JULIUS MÜLLER-MEININGEN<br />

46<br />

SPD: Das Haus des Scheiterns<br />

und <strong>der</strong> Lähmung<br />

64<br />

NSA: <strong>Der</strong> Mann, <strong>der</strong> die<br />

Überwacher vorführt<br />

96<br />

EZB: Ein Römer mo<strong>der</strong>nisiert<br />

Europas Geldpolitik<br />

Fotos: Michael Ruetz/Agentur Focus, Olaf Blecker; Illustration: Sebastian Haslauer<br />

8<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


STIL<br />

SALON<br />

CICERO<br />

STANDARDS<br />

104 „ES MUSS JA<br />

NICHT ÖDE SEIN“<br />

Was lehren uns die Vampire?<br />

Die Schauspielerin Tilda<br />

Swinton im Interview<br />

Von THOMAS ABELTSHAUSER<br />

106 WEISSE WEIHNACHT<br />

Rotwein im Ohrensessel?<br />

Weißwein ist die Strategie<br />

für diesen Winter!<br />

Von LENA BERGMANN<br />

110 DER HERR DER HÄUSER<br />

<strong>Der</strong> Schwede Lars Sjöberg erklärt<br />

die Liebe zu seinen neun Häusern<br />

Von ULRICH CLEWING<br />

118 WARUM ICH TRAGE,<br />

WAS ICH TRAGE<br />

Punk o<strong>der</strong> Prinzessin, in<br />

Berlin darf je<strong>der</strong> alles sein<br />

Von TIM RAUE<br />

110<br />

Ikeas Vorfahren:<br />

Die Häuser eines Sammlers<br />

120 GRÖSSER ALS WIR SELBST<br />

Die Geigerin Carolin Widmann<br />

verbindet die Alte mit <strong>der</strong> Neuen Musik<br />

Von VOLKER HAGEDORN<br />

122 SITZEN, REDEN, SCHLAFEN AUCH<br />

Die Brü<strong>der</strong> Joel und Ethan Coen<br />

gelten als Inbegriff des lässigen Kinos<br />

Von DIETER OSSWALD<br />

124 DER GEISTERBESCHWÖRER<br />

<strong>Der</strong> Schauspieler Ulrich Tukur singt<br />

und swingt und schrieb ein Buch<br />

Von BJÖRN EENBOOM<br />

126 KNARRE? GASPEDAL!<br />

Videospiele wie GTA bieten eine<br />

perfekte Flucht aus <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

Von ALEXANDER PSCHERA<br />

132 HOPES WELT<br />

Danke, du mich auch!<br />

Von DANIEL HOPE<br />

134 „BEIM ISLAM IST ES HEIKLER“<br />

Ein Gespräch mit dem französischen<br />

Religionsphilosophen Rémi Brague<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

138 MAN SIEHT NUR,<br />

WAS MAN SUCHT<br />

Franz Marc in <strong>der</strong> Sammlung des<br />

Münchner Kunsthändlers Gurlitt<br />

Von BEAT WYSS<br />

140 LITERATUREN<br />

Bücher von Edith Wharton, Monika<br />

Maron, Stefan Weinfurter und an<strong>der</strong>en<br />

146 BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />

<strong>Der</strong> Architekt Richard Meier ist ein<br />

Kind <strong>der</strong> europäischen Mo<strong>der</strong>ne<br />

Von SEBASTIAN MOLL<br />

5 ATTICUS<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

10 STADTGESPRÄCH<br />

16 FORUM<br />

144 IMPRESSUM<br />

154 POSTSCRIPTUM<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

<strong>Der</strong> Titelkünstler<br />

Jens Bonnke illustriert<br />

regelmäßig für <strong>Cicero</strong> –<br />

mit Witz und Leichtigkeit.<br />

Selbst wenn es komplex<br />

wird, zeichnet Bonnke<br />

nie kompliziert, egal ob<br />

<strong>der</strong> Apparat des Verteidigungs<br />

ministeriums Thema<br />

ist o<strong>der</strong> die deutsche<br />

Meinungsforschung.<br />

Diesmal ging es um den<br />

Journalismus und die<br />

Jagd auf Politiker.<br />

Die Redaktion diskutierte<br />

viele Motive: Tontaubenschießen,<br />

die Schießbude<br />

auf dem Rummel, ein<br />

Halali in England. Bonnke<br />

entschied sich für etwas<br />

an<strong>der</strong>es: den blindwütigen<br />

Hund, <strong>der</strong> sich los gerissen<br />

hat und allein den<br />

Instink ten folgt.<br />

Fotos: Ingalill Snitt, Jonas Maron<br />

150 ALLE REIHEN FEST GESCHLOSSEN<br />

Im Dezember 1933 war<br />

<strong>der</strong> nationalsozialistische<br />

Einheitsstaat geschaffen<br />

Von PHILIPP BLOM<br />

152 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />

Wach bleiben, den Tod erwarten<br />

Von RAINER MARIA WOELKI<br />

9<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Die FDP sucht Trost und Geld, Computer verdrängen Menschen, ein<br />

Chefredakteur pendelt, ein Mandat wird vererbt, ein Skandal weggelächelt<br />

Modell Deutschneudorf:<br />

Erzgebirge <strong>der</strong> Hoffnung<br />

Mensch und Maschine:<br />

Digitale Ansage<br />

FDP braucht Geld:<br />

Kassenfüller Solms<br />

Im Restaurant Ganymed am Schiffbauerdamm,<br />

eines Mittags dieser Tage:<br />

Sitzt da hinten nicht <strong>der</strong> Dings, auch<br />

ohne seine Mütze – tatsächlich, ja: Dirk<br />

Niebel, FDP-Minister mit Restlaufzeit.<br />

Also: Hingehen, Smalltalk, ob man<br />

sich nicht mal wie<strong>der</strong> zum Essen treffen<br />

kann? Niebel sagt: „Sehr gerne!“ und<br />

zückt seine neue Karte. „Bundesminister<br />

a. D.“ steht da und: „Fe<strong>der</strong>al Minister<br />

for Economic Cooperation and Development<br />

(ret.)“. Kommunikationstechnisch<br />

hat für Niebel die Zukunft schon begonnen.<br />

<strong>Der</strong> Herr, <strong>der</strong> mit ihm am Tisch<br />

sitzt, heißt Heinz-Peter Haustein, seit<br />

1994 Bürgermeister von Deutschneudorf<br />

im Erzgebirge – in <strong>der</strong> Oktober-Ausgabe<br />

2012 von <strong>Cicero</strong> als Gemeinde <strong>der</strong><br />

Schatzsucher gefeiert. Deutschneudorf:<br />

liberales Paradies. Zwölf Gemein<strong>der</strong>äte,<br />

alle von <strong>der</strong> FDP. Haustein, FDP, zuletzt<br />

mit 95,07 Prozent <strong>der</strong> 1129 Einwohner<br />

gewählt. Vielleicht weiß so ein Sieger<br />

ja Rat für einen vom Wahldebakel zerzausten<br />

Berliner Liberalen. Guten Appetit,<br />

die Herren. swn<br />

Wie sieht wohl die Frau aus, die<br />

uns in <strong>der</strong> Berliner U-Bahn die<br />

Stationen ansagt o<strong>der</strong> die Unterbrechung<br />

einer Linie wegen Bauarbeiten.<br />

Ist sie blond? O<strong>der</strong> dunkel? Schlank<br />

o<strong>der</strong> drall? Selbst ihr Englisch ist <strong>der</strong> artig<br />

perfekt, dass Kenner <strong>der</strong> Londoner Tube<br />

Heimweh nach <strong>der</strong> Insel bekommen.<br />

Vor allem <strong>der</strong> Hüpfer über <strong>der</strong> zweiten<br />

Silbe, wenn sie „construction“ sagt –<br />

very british. Auch die Herrenstimmen,<br />

die in <strong>der</strong> S-Bahn aus den Lautsprechern<br />

dringen, hören sich ganz echt an.<br />

Ob sich hier wohl Schauspieler o<strong>der</strong><br />

Rundfunksprecher einen Nebenverdienst<br />

machen? O<strong>der</strong> eine Sekretärin<br />

aus <strong>der</strong> Chefetage <strong>der</strong> Berliner Verkehrsbetriebe<br />

BVG? Nichts von alledem,<br />

versichert <strong>der</strong>en Sprecher Klaus<br />

Wazlak. Früher wurden Radioprofis<br />

o<strong>der</strong> Schauspieler engagiert. Heute<br />

generiert <strong>der</strong> Computer die Ansage –<br />

sogar ohne analoge Vorlage: Man tippt<br />

den Text über eine Tastatur ein –<br />

fertig. „<strong>Der</strong> Mensch“, sinniert Wazlak,<br />

„wird zunehmend überflüssig.“ hp<br />

Nach ihrem kläglichen Scheitern bei<br />

<strong>der</strong> Bundestagswahl suchen die<br />

Liberalen einen Schatzmeister, <strong>der</strong> sich<br />

auf Parteienfinanzierung versteht.<br />

Denn <strong>der</strong> FDP stehen pro Jahr rund<br />

2,8 Millionen Euro weniger zur Verfügung<br />

als geplant und sie sitzt auf<br />

8,5 Millionen Euro Schulden. <strong>Der</strong><br />

künftige FDP-Chef Christian Lindner<br />

will einen alten Hasen mit dieser<br />

Aufgabe betrauen, <strong>der</strong> lange im Bundestag<br />

saß und sich auskennt: Hermann<br />

Otto Solms. <strong>Der</strong> war nämlich schon<br />

zweimal Schatzmeister, und besser als<br />

er kennt in <strong>der</strong> FDP keiner die Spen<strong>der</strong>szene,<br />

die den Liberalen allein 2011<br />

sechs Millionen Euro zufließen ließ.<br />

Sehr erpicht auf den Job ist Solms nicht.<br />

Er muss den geplanten Jahres etat von<br />

20 Millionen Euro um 25 Prozent kürzen.<br />

„Lust habe ich gar keine“, gestand er<br />

<strong>Cicero</strong>, „ich habe es schließlich lange<br />

genug gemacht.“ Es sei eine schwierige<br />

Aufgabe, Vertrauen in die Partei<br />

zurückzubringen. „Dazu gehören aber<br />

auch die Parteifinanzen.“ tz<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

10<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Wer großartige Kaffee-Kreationen liebt,<br />

baut auf Nespresso.<br />

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CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Zwischen Isar und Spree:<br />

Gespaltener Focus<br />

Matriarchat im Bundestag:<br />

Erbhof Lengsfeld<br />

US­Botschafter im NSA­Stress:<br />

Charmante Umarmung<br />

Jörg Quoos sagt, bei ihm um die Ecke<br />

gebe es die besten Wiesn-Brathendl<br />

von München. <strong>Der</strong> Chefredakteur des<br />

Focus klingt wie einer, <strong>der</strong> sich auskennt,<br />

wenn er das Lindwurm-Stüberl<br />

empfiehlt. Er besitzt schon seit Jahren<br />

eine Hirschle<strong>der</strong>hose. Nur lei<strong>der</strong><br />

konnte er sie heuer nicht einsetzen.<br />

Focus sagte den geplanten gemeinsamen<br />

Redaktionsbesuch auf <strong>der</strong> Wiesn<br />

wegen Sparmaßnahmen ab.<br />

Quoos pendelt zwischen Berlin, wo<br />

er mit Frau und beiden Kin<strong>der</strong>n wohnt,<br />

und <strong>der</strong> Focus-Zentrale in München,<br />

wo er in einer Kollegen-WG untergekommen<br />

ist. Bayern ist Focus-Land,<br />

im Süden lebt das Gros <strong>der</strong> eher konservativen<br />

Leser. Deshalb ist München<br />

wichtig für Quoos, auch weil er dort<br />

einmal in <strong>der</strong> Woche seinen Verleger<br />

Hubert Burda trifft. Berlin ist aber auch<br />

wichtig, weil man dort unkompliziert<br />

Bundespolitiker trifft. Deshalb ziehen<br />

jetzt die Ressorts Politik und Kultur an<br />

die Spree, während Wirtschaft, Forschung<br />

und Technik in München bleiben.<br />

So spiegelt die persönliche Situation<br />

des Pendlers Quoos die seiner demnächst<br />

gespaltenen Redaktion. Nicht<br />

alle wollen mitziehen, viele zögern.<br />

Bis Mai will Burda mit Focus die<br />

Adresse Potsdamer Straße 7 bezogen<br />

haben und darin auf mehreren Etagen<br />

auch Büros o<strong>der</strong> ganze Redaktionen<br />

von Bunte, Superillu, Guter Rat o<strong>der</strong><br />

Harper’s Bazaar unterbringen – insgesamt<br />

mehr als 200 Mitarbeiter. Und die<br />

besten Wiesn-Hendl? Urmünchner<br />

wissen natürlich, dass das nur ein<br />

Werbespruch für Auswärtige ist. Doch<br />

sie lassen Fremden ihren Glauben. tom<br />

In <strong>der</strong> patriarchalischen Welt <strong>der</strong><br />

Bauern und Fürsten traten üblicherweise<br />

Söhne das Erbe ihrer Väter an.<br />

Auch <strong>der</strong> Deutsche Bundestag hat sich<br />

an diese Regel bisher gehalten. Dort<br />

sind, wenn überhaupt, immer nur<br />

Söhne ihren Vätern gefolgt. Doch bei<br />

<strong>der</strong> Bundestagswahl 2013 hat nach<br />

54 Jahren erstmals das Matriarchat<br />

sein Haupt erhoben. Vera Lengsfeld<br />

hörte auf und vermachte ihrem Sohn,<br />

dem promovierten Physiker Philipp<br />

Lengsfeld, ihr politisches Erbe im<br />

Bundestag. Feministinnen wäre eine<br />

Tochter vermutlich lieber gewesen.<br />

Doch das ficht Lengsfeld ganz und gar<br />

nicht an. Sie war von 1990 bis 1996<br />

für Bündnis 90/Die Grünen und bis<br />

2005 weitere neun Jahre für die CDU<br />

im Bundestag. „Ich bin selig, den<br />

Staffelstab so erfolgreich weitergegeben<br />

zu haben“, sagt sie stolz. Ihr Sohn,<br />

<strong>der</strong> im Wahlkreis Berlin-Mitte mit<br />

22,6 Prozent <strong>der</strong> Zweitstimmen kein<br />

Direktmandat errang, aber über die<br />

CDU-Landesliste in den Bundestag kam,<br />

kommentiert seinen Erfolg mit den<br />

Worten: „Für mich ist ein echter Traum<br />

in Erfüllung gegangen. Und es ist<br />

komisch – obwohl ich ein Neuling bin,<br />

fühlt sich vieles sehr vertraut an. Ich<br />

werde auch regelmäßig, etwa vom<br />

Sicherheitsdienst o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Fahrbereitschaft,<br />

auf meine Mutter angesprochen.“<br />

Was den „Staffelstab“ angeht, so hat<br />

Vera Lengsfeld damit gewiss nicht die<br />

Abgeordnetendiäten gemeint, son<strong>der</strong>n<br />

jenen Wi<strong>der</strong>standsgeist, <strong>der</strong> Mutter und<br />

Sohn schon zu DDR-Zeiten als Bürgerrechtler<br />

ausgezeichnet hat. il<br />

Politiker kennen drei Wege,<br />

Kontra henten zu neutralisieren:<br />

Anpöbeln – wie Pofalla einst Bosbach.<br />

Kopieren – ein Merkel-Trick. Umarmen<br />

– wie Seehofer die Kanzlerin nach<br />

ihrem Wahlsieg. In <strong>der</strong> NSA-Affäre<br />

sind die Rollen so verteilt: Deutschland<br />

pöbelt. US-Botschafter John B.<br />

Emerson umarmt.<br />

Als Berichte über eine Abhörstation<br />

auf dem Dach <strong>der</strong> US-Botschaft<br />

aufkamen, wurde Emerson mit empörten<br />

Briefen überschüttet. <strong>Cicero</strong><br />

bat um einen Rundgang durch das Gebäude,<br />

gern auch mit einem Techniker.<br />

Es kam: eine herzliche Einladung<br />

zum Interview. Emerson empfing<br />

im Erdgeschoss – umzingelt von vier<br />

strahlenden Mitarbeitern. Ausbüchsen,<br />

Dachgucken – war nicht. Stattdessen<br />

Charmeoffensive: <strong>Der</strong> Botschafter<br />

grüßte mit Handschlag, nickte, lächelte.<br />

Sein graues Jackett zierte ein Pin mit<br />

<strong>der</strong> deutschen und <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Flagge. Die Journalisten fragten bissig,<br />

nach Merkels Handy, nach Snowden,<br />

dem Untersuchungsausschuss. Emerson<br />

verwies auf Obama, den BND, den<br />

Bundestag. Seine Lieblingsantwort:<br />

„Das ist eine hypothetische Frage.“<br />

So einnehmend sagte er das, so<br />

umwerfend nett, dass man ihm gar<br />

nicht mehr böse sein konnte. <strong>Der</strong> Botschafter<br />

schmeichelte, schäkerte und<br />

machte jeden Käse mit. Sogar auf ein<br />

Twitter-Interview ließ er sich ein.<br />

Hinterher bedankte er sich lachend:<br />

„That was really entertaining.“ Was<br />

für ein Diplomat: Er hatte seinen Spaß.<br />

Und Deutschland? Wird wohl keine<br />

Antworten mehr bekommen. ps<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

12<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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CICERO<br />

Leserbriefe<br />

FORUM<br />

Es geht um <strong>Medien</strong>schelte und Layout,<br />

um Siedlungspolitik und Seifenblasen<br />

Zum Beitrag „Räuber und Schreiber“ von Frank A. Meyer, November 2013<br />

Unerträgliche Überheblichkeit<br />

Vielen Dank, Frank A. Meyer, für Ihre treffende Entlarvung <strong>der</strong> Strategie planmäßiger<br />

Herabsetzung von Politikern durch selbst ernannte Berliner Leitmedien.<br />

Ich finde die Melange von Überheblichkeiten, Vorurteilen und psychologisierenden<br />

Vermutungen, verbunden mit <strong>der</strong> Selbsteinschätzung, journalistisch einflussreich<br />

zu sein, bei manchen Spiegel-, Focus- und Bild-Redakteuren oft unerträglich.<br />

Wenn das weiter Schule macht, wird ein <strong>der</strong>art verdorbener Journalismus<br />

es dem seriösen Journalismus schwer machen, mit fundierter Kritik an Politikern,<br />

wenn sie denn berechtigt ist, Gehör zu finden. Lei<strong>der</strong> ist diese Art von Kampagnen-<br />

o<strong>der</strong> Verdachtsjournalismus nicht auf Berlin beschränkt. Auch in <strong>der</strong> Bonner<br />

Provinz scheint sich das lokale Leitmedium, <strong>der</strong> General-Anzeiger, in seiner<br />

Berichterstattung über die ehemalige Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann<br />

und den aktuellen Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch an schlechten Berliner<br />

Vorbil<strong>der</strong>n zu orientieren.<br />

Dr. Hans Walter Schulten, Bonn<br />

Unsaubere Verquickung<br />

Frank A. Meyer spricht mir mit<br />

„Räuber und Schreiber“ aus dem<br />

Herzen. Es macht sich breit, dass<br />

Journalistinnen und Journalisten<br />

Politiker herabwürdigend kommentieren<br />

und bewerten; selbst in Sendungen<br />

wie „ZDF-Morgenmagazin“<br />

o<strong>der</strong> Phoenix: „Vor Ort“ erkennt<br />

man diese Tendenz, und die Onlinedienste<br />

<strong>der</strong> Tages- und Wochenpresse<br />

sind voll von entsprechenden<br />

Artikeln. Kommentare und Meinungen<br />

sind ja okay, aber Berichterstattung<br />

und investigativer Journalismus<br />

sollten damit nicht verquickt<br />

werden. Mein herzlicher Dank für<br />

sehr guten Journalismus gilt Frank<br />

A. Meyer und <strong>Cicero</strong>.<br />

Herbert Nau, München<br />

Notwendige ( Selbst­ )Zensur<br />

Als ein „Aufschrei“ gegen die rein<br />

polemisch reißerischen Kommentare<br />

<strong>der</strong> <strong>Medien</strong> innerhalb unserer<br />

Politlandschaft darf zu Recht <strong>der</strong><br />

Artikel des Herrn Frank A. Meyer<br />

vernommen werden und zur<br />

Besinnung aufrufen. Nicht <strong>der</strong><br />

„Totschlag“ hinsichtlich politischer<br />

Äußerungen soll das Ziel sein, womöglich<br />

mit <strong>der</strong> Absicht, Absatzzahlen<br />

<strong>der</strong> Zeitungen und Magazine zu<br />

erhöhen. Um die Freisetzung wahrer<br />

politischer Werte ist vorrangig<br />

zu ringen, um das Aufdecken von<br />

Lügen und falschen Versprechen.<br />

Zum Erhalt <strong>der</strong> Pressefreiheit möge<br />

deshalb die <strong>Medien</strong>welt sich selbst<br />

einer notwendigen Zensur unterwerfen,<br />

um weiterhin ihrer Aufgabe<br />

als vierte Gewalt innerhalb unserer<br />

Gesellschaft gerecht zu werden.<br />

Eduard Bie<strong>der</strong>mann, Hamburg<br />

Zum Beitrag „Die urbane Dekadenz“<br />

von Frank A. Meyer, Oktober 2013<br />

Tugenden über Bord<br />

So hat mir ein Beitrag noch nie aus<br />

dem Herzen gesprochen. Endlich<br />

wird einmal das Grundübel unserer<br />

Gesellschaft angesprochen. Es<br />

ist immer deutlicher, dass sämtliche<br />

bürgerlichen Tugenden über Bord<br />

geworfen werden.<br />

Holger Pietzsch, Gerat<br />

Zum neuen Layout von <strong>Cicero</strong>,<br />

Oktober und November 2013<br />

Inhalt geht vor Layout<br />

Ich finde das neue Layout nicht gut,<br />

aber das ist vielleicht Geschmackssache.<br />

Solange die Inhalte bleiben,<br />

okay! Das Cover mit <strong>der</strong> „Überraschungsklappe“<br />

war großartig.<br />

Friedhelm Holstein, Oberhausen<br />

Gelungene Bildsprache<br />

Die Neugestaltung des <strong>Cicero</strong><br />

kommt mo<strong>der</strong>n, aber wohltuend<br />

nicht mo<strong>der</strong>nistisch daher. Die<br />

großflächige Bildsprache und<br />

Typografie empfinde ich als gelungen.<br />

Ein wenig Nostalgie kommt<br />

bei mir auf; dabei denke ich an<br />

Twen aus den Sechzigern.<br />

Manfred Oebel-Hermann, Villnachern, CH<br />

Modischer Gesichtsverlust<br />

Mich bedrückt das Wissen, den<br />

<strong>Cicero</strong> fortan nicht mehr in seinem<br />

bekannten Gewand lesen zu können.<br />

Die neue Gestaltung des Inhalts<br />

nimmt ihm seine Klarheit, indem<br />

sie die Typografie aufweicht.<br />

Die Artikel ergeben sich … <strong>der</strong><br />

Beliebigkeit und verleiten so, darüber<br />

hinwegzublättern, statt zu verweilen.<br />

Ebenfalls bedauerlich ist <strong>der</strong><br />

Wegfall des Avatars <strong>der</strong> Autoren,<br />

<strong>der</strong> jedem Beitrag ein Gesicht gab.<br />

Das Bild <strong>der</strong> Gesamterscheinung<br />

fügt sich ein in eine mittlerweile<br />

zu oft gesehene gestalterische<br />

Mode und verliert dadurch sein<br />

Gesicht, das es einst hatte.<br />

Damit ich weiterhin Freude an<br />

diesem Magazin habe, muss ich<br />

also hoffen, in Zukunft auf die<br />

gute Qualität und Vielseitigkeit des<br />

Inhalts vertrauen zu können.<br />

Edward Greiner, Hamburg<br />

16<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

Zum Beitrag „Deutsche Geschichte<br />

ist nicht tiefschwarz“ von Ulrich Sieg,<br />

Oktober 2013<br />

Fluch <strong>der</strong> bösen Tat<br />

Bismarck hat das deutsche Reich<br />

nicht „zu Hause“ geschaffen, son<strong>der</strong>n<br />

im Ausland – in Versailles,<br />

denn es war Krieg, ohne den die<br />

Reichsgründung nicht zustande gekommen<br />

wäre. „Das deutsche Volk“<br />

hatte daran keinen Anteil, son<strong>der</strong>n<br />

es waren nur Generäle und Fürsten<br />

zugegen. Einer (<strong>der</strong> persönlich<br />

nicht dabei war!) musste erst mit<br />

viel Geld zweifelhafter Herkunft<br />

bestochen werden, um zuzustimmen<br />

– keine gute Geschäftsgrundlage<br />

für einen Staat, dem „Ehre“<br />

als hohe Tugend galt.<br />

„Das ist <strong>der</strong> Fluch <strong>der</strong> bösen<br />

Tat, dass sie, fortzeugend, Böses<br />

muss gebären“ – hier zwei verlorene<br />

Kriege, die uns Millionen an Toten,<br />

Vermögensverluste unvorstellbaren<br />

Ausmaßes und fast die Hälfte des<br />

Staatsgebiets kosteten.<br />

Ob und in welchem Umfange<br />

wir daran schuldig o<strong>der</strong> mitschuldig<br />

waren, ist heute zweitrangig, denn<br />

zu än<strong>der</strong>n ist es nicht mehr. Wichtig<br />

ist, ob wir etwas daraus gelernt haben.<br />

Hoffen wir es.<br />

Walter Lutz, Nürnberg<br />

Zum Beitrag „Bush reloaded?“<br />

von Roger Cohen, September 2013<br />

Ohne Fragezeichen<br />

Erst jetzt hatte ich Gelegenheit, diesen<br />

Artikel zu lesen.<br />

Inhaltlich kann ich mich mit allen<br />

Einzelheiten identifizieren, allerdings<br />

hätte ich mir im Titel anstatt<br />

des Fragezeichens ein Ausrufungszeichen<br />

gewünscht. Beson<strong>der</strong>s jetzt,<br />

nach <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Syrienkrise.<br />

Gern würde ich den von Frau<br />

Seeling übersetzten Originaltext (in<br />

Englisch) an mehrere Freunde in<br />

den USA und in Israel senden.<br />

Peter Fuchs, Hemmingen<br />

Zum Beitrag „Pro Siedlungen“<br />

von Arthur Cohn, Oktober 2013<br />

Massive Schieflage<br />

Vielen Dank für den Artikel von<br />

Arthur Cohn mit seiner nüchternen<br />

und überzeugenden Darstellung <strong>der</strong><br />

rechtlichen Grundlagen des israelischen<br />

Siedlungsbaus. Diese Aspekte<br />

des Friedensprozesses werden lei<strong>der</strong><br />

in den <strong>Medien</strong> überwiegend übersehen<br />

beziehungsweise verschwiegen.<br />

Dadurch kommt es zu einer massiven<br />

Schieflage in <strong>der</strong> Beurteilung<br />

des Nahostkonflikts. Lei<strong>der</strong> überwiegen<br />

in <strong>der</strong> Öffentlichkeit und in<br />

den <strong>Medien</strong> die emotionalen Stimmen<br />

(siehe den Beitrag von Judith<br />

Hart mit Vokabular wie „dumm“<br />

und „hässlich“). Es muss daran erinnert<br />

werden, dass die Entstehung<br />

und Gründung des Staates Israel auf<br />

Völkerrecht basiert und was die Inhalte<br />

dieser Abkommen waren. Was<br />

ich am <strong>Cicero</strong> schätze, ist, dass auch<br />

sich stark wi<strong>der</strong>sprechende Sichtweisen<br />

nebeneinan<strong>der</strong> dargestellt<br />

und stehen gelassen werden.<br />

Vielen Dank dafür und weiter so!<br />

Katharina Kaiser, München<br />

Zum Gespräch zwischen Peter Sloterdijk<br />

und Martin Walser, November 2013<br />

Geistige Seifenblasen<br />

Beim „Gipfeltreffen <strong>der</strong> Geistesgrößen“<br />

(<strong>Cicero</strong>) überbieten sich Peter<br />

Sloterdijk und Martin Walser in<br />

<strong>der</strong> Kunst, Seifenblasen in die Luft<br />

zu pusten: Botho Strauß, Hans Magnus<br />

Enzensberger, Michael Krüger,<br />

Whitehead, Nietzsche, Sokrates,<br />

Platon, Bazon Brock, Giotto,<br />

Dostojewski, Karl Marx, Niklas<br />

Luhmann, Jean Gebser, Rorty, Arthur<br />

Schopenhauer werden in bunter<br />

Reihenfolge als Intelligenzbeweis<br />

<strong>der</strong> Geistesgrößen in die Luft<br />

geblasen. Walser zitiert 17 Zeilen<br />

lang druckreif aus Platons „Symposion“<br />

Gedanken über den Eros. Das<br />

Resümee: „Diese gesteigerte Schönheit,<br />

die nicht in eine Glanzpostille<br />

gehört“, ist nach Walsers Meinung<br />

„Frau Merkel“. Ich bin offenbar zu<br />

dumm, den Höhenflügen dieser<br />

Geistesgrößen zu folgen.<br />

Norbert Blüm, Bundesminister a. D., Bonn<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen<br />

senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />

Karikatur: Hauck & Bauer<br />

18<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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TITEL<br />

Fass!<br />

DER<br />

SCHÄDLICHE<br />

SKANDAL<br />

Von JULIAN NIDA-RÜMELIN<br />

Wulff, Steinbrück, Brü<strong>der</strong>le, Gaschke:<br />

Die Aufregung über Politiker ist maßlos geworden.<br />

Die <strong>Medien</strong> skandalisieren gern das Persönliche<br />

und Private. Um die politische Verantwortung<br />

geht es allenfalls am Rande<br />

20<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


TITEL<br />

Fass!<br />

Die demokratische Staatsund<br />

Gesellschaftsform ist<br />

an Bedingungen geknüpft,<br />

die keineswegs selbstverständlich<br />

sind. Zu diesen<br />

Bedingungen gehört eine politische Öffentlichkeit.<br />

Die auch in Deutschland<br />

unterdessen zu beobachtende Skandalisierung<br />

<strong>der</strong> Politik stellt zweifellos Öffentlichkeit<br />

her, sie trägt aber zugleich<br />

zur Entpolitisierung bei. Das Ausmaß<br />

<strong>der</strong> Skandalisierung hat in einigen Län<strong>der</strong>n,<br />

vorneweg den USA und Italien, ein<br />

demokratiegefährdendes Ausmaß angenommen.<br />

Deutschland ist noch nicht so<br />

weit, und es besteht Hoffnung, dass es so<br />

weit erst gar nicht kommt. Voraussetzung<br />

ist, dass wir in Deutschland im Wortsinne<br />

zur Besinnung kommen. Einige Wochen<br />

nach <strong>der</strong> Bundestagswahl ist dafür vielleicht<br />

ein günstiger Zeitpunkt.<br />

Die wichtigste Ingredienz eines Skandals<br />

ist die moralische Fallhöhe. Im nach<br />

wie vor puritanischen Milieu <strong>der</strong> protestantischen<br />

weißen akademischen Mittelschicht<br />

<strong>der</strong> amerikanischen Ostküste<br />

besteht eine beträchtliche moralische<br />

Fallhöhe, sobald es um Sexualität geht.<br />

Ein bemerkenswerter Fall ist <strong>der</strong> des<br />

demokratischen Senators Anthony Weiner,<br />

<strong>der</strong> sein Internet-Techtelmechtel<br />

mit einer jungen Verehrerin versehentlich<br />

gegenüber allen seinen Twitter-Followern<br />

öffentlich machte. Die Aufregung<br />

war ebenso groß wie die Scheinheiligkeit<br />

selbst seriöser Zeitungen, auch in<br />

Deutschland, die sich über diesen Fall<br />

nicht nur mokierten, son<strong>der</strong>n sogleich<br />

das definitive Ende einer hoffnungsvoll<br />

begonnenen politischen Karriere diagnostizierten.<br />

Ein verheirateter Mann,<br />

<strong>der</strong> ein Techtelmechtel mit einer Verehrerin<br />

hat, sei natürlich moralisch nicht<br />

geeignet für politische Ämter. Politiker<br />

müssten schließlich Vorbil<strong>der</strong> sein, wie es<br />

durch alle politischen und intellektuellen<br />

Lager hinweg wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> betont<br />

wird. Es spricht für die Stadt New York,<br />

und für einen gewissen Reifeprozess in<br />

Teilen <strong>der</strong> Demokratischen Partei, dass<br />

Weiner zunächst dennoch eine Zeit lang<br />

als Kandidat für das Amt des New Yorker<br />

Bürgermeisters gehandelt wurde.<br />

Christian Wulff geriet kurz nach<br />

Amtsantritt in große mediale Turbulenzen,<br />

ausgelöst durch ein kaum glaubliches<br />

Maß menschlicher Nie<strong>der</strong>tracht:<br />

Die Justiz<br />

hat im Fall Wulff<br />

nichts aufgedeckt,<br />

was die<br />

Skandalisierung<br />

über Wochen<br />

und Monate<br />

rechtfertigen<br />

würde<br />

Hannoveraner Parteifreunde streuten<br />

eine vermeintliche Rotlichtvergangenheit<br />

<strong>der</strong> Präsidentengattin, das junge<br />

Paar reagierte nervös und ungeschickt.<br />

Ein schwer zu durchschauen<strong>der</strong> Komplex<br />

aus Boulevardjournalismus, politischer<br />

Macht und ökonomischem Lobbyismus<br />

brach auseinan<strong>der</strong>, Freundschaften wurden<br />

geopfert, persönliche Kränkungen,<br />

zerstörte Biografien. <strong>Der</strong> jüngste Bundespräsident,<br />

den die Republik je hatte,<br />

eine Zeit lang zum Symbol einer neuen<br />

Republik <strong>der</strong> Patchwork-Familien und <strong>der</strong><br />

Weltoffenheit stilisiert, ist aufgrund einer<br />

Kaskade von Skandalen und Skandälchen<br />

tief gefallen und zieht bis heute vor allem<br />

Verachtung auf sich. In auffälligem Kontrast<br />

dazu steht die bisherige strafrechtliche<br />

Aufarbeitung dieser Skandalserie. Da<br />

ist nichts aufgedeckt worden, was diese<br />

Skandalisierung, an <strong>der</strong> sich alle, auch die<br />

seriösen <strong>Medien</strong>, über Wochen und Monate<br />

beteiligt hatten, rechtfertigen würde.<br />

Und schließlich <strong>der</strong> hoffnungsvolle<br />

Kandidat <strong>der</strong> SPD für die Kanzlerschaft.<br />

Von zahlreichen <strong>Medien</strong>, darunter <strong>Cicero</strong><br />

und Spiegel, über Monate hinweg zur<br />

politischen Geheimwaffe verklärt, stolpert<br />

er nicht nur wegen Tapsigkeiten <strong>der</strong><br />

Wahlkampfplanung, son<strong>der</strong>n auch wegen<br />

seiner privaten Vortragstätigkeit in<br />

ein Kandidatenrennen, in dem er gleich<br />

vom Start weg persönlich nachhaltig beschädigt<br />

wird. Es ist nicht genau zu bestimmen,<br />

worin <strong>der</strong> gefühlte Skandal<br />

eigentlich bestand: Darin, dass Steinbrück<br />

Vortragshonorare in einer Höhe<br />

nahm, die für Normalsterbliche exorbitant<br />

erscheinen müssen? Darin, dass<br />

er dies für sein gutes Recht hielt? Darin,<br />

dass er in seinem Lebenswandel nicht<br />

ganz dem Durchschnitt <strong>der</strong> SPD-Wählerschaft<br />

entsprach? Jedenfalls war die –<br />

wie auch immer begründete – Skandalisierung<br />

politisch äußerst wirksam: Über<br />

Wochen hinweg ging es nicht um Inhalte,<br />

son<strong>der</strong>n lediglich um Stilfragen – rechtlich<br />

und politisch Relevantes war dabei<br />

nicht im Spiel.<br />

<strong>Der</strong> Tiefpunkt deutscher Skandalisierung<br />

des Politischen wurde jedoch<br />

mit <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong>le-Affäre erreicht. Die<br />

Bemerkung des FDP-Politikers zu später<br />

Stunde an einer Hotelbar, dass nach<br />

seiner Einschätzung eine Journalistin<br />

gut ein Dirndl ausfüllen könne, Zitate<br />

über Kuheuter und weinseliges Auftreten<br />

in volkstümlichem Umfeld, reichten<br />

aus, um einen Skandal loszutreten, <strong>der</strong><br />

durchaus an US-amerikanische Vorbil<strong>der</strong><br />

gemahnte. Brü<strong>der</strong>le reagierte ertappt,<br />

hilflos und tief getroffen, was <strong>der</strong> Wahlkampagne<br />

<strong>der</strong> FDP dauerhaft schadete.<br />

Schließlich <strong>der</strong> Skandal um eine –<br />

jedenfalls prozedural, vielleicht auch<br />

inhaltlich – falsche Entscheidung <strong>der</strong><br />

neuen Kieler Oberbürgermeisterin Susanne<br />

Gaschke, einer Seiteneinsteigerin<br />

aus dem politischen Journalismus in die<br />

Politik. Auch hier steht das Ausmaß <strong>der</strong><br />

öffentlichen Erregung in keinem nachvollziehbaren<br />

Verhältnis zum Anlass:<br />

Eine allzu rasche Übernahme einer Verwaltungsempfehlung,<br />

um ein seit vielen<br />

Jahren ungelöstes Problem beherzt abzuräumen,<br />

Sturheit und Rechthaberei<br />

<strong>der</strong> Politiknovizin, Intrigen im Parteiumfeld,<br />

alte persönliche Konflikte neu<br />

aufgewärmt und eine offenbar in Schleswig-Holstein<br />

seit Jahrzehnten beson<strong>der</strong>s<br />

tief verankerte politische Misstrauenskultur<br />

reichten aus, um eine Tragödie zu inszenieren,<br />

die die Politikhoffnung physisch<br />

und psychisch angeschlagen auf dem<br />

Schlachtfeld zurückließ. Um politische Inhalte<br />

ging es dabei allenfalls am Rande.<br />

DIE IDEE VOM<br />

VORBILDLICHEN POLITIKER<br />

Skandale dieser Kategorie haben eine<br />

Gemeinsamkeit: Sie leben von <strong>der</strong> Idee<br />

<strong>der</strong> Vorbildhaftigkeit des einzelnen Politikers.<br />

In den USA ist es schon zu einer<br />

Art Gesetzmäßigkeit geworden, dass<br />

Illustration: Jens Bonnke (Seiten 20 bis 21)<br />

22<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Eintritt frei<br />

bis 16 Jahre<br />

Alfred Hitchcock, Frankfurt am Main, 1972 © Barbara Klemm<br />

BARBARA<br />

KLEMM<br />

Fotografien 1968 –2013<br />

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16. November 2013 – 9. März 2014<br />

Nie<strong>der</strong>kirchnerstr. 7, 10963 Berlin, Mi – Mo 10 – 19 Uhr, Di geschl.<br />

Online-Tickets: www.gropiusbau.de


TITEL<br />

Fass!<br />

Senatoren, die erneut kandidieren, nur<br />

dann abgelöst werden können, wenn<br />

ihnen eine außereheliche Affäre nachgewiesen<br />

o<strong>der</strong> oft genug auch nur angehängt<br />

wird. Dies kommt merkwürdigerweise<br />

bei Senatorinnen nicht vor, ob<br />

das daran liegt, dass Senatorinnen keine<br />

außerehelichen Affären haben o<strong>der</strong> ob<br />

das eher einem Geschlechterklischee geschuldet<br />

ist, mag hier offenbleiben. Die<br />

Skandalisierung funktioniert nach einem<br />

einfachen Muster: Wer Politiker ist, sollte<br />

Vorbild sein. Wer Vorbild ist, geht nicht<br />

fremd. Wer fremdgeht, betrügt seine<br />

Frau. Wer seine Frau betrügt, betrügt<br />

auch an<strong>der</strong>e. Wähler wollen sich nicht<br />

betrügen lassen. <strong>Der</strong> Betreffende ist also<br />

für die Politik ungeeignet.<br />

Wer diese Beurteilungsmuster infrage<br />

stellt, kann sich nicht darauf beschränken,<br />

Sind Politiker<br />

Vorbil<strong>der</strong>?<br />

Sollten sie<br />

überhaupt<br />

Vorbil<strong>der</strong> sein?<br />

Wenn ja, in<br />

welchem Sinne?<br />

den einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Sün<strong>der</strong> zu exkulpieren,<br />

son<strong>der</strong>n sollte das Argumentationsmuster<br />

als solches infrage stellen: Sind<br />

Politiker Vorbil<strong>der</strong>? Sollten Politiker Vorbil<strong>der</strong><br />

sein? Wenn ja, in welchem Sinne?<br />

Es ist wünschenswert, dass Menschen<br />

sich bewegen, auf ihre Gesundheit<br />

achten, Sport treiben und sich fit halten<br />

wie Michelle Obama. In den USA ist<br />

daher <strong>der</strong> Politiker im Jogginganzug, begleitet<br />

von Bodyguards, schon ikonografisch<br />

geworden. Spätestens seit Jimmy<br />

Carters verbissenem Lauf bis zur völligen<br />

Erschöpfung weiß die politische<br />

Klasse auch um die Risiken dieser Inszenierung.<br />

Wollen wir nicht auch wissen,<br />

wie sich unsere Vorbil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong><br />

Politik im Privaten, speziell im familiären<br />

Umfeld verhalten? Kümmern sie sich<br />

hinreichend um den Bildungserfolg ihrer<br />

Kin<strong>der</strong>? Sind sie tolerant gegenüber an<strong>der</strong>en<br />

Lebensformen beziehungsweise –<br />

je nach politischem Milieu – achten sie<br />

auf sittenstrengen Lebenswandel ihres<br />

Nachwuchses? Können wir uns einer Politikerin<br />

anvertrauen, <strong>der</strong>en halbwüchsiger<br />

Sohn durch Trunkenheit auffällt?<br />

Wie steht es eigentlich um den regelmäßigen<br />

Gottesdienstbesuch? Und natürlich<br />

interessiert uns auch <strong>der</strong> Gesundheitszustand<br />

unserer Repräsentanten.<br />

Die Veröffentlichung ärztlicher Atteste<br />

ist in den USA zur Selbstverständlichkeit<br />

geworden.<br />

Wollen wir das? Wollen wir, dass die<br />

öffentliche und die private Rolle <strong>der</strong>art<br />

vermengt werden? Und wenn nein, welches<br />

Argument spräche denn eigentlich<br />

dagegen?<br />

DIE VERMISCHUNG DES PRIVATEN<br />

MIT DEM ÖFFENTLICHEN<br />

Gegen die Vermengung <strong>der</strong> privaten und<br />

<strong>der</strong> öffentlichen Rolle spricht, dass die<br />

gesamte normative Ordnung <strong>der</strong> Demokratie<br />

von <strong>der</strong> urliberalen Idee <strong>der</strong> Trennung<br />

des Öffentlichen und des Privaten<br />

geprägt ist. Das mittelalterliche und frühneuzeitliche<br />

Dorf kannte diese Trennung<br />

nicht. Alle bekamen so gut wie alles mit<br />

und fühlten sich berechtigt, darüber zu<br />

urteilen. Es ist erst die Anonymisierung<br />

und Versachlichung städtischer Kultur,<br />

die Demokratie im mo<strong>der</strong>nen Sinne kulturell<br />

ermöglicht. Die eigene Wohnung<br />

wird vor Einblicken geschützt und das<br />

Familienleben vor Interventionen von<br />

Illustration: Jens Bonnke<br />

24<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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Die Geschichte<br />

<strong>der</strong> drei Mafia-Clans:<br />

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Sub ventionsbetrug, Menschenhandel,<br />

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von Bestsellerautor John Dickie,<br />

spannend, packen<strong>der</strong> als<br />

je<strong>der</strong> Krimi.


TITEL<br />

Fass!<br />

außen. Wer seine Wohnung o<strong>der</strong> sein<br />

Haus verlässt, betritt dagegen die öffentliche<br />

Sphäre <strong>der</strong> Stadt, kleidet und verhält<br />

sich entsprechend.<br />

In <strong>der</strong> politischen Philosophie von<br />

Jean-Jacques Rousseau ist <strong>der</strong> bourgeois<br />

nicht etwa <strong>der</strong> Eigentümer von Produktionsmitteln,<br />

wie später bei Karl Marx, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong>, <strong>der</strong> sich um die eigenen Interessen<br />

kümmert, während <strong>der</strong> citoyen, <strong>der</strong><br />

Bürger, Teil einer sittlichen Körperschaft<br />

ist, <strong>der</strong> gesetzgebenden Versammlung, in<br />

<strong>der</strong> die eigenen Interessen keine, das Gemeinwohl<br />

dagegen die allein ausschlaggebende<br />

Rolle spielt. <strong>Der</strong> Mensch wird damit<br />

nicht schizophren, obwohl er in einen<br />

Untertan als bourgeois und in einen Souverän<br />

als Gesetzgeber zerfällt.<br />

Rousseau hat diese Teilung nicht erfunden,<br />

wenn er auch ihre politischen und<br />

ethischen Implikationen radikalisierte.<br />

Bei Aristoteles über 2000 Jahre früher<br />

hieß <strong>der</strong> bourgeois noch idiotes, <strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />

sich nur um das Eigene kümmert. Dagegen<br />

zeichnete sich <strong>der</strong> Vollbürger, <strong>der</strong> polites,<br />

dadurch aus, dass er sich in freiwilliger<br />

Kooperation mit an<strong>der</strong>en um die<br />

öffentlichen Angelegenheiten, um das<br />

Gemeinsame in <strong>der</strong> Stadt kümmert. <strong>Der</strong><br />

polites war nicht <strong>der</strong> Politiker, son<strong>der</strong>n<br />

eher <strong>der</strong> Bürger, <strong>der</strong> Verantwortung für<br />

seine Stadt, für die politische Gemeinschaft,<br />

in <strong>der</strong> er lebt, übernimmt.<br />

Idiotes war – noch – kein Schimpfwort.<br />

Aber Aristoteles äußert sich verächtlich<br />

über diejenigen, die nur das Eigene<br />

kennen, sei es, weil sie ein Leben<br />

des Genusses anstreben o<strong>der</strong> ein Leben<br />

des Reichtums. Die Guten streben nach<br />

einem Leben <strong>der</strong> Ehre (time), <strong>der</strong> Anerkennung,<br />

des Respekts, wohl wissend,<br />

dass das Faktum <strong>der</strong> Anerkennung noch<br />

kein Beleg für die eigene Vortrefflichkeit<br />

ist. Die Anerkennung kann irrtümlich<br />

sein. Ein Leben, das auf das Gute<br />

<strong>der</strong> Stadt gerichtet ist, ist ein erfülltes.<br />

Es bezieht seinen Inhalt aus <strong>der</strong> Erkenntnis<br />

dieses Guten. Es sei wie bei einem<br />

Bogenschützen, meint Aristoteles in <strong>der</strong><br />

„Nikomachischen Ethik“ gleich zu Beginn:<br />

Wenn das Ziel bekannt ist, wenn<br />

man weiß, was das Gute für die Stadt<br />

ist, ist es leichter, das Gute für den Einzelnen<br />

zu bestimmen. Das Eigene ist im<br />

Haus zu regeln. Ökonomie ist an ihrem<br />

Ursprung so etwas wie die Lehre einer<br />

guten Haushaltsführung. Ta politika, die<br />

Politiker sollten<br />

nach Kriterien<br />

des Gelingens<br />

und Scheiterns<br />

beurteilt werden.<br />

Nicht nach<br />

privaten<br />

Wertungen<br />

Zur Person<br />

JULIAN NIDA-RÜMELIN<br />

<strong>Der</strong> Philosoph, 58, entstammt<br />

einer Münchner Künstlerfamilie.<br />

Seine wissenschaftliche Laufbahn<br />

führte ihn über Minneapolis,<br />

Tübingen und Göttingen zurück<br />

nach München, wo er eine<br />

Professur an <strong>der</strong> Ludwig­Maximilians­Universität<br />

hat. Er war<br />

Kulturstaatsminister im ersten<br />

Kabinett Schrö<strong>der</strong> und nimmt an<br />

den Verhandlungen über eine<br />

Große Koalition als Mitglied <strong>der</strong><br />

Arbeitsgruppe Kultur teil. Zum<br />

Thema erschienen von ihm:<br />

„Demokratie und Wahrheit“<br />

( C. H. Beck, 2006 ) und „Verantwortung“<br />

( Reclam, 2011 )<br />

Angelegenheiten <strong>der</strong> Polis, sind Aufgabe<br />

eines entfalteten Lebens als freier Bürger<br />

einer Stadt.<br />

Um hier nicht den Vorwurf romantischer<br />

Idealisierung heraufzubeschwören,<br />

sei eilig hinzugefügt: Natürlich,<br />

diese Konzeption im alten Athen<br />

beruhte auf Ausschließung <strong>der</strong> Frauen,<br />

<strong>der</strong> Sklaven und <strong>der</strong> metoiken, jener<br />

Halbbürger, die als Einwan<strong>der</strong>er nur<br />

über eingeschränkte Bürgerrechte verfügten<br />

und zu denen auch Aristoteles<br />

zählte. Aber die Trennung des Öffentlichen<br />

und des Privaten ist keine Erfindung<br />

des bürgerlichen Zeitalters, <strong>der</strong> politischen<br />

Mo<strong>der</strong>ne. Diese Trennung ist<br />

konstitutiv, sowohl für die historisch<br />

erste Form <strong>der</strong> Stadtdemokratie wie für<br />

die mo<strong>der</strong>ne Demokratie.<br />

Wir sind dabei, diese Trennung rückabzuwickeln.<br />

Die Neugier, die allgemein<br />

menschlich sein mag, gerichtet auf die<br />

persönlichen Angelegenheiten <strong>der</strong> Nachbarin,<br />

<strong>der</strong> Freunde, <strong>der</strong> nahen Verwandten,<br />

wird – medial vermittelt – ausgedehnt<br />

auf potenziell jede Person. Wenn<br />

das Schlaglicht medialer Aufmerksamkeit<br />

auf das private Leben gerichtet wird,<br />

ist nichts mehr vor <strong>der</strong> Neugier sicher,<br />

auch nicht die intimsten Bereiche <strong>der</strong><br />

Existenz. Eine ganze Branche lebt von<br />

diesem Phänomen.<br />

In <strong>der</strong> jüngsten Kulturgeschichte<br />

westlicher Gesellschaften hat es eine ungute<br />

Melange einer politisch linksstehenden<br />

o<strong>der</strong> sich als links definierenden Politisierung<br />

des Privaten seit den 68ern und<br />

einer Kommerzialisierung öffentlicher<br />

Neugier in bunten Blättchen, aber zunehmend<br />

auch in <strong>der</strong> seriösen Presse gegeben.<br />

Das Resultat ist die schleichende<br />

Zerstörung <strong>der</strong> normativen Grundlagen<br />

<strong>der</strong> Demokratie.<br />

DIE FUNKTION DES<br />

POLITISCHEN SKANDALS<br />

Demokratie verlangt nach einer öffentlichen<br />

Sphäre, in <strong>der</strong> nach öffentlichen<br />

Kriterien gewertet und beurteilt wird.<br />

Es ist <strong>der</strong> Austausch politischer Gründe,<br />

die diese öffentliche Sphäre ausmachen.<br />

Keine Demokratie ohne gemeinwohlorientierte<br />

Öffentlichkeit. Was ist gut für<br />

unser Land, für Europa, für die Welt?<br />

Welche Vorschläge gibt es, dieses zu erreichen?<br />

Welche Kosten und welche Nebenfolgen<br />

sind zu erwarten? Sind die<br />

Foto: Picture Alliance/dpa/Süddeutsche<br />

26<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


“Ein Meisterwerk!” DIE ZEIT<br />

Anzeige<br />

politischen Strategien zur Erreichung<br />

dieser Ziele in sich schlüssig, und in welcher<br />

Gesellschaft wollen wir leben?<br />

Politik gestaltet Lebensbedingungen<br />

über Gesetze und Institutionen. Politische<br />

Praxis hat ihre eigenen Kriterien<br />

des Gelingens und des Scheiterns.<br />

Nach diesen Kriterien gilt es zu urteilen,<br />

nach Kriterien politischer Öffentlichkeit,<br />

nicht nach den wie auch immer<br />

gestalteten, von partikularen Prägungen<br />

abhängigen, von Lebensform, Religion<br />

und Vorurteil bestimmten privaten Wertungen.<br />

Die Skandalisierung von Politikerinnen<br />

und Politikern ebnet den<br />

Unterschied zwischen öffentlich und<br />

privat ein. Sie zerstört damit eine unverzichtbare<br />

kulturelle Voraussetzung<br />

<strong>der</strong> Demokratie.<br />

Heißt dies, dass es in <strong>der</strong> Politik keinen<br />

Skandal mehr geben kann? Geht es<br />

nur um die sachliche Beurteilung des Für<br />

und Wi<strong>der</strong> von Projekten, Finanzierungen,<br />

institutionellen Vorkehrungen, Verträgen<br />

und Gesetzentwürfen? Ist in einer<br />

rationalen politischen Ordnung kein<br />

Raum für Empörung, für Skandal?<br />

<strong>Der</strong> Watergate-Skandal von Richard<br />

Nixon hat nicht nur dessen Präsidentschaft<br />

zu einem unrühmlichen Abschluss<br />

gebracht, son<strong>der</strong>n den Parteiund<br />

Wahlkampfstrategen in den USA<br />

für alle Zukunft Fesseln auferlegt. Es<br />

handelte sich hier um einen genuin politischen<br />

Skandal. Die politische Praxis,<br />

das Agieren als Politiker und die Form<br />

<strong>der</strong> Unterstützung von Politikern standen<br />

in <strong>der</strong> Kritik, nicht private Verfehlungen.<br />

Die großen Skandale <strong>der</strong> noch<br />

jungen Bundesrepublik, eine beachtliche<br />

Anzahl von ihnen mit dem Namen<br />

Franz Josef Strauß verbunden, waren –<br />

mit wenigen Ausnahmen – ebenfalls politische<br />

Skandale.<br />

Politische Verantwortlichkeit ist in<br />

<strong>der</strong> Demokratie eines <strong>der</strong> höchsten Güter.<br />

Genuin politische Skandale können klären,<br />

wo die Grenzen politischer Verantwortung<br />

liegen, wer ihr gerecht wird und<br />

wer nicht, sie sind wichtig für das Funktionieren<br />

<strong>der</strong> Demokratie. Genuin politische<br />

Skandale werden ausgelöst durch Handlungen<br />

im öffentlichen Amt. Sie fokussieren<br />

die öffentliche Aufmerksamkeit, bündeln<br />

die Kritik und führen im günstigsten<br />

Fall zu Verän<strong>der</strong>ungen, die die Demokratie<br />

stärken und nicht schwächen.


TITEL<br />

Fass!<br />

DIE KLICKFABRIK<br />

Schneller, aggressiver, emotionaler:<br />

Die Mechanismen <strong>der</strong> Online-Welt haben die<br />

<strong>Medien</strong> radikal verän<strong>der</strong>t<br />

Von MERLE SCHMALENBACH<br />

Manchmal, um zwei Uhr nachts,<br />

sitzt Jule Lutteroth im Pyjama<br />

vor ihrem Rechner und sammelt<br />

Leser ein. Etwas Wichtiges ist passiert.<br />

Irgendwo auf <strong>der</strong> Welt. Sie tippt<br />

eine Nachricht. Titel, Teaser, Text. Jedes<br />

Wort muss sitzen. Das gehört zu ihrem<br />

Job. Lutteroth arbeitet bei Spiegel<br />

Online. Sie darf nichts verpassen.<br />

Lutteroth, 45, berichtet von ihren<br />

Einsätzen im Pyjama nicht ächzend,<br />

auch nicht sarkastisch. Eher sachlich.<br />

Immer online sein, immer auf <strong>der</strong> Jagd<br />

nach News, nach Klicks, das ist zu ihrer<br />

Routine geworden. Die Zeitung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

erscheint morgens, mittags, abends.<br />

24 Stunden am Tag. Aktualisiert wird im<br />

Minutentakt. Es gibt eine Klickquote. Sie<br />

misst, wie häufig die Nutzer einzelne Artikel<br />

aufrufen. Sie ist genauer und härter<br />

als die des Fernsehens, die erst am nächsten<br />

Tag vorliegt. Die Macher haben sie<br />

umgehend auf dem Schirm. In Echtzeit.<br />

Die Quote treibt die Online-<strong>Medien</strong> an,<br />

die den Zeitungen, Radios und Fernsehsen<strong>der</strong>n<br />

Druck machen. Sie hat die Branche<br />

verän<strong>der</strong>t.<br />

12.23 Uhr. Jule Lutteroth geht durch<br />

den Newsroom, lässt sich auf ihren Stuhl<br />

fallen. Sie trägt kurze Haare, eine große<br />

Brille. Auf dem Schreibtisch stehen drei<br />

Monitore. So kann sie gleichzeitig texten,<br />

in die Meldungen <strong>der</strong> Nachrichtenagenturen<br />

gucken und n-tv schauen. An <strong>der</strong><br />

Wand hängen sechs Bildschirme. BBC,<br />

CNN, Al Jazeera, die Online-Angebote<br />

von New York Times, Wall Street Journal<br />

und La Repubblica. Die Informationen<br />

prasseln auf Lutteroth ein.<br />

Sie greift zur Maus, öffnet ein Programm<br />

namens Metrix. Es zeigt ihr, welche<br />

Schlagzeilen sich gerade am besten<br />

klicken. Kleine Zahlen hocken auf den<br />

Artikeln, eine Eins, eine Fünf, eine Acht.<br />

Es ist die Schlagzeilen-Hitparade. Lutteroth<br />

öffnet das nächste Programm, sie<br />

sieht die genauen Statistiken. <strong>Der</strong> Artikel<br />

„So gestresst sind die Deutschen“ hat<br />

bis jetzt 52 426 Klicks erreicht. Dreimal<br />

am Tag, sagt Lutteroth, schaut sie sich die<br />

Zahlen an. Sie hat ein Gespür dafür entwickelt,<br />

was beim Leser ankommt.<br />

Lutteroth ist ein ruhiger Typ. Sie<br />

arbeitet seit 2001 bei Spiegel Online,<br />

stieg zur Chefin vom Dienst auf, dann<br />

zur stellvertretenden Chefredakteurin.<br />

Sie redet leise, bestimmt. Um sie herum<br />

Illustration: Jens Bonnke<br />

28<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


aust Stimmengewirr. Redakteure telefonieren,<br />

sie rattern mit den Tastaturen.<br />

Die Schreibtische stehen dicht an dicht,<br />

165 Menschen arbeiten für Spiegel Online,<br />

80 davon sitzen im Großraumbüro<br />

in Hamburg. Von hier aus jagt die Redaktion<br />

täglich bis zu 140 Artikel in die<br />

Welt. Eine Kommandozentrale. Wenn<br />

die Redakteure hier entscheiden, in eine<br />

Skandalgeschichte groß einzusteigen,<br />

verschärft sich das Problem für den Betreffenden<br />

– egal, ob er Brü<strong>der</strong>le, Steinbrück<br />

o<strong>der</strong> Tebartz-van Elst heißt. An<strong>der</strong>erseits:<br />

Etwas auszulassen, mal eine<br />

Pause einzulegen, würde bedeuten, <strong>der</strong><br />

Konkurrenz das Thema zu schenken.<br />

Lutteroth schiebt die Maus weiter. Sie<br />

hat sich Lesezeichen gesetzt, für Seiten<br />

wie Süddeutsche . de, Welt . de und FAZ . net.<br />

„Wir haben die Konkurrenz immer im<br />

Blick“, sagt sie. Alle machen das so. Deshalb<br />

ähneln sich die Themen, die Meinungen,<br />

die Gewichtungen.<br />

<strong>Der</strong> Stoffhunger ist riesig. Die<br />

Klickfabriken liefern. Spiegel Online<br />

bringt alle drei Stunden einen neuen<br />

Aufmacher. Ist die Nachrichtenlage langweilig,<br />

werden Themen zugespitzt. O<strong>der</strong><br />

alten Geschichten wird ein neuer Dreh<br />

verpasst. Hat ein Medium etwas Spannendes,<br />

setzen sich alle drauf, schaukeln<br />

sich gegenseitig hoch. Onliner, Agenturen,<br />

Radios, Zeitungen, Talkshows.<br />

In vielen Redaktionen des Landes<br />

sind die Ressourcen knapp. Die reichweitenstärksten<br />

Nachrichtenseiten sind<br />

Bild . de, Spiegel Online, Focus Online,<br />

Welt . de und Süddeutsche . de. Sich an<br />

eine ihrer Geschichten dranzuhängen,<br />

ist günstiger, als selbst welche zu recherchieren.<br />

<strong>Der</strong> Journalismus wird dadurch<br />

stromlinienförmiger, schneller, härter.<br />

Hypes entstehen. Und genauso schnell<br />

verpuffen sie.<br />

Neulich ging Thorsten Denkler ins<br />

Kino, es war 19 Uhr, „Die an<strong>der</strong>e Heimat“<br />

von Edgar Reitz lief, ein Film mit<br />

„Wenn ein<br />

Thema viele<br />

Menschen<br />

interessiert, ist<br />

es relevant. Und<br />

dann klickt es<br />

sich auch gut“<br />

Thorsten Denkler, Süddeutsche.de<br />

Überlänge. Als er nach 23 Uhr herauskam,<br />

sah er, was er verpasst hatte. Um<br />

19.45 Uhr war die Eilmeldung gekommen,<br />

dass Merkels Handy abgehört worden<br />

sein soll. Um 20.03 Uhr hieß es, Obama<br />

weise die Vorwürfe zurück. Süddeutsche.de<br />

brachte einen Artikel. Noch einen.<br />

Noch einen. Und noch einen. Alles<br />

passierte, während Denkler im Kino saß.<br />

Thorsten Denkler, 42, ist ein Veteran.<br />

Er war schon Berliner Korrespondent bei<br />

Süddeutsche.de, als es noch die D-Mark<br />

gab. Doch <strong>der</strong> Verlag zweifelte zwischendurch<br />

an <strong>der</strong> Online-Zukunft. Denkler<br />

ging zu T-Online, gründete eine Ich-AG,<br />

schrieb als freier Journalist. 2007 holte<br />

ihn Süddeutsche.de zurück. Seine Zeit<br />

war gekommen.<br />

Jetzt ist sein Tag eng getaktet. Morgens<br />

nach sieben: Rechner hochfahren.<br />

Kurz nach acht: erste Telefonkonferenz.<br />

Frühstück. Termine. Schreiben. Stift und<br />

Block braucht er nicht. Er tippt die Informationen<br />

direkt ins iPhone.<br />

Denkler kennt die Gesetze seiner<br />

Branche. „Personalisieren und Emotionalisieren,<br />

das ist die beste Art, Geschichten<br />

zu erzählen, seit es Sprache<br />

gibt. Es wäre ziemlich dumm, darauf<br />

zu verzichten, wenn wir versuchen, den<br />

Menschen politische Prozesse näherzubringen.“<br />

Politikerskandale passen perfekt<br />

in dieses Schema: Die Rollen sind<br />

klar verteilt, die Situation ist existenziell.<br />

Früher bekamen die Leser eine Zeitung<br />

auf den Frühstückstisch. Was drinstand,<br />

hatte die Redaktion entschieden. Heute<br />

suchen die Leser sich ihre Artikel im Internet<br />

selbst aus. Die Nachfrage bestimmt<br />

das Angebot.<br />

Für Denkler ist die Quote ein Fortschritt.<br />

Sie sorgt in seinen Augen für<br />

mehr Qualität, mehr Disziplin beim<br />

Schreiben. „Wenn ein Thema viele Menschen<br />

interessiert, dann ist es relevant.<br />

Und dann klickt es sich auch gut“, sagt<br />

er. Seine Logik: Wer auf die Quote achtet,<br />

achtet darauf, was die Leute wollen. Das<br />

sorge für bessere Texte. „In <strong>der</strong> Quote<br />

liegt also eine Chance, die von jenen vergeben<br />

wird, die sie verteufeln.“<br />

Aber manchmal, da stören ihn doch<br />

ein paar Dinge. Zum Beispiel die Hysterie<br />

um den Veggie-Day. O<strong>der</strong> die Art<br />

und Weise, wie im Januar über die Teilnahme<br />

<strong>der</strong> Stern-Journalistin Laura<br />

Himmelreich an einem Pressefrühstück<br />

von Rainer Brü<strong>der</strong>le berichtet wurde, den<br />

sie <strong>der</strong> Anmache bezichtigt hatte. Journalisten<br />

meldeten Himmelreichs Ankunft<br />

via Twitter. Redaktionen schalteten<br />

Live-Ticker. Alle umringten die<br />

Journalistin. „Das war Voyeurismus“,<br />

sagt Denkler.<br />

Einige Flure von Jule Lutteroths lautem<br />

Newsroom entfernt sitzt <strong>der</strong> Chef<br />

von Spiegel Online in seinem Büro und<br />

macht sich klein. Er senkt die Schultern,<br />

beugt sich nach vorne, faltet die Hände.<br />

Es ist eine bescheidene Körperhaltung<br />

für einen Mann mit so viel Macht.<br />

Rüdiger Ditz arbeitet seit fast<br />

14 Jahren bei Spiegel Online. Als er<br />

anfing, nahm kaum jemand das Portal<br />

ernst, Politiker ignorierten Interviewanfragen.<br />

Dann 2001, mit dem Fall<br />

des World Trade Centers, schossen die<br />

Klickzahlen in die Höhe. 2007, 2008 fiel<br />

immer häufiger das Wort „Leitmedium“.<br />

„Damals wurde uns gelegentlich angst<br />

und bange“, sagt Ditz.<br />

Heute kommt keiner mehr an Spiegel<br />

Online vorbei. Allein im September erzielte<br />

das Portal 980 277 502 Klicks. Fast<br />

eine Milliarde. Manche Hauptstadtjournalisten<br />

nutzen es als Startseite.<br />

29<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


TITEL<br />

Fass!<br />

Ditz sitzt in seinem Büro wie ein Wissenschaftler<br />

im Forschungslabor. Kein<br />

Laut dringt von außen herein. „Die <strong>Medien</strong><br />

haben in den vergangenen 25 Jahren<br />

ein irrsinniges Tempo aufgenommen“,<br />

sagt er. Erst kam das Radio, dann die<br />

TV-Stationen, dann die Online-Berichterstattung<br />

und schließlich das Social Web.<br />

„Was heute in die Welt gesetzt wird, verbreitet<br />

sich wie ein Lauffeuer.“ Politiker,<br />

die unter Beschuss stünden, hätten kaum<br />

Zeit zu reagieren. „Sie tun mir leid.“<br />

Ditz hat viel über die Skandale <strong>der</strong><br />

letzten Jahre nachgedacht, über Guttenberg,<br />

Wulff, die FDP. Über die Missgunst,<br />

den Neid, die Häme, die sie ausgelöst haben.<br />

Urreflexe seien das, die sich auch<br />

in den Leserkommentaren nie<strong>der</strong>schlagen<br />

würden. Und in den Klickzahlen.<br />

„Tebartz und Guttenberg waren bei uns<br />

in den Hochphasen ihrer Affären in den<br />

Top 10“, sagt er. Trotzdem: Die Quote,<br />

das betont er, habe keinen Einfluss auf<br />

das Politikressort. Tatsächlich sitzen die<br />

wahren Quotenrenner woan<strong>der</strong>s. Promimeldungen<br />

und Bil<strong>der</strong>strecken treiben<br />

die Zahlen hoch. Manche sagen dazu<br />

Klickhuren. Fast alle Online-<strong>Medien</strong><br />

greifen zu diesen Mitteln: Gute Werte<br />

bringen gute Werbeeinnahmen. Mit diesen<br />

Mechanismen kommt <strong>der</strong> politische<br />

Journalismus in Berührung.<br />

<strong>Der</strong> Qualitätsjournalismus sei „in<br />

ernster Gefahr“, hat Steffen Range 2007<br />

geschrieben. In einem Gutachten für die<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung kritisierte er<br />

den Online-Journalismus. Reißerische<br />

Überschriften, eine verzerrte Nachrichtenauswahl.<br />

Range schrieb über seine eigene<br />

Branche, er war Online-Journalist.<br />

Viele Kollegen waren begeistert. Endlich<br />

sagte es mal einer. Denn das ist das<br />

Paradoxe <strong>der</strong> Branche: Sie ist selbstkritisch.<br />

Aber sie folgt trotzdem dem Gesetz<br />

des Klicks. Das Publikum wie<strong>der</strong>um<br />

schimpft über schrille Überschriften –<br />

und klickt.<br />

„Es geht nicht<br />

mehr nur um<br />

einen Rücktritt.<br />

Son<strong>der</strong>n um die<br />

komplette<br />

Vernichtung <strong>der</strong><br />

Person, die<br />

Auslöschung“<br />

Steffen Range, Schwäbische Zeitung<br />

Christoph Steegmans, 42, war früher<br />

Vize-Regierungssprecher und wurde<br />

dann Sprecher <strong>der</strong> scheidenden Bundesfamilienministerin<br />

Kristina Schrö<strong>der</strong>. Er<br />

kann jetzt sagen, was er denkt. Ministerin<br />

weg, Job weg. „Am Ende des Tages<br />

setzt sich das krawalligste Stück durch,<br />

die stärkste These macht das Rennen“,<br />

sagt er in seinem Büro im Ministerium.<br />

Er spricht von Überschriften, die die Leser<br />

anbrüllten, von Online-Artikeln, die<br />

„zur bloßen Startrampe für aggressive<br />

Leserkommentare“ geworden seien. Von<br />

Methoden, „bei denen nur noch die Erregungskurve<br />

zählt“. Steegmans Ohren<br />

sind gerötet.<br />

Über Bundesminister kann immer<br />

ein Shitstorm hereinbrechen, je<strong>der</strong> Patzer<br />

kann sich zur Riesenblamage auswachsen.<br />

Steegmans, ein selbstironischer<br />

Mann mit dicken Brillengläsern,<br />

hat sich jahrelang in dieser Welt bewegt.<br />

Jetzt muss er los, es ist Halloween. Wenn<br />

er nicht rechtzeitig zu Hause ist und die<br />

Tür öffnet, werfen die Kin<strong>der</strong> Eier an sein<br />

Haus. In <strong>der</strong> Klickwelt kann einem so etwas<br />

jeden Tag passieren, das ganze Jahr.<br />

Morgens, nach dem Aufstehen, geht<br />

Steegmans in die Küche. Während die<br />

Butter weich wird, liest er die Nachrichten<br />

auf seinem Krypto-Handy. Er kontrolliert<br />

sie im Bus, im Büro, immer. Alle<br />

15 Minuten schaut er bei Google News<br />

rein. Das ist sein Job.<br />

Steffen Range, <strong>der</strong> 2007 die kritische<br />

Studie schrieb, hat die Hektik <strong>der</strong><br />

Hauptstadt hinter sich gelassen. Er zog<br />

von Berlin nach Oberschwaben. Bei <strong>der</strong><br />

Schwäbischen Zeitung kann er in Ruhe<br />

arbeiten. Umgewöhnen musste er sich allerdings<br />

nach sechs Jahren Hauptstadt:<br />

Eines Herbstabends wollte er nach Feierabend<br />

in Leutkirch noch Linsen mit<br />

Spätzle essen. Es war erst Viertel nach<br />

neun, doch die Küche im Gasthof Mohren<br />

war bereits geschlossen, allenfalls<br />

einen Wurstsalat könne man noch machen.<br />

In <strong>der</strong> Provinz ist eben einfach mal<br />

Schluss, Pause, Feierabend.<br />

Heute, sagt er, än<strong>der</strong>e sich das Bewusstsein<br />

auch in den Verlagen. „<strong>Der</strong><br />

qualifizierte Klick ist wichtiger geworden.“<br />

Was nun entstehe, sei eine<br />

Zwei-Klassen-Gesellschaft im Internet:<br />

Auf <strong>der</strong> einen Seite gibt es die, die es sich<br />

leisten können, auf das vornehme Publikum<br />

zu setzen und weniger stark nach<br />

Quote zu entscheiden. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite: die, die jedem Nutzer hinterherhecheln,<br />

mit allen Methoden.<br />

Aber da ist noch etwas, das Range<br />

beobachtet hat. Es beschäftigt ihn. Er<br />

sagt, die Jagd auf Prominente sei härter<br />

geworden. „Es geht nicht mehr nur um einen<br />

Rücktritt. Son<strong>der</strong>n um die komplette<br />

Vernichtung <strong>der</strong> Person, die Auslöschung<br />

ihres Andenkens.“ Als Wulff schon am<br />

Boden lag, wurde ausgiebig berichtet,<br />

dass er sich beim Zapfenstreich ein Lied<br />

mehr als seine Vorgänger wünschte. Genüsslich<br />

fragten sich die Qualitätsmedien,<br />

ob Tebartz-van Elst Autist sei. Sein Bru<strong>der</strong><br />

dementierte, es klang verzweifelt.<br />

Alle diese Skandale haben mit berechtigten<br />

Vorwürfen <strong>der</strong> Presse begonnen,<br />

mit seriösem Journalismus. Aber<br />

dann sind sie ausgeartet, befeuert von<br />

Twitter, von Facebook, von den Leserkommentaren,<br />

von <strong>der</strong> Konkurrenz zwischen<br />

den Journalisten, von ihrem Ehrgeiz,<br />

sich an die Spitze <strong>der</strong> wütenden<br />

Bewegung zu setzen. Nach jedem neuen<br />

Detail zu schnappen, das einen neuen Artikel<br />

rechtfertigt, <strong>der</strong> einen Kick für das<br />

innere Belohnungssystem bedeutet. Und<br />

<strong>der</strong> den Druck auf den Gejagten erhöht.<br />

MERLE SCHMALENBACH ist freie<br />

Autorin in Berlin. Sie hat eine Zeitung aus<br />

Papier abonniert, liest aber trotzdem oft<br />

Nachrichten auf dem Handy<br />

30<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Neue Bücher von Diogenes<br />

Foto: © Marco Okhuizen / laif<br />

Foto: © Annalena McAfee<br />

Foto: Regine Mosimann © Diogenes Verlag<br />

Arnon Grünberg<br />

COUCHSURFEN<br />

und an<strong>der</strong>e Schlachten<br />

Leon<br />

de Winter<br />

Ein gutes Herz<br />

Ian McEwan<br />

Honig<br />

Herausgegeben<br />

und mit einem Vorwort von<br />

Ilija Trojanow<br />

Roman · Diogenes<br />

Roman · Diogenes<br />

Reportagen · Diogenes<br />

512 Seiten, Leinen<br />

€ (D) 22.90<br />

Ein junges marokkanisches Fußballteam<br />

hält Amsterdam in Atem. Ein dubioser<br />

jüdischer Geschäftsmann entdeckt plötzlich<br />

sein gutes Herz. Väter und Söhne<br />

finden schicksalhaft zueinan<strong>der</strong>, eine alte<br />

Liebesgeschichte flackert wie<strong>der</strong> auf, und<br />

ein namhafter Filmemacher bekommt<br />

einen metaphysischen Auftrag. <strong>Der</strong> neue<br />

atemberaubende Thriller von Leon de<br />

Winter!<br />

464 Seiten, Leinen, € (D) 22.90<br />

Auch als Diogenes Hörbuch<br />

Sex, Spionage, Fiktion und die Siebziger:<br />

Serena arbeitet beim britischen Geheimdienst<br />

MI5. Weil sie auch eine passionierte<br />

Leserin ist, wird die junge Frau auf eine<br />

literarische Mission geschickt. Ian McEwan<br />

lockt uns mit gewohnter Brillanz in<br />

eine Intrige um Verrat, Liebe und die Erfindung<br />

<strong>der</strong> eigenen Identität.<br />

»Das eigentliche Thema dieses klugen<br />

und vertrackten Romans über eine<br />

Spionage-Mission im Kalten Krieg ist<br />

die Grenze zwischen Phantasie und<br />

Realität.« The New York Times<br />

480 Seiten, Pappband<br />

€ (D) 21.90<br />

Eine abenteuerliche Reise durch die Gegenwart:<br />

Ob auf fremden Sofas beim<br />

Couchsurfing, auf Brautschau in <strong>der</strong> Ukraine,<br />

in Guantánamo o<strong>der</strong> Afghanistan<br />

– diese Reportagen führen dorthin, wo<br />

wir alleine nie hingekommen wären.<br />

Arnon Grünbergs Blick für das absurde<br />

Detail stimmt ebenso nachdenklich, wie<br />

er erheitert. Die besten Reportagen, ausgewählt<br />

von Ilija Trojanow.


TITEL<br />

Fass!<br />

„GNADENLOS DURCH<br />

DEN WOLF GEDREHT“<br />

Kiels zurückgetretene Oberbürgermeisterin Susanne Gaschke<br />

über sinnlose Rituale in <strong>der</strong> Politik und die Irrwege <strong>der</strong> <strong>Medien</strong><br />

Frau Gaschke, Sie waren elf Monate<br />

lang Oberbürgermeisterin von Kiel.<br />

Ende Oktober sind Sie von diesem Amt<br />

zurückgetreten, nachdem es wochenlange<br />

Querelen wegen Ihrer Entscheidung<br />

gegeben hatte, einem Kieler Unternehmer<br />

mehrere Millionen Euro<br />

Steuerschuld zu erlassen. Was haben<br />

Sie in dieser Zeit über die Mechanismen<br />

<strong>der</strong> Politik gelernt?<br />

Susanne Gaschke: Als politische<br />

Journalistin habe ich die Politik ja jahrelang<br />

beschrieben. Aus dieser Erfahrung<br />

heraus kann ich sagen: <strong>Der</strong> Unterschied<br />

zwischen Theorie und Praxis ist gewaltig.<br />

Und ich glaube, diese Diskrepanz können<br />

Journalisten nur schwer nachvollziehen.<br />

Welchen praktischen Aspekt haben Sie<br />

unterschätzt?<br />

Das Oberbürgermeisteramt umfasst<br />

eine riesige Palette an inhaltlichen Themen,<br />

in die man sich einarbeiten muss –<br />

von den Stadtwerken über Straßen und<br />

Kanalisation bis hin zum Krippenplatz.<br />

Dazu kommen natürlich öffentliche Auftritte<br />

und die Arbeit mit den <strong>Medien</strong>.<br />

Das ist die eine Seite. Die an<strong>der</strong>e Seite<br />

ist die politische, also in meinem Fall<br />

die eigene Koalition mit einem schwierigen<br />

Koalitionspartner sowie die Opposition.<br />

An allen diesen Fronten muss<br />

man gleichzeitig gut sein, und das kann<br />

man eigentlich nur überleben, wenn die<br />

eigenen Leute permanent hinter einem<br />

stehen. Das wie<strong>der</strong>um erfor<strong>der</strong>t ein extrem<br />

hohes Maß an persönlicher Zuwendung<br />

und Aufmerksamkeit. Diesen Aspekt<br />

habe ich wahrscheinlich zugunsten<br />

inhaltlicher Fragen vernachlässigt.<br />

Vor Ihrer Wahl zur Oberbürgermeisterin<br />

waren Sie politische Journalistin<br />

bei <strong>der</strong> Zeit. Blicken Sie mit Ihren<br />

Zur Person<br />

SUSANNE GASCHKE kam<br />

1967 in Kiel zur Welt und wurde<br />

1987 Mitglied in <strong>der</strong> SPD. Von<br />

1997 an war sie Redakteurin<br />

bei Die Zeit und trat im<br />

vergangenen Jahr gegen<br />

Wi<strong>der</strong>stände in <strong>der</strong> eigenen<br />

Partei mit Erfolg als Kieler<br />

OB­Kandidatin an<br />

jüngsten Erfahrungen aus <strong>der</strong> Politik<br />

heute mit an<strong>der</strong>en Augen auf den<br />

Journalistenberuf?<br />

Ja, weil ich glaube, dass Journalisten<br />

sich oft überhaupt nicht im Klaren darüber<br />

sind, was sie Menschen antun können.<br />

Für mich war das zuletzt wirklich<br />

kein schöner Moment, wenn morgens um<br />

fünf Uhr die Lokalzeitung im Treppenhaus<br />

vor die Tür geworfen wurde. Natürlich<br />

habe ich mich dann selbst gefragt,<br />

was ich früher als Journalistin Betroffenen<br />

zugemutet habe. Da fallen mir immerhin<br />

zwei o<strong>der</strong> drei Sachen ein, für die<br />

ich Entschuldigungsbriefe schreiben will.<br />

Machen Journalisten es sich oft zu<br />

leicht, wenn sie die Arbeit von Politikern<br />

kritisieren? Zum Beispiel, weil ihnen<br />

die Detailkenntnis fehlt?<br />

Journalisten neigen zu Selbstgerechtigkeit.<br />

Viele kritisieren mit einer<br />

Härte und Gnadenlosigkeit, vertragen<br />

selbst aber nicht die geringste Kritik. Ich<br />

kenne das selbst. Und natürlich ist auch<br />

<strong>der</strong> Mangel an Detailkenntnis ein Problem.<br />

Wenn man als Verantwortlicher Entscheidungen<br />

zu treffen hat, merkt man<br />

erst mal, wie tief man sich in die Materie<br />

einarbeiten muss. Journalisten dagegen<br />

lassen sich nur sehr ungern durch<br />

abweichende Details von ihrer Meinung<br />

abbringen, wenn sie sich auf ihre Geschichte<br />

festgelegt haben. Das ist ein<br />

schweres Problem für den Journalismus.<br />

Ich glaube, die <strong>Medien</strong> brauchen einen<br />

Mechanismus, um ihre eigene Qualität<br />

zu sichern.<br />

Würden Sie, sollten Sie in den Journalistenberuf<br />

zurückkehren, etwas an Ihrer<br />

Arbeitsweise än<strong>der</strong>n in Anbetracht Ihrer<br />

eigenen Erfahrungen aus dem politischen<br />

Betrieb?<br />

Ganz bestimmt. Sowohl Politik wie<br />

auch <strong>Medien</strong> haben ja mit Problemen<br />

zu kämpfen – sei es Politikverdrossenheit,<br />

sei es Auflagenschwund. Dabei sind<br />

das eigentlich zwei Seiten <strong>der</strong>selben Medaille.<br />

Ich glaube, eine Berichterstattung,<br />

die einfühlsamer ist, die mehr verstehen<br />

und erklären will, würde auch <strong>der</strong> Politik<br />

zu einem besseren Ansehen verhelfen.<br />

Meiner Meinung nach sind die Leser<br />

dieser medialen „Alles ist Mist“-Attitüde<br />

längst überdrüssig. Genauso, wie<br />

<strong>der</strong> ständigen Besserwisserei von Journalisten.<br />

Das werde ich für meine künftige<br />

journalistische Arbeit mit Sicherheit<br />

noch mehr berücksichtigen.<br />

In Ihrer Rücktrittserklärung haben Sie<br />

beklagt, die „mediale Darstellung“ <strong>der</strong><br />

Vorgänge um den umstrittenen Erlass<br />

Foto: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />

32<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


<strong>der</strong> Steuerschuld habe zu dem „verzerrten<br />

Bild geführt“, Sie hätten diese Entscheidung<br />

allein und fachlich unkundig<br />

gefällt. Warum ist es denn gerade Ihnen<br />

als <strong>Medien</strong>profi nicht gelungen, dieses<br />

verzerrte Bild geradezurücken?<br />

An <strong>der</strong> Geschichte dieses 15 Jahre<br />

alten Gewerbesteuerfalls war ja von den<br />

zuständigen Fachleuten aus <strong>der</strong> Verwaltung<br />

ordentlich gearbeitet worden. Sie<br />

präsentierten mir am Ende eine richtige<br />

und plausible Lösung, <strong>der</strong> ich dann zugestimmt<br />

habe. Bis dahin hatte ich nichts<br />

damit zu tun. Wahrscheinlich hätte ich<br />

mich mit allen Beteiligten vor die Ratsversammlung<br />

stellen müssen, um klarzumachen,<br />

dass ich we<strong>der</strong> im Alleingang<br />

noch willkürlich abschließend entschieden<br />

habe. So hat sich dann medial die Geschichte<br />

eines angeblichen „Steuer deals“<br />

zwischen mir persönlich und diesem Unternehmer<br />

entwickelt. Diese Personalisierung<br />

hat eine Eigendynamik entwickelt,<br />

die nicht mehr zu stoppen war.<br />

Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt,<br />

dass aus <strong>der</strong> ganzen Geschichte<br />

ein Skandal mit allen dazugehörigen<br />

Mechanismen wird?<br />

Ich ahnte es zwei Tage vor <strong>der</strong> Ratsversammlung<br />

im August, als die Sache<br />

von den Kieler Nachrichten hochgezogen<br />

wurde. Als dann Anfang September auch<br />

noch <strong>der</strong> Name des Steuerschuldners<br />

durch Indiskretionen bekannt wurde,<br />

begann eine neue Eskalationsstufe. Von<br />

da an ging es wirklich nur noch um die<br />

Frage, ob ich persönlich das Geld <strong>der</strong><br />

Stadt verschenkt hätte. Mir war die<br />

ganze Zeit über völlig klar, in welcher<br />

Phase <strong>der</strong> Skandalisierung ich mich im<br />

Moment befinde. Aber alles theoretische<br />

Wissen nutzt einem in so einer Situation<br />

überhaupt nichts.<br />

Inwiefern haben Sie selbst zur Skandalisierung<br />

beigetragen, beispielsweise<br />

durch Ihren sehr emotionalen Auftritt<br />

vor <strong>der</strong> Kieler Ratsversammlung am<br />

22. August, in <strong>der</strong> Sie fragten, „ob ich<br />

das aushalten kann“?<br />

Und dann ist mir da auch noch die<br />

Stimme gekippt, was natürlich für eine<br />

Frau in <strong>der</strong> Politik ein totales No-Go ist.<br />

Außerdem habe ich wahrscheinlich überzogen<br />

auf die Kritik <strong>der</strong> Opposition reagiert<br />

– auch aus Enttäuschung, weil ich<br />

ja von diesen destruktiven politischen<br />

Rollenspielen wegkommen wollte. Das<br />

war schon eine Steilvorlage.<br />

Ist es für Politiker tödlich, Schwäche<br />

zu zeigen, weil dadurch erst recht <strong>der</strong><br />

Jagd instinkt bei den Journalisten geweckt<br />

wird?<br />

Ja, es ist tödlich. Das ist das Perverse,<br />

weil wir zugleich alle diese „Plastikpolitiker“<br />

kritisieren, diese gepanzerten<br />

Typen, die nur noch bedeutungslose<br />

Floskeln von sich geben. Das will eigentlich<br />

keiner. Aber wenn es jemand an<strong>der</strong>s<br />

macht, wird er eben gnadenlos durch den<br />

Wolf gedreht.<br />

Was bedeutet das für die politische<br />

Kultur?<br />

Dass wir weiter daran arbeiten müssen,<br />

einen Ausweg aus diesen Ritualen<br />

und destruktiven Rollenklischees zu finden.<br />

So, wie es ist, kann es nicht weitergehen.<br />

Wir müssen versuchen, in <strong>der</strong> Politik<br />

zu einer neuen Sprache zu finden,<br />

die erklärt anstatt zu vernebeln. Sonst<br />

gibt es am Ende einen politisch-medialen<br />

Komplex, <strong>der</strong> sich selbst zwar irgendwie<br />

aufrechterhält – aber mit <strong>der</strong> Welt darum<br />

herum nicht mehr viel zu tun hat.<br />

Sie sind als Oberbürgermeisterin angetreten<br />

mit dem Vorsatz, einen neuen<br />

Politikstil zu pflegen: mehr Offenheit,<br />

mehr Vertrauen zwischen Politikern<br />

und Bürgern, dafür weniger „hermetische<br />

Politikersprache“, wie Sie es genannt<br />

haben. Dieses Experiment muss<br />

„Manchmal<br />

bin ich wie<br />

Bambi auf die<br />

Waldlichtung<br />

gewandelt.<br />

Ich dachte<br />

wirklich, das<br />

finden alle toll“<br />

als gescheitert betrachtet werden. Sind<br />

Politik und <strong>Medien</strong> zu sehr in ihren jeweiligen<br />

Mechanismen gefangen, um<br />

diesem neuen Politikstil eine Chance<br />

zu geben?<br />

Erst einmal würde ich bestreiten,<br />

dass dieses Experiment komplett gescheitert<br />

ist. Als Oberbürgermeisterin habe<br />

ich fast alle Reden und Grußworte selbst<br />

formuliert, weil es mir eben darauf ankam,<br />

mit meiner eigenen Stimme zu sprechen<br />

– ohne Floskeln und Phrasen und<br />

mit echtem Interesse für praktische Lösungen.<br />

Für diese Form von Gesprächskultur<br />

habe ich bei vielen Menschen Anerkennung<br />

gefunden, auch bei solchen,<br />

die mir politisch nicht nahestehen. Ich<br />

hatte jedenfalls den Eindruck, es war <strong>der</strong><br />

Mühen wert, und würde es deshalb wie<strong>der</strong><br />

so machen. Und ich sehe schon, dass<br />

manche Politiker und <strong>Medien</strong>leute mittlerweile<br />

über ihr festgefahrenes Rollenverhalten<br />

nachdenken und sich gern daraus<br />

befreien würden. Da kommt langsam<br />

etwas in Gang.<br />

Was o<strong>der</strong> wen meinten Sie eigentlich in<br />

Ihrer Rücktrittsrede mit „testosterongesteuerten<br />

Politik- und <strong>Medien</strong>typen,<br />

die unseren Politikbetrieb prägen und<br />

deuten“?<br />

Es gibt diesen Politikberichterstatter-Machotypen,<br />

<strong>der</strong> sich ganz gut versteht<br />

mit dem Politapparatschik-Machotypen.<br />

Die waren übrigens auch nicht<br />

so doll für mich als Seiteneinsteigerin<br />

in die Politik.<br />

Waren Sie rückblickend nicht viel zu<br />

naiv, als Sie mit <strong>der</strong>art hehren Vorsätzen<br />

in die Politik gegangen sind?<br />

Nicht schön, das zuzugeben, aber:<br />

ja. Manchmal bin ich wie Bambi auf die<br />

Waldlichtung gewandelt und habe gesagt:<br />

„Hey Leute, ihr hattet hier in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

so ein paar seltsame Praktiken,<br />

die wir von jetzt an hinter uns lassen<br />

sollten.“ Ich dachte wirklich, das<br />

finden alle toll. Fanden sie natürlich<br />

nicht. Es ist eben ein Geben und Nehmen<br />

auf allen Ebenen. Das habe ich total<br />

unterschätzt. Aber ich finde, unsere<br />

Gesellschaft braucht Leute, die das unterschätzen.<br />

Und an<strong>der</strong>s machen wollen.<br />

Das Gespräch führte<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

33<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


TITEL<br />

Fass!<br />

MUT, STOLZ<br />

UND STORYS<br />

Von GEORG MASCOLO<br />

Die <strong>Medien</strong> stehen unter Druck. Ihre Macher sollten aber<br />

nicht jammern. Sie müssen sich Glaubwürdigkeit erobern,<br />

mit Leidenschaft recherchieren und provozieren. Dann bleibt<br />

Journalismus ein Traumberuf, <strong>der</strong> sich bezahlt macht<br />

Illustration: Jens Bonnke<br />

Am Tag, als <strong>der</strong> Kalte Krieg<br />

endete, war ich gerade<br />

25 Jahre jung geworden.<br />

Ich war ein mäßig erfahrener<br />

Fernsehreporter und in<br />

Ostberlin dabei, als die Mauer fiel. <strong>Der</strong><br />

Ort, an dem ich mit meinem Kamerateam<br />

drehte, war <strong>der</strong> Grenzübergang Bornholmer<br />

Straße.<br />

Dort wurde in jener Nacht Geschichte<br />

geschrieben.<br />

Tausende DDR-Bürger hatten sich<br />

vor dem Grenzübergang versammelt.<br />

Sie verlangten die sofortige Ausreise.<br />

In Sprechchören skandierten sie: „Tor<br />

auf, Tor auf.“ Die schwer bewaffneten<br />

Grenzer waren in <strong>der</strong> Defensive, zum<br />

ersten Mal seit 28 Jahren. Zum ersten<br />

Mal, seit <strong>der</strong> Ostblock sich entschieden<br />

hatte, seine eigenen Bürger einzusperren.<br />

Plötzlich wurde <strong>der</strong> Schlagbaum geöffnet.<br />

Die verängstigten Grenzer taten es ohne<br />

Befehl von oben, die Mauer war gefallen.<br />

Die Menschen hatten sie erstürmt.<br />

Die Bil<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Bornholmer<br />

Straße sind hun<strong>der</strong>tfach gezeigt worden.<br />

2011 hat die Unesco sie zum Weltdokumentenerbe<br />

erklärt. In dieser Kategorie<br />

finden sich auch Beethovens Neunte<br />

Symphonie und die Gutenberg-Bibel.<br />

Darum bin ich Journalist geworden.<br />

Schon dieser eine Moment, diese eine<br />

Nacht hätte als Begründung genügt. Gibt<br />

es einen an<strong>der</strong>en Beruf, in dem man in<br />

historischen Momenten als Zeuge dabei<br />

sein darf und dafür auch noch bezahlt<br />

wird?<br />

Ich bin stolz auf meinen Beruf. Dieser<br />

Text wird also nicht <strong>der</strong> inzwischen<br />

gängige Abgesang auf unsere Branche.<br />

Ich liefere auch nicht die zehn Gebote<br />

zur Zukunft. Ich kenne sie gar nicht. Vor<br />

meinen Prognosen will ich gleich warnen:<br />

Wir Journalisten irren uns bekanntlich<br />

nicht weniger als alle an<strong>der</strong>en auch.<br />

Eher häufiger.<br />

Eine Tatsache ist schon: Wir erleben<br />

keine <strong>Medien</strong>krise. Wir erleben eine Revolution.<br />

Aber ich mag den Ton nicht, in<br />

dem über die Herausfor<strong>der</strong>ungen an die<br />

<strong>Medien</strong> gesprochen wird. Er schadet uns.<br />

Wenn wir selbst nicht an das glauben,<br />

was wir tun, warum sollen es dann an<strong>der</strong>e<br />

tun? Wenn wir heute über Journalismus<br />

sprechen, sind zwei unterschiedliche<br />

Betrachtungen notwendig. Eine ist die inhaltliche,<br />

die an<strong>der</strong>e die ökonomische.<br />

Die inhaltliche zwingt Journalisten<br />

zur Verän<strong>der</strong>ung, wir müssen uns auf<br />

neue Zeiten einstellen, weit mehr als<br />

wir dies bis heute getan haben. Unsere<br />

Karrieren sind unsicherer geworden, so<br />

wie die vieler an<strong>der</strong>er Professionen auch.<br />

<strong>Der</strong> journalistische Wettbewerb ist<br />

heute ein globaler geworden, geografischen<br />

Schutz im heimatlichen Markt gibt<br />

es kaum noch. Alles was sich klug, aufregend<br />

und unterhaltsam liest, ist nur einen<br />

Klick entfernt. Im virtuellen Kiosk liegt<br />

die New York Times neben <strong>der</strong> Neuen<br />

Zürcher und <strong>der</strong> Schaumburger Zeitung,<br />

bei <strong>der</strong> ich einmal angefangen habe.<br />

Papier verschwindet nicht, aber es<br />

schwindet. <strong>Der</strong> Begriff „Newspaper“<br />

wird allmählich irreführend. Was für<br />

ein Unterschied: Als ich bei <strong>der</strong> Schaumburger<br />

Zeitung mein Volontariat begann,<br />

war Journalismus ein knappes Gut. Was<br />

35<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


TITEL<br />

Fass!<br />

ins Haus kam, wurde auch gelesen, Vergleiche<br />

mit an<strong>der</strong>en Produkten selten<br />

angestellt.<br />

Die meisten Menschen unter 20 kennen<br />

nur die neue Welt. Sie sind wählerischer,<br />

kritischer, launischer. Sie sind für<br />

guten Journalismus zu begeistern, aber<br />

das müssen wir täglich und immer aufs<br />

Neue schaffen. Diese neue Generation<br />

<strong>der</strong> Leser bindet sich nicht gern – und<br />

wenn, dann nicht auf Dauer. Sie wissen<br />

um die Auswahl, die sich ihnen bietet.<br />

Ich lese wie viele in Deutschland den<br />

Blog des Schweizer Journalisten Constantin<br />

Seibt. Er schreibt: „Die entscheidende<br />

Qualität <strong>der</strong> Ware Zeitung war<br />

jahrzehntelang die Nicht-Enttäuschung.<br />

Solange man nicht ganz miserable Ware<br />

lieferte, blieben die Abonnenten bis zum<br />

Tod. Und heute? Journalisten und Verleger<br />

haben verlernt, was unser Publikum<br />

zur Kaufentscheidung bewegt: Begeisterung,<br />

Wagnisse, Brüche. Und das Eingeständnis<br />

von Fehlbarkeit.“<br />

Fair enough.<br />

Wie gehen wir Journalisten mit dieser<br />

neuen Wirklichkeit um? Viele von uns<br />

reagieren mit Unsicherheit, manchmal<br />

mit Trotz. Warum, bitte schön, will <strong>der</strong><br />

Leser, <strong>der</strong> Zuhörer, <strong>der</strong> Zuschauer plötzlich<br />

nicht mehr, was ihm so lange gefallen<br />

hat? Er will es nicht mehr, weil die Auswahl<br />

heute so ungleich größer ist, weil es<br />

News und ihre naheliegende Interpretation<br />

heute überall gibt. Und zwar sofort.<br />

Das Ritual <strong>der</strong> Zeitung am Frühstückstisch<br />

droht deshalb genauso zu<br />

verschwinden wie die erste Zigarette<br />

Anzeige<br />

zum Kaffee. In <strong>der</strong> S-Bahn lässt sich dieser<br />

Kulturbruch jeden Tag beobachten:<br />

Es raschelt kein Papier mehr, die Menschen<br />

halten ein Smartphone in <strong>der</strong> Hand.<br />

Nur <strong>der</strong> konzentrierte Blick ist geblieben.<br />

Nachrichtenangebote konkurrieren mit<br />

allen an<strong>der</strong>en Kommunikationsformen<br />

und Gadgets <strong>der</strong> digitalen Welt.<br />

Was bedeutet das für uns, die<br />

Journalisten?<br />

Zuerst einmal: Massenware funktioniert<br />

nicht mehr. Sie wird vom Leser als<br />

eben solche erkannt, nicht son<strong>der</strong>lich geschätzt<br />

und schon gar nicht bezahlt.<br />

Aus diesem Grund müssen wir unsere<br />

Zeitungen, unsere Magazine verän<strong>der</strong>n.<br />

Sie brauchen Haltung, originelle<br />

Meinungen, gute Autoren, eigene,<br />

aufregende Enthüllungen. Wagemut<br />

statt Bravheit ist gefragt, die über Jahrzehnte<br />

eingeübte Routine – das haben<br />

wir doch schon immer so gemacht – ist<br />

dabei <strong>der</strong> größte Feind. Ich weiß, wovon<br />

ich rede. Ich habe diesen Fehler selbst<br />

häufig gemacht.<br />

WIR JOURNALISTEN MÜSSEN uns <strong>der</strong><br />

Gleichförmigkeit <strong>der</strong> Meinung – inzwischen<br />

in deutschen <strong>Medien</strong> ein echtes Ärgernis<br />

– entziehen. Weniger Hype und<br />

mehr Recherche sind notwendig. Und die<br />

Lust zur Provokation sollten wir wie<strong>der</strong>entdecken,<br />

unser Gespür dafür, was unsere<br />

Leser am Küchentisch diskutieren<br />

o<strong>der</strong> diskutieren sollten. Es muss Spaß<br />

machen, die Zeitung zu lesen. Kurzum:<br />

Journalisten müssen ein Produkt mit<br />

Charakter machen!<br />

Für Regional- und Lokalzeitungen<br />

gilt, dass sie immer und überall in den<br />

Mittelpunkt stellen müssen, was eben<br />

nicht in jedem Newsportal zu haben ist:<br />

die Berichterstattung aus ihrer Region.<br />

Die starken Marken mit Tradition<br />

und Glaubwürdigkeit haben dabei große<br />

Chancen. Journalismus ist Vertrauenssache,<br />

und <strong>der</strong> Leser will wissen, ob er dem<br />

Absen<strong>der</strong> vertrauen kann. Darum sind<br />

es eben nicht die deutsche Telekom o<strong>der</strong><br />

Google, die die großen Nachrichtenportale<br />

betreiben.<br />

Unser Versprechen – von guten Journalisten<br />

recherchiert, überprüft und mit<br />

Gütesiegel ausgeliefert – hat auch in <strong>der</strong><br />

neuen Welt die entscheidende Bedeutung.<br />

Wir entlarven Gerüchte, wir liefern Kontext,<br />

Verständnis, Einordnung. Wir müssen<br />

sorgsam mit dem Vertrauen unserer<br />

Leser umgehen, denn sie haben ein gutes<br />

Gedächtnis dafür, was wir ihnen aufgeschrieben<br />

haben und welche „Experten“<br />

wir zu Wort kommen lassen.<br />

Philip Tetlock, Professor in Berkeley,<br />

hat 82 361 Vorhersagen <strong>der</strong> vergangenen<br />

20 Jahre auswerten lassen. Ergebnis: Diejenigen,<br />

die am meisten Aufmerksamkeit<br />

<strong>der</strong> <strong>Medien</strong> bekamen, waren am wenigsten<br />

zutreffend.<br />

Wenn heute über Journalismus gesprochen<br />

wird, ist viel von <strong>der</strong> ökonomischen<br />

Bedrohung die Rede. Eine an<strong>der</strong>e<br />

Bedrohung wird selten erwähnt, aber sie<br />

ist nicht weniger gefährlich. Es geht um<br />

unsere Autorität, unsere Glaubwürdigkeit.<br />

Um die steht es nicht gut, jede Umfrage<br />

beweist es. Journalisten schneiden<br />

Das gute Gespräch ist zurück.<br />

GALORE Interviews – das Beste aus zehn Jahren.<br />

• Das Magazin am Kiosk: 22. November.<br />

• Die Handy- und Tablet-App (iOS, Android): 29. November.<br />

• www.galore.de: 02. Dezember.<br />

Interviews


schlecht ab, meist nur knapp vor Politikern<br />

und Bankern. Das ist hart. Bei<br />

Transparency International Deutschland<br />

landeten Journalisten im Korruptionsindex<br />

gerade auf einem <strong>der</strong> hinteren<br />

Plätze. Das ist vernichtend. Ich komme<br />

darauf zurück.<br />

Erst einmal ist festzuhalten, dass es<br />

für uns Journalisten nicht mehr so weitergeht<br />

wie bisher. Unser Kunde, <strong>der</strong> Leser,<br />

ist anspruchsvoller geworden. Das<br />

ist unsere Herausfor<strong>der</strong>ung. Wenn wir<br />

unser Publikum verlieren, dann haben<br />

wir verloren. Verleger und Verlage haben<br />

auch eine Pflicht. Sie dürfen ihrem einzigen<br />

Produktionsmittel, dem Journalisten,<br />

ruhig etwas abverlangen. Aber schaffen<br />

sie auch ein Umfeld, in dem er den notwendigen<br />

Erfolg haben kann? Vorsicht<br />

vor <strong>der</strong> nächsten Sparrunde! Manch einer,<br />

<strong>der</strong> gedacht hat, dass er nur Fett abschneidet,<br />

hat tief ins Fleisch geschnitten.<br />

In das eigene.<br />

VERLEGER UND VERLAGE sollten misstrauisch<br />

werden, wenn ihre Chefredakteure<br />

sich als die fleißigsten Sparer erweisen.<br />

Das ist nicht ihr Job. Controller<br />

braucht es in je<strong>der</strong> Firma, aber sie entscheiden<br />

nicht über den Erfolg. Für die<br />

Beurteilung <strong>der</strong> Zukunft haben sie keine<br />

beson<strong>der</strong>e Qualifikation: Hätte ein Controller<br />

Christoph Kolumbus den Anker<br />

lichten lassen? Auf keinen Fall: unsichere<br />

Reise, unsichere Rendite, abgelehnt!<br />

Chefredakteure brauchen Unterstützung<br />

im Wettbewerb um die besten<br />

Journalisten. Sie brauchen solche, die<br />

Chefredakteure<br />

dürfen nicht<br />

die fleißigsten<br />

Sparer sein.<br />

Das ist nicht ihr Job.<br />

Ein Controller<br />

hätte Kolumbus<br />

auch nie den Anker<br />

lichten lassen<br />

Courage haben, Hartnäckigkeit, Leidenschaft,<br />

einen Sinn für Fairness und – ganz<br />

wichtig – für Ungerechtigkeit. Solche, die<br />

eine Lust darauf haben, die Welt zu erklären,<br />

und sich für ihren Leser interessieren.<br />

Sie brauchen solche, die <strong>der</strong> Macht<br />

niemals zu nahe kommen. Ein guter Journalist<br />

fremdelt mit den Mächtigen.<br />

Journalisten sind keine „Content-<br />

Lieferanten“, allein schon dieses Wort ist<br />

eine Beleidigung. Wenn <strong>der</strong> Journalist zu<br />

einem Rädchen im ganz großen Nachrichtengetriebe<br />

degradiert wird, ständig<br />

unter Druck, dann verliert er seine wichtigste<br />

Fähigkeit – den Spürsinn. Journalisten<br />

müssen unkorrumpierbar sein.<br />

Gegenüber ihren Quellen und denjenigen<br />

gegenüber, über die sie schreiben.<br />

Aber auch <strong>der</strong> Werbewirtschaft gegenüber.<br />

Halbseidenen Deals mit Anzeigenkunden<br />

müssen sich Journalisten wi<strong>der</strong>setzen.<br />

Ein guter Geschäftsführer mutet<br />

ihnen solche Deals erst gar nicht zu. <strong>Der</strong><br />

Journalist bekommt sein Geld nur dafür,<br />

dass er schreibt. Aber niemals dafür, was<br />

er schreibt.<br />

Ich habe die Bedrohung <strong>der</strong> Glaubwürdigkeit<br />

schon erwähnt. Sie zu verteidigen,<br />

ja, wie<strong>der</strong>zuerobern, ist die gemeinsame<br />

Aufgabe von Journalisten und<br />

Verlegern. Generationen vor uns haben<br />

hart für den guten Ruf unserer Marken<br />

gearbeitet. Jetzt ist es an uns, ihn zu verteidigen.<br />

Klingt das wie eine Mahnung?<br />

Ja, es ist auch eine. Unter Druck fallen<br />

lei<strong>der</strong> häufig Entscheidungen, die sich<br />

später als verheerend herausstellen.<br />

Unsere Zukunft wird also an<strong>der</strong>s<br />

aussehen als unsere Gegenwart, eine<br />

Landkarte für diese Reise gibt es nicht.<br />

Experimentierfreude und Mut sind die<br />

beste Ausrüstung für diese Reise. Die<br />

wahren Schätze finden sich am Ende <strong>der</strong><br />

Reise. Wem die Reisespesen gestrichen<br />

werden, <strong>der</strong> kann keinen Schatz finden.<br />

Es lässt sich viel lernen von denen,<br />

die Mut haben, wie etwa <strong>der</strong> britische<br />

Guardian. Er wird von einem brillanten<br />

Journalisten geführt, Alan Rusbridger.<br />

Ich bin stolz, dass er mein Freund ist.<br />

Nicht einmal, dass er davon überzeugt ist,<br />

dass guter Journalismus im Netz nicht<br />

bezahlt werden muss, hat mein Verhältnis<br />

zu ihm belastet.<br />

Im August 2012 heuerte Rusbridger<br />

den Blogger und Journalisten Glenn<br />

Anzeige<br />

Alte Nationalgalerie – Museumsinsel Berlin, Bodestr. 1–3, 10178 Berlin<br />

www.antongraffinberlin.de, www.smb.museum<br />

Geför<strong>der</strong>t durch:


TITEL<br />

Fass!<br />

Greenwald an, <strong>der</strong> dort seine Kolumnen<br />

veröffentlichte. Es war nur eines <strong>der</strong> vielen<br />

Experimente, die <strong>der</strong> Guardian wagt.<br />

Die Texte von Glenn Greenwald beeindruckten<br />

Edward Snowden, einen jungen<br />

Zivilangestellten des amerikanischen<br />

Geheimdiensts NSA so sehr, dass er sich<br />

an ihn wandte. Heraus kam die bisher<br />

bedeutendste Investigation dieses Jahres.<br />

Können Sie sich vorstellen, was dieser<br />

Scoop für den Guardian bedeutet?<br />

Wer von uns hier hat sich auf die Suche<br />

nach den Bloggern gemacht, bei denen<br />

sich <strong>der</strong> nächste Snowden melden wird?<br />

EIN WORT ZU den sozialen <strong>Medien</strong>: Facebook,<br />

Twitter, Instagram, wir interessieren<br />

uns für alles, wo kommuniziert wird.<br />

Hier empfohlen zu werden, ist so wichtig,<br />

wie es früher die Empfehlung auf dem<br />

Schulhof o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Aula <strong>der</strong> Universität<br />

gewesen ist. Nur sollten wir, welche Welt<br />

wir auch betreten, niemals die Regeln<br />

unseres Handwerks vergessen. Gründliche<br />

Recherche, richtig geht immer vor<br />

schnell. Das ist <strong>der</strong> Unterschied zwischen<br />

einem Gerücht und einer Nachricht.<br />

<strong>Der</strong> Inhalt also muss sich än<strong>der</strong>n,<br />

Leidenschaft statt Langeweile ist gefragt.<br />

Die Möglichkeiten <strong>der</strong> Digitalisierung<br />

sind atemberaubend, <strong>der</strong> Text, das<br />

bewegte Bild, die animierte Grafik – die<br />

Möglichkeit, dem beson<strong>der</strong>s interessierten<br />

Leser auch noch alle Dokumente und<br />

Interviews zur Verfügung zu stellen. In<br />

Echtzeit kann man mit ihm diskutieren,<br />

streiten, ihn um Hilfe bitten.<br />

Das Fazit: Chance und Risiko halten<br />

sich zumindest die Waage. Für Originalität<br />

und Klugheit wird es immer einen<br />

Markt geben. Wer sich diesem neuen, so<br />

viel härter gewordenen Wettbewerb nicht<br />

stellt, wird nicht überleben.<br />

Kommen wir zur ökonomischen<br />

Seite. Ich bin dafür kein Experte, und<br />

ich will es auch gar nicht sein. Ich halte<br />

es auch für schädlich, wenn sich Journalisten<br />

heute bei ihren Treffen zuerst fragen,<br />

wie es um ihr Geschäftsmodell steht,<br />

bevor sie über gute Geschichten reden.<br />

Soll doch bitte je<strong>der</strong> seinen Job machen.<br />

Aber blind sind wir auch nicht.<br />

Längst hat das begonnen, was man in<br />

an<strong>der</strong>en Branchen Konsolidierung nennt.<br />

Keiner hat es treffen<strong>der</strong> gesagt als Donald<br />

Graham, als er den Verkauf seiner<br />

geliebten Washington Post begründete:<br />

„Das Zeitungsgeschäft hat nicht aufgehört<br />

Fragen aufzuwerfen, auf die wir<br />

keine Antworten haben.“<br />

Ich glaube, dass die Zukunft noch<br />

immer ein Zuhause hat, es heißt Amerika.<br />

Ganz so weit wie dort sind wir in<br />

unserem Teil <strong>der</strong> Welt noch nicht, sonst<br />

könnte <strong>der</strong> Axel-Springer-Verlag einige<br />

seiner Blätter wohl kaum für 920 Millionen<br />

Euro verkaufen, während die<br />

Washing ton Post für 188 Millionen Euro<br />

den Besitzer wechselte. Dramatisch ist<br />

noch eine an<strong>der</strong>e Zahl aus den USA:<br />

Die New York Times Company verkaufte<br />

den Boston Globe für 70 Millionen<br />

Dollar, zehn Jahre zuvor haben sie<br />

dafür 1,1 Milliarden bezahlt. Nicht einmal<br />

die Pensionslasten hat <strong>der</strong> neue Eigentümer<br />

übernommen.<br />

Hören wir auf, uns zu beschweren.<br />

Wenn mir nichts Wesentliches entgangen<br />

ist, dann hat sich unsere Branche<br />

ja mit Hurra in das Abenteuer gestürzt,<br />

Journalismus im Netz zu verschenken<br />

und zu glauben, dass sich dies nicht auf<br />

den Verkauf auswirkt. Inzwischen wissen<br />

wir, dass aus Online-Lesern nur in<br />

den seltensten Fällen Stammleser des<br />

Printprodukts – o<strong>der</strong> seines digitalen<br />

Ebenbilds – werden. Jetzt wird mühsam<br />

versucht, diese Entwicklung zurückzudrehen:<br />

In Amerika verlangen 450 von<br />

1380 Tageszeitungen im Netz Geld, in<br />

Deutschland sind es 46 von 332. Viele,<br />

davon bin ich überzeugt, werden folgen.<br />

Ernst Elitz, <strong>der</strong> frühere Intendant<br />

des Deutschlandradios und heutige Direktor<br />

<strong>der</strong> „Berlin Media Professional<br />

School“, hat mit seinen Studenten einen<br />

Versuch gemacht: Sie verglichen den Auftritt<br />

einer großen deutschen Tageszeitung<br />

mit ihrer gedruckten Ausgabe. Um das<br />

Ergebnis zu demonstrieren, hielten sie<br />

die ersten beiden Seiten des Blattes hoch.<br />

Zusammengehalten wurde es nur noch<br />

vom weißen Rand und dem Logo. Dazwischen<br />

klaffte ein großes Loch, denn<br />

alle Texte waren tags zuvor schon auf <strong>der</strong><br />

Webseite zu lesen. Die Zeitung hatte sich<br />

auf dem Weg zum Kiosk, zum Leser in<br />

Luft aufgelöst.<br />

Wie lange soll dieser Unsinn noch<br />

weitergehen?<br />

Lernen wir von den Mutigen: Am<br />

28. März 2011 hat die New York Times<br />

ihr „Metered Model“ eingeführt, gerade<br />

sind die neuesten Zahlen veröffentlicht<br />

Zum Autor<br />

GEORG MASCOLO<br />

Er zählt zu den namhaften<br />

Ent hüllungs journalisten<br />

Deutschlands. Bis April war<br />

er Chefredakteur des Spiegel.<br />

Danach hat er sich als<br />

Gast dozent an <strong>der</strong> Harvard<br />

University mit dem transatlantischen<br />

Verhältnis und <strong>der</strong> NSA<br />

befasst. Ende Oktober traf er<br />

Edward Snowden in Moskau.<br />

Dieser Text basiert auf einer<br />

Grundsatzrede, die Mascolo<br />

bei <strong>der</strong> Jahrestagung des<br />

Ringier­Verlags in Belgrad hielt<br />

worden: Die Zeitung verdient 150 Millionen<br />

Dollar mit Digital Subscriptions.<br />

Ich habe damals mit dem damaligen<br />

Chefredakteur Bill Keller diskutiert, wir<br />

waren Partner bei <strong>der</strong> Berichterstattung<br />

über die Wikileaks-Dokumente. Meistens<br />

haben wir über gute Geschichten gesprochen.<br />

Aber – das muss ich zugeben –<br />

manchmal auch über Geschäftsmodelle.<br />

Ich habe den Mut <strong>der</strong> New York<br />

Times bewun<strong>der</strong>t: Sie war, damals, ziemlich<br />

allein. Es gab viel Wi<strong>der</strong>stand innerhalb<br />

<strong>der</strong> Zeitung, vor allem von jenen, die<br />

NYT.com zur meistgelesenen Webseite<br />

<strong>der</strong> Welt gemacht hatten. Die Washington<br />

Post höhnte noch, sie werde auf jeden<br />

Fall bei ihrem Gratismodell bleiben.<br />

<strong>Der</strong> Ausgang <strong>der</strong> Geschichte ist bekannt.<br />

Hören wir auf, nur die schlechten<br />

Nachrichten zur Kenntnis zu nehmen,<br />

wenn es um die Zukunft unseres Berufs<br />

geht. Wir sollten uns lieber anschauen,<br />

wo Geld in den Journalismus investiert<br />

wird. Jeff Bezos, <strong>der</strong> weitsichtige Grün<strong>der</strong><br />

von Amazon, kaufte die Washington<br />

Post, und Warren Buffett, <strong>der</strong> nicht<br />

dafür bekannt ist, in sterbende Industrien<br />

zu investieren, kauft gezielt Lokalzeitungen.<br />

Die beiden werden schon<br />

wissen, warum.<br />

Foto: Christian O. Bruch/laif<br />

38<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


BERLINER REPUBLIK<br />

„ Ein Überwachungsapparat<br />

liebt Fotos,<br />

denn er will alle<br />

Menschen erkennen.<br />

Ihre Anonymität zerstört er –<br />

durch Fotos “<br />

Roland Jahn, Beauftragter für die Stasi-Unterlagen, über die<br />

Gefahren <strong>der</strong> neuen Datenbrille Google Glass, Seite 52<br />

39<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

PAU STATT PFAU<br />

Im Bundestag ist die Vizepräsidentin Petra Pau eine Autorität. Obwohl sie <strong>der</strong> Linken<br />

angehört. Und obwohl sie mit ihrer Stimme zu kämpfen hat. Wie macht sie das?<br />

Von TIMO STEIN<br />

Foto: Jens Gyarmaty für <strong>Cicero</strong><br />

<strong>Der</strong> 5. Mai 2010 ist <strong>der</strong> Tag, an<br />

dem sie ihre Stimme verliert. Eigentlich<br />

ein typischer Mittwoch<br />

einer Sitzungswoche des Parlaments.<br />

Petra Pau, Linkenpolitikerin und Vizepräsidentin<br />

des Bundestags, soll die Enquetekommission<br />

Internet und Gesellschaft<br />

leiten. Phoenix überträgt live. Um<br />

14 Uhr betritt Pau den Saal, geht ans<br />

Pult, spricht zwei Sätze. Dann bricht ihre<br />

Stimme weg. Stille.<br />

In den Wochen darauf setzt Paus<br />

Stimme immer häufiger aus. Es wird ein<br />

Jahr dauern, bis sie die Kontrolle über<br />

ihr Sprechen zurückgewinnt. Klinikaufenthalte,<br />

Stimmtraining, sie kämpft. Sie<br />

habe an Rücktritt gedacht, sagt sie heute.<br />

Damals hätte sie das natürlich dementiert.<br />

Ausgerechnet ein CSU-Mann hilft<br />

ihr, Eduard Oswald, dabei kommt er aus<br />

jener Partei, die so leidenschaftlich gegen<br />

die Linke holzt. Aber er ist ihr Präsidiumskollege.<br />

Er lässt die Fernsehübertragung<br />

in seinem Büro mitlaufen, wenn<br />

Pau in ihrer Funktion als Bundestagsvize<br />

die Sitzungen leitet. Lässt ihre Stimme<br />

nach, steht er plötzlich hinter ihr, bereit,<br />

sie abzulösen. „Ich mach das hier mal zu<br />

Ende“, sagt er dann leise zu ihr.<br />

Gerade ist Petra Pau, 50 Jahre alt,<br />

wie<strong>der</strong>gewählt worden. Ihr Amt hat an<br />

Bedeutung gewonnen. Wenn es zur Großen<br />

Koalition kommt, hat das Regierungslager<br />

auch im Präsidium des Parlaments<br />

ein Übergewicht: Neben Bundestagspräsident<br />

Norbert Lammert von <strong>der</strong> CDU gibt<br />

es vier Vizepräsidenten von Union und<br />

SPD. Die Opposition hat im Präsidium nur<br />

die Grüne Claudia Roth – und Petra Pau.<br />

Sie muss also dafür sorgen, dass<br />

die Opposition an <strong>der</strong> Spitze des Parlaments<br />

sichtbar bleibt. Ausgerechnet eine<br />

1,63 Meter kleine Frau, <strong>der</strong>en Stimme immer<br />

noch im Duktus dauerhafter Heiserkeit<br />

zittert, Mitglied einer Partei, die all<br />

dem entgegensteht, was dieses Amt verkörpert:<br />

Überparteilichkeit, Mo<strong>der</strong>ation,<br />

Macht. Wie kann das funktionieren?<br />

An einem Herbstabend ist sie auf einer<br />

Veranstaltung in Berlin, es geht um<br />

den Nationalsozialistischen Untergrund.<br />

Ihr Thema. 19 Monate arbeitete sie im<br />

NSU-Untersuchungsausschuss. Paus<br />

Stimme fehlt noch die Tiefe, die Farbe.<br />

Auf dem Podium spricht sie mit technischer<br />

Hilfe. Sie trägt ein Headset. So<br />

wie sie es im Bundestag schon seit längerem<br />

macht. Mit auf dem Podium sitzt<br />

Eva Högl von <strong>der</strong> SPD. Sie verstehen sich.<br />

GRELLES LICHT VON OBEN. Paus rotes<br />

Haar schimmert gelb. Neben <strong>der</strong> Sozialdemokratin<br />

im Kostüm sieht die sommersprossige<br />

Linke in ihrem Ringelpullover<br />

fast aus wie ein Kind. Aber wenn<br />

sie spricht, wirkt sie nicht unsicher. Sie ist<br />

vorbereitet, bis ins Detail. Sie redet frei,<br />

fundiert, überzeugend. Ihre Augen springen<br />

hin und her, zum nächsten Kopf, zum<br />

nächsten Gedanken. Die Leute hören zu.<br />

Petra Pau ist quasi zweimal ihrer<br />

Partei beigetreten. In Berlin, Hauptstadt<br />

<strong>der</strong> DDR, war sie Lehrerin für Deutsch<br />

und Kunst. Schon mit 20 ging sie in die<br />

SED, als Nachwuchska<strong>der</strong> besuchte sie<br />

die Parteihochschule. Im Januar 1990<br />

marschierte Pau in die Kreisleitung <strong>der</strong><br />

PDS Hellersdorf. Sie wollte ihre Zugehörigkeit<br />

zur neuen Programmatik <strong>der</strong> PDS<br />

offiziell bekräftigen: Die Absage an jede<br />

Form des Stalinismus. Es war ihr Neuanfang.<br />

Sie wollte die Dinge klären.<br />

Im wie<strong>der</strong>vereinigten Deutschland<br />

begann ihre Politkarriere. Das Pau’sche<br />

Machtzentrum heißt Hellersdorf. 1991<br />

wurde sie im Problemkiez PDS-Bezirksvorsitzende.<br />

<strong>Der</strong> Sprung in den Bundestag<br />

gelang ihr im Herbst 1998. Vier Jahre<br />

später flog die PDS aus dem Parlament.<br />

Nur Gesine Lötzsch und Petra Pau holten<br />

Direktmandate. Zwei gegen den Rest des<br />

Bundestags. Sie saßen in einem hinteren<br />

Winkel des Parlaments, Beistelltische<br />

mussten sie sich erkämpfen. Pau lernte<br />

die Geschäftsordnung in- und auswendig,<br />

sie behauptete sich. Die Konkurrenz<br />

wurde hellhörig. Es sei kein Geheimnis,<br />

dass Joschka Fischer und Gerhard Schrö<strong>der</strong><br />

bei Lötzsch und ihr vorstellig wurden,<br />

um sie abzuwerben, sagt Pau heute.<br />

2005 schafft es die PDS wie<strong>der</strong>. Die<br />

Mehrheit lässt Lothar Bisky bei <strong>der</strong> Wahl<br />

zum Bundestagsvize durchfallen. <strong>Der</strong><br />

fragt Pau. Im April 2006 wird sie gewählt.<br />

Petra Pau ist eine Pragmatikerin,<br />

eine Realpolitikerin. Im Grunde sind das<br />

Schimpfworte für viele Linke. Aber Pau<br />

blendet ideologische Gräben einfach aus.<br />

Die Pfauen <strong>der</strong> Politik spreizen ihr Gefie<strong>der</strong>,<br />

sie stellen gern die Unterschiede<br />

in den Vor<strong>der</strong>grund, so laut wie möglich.<br />

Sie sucht das Gemeinsame. Sie spart an<br />

Lautstärke und findet umso mehr Gehör.<br />

Kürzlich erst bekam sie ein Dankschreiben<br />

vom erzkonservativen Norbert<br />

Geis. Sie präsidierte, als er im Juni seine<br />

letzte Bundestagsrede hielt, und verabschiedete<br />

ihn gebührend.<br />

Die gute Zusammenarbeit mit Politikern<br />

an<strong>der</strong>er Parteien zieht sich durch<br />

ihre Vita. Die Fähigkeit kann sie brauchen,<br />

wenn spätestens 2017 die Frage eines<br />

rot-rot-grünen Bündnisses auf Bundesebene<br />

wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> politischen<br />

Agenda steht. Dann wird sie mo<strong>der</strong>ieren,<br />

Sektierer in die Schranken weisen.<br />

Noch sei es zu früh für ein solches Bündnis,<br />

sagt sie. Noch sei ein solches Bündnis<br />

nicht vorbereitet. Wenn es aber so weit<br />

ist, wird Petra Pau eine Rolle spielen. Es<br />

wird auf ihre Stimme ankommen.<br />

TIMO STEIN ist Redakteur bei <strong>Cicero</strong><br />

Online und befasst sich mit den linken<br />

Parteien <strong>der</strong> Berliner Republik<br />

41<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

UNTER KONTROLLE<br />

Erst wurde Alexan<strong>der</strong> Dobrindt Generalsekretär <strong>der</strong> CSU. Dann bezwang er seinen<br />

Körper und machte die Grünen nie<strong>der</strong>. Sein Befehlshaber ist Horst Seehofer<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

In <strong>der</strong> Nacht zum 9. Februar 2009 in<br />

Peißenberg Kreis Weilheim-Schongau<br />

beginnt ein Prozess, an dessen Ende<br />

die CSU triumphieren wird, die Grünen<br />

am Boden liegen und <strong>der</strong> Politiker<br />

Alexan<strong>der</strong> Dobrindt vom oberbayerischen<br />

Fettsack zum feinen Berliner Herrn<br />

mutiert ist. Auf Dobrindts Handy meldet<br />

sich <strong>der</strong> CSU-Chef und Ministerpräsident:<br />

Horst Seehofer. Er hat bis halb eins<br />

gebraucht. Wenn man den Bundeswirtschaftsminister<br />

Michael Glos wegmobben<br />

und den Generalsekretär Karl-Theodor<br />

zu Guttenberg auf dessen Posten setzen<br />

muss, kann es spät werden, bis man zur<br />

Generalsekretärsnachfolge kommt. Seehofer<br />

fragt den jungen Abgeordneten, <strong>der</strong><br />

in seiner Bundestagszeit auf demselben<br />

Stock sein Büro hatte. Dobrindt.<br />

Herbst 2013, Berlin. Nach einer Verhandlungsrunde<br />

um die Große Koalition<br />

verlässt Seehofer das Willy-Brandt-<br />

Haus. Er wirkt aufgekratzt, als wäre die<br />

SPD-Zentrale seine Stammwirtschaft.<br />

Neben dem 1,93-Meter-Trumm schwirrt<br />

ein Schwarm Leibwächter und Referenten.<br />

Sie konzentrieren sich auf den Chef.<br />

Aber neben ihm läuft ein Mann im taillierten<br />

Nadelstreifenanzug, <strong>der</strong> sich ein<br />

eigenes Lächeln leisten kann: Alexan<strong>der</strong><br />

Dobrindt, 43, er hat die Kampagne geleitet,<br />

die die CSU in einen Rausch führte.<br />

Jetzt organisiert er in einer Steuerungsgruppe<br />

die Verhandlungen von CDU,<br />

CSU und SPD. Er sagt: „Ich muss dafür<br />

sorgen, dass es kontrolliert abläuft.“<br />

Seehofer weist Dobrindt an, er solle<br />

auf eine Nachricht am nächsten Morgen<br />

warten. „Mach, was in <strong>der</strong> SMS steht.“<br />

In den vier Jahren als Generalsekretär<br />

hat sich Dobrindt verän<strong>der</strong>t. Er<br />

agierte zunehmend aggressiv. Im November<br />

2010 tobte Stuttgart 21, die<br />

Grünen reüssierten. Er nannte sie den<br />

„politischen Arm von Krawallmachern,<br />

Steinewerfern und Brandstiftern“. Politischer<br />

Arm, darin stecken viele Assoziationen.<br />

Nordirland, IRA, Terror.<br />

Das Amt des CSU-Generalsekretärs<br />

verlangt Attacken. So war es immer. <strong>Der</strong><br />

Ministerpräsident muss auch Staatsmann<br />

sein. <strong>Der</strong> Generalsekretär verkörpert<br />

CSU pur. „Er muss die an<strong>der</strong>en nie<strong>der</strong>machen,<br />

bis sie liegen“, sagt ein CSU-Politiker,<br />

<strong>der</strong> sich auskennt. Vielen Generalsekretären<br />

wurde die Rolle zur zweiten<br />

Natur. Dobrindt würde sie ausschalten<br />

können, sobald sie ihm nichts mehr nützt.<br />

„Ich habe eine Leidenschaft, Dinge<br />

an einem Reißbrett zu konstruieren“,<br />

sagt er. Strategisches Ziel, inhaltlicher<br />

Kern, assoziative Kraft. Für Mario<br />

Draghi, Chef <strong>der</strong> Europäischen Zentralbank,<br />

dachte er sich den Begriff „Falschmünzer“<br />

aus.<br />

Die SMS trifft um 5.30 Uhr ein.<br />

„Komm in die Landesleitung.“ Die Landesleitung<br />

ist die CSU-Zentrale in München.<br />

Seehofer schreibt nicht, wann Dobrindt<br />

da sein soll. Also fährt er lieber gleich los.<br />

Dobrindt hat Soziologie studiert. Demoskopische<br />

Daten analysiert er bis ins<br />

Detail. Früh hat er den Hauptgegner erkannt.<br />

Diagnose: „<strong>Der</strong> einzige Weg von<br />

den linken Parteien aus ins bürgerliche<br />

Lager einzudringen, waren die Grünen.“<br />

Ziel: Eine Brandmauer errichten. Therapie:<br />

Entfremdung. Er setzte die Grünen<br />

als Gegner des Ehegattensplittings<br />

in Szene, ihr Programm als Orgie <strong>der</strong><br />

Steuererhöhungen. Die Grünen prozessierten<br />

sogar dagegen. Das machte Dobrindts<br />

Kampagne richtig groß, dann verloren<br />

die Ökos auch noch vor Gericht.<br />

Er erkannte, dass die Pädophilen<br />

in <strong>der</strong> Grünen-Vergangenheit die ideale<br />

Story sind, um bürgerliche Wähler abzuschrecken.<br />

Den Politiker Volker Beck<br />

bezichtigte er ohne Faktengrundlage als<br />

„Vorsitzenden <strong>der</strong> Pädophilen-AG“. Beck<br />

gewann vor Gericht, es verbot Dobrindt<br />

die Äußerung – nach den Wahlen.<br />

Er kommt in die Landesleitung. Er<br />

wartet. Schließlich trifft Dorothee Bär<br />

ein, sie soll Vize-Generalsekretärin werden.<br />

Dann ist auch Guttenberg da.<br />

Dobrindt hat sich auch äußerlich<br />

verän<strong>der</strong>t. In <strong>der</strong> Anfangszeit kauerte er<br />

schwer in den Sesseln <strong>der</strong> Fernsehstudios,<br />

guckte aus Ritzen, die Wangen glänzten<br />

schwartig. 2011 beschloss er die Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

seines Körpers. Die Lust auf Süßes<br />

ersetzte er durch die Lust auf Disziplin.<br />

Minus 20 Kilo. Slim fit. Abenteureruhr mit<br />

Le<strong>der</strong>armband. Weihnachten 2011 kaufte<br />

er eine dunkel gerahmte Brille, die Marke<br />

hieß Krass. Er ist leicht kurzsichtig, die<br />

alte Brille brauchte er vor allem zum Sehen<br />

beim Autofahren. Die neue braucht<br />

er auch für das Aussehen. Die Augen wirken<br />

groß und freundlich und nachdenklich,<br />

wenn er zuhört. Ein eleganter Mann,<br />

<strong>der</strong> Drecksarbeit sauber verrichtet.<br />

Seehofer betritt den Raum. Er schenkt<br />

sich Kaffee ein.<br />

Erzählt Dobrindt von den Stunden,<br />

als ihn Seehofer zu seiner rechten Hand<br />

machte, spürt man seine Faszination für<br />

die Macht. Aber was will er? Was hat<br />

ihn in die Politik gebracht? Auf entsprechende<br />

Fragen nennt er Strauß und Kohl.<br />

Er leiht sich die Leidenschaft von ihnen,<br />

von zwei Politikern, die ausrasten konnten.<br />

Als Kohl einmal mit Eiern beworfen<br />

wurde, ging er auf die Angreifer los.<br />

Als Dobrindt Eier abkriegte, sagte er kalt,<br />

man solle das nicht überbewerten.<br />

Seehofer sagt: „Du wirst Wirtschaftsminister,<br />

du Generalsekretär, du stellvertretende<br />

Generalsekretärin.“<br />

Jetzt wartet Dobrindt auf den nächsten<br />

Befehl.<br />

GEORG LÖWISCH ist Textchef bei <strong>Cicero</strong>.<br />

Nachts schaltet er sein Handy stumm<br />

Foto: Archiv Klar/DJV Bildportal<br />

42<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


BERLINER REPUBLIK<br />

Kommentar<br />

DER<br />

WERT DES<br />

MENSCHEN<br />

Von<br />

FRANK A. MEYER<br />

Ökonomen und Manager<br />

ereifern sich über einen<br />

gesetzlichen Mindestlohn von acht<br />

Euro fünfzig pro Stunde. Warum?<br />

Weil sie Arbeiter als<br />

bloßes Objekt sehen<br />

Worum geht es bei <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach einem gesetzlichen<br />

Mindestlohn? Etwa um Ökonomie? Folgt<br />

man <strong>der</strong> alten marxistischen Ideologie, dann geht<br />

es immer um Ökonomie. Ebenso nach <strong>der</strong> aktuellen neoliberalen<br />

Ideologie.<br />

Die zwei entgegengesetzten säkularen Glaubenslehren erblicken<br />

in <strong>der</strong> Wirtschaft den Weg zur Erlösung: <strong>Der</strong> Kommunismus<br />

sieht sie in <strong>der</strong> Vergesellschaftung aller Produktionsmittel;<br />

<strong>der</strong> Marktradikalismus in <strong>der</strong>en Privatisierung – bis<br />

hin zu wesentlichen staatlichen Einrichtungen und Leistungen,<br />

seien es Schulen, Verwaltung, Straßenbau o<strong>der</strong> Sozialwerke.<br />

Was immer zur gesellschaftlichen Infrastruktur gehört, soll als<br />

Geschäft betrieben werden. Nicht einmal die Geldschöpfung<br />

durch staatliche Zentralbanken ist vom Furor <strong>der</strong> fanatischen<br />

Privatisierer ausgenommen.<br />

Zu den Produktionsmitteln <strong>der</strong> Marktgläubigen zählt auch<br />

<strong>der</strong> Mensch. Sie erfassen ihn in ihren Profitbilanzen als „Homo<br />

oeconomicus“, als „Humankapital“, als „Human resources“.<br />

Auf Deutsch: als „Rohstoff Mensch“.<br />

<strong>Der</strong> Rohstoffmensch bietet nach dieser Eschatologie seine<br />

Arbeit auf dem Markt als Ware an, die dann verrechnet wird<br />

mit <strong>der</strong> Nachfrage nach ebensolcher Ware, was schließlich den<br />

Lohn hervorbringt, respektive den Wert, den <strong>der</strong> Mensch auf<br />

dem Markt gerade zu erzielen vermag.<br />

Geht es also beim Mindestlohn ebenfalls um Ökonomie, da<br />

doch die Ökonomie <strong>der</strong> Angelpunkt aller Argumentation ist?<br />

Nein. Eben gerade nicht. Denn beim Mindestlohn geht es<br />

um den Menschen. Nur um ihn.<br />

Nur? Es geht um den Menschen als Höchstes.<br />

Es geht um seine Existenz. Die soll <strong>der</strong> Mindestlohn am<br />

unteren Rande <strong>der</strong> Gesellschaft garantieren: eine bescheidene,<br />

eine normale, eine gesunde Existenz, gesichert durch einen gerechten<br />

Lohn für des Menschen Arbeit.<br />

Illustration: Florian Bayer<br />

44<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Doch was ist ein gerechter Lohn, ein nicht vom Arbeitsmarkt<br />

– also vom Warenmarkt – hervorgebrachter Mindestlohn?<br />

Darüber können Ökonomen, die höheren Geistlichen <strong>der</strong><br />

Wirtschaftskirche, ganze Gebetsbücher vollfabulieren.<br />

Im vorliegenden Fall jedoch ist die Antwort einfach: Ein<br />

gerechter Lohn ist ein menschengerechter Lohn. Und ein menschengerechter<br />

Lohn ist ein Lohn, <strong>der</strong> dem arbeitenden Menschen<br />

gerecht wird, indem er ihm die Existenz ermöglicht.<br />

Und zwar eine Existenz ohne Heimarbeit, ohne Kellnern<br />

am Abend, ohne Verkaufsaushilfe in Randstunden, ohne Babysitting<br />

in <strong>der</strong> Nacht, auch ohne Flaschensammeln aus Abfalleimern<br />

– ohne zweiten o<strong>der</strong> gar dritten Job. Und ohne Sozialhilfe.<br />

Es geht also nicht etwa um mehr Lohn im Sinne von mehr<br />

Lohngerechtigkeit. Es geht um das Mindeste, das einem arbeitenden<br />

Menschen zusteht, einfach, weil er ein Mensch ist, in<br />

diese Zeit, in diese Gesellschaft geworfen, dem Leben ausgesetzt,<br />

das er zu leben hat, vor <strong>der</strong> Gesellschaft, vor seinen Angehörigen,<br />

vor Gott o<strong>der</strong> allein vor sich selbst.<br />

Es geht also um wenig, aber zugleich ums Ganze: Es geht<br />

um des Menschen Leben. <strong>Der</strong>zeit berechnet mit acht Euro fünfzig<br />

pro Stunde Arbeit – als Mindestlohn gesetzlich festzulegen.<br />

Dagegen laufen die Marktradikalen Sturm. In ihren Augen<br />

ist die staatliche Garantie dieses Lohnes Gotteslästerung:<br />

Weil ihr Gott <strong>der</strong> Markt ist und Gott gerecht, muss <strong>der</strong> von ihnen<br />

als unantastbar erklärte Marktlohn ebenso gerecht sein.<br />

Sogar die Deutsche Bank, Deutschlands Geldkirche, mit<br />

kriminellen und spekulativen Umtrieben <strong>der</strong> jüngeren Vergangenheit<br />

weiß Gott ausgelastet, fühlt sich zu warnen aufgerufen:<br />

Acht Euro fünfzig pro Stunde, diese Sünde wi<strong>der</strong> das ökonomische<br />

Gesetz, führe zum Verlust von 450 000 Arbeitsplätzen<br />

im besten Fall, einer Million im schlimmsten.<br />

Die hauseigenen Ökonomen-Pfäffchen belegen, was die<br />

höheren Würdenträger zu belegen ihnen befohlen haben. Die<br />

Bank, <strong>der</strong>en Boniritter Hun<strong>der</strong>te Millionen in die eigenen Taschen<br />

wirtschafteten, <strong>der</strong>en skandalbesudelte Führung nach<br />

wie vor Millionen in die eigenen Taschen wirtschaftet, fühlt<br />

sich zur Sorge um die Arbeitnehmer bemüßigt. Heuchelei gehört<br />

nun mal zum Kirchengeschäft.<br />

Kann ein Mensch im teuren Deutschland mit weniger als<br />

acht Euro fünfzig pro Stunde menschengerecht leben? Wer das<br />

behauptet, soll es probieren. Etwa Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer<br />

des Deutschen Industrie- und Handelskammertags.<br />

Er wirft den Politikern vor, dem Mindestlohn liege eine<br />

„Milchmädchenrechnung“ zugrunde. Selbst mit dem Mindestlohn<br />

von acht Euro fünfzig wäre Wansleben nicht in <strong>der</strong> Lage,<br />

auch nur ein Milchmädchenleben zu finanzieren.<br />

Was ist das für ein Gefühl: einen Monat lang ordentlich arbeiten,<br />

um dann einen Lohn zu erhalten, <strong>der</strong> ein ordentliches<br />

Leben nicht ermöglicht? Es ist ein Gefühl <strong>der</strong> Entwürdigung.<br />

Ein Gefühl? Es ist Entwürdigung!<br />

Menschen, denen man den minimal gerechten Lohn verweigert,<br />

nimmt man die Würde.<br />

Ja, <strong>der</strong> Markt erniedrigt den Menschen zur Ware, zum<br />

Objekt – vor allem jenen Menschen, <strong>der</strong> sich dagegen nicht<br />

zur Wehr setzen kann: den sozial Schwachen, den Armen,<br />

den Ohnmächtigen.<br />

Die Deutsche Bank,<br />

die Geldkirche<br />

des Landes, schickt ihre<br />

Pfäffchen los.<br />

Sie heucheln Sorge<br />

um Arbeitsplätze –<br />

wegen des<br />

Mindestlohns<br />

Hatte <strong>der</strong> Markt nicht einst auch große Nachfrage nach<br />

Kin<strong>der</strong>arbeit: in Bergwerken und Fabriken? Ließ sich nicht<br />

auch diese kapitalistische Perversion mit ökonomischer Rechnerei<br />

hieb- und stichfest begründen? Musste nicht auch diese<br />

Schande per Gesetz beendet werden, gegen die Marktradikalen<br />

des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts?<br />

Und wie sieht es heute im ganz konkreten Leben aus? <strong>Der</strong><br />

Mann schämt sich vor seiner Frau, dass er nicht genug Geld<br />

nach Hause bringt, dass er ihr nichts schenken kann, dass er<br />

sie bitten muss, jeden Cent zweimal umzudrehen, dass sie dazuverdienen<br />

muss, trotz Kin<strong>der</strong>n, dass es aber trotzdem kaum<br />

reicht, dass <strong>der</strong> Staat am Schalter <strong>der</strong> Arbeitsagentur um Geld<br />

angebettelt werden muss, dass dazu demütigende Fragen zu<br />

beantworten sind.<br />

Und die alleinerziehende Mutter versteckt ihre Armseligkeit<br />

vor dem Töchterchen, das ein Spielzeug möchte wie die<br />

Schulkameradinnen, das es dann doch ausnahmsweise erhält,<br />

weil die Mutter abends noch putzen geht.<br />

So existiert es sich im armen Deutschland.<br />

Im reichen Deutschland, wo man ökonomisch schaltet<br />

und waltet, ereifern sich die Marktanbeter mitsamt ihrem<br />

frommen, fürstlich ausgehaltenen Ökonomen-Klerus <strong>der</strong>weil<br />

über den Sündenfall eines gesetzlichen Mindestlohns von acht<br />

Euro fünfzig!<br />

Was für ein Menschenbild! Das Leben <strong>der</strong> armen an<strong>der</strong>en<br />

im armen an<strong>der</strong>en Deutschland ist keinen Lohn wert, <strong>der</strong> nicht<br />

den Segen des Marktes hat.<br />

Ja, für die Marktradikalen gibt es das – man wagt es<br />

kaum zu schreiben: unwertes Leben. Unwert, weil es sich<br />

nicht rechnet.<br />

FRANK A. MEYER ist Journalist und Gastgeber <strong>der</strong> politischen<br />

Sendung „Vis­à­vis“ in 3sat<br />

45<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


BERLINER REPUBLIK<br />

Report<br />

Von hier aus wollte die SPD die Macht in Deutschland erobern.<br />

Wurde nichts. Schon wie<strong>der</strong> nicht. Das Willy­Brandt­Haus ist ein<br />

Kunstwerk, keine Kampfmaschine<br />

Foto: Michael Ruetz/Agentur Focus<br />

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<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


DAS<br />

GEISTERSCHIFF<br />

An Bord sind sie ins Scheitern verliebt.<br />

Das Berliner Willy-Brandt-Haus <strong>der</strong> SPD: Zentrale <strong>der</strong><br />

Lähmung und des Schreckens<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Was für eine Kraft dieses Gebäude<br />

ausstrahlt. Wie ein<br />

Schiffsbug pflügt es die Wilhelmstraße<br />

zur einen und die Stresemannstraße<br />

zur an<strong>der</strong>en Seite. Die Kuppel<br />

oben auf <strong>der</strong> Nase des Bugs sieht aus<br />

wie eine Kommandobrücke, von <strong>der</strong> aus<br />

<strong>der</strong> Kapitän dieses Schiff durch die Straßenzüge<br />

Berlins steuert. Oben weht die<br />

rote Fahne <strong>der</strong> SPD im Herbstwind.<br />

Da liegt die Parteizentrale <strong>der</strong> Bundes-SPD:<br />

Das Willy-Brandt-Haus in Berlin,<br />

<strong>der</strong> Name soll Tradition und Kraft<br />

signalisieren. Aber wenn man einmal<br />

drum herum geht und in die Fenster<br />

schaut, dann hält das mächtige Gebäude<br />

vor allem Komik bereit. Im Bürgerbüro<br />

Kreuzberg-Friedrichshain sitzt ein grau<br />

melierter Mann im Ringelpulli an einem<br />

Bistrotischchen vor seinem aufgeklappten<br />

Laptop, einer Kaffeekanne und einer<br />

Bierflasche. Das Bistro „Willy’s“ hat<br />

schon geschlossen, aber die Leuchtreklame<br />

des Reisebüros daneben – ein<br />

SPD-Emblem auf einem weißen Koffer –<br />

leuchtet noch über einem Plakat <strong>der</strong> MS<br />

Azores, die „Reisen mit persönlicher<br />

Note“ verspricht. Links davon liegen auf<br />

einem Grabbeltisch des „Image-Shops“<br />

SPD-rote Wurstbrotdosen („Ganz mein<br />

Geschmack“) neben roten Badelatschen,<br />

die für 3,99 Euro zu haben sind – wie<br />

jemand mit einem roten Filzstift auf eine<br />

Ringbucheinlage geschrieben hat, die am<br />

Grabbeltisch pappt.<br />

Von hier aus wollte die SPD die<br />

Macht in Deutschland erringen. Von<br />

diesem Ort <strong>der</strong> pompösen Piesepampeligkeit<br />

wollte sie das Kanzleramt erobern.<br />

In Wahlkampfzeiten verwandeln<br />

sich Parteizentralen von einem Verwaltungsapparat<br />

in Kampfmaschinen. Jedenfalls,<br />

wenn alles richtig läuft. Bei <strong>der</strong><br />

SPD ist nicht alles richtig gelaufen, das<br />

kann man bei einem Wahlergebnis von<br />

25,7 Prozent ohne Risiko sagen. Manche<br />

sagen sogar, es ist <strong>der</strong> schlechteste Wahlkampf<br />

gewesen, den in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

je eine Partei geführt hat.<br />

„WELCHER WAHLKAMPF?“, fragt einer,<br />

<strong>der</strong> hinter diesen Mauern arbeitet und<br />

durch die gläserne Drehtür geht. Es sei<br />

Zeit, fügt er hinzu, die Nie<strong>der</strong>lage ehrlich<br />

zu analysieren, statt bei den Fehlern<br />

des Kandidaten stehen zu bleiben. Denn<br />

es ist viel mehr schiefgelaufen. „Aber zu<br />

<strong>der</strong> Analyse wird es wie<strong>der</strong> nicht kommen“,<br />

sagt er. Dieser Jemand darf wie<br />

alle Gesprächspartner aus diesem Haus<br />

keinen Namen und kein Gesicht haben.<br />

Denn so ehrlich läuft die Aufarbeitung<br />

nicht, dass jemand, <strong>der</strong> die Dinge beim<br />

Namen nennt, nichts zu befürchten hätte.<br />

Eine Zentrale ist strukturell ein<br />

schwieriges Gebilde. „Bullshit Castle“<br />

hat <strong>der</strong> frühere Daimler-Boss Jürgen<br />

Schrempp einmal den Firmensitz seines<br />

Unternehmens genannt. Schrempp<br />

kannte nicht das Zuhause <strong>der</strong> ältesten<br />

Partei Deutschlands. Die Beschreibung<br />

trifft aber auch auf die Behausung <strong>der</strong><br />

SPD zu. Im Willy-Brandt-Haus spiegeln<br />

sich alle Probleme <strong>der</strong> Partei. Hier haben<br />

sich die Sedimente <strong>der</strong> zuletzt häufig<br />

wechselnden Parteivorsitzenden abgelagert<br />

und sind zu Gestein ausgehärtet.<br />

Knapp 200 Leute haben es sich in<br />

diesem Haus eingerichtet. In einer Parteizentrale<br />

sollten Ideen, Stimmungen<br />

und Wünsche aus den Glie<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Partei zusammentreffen, damit daraus<br />

Politik entsteht. Hier müsste die Politik<br />

zu einer schlagkräftigen Strategie<br />

werden. Den Landesverbänden und Unterbezirken<br />

würde die Zentrale helfen,<br />

zu planen, zu organisieren, sich auszurüsten,<br />

auf dass man gemeinsam in See<br />

sticht. Vorneweg das stolze Flaggschiff<br />

mit <strong>der</strong> stärksten Mannschaft, bei <strong>der</strong> je<strong>der</strong><br />

Handgriff sitzt und in <strong>der</strong> je<strong>der</strong> für<br />

den an<strong>der</strong>en einsteht.<br />

Aber so ist es nicht. Die Zentrale <strong>der</strong><br />

SPD gleitet wie ein Geisterschiff dahin,<br />

das keinen klaren Kurs hat, son<strong>der</strong>n einer<br />

seltsamen, jenseitigen Logik folgt.<br />

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<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


BERLINER REPUBLIK<br />

Report<br />

Im Wahlkampf gab es ein Lauerverhältnis.<br />

Stammbesatzung gegen Steinbrück­Crew. Gabriel gegen Nahles.<br />

Wer hier aufräumt, hat viel vor sich<br />

Niemand will ihm zu nahe kommen. Alle<br />

Versuche, es mit Leben zu füllen, es neu<br />

zu bauen, scheitern seit Jahrzehnten.<br />

Selbst <strong>der</strong> Umzug nach Berlin 1999<br />

konnte daran nichts än<strong>der</strong>n. Dabei<br />

wurde fast die Hälfte des Personals ausgetauscht,<br />

aber irgendwie blieb die Parteizentrale<br />

immer die „Baracke“, die<br />

sie vor Jahrzehnten in Bonn buchstäblich<br />

war. Die Schlagzeilen aus <strong>der</strong> guten<br />

alten Zeit, als noch ausgeschnitten und<br />

auf Papier archiviert wurde, sind vergilbt,<br />

aber sie lesen sich wie frisch gedruckt.<br />

„Blühen<strong>der</strong> Frust“, „Engholms<br />

schwieriger Start in <strong>der</strong> SPD-Baracke“,<br />

„Die ausgezehrte Bonner SPD-Baracke“.<br />

Man könnte meinen, die fehlende Schlagkraft<br />

dieser Parteizentrale ist eine Erbkrankheit,<br />

die von Bonn mit nach Berlin<br />

genommen wurde.<br />

Einzig die Zeit, als Franz Müntefering<br />

die Zentrale führte, wird von vielen<br />

Insassen und vor allem von jenen, die<br />

dem Haus achselzuckend den Rücken gekehrt<br />

haben, als Phase wahrgenommen,<br />

in <strong>der</strong> sich die Kraft einigermaßen entfaltete.<br />

1996 hatte Müntefering als Bundesgeschäftsführer<br />

in Vorbereitung auf den<br />

Wahlkampf 1998 sogar den Klassenfeind<br />

ins Haus geholt. Eine Zürcher Unternehmensberatung<br />

nahm sich die Parteizentrale<br />

ein Jahr lang vor. Arbeitsauftrag:<br />

„Die Aufgaben einer mo<strong>der</strong>nen Parteizentrale<br />

zu definieren und Vorschläge<br />

zu entwickeln, wie diese Aufgaben möglichst<br />

optimal erfüllt werden können.“<br />

Gleichzeitig quartierten Müntefering<br />

und seine engsten Mitarbeiter, allen voran<br />

<strong>der</strong> heutige thüringische Wirtschaftsminister<br />

Matthias Machnig, die Wahlkampfzentrale<br />

vorsichtshalber aus <strong>der</strong> Bonner<br />

Baracke aus. 100 Meter weiter nahm die<br />

„Kampa“ ihre Arbeit auf, an <strong>der</strong> Fassade<br />

des Hauses zählte eine große Digitaluhr<br />

die Tage, die Helmut Kohl bis zur Abwahl<br />

blieben. Es folgten Jahre, in denen die<br />

SPD in <strong>der</strong> Lage war, Wahlen zu gewinnen.<br />

2002 war die Partei längst von Bonn<br />

nach Berlin gezogen, aber Münteferings<br />

Strategen schätzten die Kraft des Neuanfangs<br />

im neuen Haus so nüchtern ein,<br />

dass sie eine Kampa 02 für nötig hielten.<br />

Sie wurde an <strong>der</strong> Oranienburger Straße<br />

errichtet, im vibrierenden Berlin-Mitte,<br />

fern vom muffigem Parteigeruch. Dort<br />

sollten junge Leute Rot-Grün gegen Edmund<br />

Stoiber verteidigen.<br />

AUS DIESER ZEIT ist die Erkenntnis geblieben,<br />

dass Erfolge <strong>der</strong> Partei woan<strong>der</strong>s<br />

organisiert werden müssen, möglichst<br />

weit weg vom Willy-Brandt-Haus. Im<br />

Kanzleramt, in einer Staatskanzlei o<strong>der</strong><br />

eben in einer Kampa. Die Münte-Boys<br />

von damals hat es in alle Winde verstreut.<br />

Sie reden heute noch mit leuchtenden<br />

Augen von diesen Zeiten und bekommen<br />

matte Blicke, wenn sie über das Heute<br />

reden. „Die sind in <strong>der</strong> Birne nicht klar<br />

gewesen“, seufzt <strong>der</strong> eine und meint die<br />

Leute in <strong>der</strong> Parteizentrale. Es habe ein<br />

gebrochenes Verhältnis zu den elf Jahren<br />

Regierungszeit und zur Agenda 2010<br />

gegeben, konstatiert ein an<strong>der</strong>er. Außerdem<br />

habe sich das Haus seit jeher lieber<br />

als Denkfabrik verstanden – man könnte<br />

auch sagen: Bedenkenträgerfabrik. Das<br />

Adenauer-Haus <strong>der</strong> CDU dagegen funktioniere<br />

als Dienstleister: „Da steckste<br />

oben einen Befehl rein, dann rennen die!“<br />

Als Beleg wird eine Szene des Buchautors<br />

und FAZ-Journalisten Nils Minkmar<br />

angeführt, <strong>der</strong> Peer Steinbrück über<br />

ein Jahr begleitet hat. Einmal bekam er<br />

einen Anruf aus dem Büro des Kanzlerkandidaten<br />

im Willy-Brandt-Haus. Eine<br />

Dame fragte ihn nach seiner E-Mail-Adresse.<br />

Das ist allein schon ein son<strong>der</strong>bares<br />

Zeichen, weil solche Adressen bekannter<br />

„Kunden“ eigentlich in einem<br />

gut organisierten Haus für alle Wahlkämpfer<br />

zugänglich sein sollten. Dann<br />

aber bat die Dame Minkmar zu dessen<br />

Erstaunen auch noch um eine Handynummer<br />

– die Nummer jenes Handys,<br />

auf dem sie ihn gerade erreicht hatte.<br />

Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

48<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


So etwas ist ein Indiz für große Versäumnisse.<br />

Dafür, dass hier je<strong>der</strong> vor sich<br />

hin arbeitete. Dazu kam etwas, das ein<br />

Kundiger einen „Bandsalat im Brandt-<br />

Haus“ nennt. Bandsalat, das meint die<br />

wechselseitige Lähmung <strong>der</strong> drei bis vier<br />

Kraftzentren im Haus.<br />

Da sei zum einen <strong>der</strong> Vorsitzende<br />

Sigmar Gabriel, dessen Sprunghaftigkeit<br />

und Lust am Alleingang dem ganzen<br />

Haus den letzten Nerv rauben. Gabriel<br />

habe permanent neue Arbeitsaufträge<br />

vergeben, die ihn kurz danach schon<br />

nicht mehr interessierten. Dazu das<br />

„Lauerverhältnis“ zur Generalsekretärin<br />

Andrea Nahles, die ihm so wenig über<br />

den Weg traut wie er ihr. Das Misstrauen<br />

führte dazu, dass sich die beiden nicht<br />

einmal auf einen Bundesgeschäftsführer<br />

einigen konnten. Diese Schlüsselposition<br />

ist seit Jahren unbesetzt. So zehrte Nahles<br />

ihre Kräfte erstens damit auf, dem<br />

Aktionismus des Vorsitzenden hinterherzuräumen,<br />

und zweitens, das Haus nach<br />

innen zu führen. Was eigentlich die Aufgabe<br />

des Bundesgeschäftsführers wäre.<br />

Das Durcheinan<strong>der</strong> verstärkte sich,<br />

weil Peer Steinbrück eigene Leute mit<br />

an Bord brachte. Sie wurden von <strong>der</strong><br />

Stammbesatzung teils wie Aussätzige behandelt,<br />

<strong>der</strong> Steinbrück-Berater Roman<br />

Maria Koidl war in Kürze erfolgreich vergrämt.<br />

In drei Lager zerfiel so das Haus.<br />

Als einzig wirkliche Macht im Wirrwarr<br />

erwies sich die Schatzmeisterin Barbara<br />

Hendricks. Sie habe in Wahrheit durch<br />

ihre Geldvergabe den Laden gesteuert,<br />

resümiert ein Zeuge die Ereignisse.<br />

Man müsse ins Gelingen verliebt<br />

sein, hat Gerhard Schrö<strong>der</strong> seiner Partei<br />

immer gesagt. Weil er ihr Wesen so genau<br />

kannte. Denn auf eine Art ist es mit<br />

<strong>der</strong> Zentrale <strong>der</strong> SPD wie mit ihrem ganzen<br />

Gestus: Sie leidet lieber, als dass sie<br />

sich ein Herz fasst, sich hinter dem Kanzlerkandidaten<br />

schart und ihn zum Wahlsieg<br />

trägt. Wenn die Generalsekretärin<br />

Andrea Nahles Ministerin wird, steht ihr<br />

Nachfolger vor einer Aufgabe in diesem<br />

Haus, so gewaltig wie <strong>der</strong> Bug, <strong>der</strong> durch<br />

die zwei Straßen von Berlin pflügt.<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE ist<br />

Chefredakteur von <strong>Cicero</strong>. Im Archiv hat<br />

er viele eigene Artikel über die chronische<br />

Misere <strong>der</strong> SPD­Zentrale gefunden<br />

FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… ob wir in einer Wohlfühldiktatur leben<br />

Neulich habe ich meinen ersten Yoga-Kurs gemacht. Ich finde<br />

Yoga super. Man lernt neue Muskeln kennen und Stellungen,<br />

die „Herabschauen<strong>der</strong> Hund“ o<strong>der</strong> „Krieger 2“ heißen. Leute,<br />

die Yoga machen, achten auf sich. Sie sagen Sätze wie „das tut mir<br />

gut“ o<strong>der</strong> „achte mal drauf, was dir guttut“. Hört man diese Sätze<br />

gehäuft, fragt man sich, ob sie symptomatisch sind für unser Leben in<br />

<strong>der</strong> Wohlfühldiktatur. Denn: Uns gut zu fühlen, ist oberstes Gebot.<br />

Ständig scannen wir unsere körperliche und seelische Verfassung.<br />

Haben wir ausreichend geschlafen? Haben wir genügend Vitamine zu<br />

uns genommen? Sind wir in unserer Mitte?<br />

Unser Gottesdienst ist die Fernsehwerbung vor den 19-Uhr-Nachrichten:<br />

nur Produkte zur Steigerung des Wohlbefindens. Vitamin-B-Shots<br />

für bessere Konzentration, linksdrehen<strong>der</strong> Milchsäurejoghurt<br />

für die Verdauung, Diätdrinks fürs Traumgewicht. „Das tut<br />

mir gut“ ist das Mantra unserer Zeit, die Überzeugung, dass es <strong>der</strong><br />

Welt gut geht, wenn es mir gut geht. Lei<strong>der</strong> ist das Gegenteil <strong>der</strong> Fall.<br />

Unser Leben ist gut, weil das an<strong>der</strong>er schlecht ist. Und wenn von<br />

diesen an<strong>der</strong>en welche hierherkommen, um ein besseres Leben zu<br />

finden, schicken wir sie heim o<strong>der</strong> lassen sie ertrinken, um sicherzustellen,<br />

dass unser Leben gut bleibt. Die Fixierung aufs eigene<br />

Wohlbefinden geht mit dem Verlust von Empathie einher. Wer mit <strong>der</strong><br />

existenziellen Frage beschäftigt ist, ob er nach 18 Uhr noch Rohkost<br />

essen kann („ich glaube, das tut mir gar nicht gut“), kann sich nicht<br />

noch darum kümmern, ob an<strong>der</strong>swo Leute sterben, sorry jetzt mal!<br />

Ich muss an einen Freund aus meiner Jugend denken. <strong>Der</strong> schlief<br />

auf einer Isomatte, ernährte sich absichtlich schlecht und führte<br />

seinem Körper gerne zweifelhafte Substanzen zu. Seine Philosophie<br />

war, dass man einem Organismus, um ihn gesund zu halten, etwas<br />

zumuten müsse. Betrachten wir unsere Gesellschaft als Organismus.<br />

Ab auf die Isomatte! Muten wir uns etwas zu! Vergessen wir das<br />

Tut-mir-gut-Mantra und fragen wir uns, was an<strong>der</strong>en guttun könnte!<br />

Ich mache übrigens weiter Yoga. So viel Bewegung kann unmöglich<br />

gut für mich sein.<br />

AMELIE FRIED ist Fernsehmo<strong>der</strong>atorin und Bestsellerautorin.<br />

Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />

sonst noch an Fragen aufwirft<br />

49<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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BERLINER REPUBLIK<br />

Essay<br />

MACHT UND<br />

KAMERA<br />

Aus den Erfahrungen<br />

mit <strong>der</strong> Stasi können<br />

wir eine Menge über<br />

die neue Datenbrille<br />

Google Glass lernen<br />

Von ROLAND JAHN<br />

Als ich das Volkspolizeiamt verließ,<br />

drückte jemand auf den<br />

Auslöser. Klick, es war, glaube<br />

ich, das erste heimliche Foto von mir.<br />

Ich merkte nichts.<br />

Damals, 1981, war ich Ende zwanzig.<br />

Die Stasi hatte mich auf die Volkspolizei<br />

bestellen lassen, um ein Reiseverbot<br />

auszusprechen. Helmut Schmidt<br />

besuchte die DDR, und Erich Honecker<br />

wollte ihn im mecklenburgischen<br />

Güstrow über den Weihnachtsmarkt<br />

führen. Geheimpolizisten traten als<br />

brave Bürger auf: eine heile Welt im Advent,<br />

die frei von allem Unkontrollierbaren<br />

sein sollte. Leute wie ich durften<br />

ihre Stadt nicht verlassen.<br />

Es war das erste Bild von vielen, die<br />

ich ab 1992 in den Stasiakten über mich<br />

gefunden habe. Viele Bil<strong>der</strong> zeigten mich<br />

in Momenten, in denen ich mich unbeobachtet<br />

fühlte. Es gab Aufnahmen aus<br />

<strong>der</strong> DDR und Aufnahmen aus Westberlin,<br />

wo ich nach <strong>der</strong> gewaltsamen Ausbürgerung<br />

seit 1983 lebte. Man denkt,<br />

die Stasi ist hinter einem, aber sie ist neben<br />

einem. Fotos von meiner Wohnung in<br />

Kreuzberg, Fotos vom Briefkasten, Fotos<br />

vom Treppenhaus. Es sind auf den ersten<br />

Blick banale Details, aber sie werden nicht<br />

grundlos festgehalten. Fotos von <strong>der</strong> Wohnungstür<br />

und, ja, auch Fotos vom Schulweg<br />

meiner Tochter. Mich durchzuckte es,<br />

als ich die Bil<strong>der</strong> das erste Mal sah.<br />

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<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Illustration: Leif Heanzo<br />

Ein Überwachungsapparat liebt Fotos,<br />

denn er will alle Menschen erkennen<br />

können. Ihre Anonymität zerstört<br />

<strong>der</strong> Apparat – durch Fotos. Er sortiert<br />

die Bil<strong>der</strong>, ordnet sie zu, er passt die Abgebildeten<br />

in seine Organigramme ein. In<br />

Vernehmungen legten Stasioffiziere gern<br />

Fotos auf den Tisch: Kennen Sie den?<br />

Welche Rolle spielt er? Wie ist das Beziehungsgeflecht<br />

um ihn herum?<br />

Die Stasi benutzte Kameras, die in<br />

Aktenkoffern versteckt waren. Sie stahl<br />

Fotos aus Wohnungen. Sie ließ Inoffizielle<br />

Mitarbeiter Fotos von ihren Freunden<br />

machen. Sie nutzte die emotionale<br />

Kraft von Bil<strong>der</strong>n, um Menschen zu beeindrucken,<br />

zu kompromittieren, um –<br />

so hieß es – sie zu zersetzen. Bil<strong>der</strong> zu<br />

sammeln, war <strong>der</strong> Stasi so wichtig wie<br />

Gespräche abzuhören, sie wurde nicht<br />

umsonst Horch und Guck genannt. Die<br />

Stasi-Unterlagen-Behörde verwahrt 1,7<br />

Millionen Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> DDR-Geheimpolizei:<br />

Fotos, Negative, Dias im Archiv.<br />

Damit keine Missverständnisse entstehen:<br />

Eine Kamera ist nichts Schlechtes.<br />

Technik ist keine Bedrohung, nur ihr<br />

Missbrauch. Das gilt auch für die neuen<br />

Kameras, die in jedem Mobiltelefon stecken.<br />

Und bald auch in Google Glass, jener<br />

Brille, in <strong>der</strong> Kamera, Mikrofon und<br />

ein Minirechner enthalten sind, <strong>der</strong> online<br />

geht. Auf einem kleinen Display<br />

im Sichtfeld zeigt die Brille ihrem Träger<br />

Informationen an. Eine Tastatur ist<br />

gar nicht nötig, via Spracherkennung<br />

nimmt <strong>der</strong> Minirechner Befehle entgegen:<br />

„Brille: Mach ein Foto!“<br />

Das ist Technik, die begeistert. Ein<br />

Ingenieur kann seinem Kollegen, <strong>der</strong> in<br />

100 Kilometern Entfernung arbeitet, mühelos<br />

zeigen, was er gerade sieht, und ihn<br />

um Rat fragen. Man darf diese Technik<br />

nicht aufhalten.<br />

Natürlich hätte die Stasi so eine<br />

Brille sehr gut einsetzen können: Ein<br />

Führungsoffizier verfolgt die Protestaktion,<br />

an <strong>der</strong> sein IM teilnimmt. <strong>Der</strong> IM<br />

wird in Echtzeit geführt, <strong>der</strong> Offizier gibt<br />

Anweisungen über einen kleinen Kopfhörer,<br />

<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Brille angeschlossen ist.<br />

Die gesammelten Informationen können<br />

umgehend analysiert und an an<strong>der</strong>e Stellen<br />

weitergegeben werden. Braucht <strong>der</strong><br />

IM ergänzende Informationen zu einem<br />

Menschen? Kein Problem. Ein hervorragendes<br />

Instrumentarium.<br />

Soll Google Glass deswegen schlecht<br />

sein? Die Frage ist, wer welche technischen<br />

Entwicklungen benutzen kann und<br />

zu welchem Zweck. Die Gefahren sind<br />

zahlreich. Man kann sich den kleinen<br />

Erpresser denken, <strong>der</strong> jemanden in einer<br />

unvorteilhaften Situation fotografiert<br />

und vom Opfer in einer schnellen Mail<br />

Geld verlangt. <strong>Der</strong> Gefilmte: identifiziert.<br />

<strong>Der</strong> Erpresser: anonymisiert.<br />

Man kann sich auch die Datensammler<br />

aus <strong>der</strong> Industrie vorstellen, die über<br />

die Brille das Konsumverhalten eines<br />

Menschen mitverfolgen und auswerten.<br />

O<strong>der</strong> den Staat, <strong>der</strong> seine Bürger vor Gefahren<br />

schützen möchte und sich <strong>der</strong> Träger<br />

von Datenbrillen bedient, als wären<br />

sie Masten mit Überwachungskameras.<br />

Die Gesellschaft braucht Regeln, damit<br />

die neue Technik die Rechte <strong>der</strong> Bürger<br />

nicht beschädigt. Technik auf niedrigem<br />

Niveau lässt sich vergleichsweise<br />

einfach regeln. Wir haben das Recht am<br />

eigenen Bild, durch das je<strong>der</strong> Mensch<br />

53<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


BERLINER REPUBLIK<br />

Essay<br />

DIE DATENBRILLE<br />

Das ist sie<br />

Google Glass ist ein winziger Computer, den man in einem<br />

Brillen gestell am Kopf trägt. Er enthält eine Digitalkamera, ein<br />

Mikrofon und ein kleines Display vor dem rechten Auge. Zunächst<br />

war ein Knochenleitungs­Lautsprecher vorgesehen, inzwischen<br />

wird auch eine Version mit einem Ohrstöpsel ausprobiert.<br />

Das kann sie<br />

Befehle geben die Nutzer über das Mikro mithilfe von Spracherkennung.<br />

O<strong>der</strong> sie wischen und tippen auf ein Berührfeld an <strong>der</strong><br />

rechten Schläfe. Mit <strong>der</strong> Brille kann man online gehen, freihändig<br />

Nachrichten austauschen, navigieren, Fotos und Videos aufnehmen<br />

o<strong>der</strong> Informationen abrufen. Brillengläser sollen integriert<br />

werden können.<br />

Das ist <strong>der</strong> Stand<br />

Google hat das Produkt 2012 vorgestellt. Bisher testen es<br />

10 000 ausgewählte Kunden, die zirka 1200 Euro zahlen mussten.<br />

Anfang November kündigte <strong>der</strong> Konzern an, das Testprogramm<br />

auszuweiten. Twitter und Facebook haben schon Apps entwickelt.<br />

Anfang 2014 soll die Datenbrille auf den Markt kommen, dann soll<br />

sie aber wesentlich weniger kosten als im Testprogramm.<br />

grundsätzlich selbst bestimmen kann,<br />

welche Aufnahmen von ihm veröffentlicht<br />

werden. Wir haben das Verbot unerlaubter<br />

Tonaufnahmen, das Persönlichkeitsrecht,<br />

den Datenschutz. Aber für die<br />

neue, verbundene und vernetzte Technik<br />

bedarf es neuer Regeln. Bil<strong>der</strong> und Töne,<br />

die aufgenommen werden, können schon<br />

jetzt sofort an an<strong>der</strong>e übertragen werden.<br />

Wir müssen darüber reden, welche Grenzen<br />

wir ziehen möchten.<br />

Die Frage ist dabei immer: Wie<br />

viel Freiheit darf eingeschränkt werden,<br />

um Freiheit zu schützen? Wie stark<br />

darf <strong>der</strong> Staat eingreifen in eine technische<br />

Entwicklung? Darf er den Bürgern<br />

verbieten, mit einer bestimmten Brille<br />

rumzulaufen?<br />

Die neue Dimension besteht darin,<br />

dass die Technik praktisch für jeden zugänglich<br />

sein wird. Schon jetzt nutzen<br />

Journalisten versteckte Kameras. Polizisten<br />

hören Verdächtige ab. <strong>Der</strong> Journalist<br />

mit <strong>der</strong> versteckten Kamera muss<br />

notfalls vor Gericht gute Gründe für sein<br />

Vorgehen haben, sonst wird es teuer. Auch<br />

für Abhöraktionen von Ermittlern gelten<br />

hohe Hürden. Das öffentliche Interesse<br />

wird gegen das Recht des Einzelnen abgewogen.<br />

Kann so eine Abwägung noch<br />

stattfinden, wenn Tausende o<strong>der</strong> Millionen<br />

Menschen eine Brillenkamera haben?<br />

Eine Option sind Freiräume. Schon<br />

jetzt steht am Eingang mancher Museen:<br />

„Bitte keine Foto- und Filmaufnahmen“.<br />

Das Urheberrecht an den Ausstellungsstücken<br />

soll gewahrt bleiben. Ist das Anliegen,<br />

für seine Umgebung ein Frem<strong>der</strong><br />

zu bleiben, nicht mindestens so wichtig?<br />

Wenn <strong>der</strong> Träger einer Datenbrille<br />

zur lebenden Überwachungskamera<br />

wird, wenn er sich irgendwann via Gesichtserkennung<br />

zu jedem Gesicht eine<br />

kleine Datensammlung aufs Display holt,<br />

wenn er seine ihm eigentlich fremde Umgebung<br />

einordnen, sortieren, durchleuchten<br />

kann – dann werden Schutzzonen nötig.<br />

Allerdings wünsche ich mir, dass die<br />

Schutzsuchenden in <strong>der</strong> Mehrzahl sind<br />

und nicht wie Raucher in den Raucherkabinen<br />

auf Flughäfen ausharren müssen.<br />

Fantasien? Wir müssen uns die Zukunft<br />

ausmalen, denn die Entwicklung<br />

verläuft rasant. Technisch ist mehr möglich,<br />

als wir uns vorstellen können. Dass<br />

die Mobiltelefone von Regierungschefs<br />

einfach abgehört werden, haben bis vor<br />

kurzem auch viele nicht geglaubt.<br />

Und die Stasi? Hätte sie den<br />

DDR-Bürgern Google Glass erlaubt? Nur<br />

wenn Datenbrillen etwas Normales gewesen<br />

wären, wäre <strong>der</strong> filmende IM nicht<br />

weiter aufgefallen. An<strong>der</strong>erseits: Die<br />

Macht des Geheimdiensts beruhte auch<br />

auf technischer Überlegenheit gegenüber<br />

<strong>der</strong> Bevölkerung. Dass ausgefeilte, neue<br />

Technik prinzipiell je<strong>der</strong> Bürger haben<br />

kann, ist eine demokratische Konstellation,<br />

die die Staatsmacht infrage stellt.<br />

Technik hat mir geholfen im Kampf<br />

gegen die Diktatur. Ich habe die Stasileute<br />

in Jena heimlich fotografiert, als<br />

sie eine Gedenkplastik abtransportierten.<br />

Sie erinnerte an einen Freund, <strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> U-Haft umgekommen war. Ich<br />

stand in einem Altersheim am Fenster<br />

und fotografierte. Die Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Stasiaktion<br />

druckte <strong>der</strong> Spiegel.<br />

Später, von Westberlin aus, habe<br />

ich damals Kameras in die DDR eingeschmuggelt.<br />

Sie waren groß und schwer,<br />

VHS-Standard; Diplomaten und akkreditierte<br />

Journalisten brachten sie rüber.<br />

Freunde drehten Bil<strong>der</strong> von Protestaktionen.<br />

Am 9. Oktober 1989 demonstrierten<br />

Bürger in Leipzig gegen das Regime.<br />

Die Aufnahmen mit <strong>der</strong> eingeschmuggelten<br />

Kamera brachte ein Korrespondent<br />

in <strong>der</strong> Unterhose in den Westen. Mit einer<br />

Datenbrille hätten es meine Freunde<br />

leichter gehabt.<br />

ROLAND JAHN ist Bundesbeauftragter<br />

für die Unterlagen <strong>der</strong> Staatssicherheit <strong>der</strong><br />

DDR. Vor ihm leiteten erst Joachim Gauck<br />

und dann Marianne Birthler die Behörde<br />

Fotos: Google Glass<br />

54<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


WELTBÜHNE<br />

„ Ich glaube nicht,<br />

dass die<br />

diplomatischen Folgen,<br />

zumindest soweit<br />

bislang übersehbar,<br />

beson<strong>der</strong>s groß<br />

sein werden “<br />

Die Einschätzung von Barack Obamas Sicherheitsberaterin Susan Rice<br />

unmittelbar nach den ersten Enthüllungen von Edward Snowden, Seite 58<br />

55<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

KOKETT UND KNALLHART<br />

James Clapper, Chef <strong>der</strong> 16 amerikanischen Geheimdienste, hält das Ausspähen von<br />

Freunden für das Normalste <strong>der</strong> Welt und wun<strong>der</strong>t sich, dass die an<strong>der</strong>en sich wun<strong>der</strong>n<br />

Von WILLIAM DROZDIAK<br />

Foto: Tom Williams/CQ Roll Call/Getty Images<br />

<strong>Der</strong> Mann inmitten des Sturmes um<br />

die NSA-Affäre sieht nicht aus,<br />

wie man sich einen mysteriösen<br />

Geheimdienstchef vorstellen mag. James<br />

Clapper ist ein glatzköpfiger, 72 Jahre alter,<br />

pensionierter Luftwaffengeneral. Er<br />

selbst sagt über sich: „Ich bin zu alt für<br />

dieses Amt, verdammt“, und da kokettiert<br />

er natürlich. So direkt ist <strong>der</strong> hochdekorierte<br />

Ex-Militär allerdings selten.<br />

Meist spricht er so verdreht, dass seine<br />

Zuhörer Schwierigkeiten haben, irgendeinen<br />

Sinn darin zu erkennen. Für einen<br />

nationalen Geheimdienstdirektor, <strong>der</strong> für<br />

die 16 US-Dienste verantwortlich und<br />

Obamas wichtigster Geheimdienstberater<br />

ist, kann es durchaus sinnvoll sein,<br />

solche Verwirrung zu stiften.<br />

Als Clapper nun vor dem Geheimdienstausschuss<br />

des Repräsentantenhauses<br />

erscheinen musste, um den Abgeordneten<br />

zu erklären, warum die USA<br />

Telefongespräche <strong>der</strong> deutschen Kanzlerin<br />

und an<strong>der</strong>er Regierungschefs verbündeter<br />

Staaten abgehört hätten, zeigte<br />

er eine weitere Facette seines Wesens:<br />

Grantelnd ließ er die Abgeordneten wissen,<br />

dass er nicht verstehe, warum sich<br />

darüber überhaupt jemand aufrege. Es<br />

sei doch schließlich eine <strong>der</strong> Kernaufgaben<br />

von Geheimdiensten, „die Absichten<br />

ausländischer Regierungen zu<br />

ergründen“. Daran habe sich, seit er<br />

vor 50 Jahren seine Laufbahn begonnen<br />

habe, nichts geän<strong>der</strong>t. Die Aufregungen<br />

und Überraschungen ausländischer<br />

Regierungen haben ihn daher an<br />

eine Filmszene aus „Casa blanca“ erinnert:<br />

<strong>Der</strong> französische Polizeichef spielt<br />

den Schockierten, dass in Rick’s Cafe<br />

Glücksspiele stattfinden, obwohl er dafür<br />

Bestechungsgel<strong>der</strong> kassiert. Da war<br />

er wie<strong>der</strong>, <strong>der</strong> joviale Geheimdienstchef,<br />

<strong>der</strong> immer eine Metapher parat<br />

hat – und sei sie noch so schräg.<br />

<strong>Der</strong> hochdekorierte Vietnamveteran,<br />

<strong>der</strong> sich nicht fürchtet anzuecken, ist<br />

auch <strong>der</strong> Meinung, dass Spionage gegen<br />

befreundete Regierungschefs nicht<br />

weiter erwähnenswert sei. Daher habe<br />

er es auch nicht für nötig erachtet, den<br />

Kongress o<strong>der</strong> gar das Weiße Haus zu<br />

informieren. Es sei schließlich ein „wesentlicher<br />

Grundsatz“, so viele vertrauliche<br />

Informationen über ausländische<br />

Staats- und Regierungschefs wie möglich<br />

zu sammeln, um ihre Politik und<br />

ihre Absichten zu verstehen. Als er gefragt<br />

wurde, ob Verbündete in gleicher<br />

Weise Informationen über amerikanische<br />

Politiker sammeln würden, rief er mit Inbrunst:<br />

„Absolut!“<br />

DIE IRONIE DER GESCHICHTE liegt darin,<br />

dass James Clapper mehr Licht in<br />

die Aktivitäten amerikanischer Geheimdienste<br />

bringen wollte. Nachdem er drei<br />

Jahre unter zwei Präsidenten, die unterschiedlicher<br />

nicht sein könnten – George<br />

W. Bush und Barack Obama –, Chef<br />

<strong>der</strong> Aufklärung im Pentagon war, zögerte<br />

er, den Posten des Geheimdienstdirektors<br />

anzunehmen. <strong>Der</strong> Job galt als<br />

bürokratischer Albtraum. Die Behörde<br />

hatte in nur fünf Jahren drei Direktoren<br />

verschlissen. <strong>Der</strong> Posten war 2004<br />

von George W. Bush geschaffen worden,<br />

um die Grabenkämpfe innerhalb<br />

<strong>der</strong> amerikanischen Geheimdienste zu<br />

beenden. Es waren vor allem auch die<br />

Rivalitäten unter den einzelnen Geheimdiensten,<br />

die verhin<strong>der</strong>t hatten, dass die<br />

Attentate vom 11. September 2001 aufgedeckt<br />

wurden.<br />

Seit Clapper 2010 sein Amt angetreten<br />

hat, hat er den US-Geheimdiensten<br />

eine bessere Zusammenarbeit verordnet.<br />

Er hat Bürokratie abgebaut. Er hat die<br />

Geldverschwendung <strong>der</strong> militärischen<br />

Geheimdienste gestoppt. Und er hat die<br />

NSA zu größerer Transparenz verpflichtet.<br />

Letzteres wohl nur mit begrenztem<br />

Erfolg wie die Enthüllungen von Edward<br />

Snowden offenbaren.<br />

Nun hat Clapper angekündigt, einen<br />

Direktor für Bürgerrechte und Datenschutz<br />

einzustellen, <strong>der</strong> die Maßnahmen<br />

<strong>der</strong> Geheimdienste überwachen soll.<br />

Gleichzeitig warnte er den Kongress,<br />

überzureagieren und die Geheimdienste<br />

so einzuschränken, dass sie dabei behin<strong>der</strong>t<br />

würden, künftige Terroranschläge<br />

und an<strong>der</strong>e Bedrohungen für Amerikas<br />

Sicherheit zu verhin<strong>der</strong>n. Es sei „unrealistisch“<br />

zu glauben, <strong>der</strong> Kongress und<br />

das Weiße Haus könnten „bis ins letzte<br />

Detail darüber aufgeklärt werden, wie<br />

genau <strong>der</strong> Geheimdienst durch seinen<br />

,Sammelapparat‘ an eine bestimmte Information<br />

gelangt“ wäre.<br />

Es scheint, als müsste Clapper, <strong>der</strong><br />

seine Militärkarriere als einfacher Schütze<br />

im Marinecorp begann und als Generalleutnant<br />

<strong>der</strong> US Air Force beendete, nun<br />

die Tür zu Amerikas Geheimdienstwelt<br />

weiter öffnen, als ihm lieb ist. Präsident<br />

Barack Obama hat eine Überprüfung <strong>der</strong><br />

Arbeit <strong>der</strong> Geheimdienste im In- und Ausland<br />

angeordnet und wird weitreichende<br />

Reformen erwägen.<br />

Sogar konservative Kongressabgeordnete<br />

wie <strong>der</strong> Republikaner James<br />

Sensenbrenner, einer <strong>der</strong> Väter des Patriot<br />

Act, auf dessen Grundlage die Telefonate<br />

von Amerikanern abgehört werden,<br />

sagt, dass nun etwas geschehen müsse, um<br />

den Missbrauch des Gesetzes zu beenden.<br />

„Irgendwann ist die Balance zwischen Sicherheit<br />

und dem Schutz <strong>der</strong> Privatsphäre<br />

aus dem Gleichgewicht geraten.“<br />

WILLIAM DROZDIAK ist Präsident<br />

des American Council on Germany und<br />

war Chefkorrespondent <strong>der</strong> Washington<br />

Post in Europa<br />

57<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

EIN ZÄHER BROCKEN<br />

Susan Rice attestiert Politikern gerne mal, sie redeten Mist. Obamas Sicherheitsberaterin<br />

steht nach ihrer Einschätzung <strong>der</strong> NSA-Affäre allerdings selbst nicht beson<strong>der</strong>s gut da<br />

Von ANSGAR GRAW<br />

Zur Prophetin taugt Susan Rice<br />

kaum. „Ich glaube nicht“, sagte<br />

sie etwa Ende Juni, als sich Edward<br />

Snowden gerade nach Hongkong<br />

abgesetzt und die peinlichen Enthüllungen<br />

über Top-Secret-Programme des Geheimdiensts<br />

NSA begonnen hatte, „dass<br />

die diplomatischen Folgen, zumindest soweit<br />

bislang übersehbar, beson<strong>der</strong>s groß<br />

sein werden.“<br />

Inzwischen haben die Aktivitäten<br />

<strong>der</strong> National Security Agency zu heftigen<br />

Verwerfungen geführt zwischen<br />

Washington, Berlin und etlichen weiteren<br />

Hauptstädten in Europa wie Südamerika.<br />

O<strong>der</strong> diese Szene: „Sie werden uns<br />

nicht in Ihren beschissenen Krieg hineinziehen“,<br />

herrschte die damalige UN-Botschafterin<br />

<strong>der</strong> Vereinigten Staaten im<br />

März 2011 ihren französischen Amtskollegen<br />

Gérard Araud an, <strong>der</strong> für die Verhängung<br />

einer Flugverbotszone in Libyen<br />

warb. Nur zwei Tage später verfügte <strong>der</strong><br />

UN-Sicherheitsrat die Flugverbotszone,<br />

und die USA, Rice allen voran, waren<br />

die Wortführer dieser 180-Grad-Wende.<br />

Anfang Juni verkündete Barack<br />

Obama die Berufung von Rice zu seiner<br />

Nationalen Sicherheitsberaterin. Die<br />

Aufsicht über den Geheimdienst fällt<br />

zwar nicht in ihre Zuständigkeit. Aber<br />

als Botschafterin profitierte sie offenkundig<br />

von den fleißigen NSA-Agenten.<br />

<strong>Der</strong>en Lauschangriffe „halfen mir, die<br />

Wahrheit zu erfahren“, lobte Rice in einem<br />

internen Vermerk im August 2010,<br />

„über die Haltung an<strong>der</strong>er Län<strong>der</strong> zu<br />

Sanktionen (gegen den Iran) und verschafften<br />

uns in den Verhandlungen immer<br />

einen Schritt Vorsprung“.<br />

Als Sicherheitsberaterin bekam Rice<br />

die erste Woge des Berliner Unmuts über<br />

den Lauschangriff auf Angela Merkel ab.<br />

Ihr Pendant im Kanzleramt, Christoph<br />

Heusgen, beschwerte sich im Namen<br />

seiner Chefin bei Rice. Die bestätigte<br />

in dem Telefonat die Abhörmaßnahmen<br />

nicht, versicherte aber, wenn es sie gegeben<br />

habe, sei dies dem Präsidenten nicht<br />

bekannt gewesen. Das muss nicht logisch<br />

klingen, solange es den Spielregeln <strong>der</strong><br />

Diplomatie genügt.<br />

Rice, die am 17. November 49 Jahre<br />

alt wurde, ist eine erfahrene Regierungsmanagerin.<br />

Schon unter Bill Clinton arbeitete<br />

sie im Weißen Haus. Rice ist zudem<br />

ein „tough cookie“, wie die Amerikaner<br />

raue Typen nennen. Dem russischen<br />

UN-Botschafter Witali Tschurkin bescheinigte<br />

sie, er rede „Bullshit“, und dem inzwischen<br />

verstorbenen US-Spitzendiplomaten<br />

Richard Holbrooke zeigte sie den<br />

Mittelfinger. Vor allem aber gehört die<br />

Afro amerikanerin zu den unbeirrt loyalen<br />

„Obamans“, wie die intellektuelle Ritterkaste<br />

des Präsidenten genannt wird.<br />

DIE VERHEIRATETE MUTTER eines 16<br />

Jahre alten Jungen und eines zehnjährigen<br />

Mädchens bekleidet im Weißen Haus<br />

eine Schlüsselstellung mit viel persönlicher<br />

Macht – nicht im Sinne hierarchischer<br />

Durchgriffsrechte auf Pentagon,<br />

State Department o<strong>der</strong> Geheimdienste,<br />

son<strong>der</strong>n durch den regelmäßigen Kontakt<br />

mit dem Präsidenten.<br />

Dabei schien die Karriere <strong>der</strong> promovierten<br />

Historikerin und Politikwissenschaftlerin,<br />

die in Stanford und Oxford<br />

studierte, vor einem Jahr gescheitert.<br />

Vier Amerikaner, darunter Botschafter<br />

Christopher Stevens, waren im September<br />

2011 bei einem Angriff auf eine Außenstelle<br />

<strong>der</strong> US-Botschaft im libyschen<br />

Bengasi getötet worden. Obwohl <strong>der</strong> terroristische<br />

Hintergrund erkennbar war,<br />

hielt sich Rice in TV-Diskussionen an<br />

eine voreilige Sprachregelung des Weißen<br />

Hauses, es habe sich um „spontane<br />

Gewalt“ gehandelt.<br />

Die Republikaner schäumten, Rice<br />

habe unmittelbar vor <strong>der</strong> Präsidentenwahl<br />

die Tat zu bagatellisieren versucht.<br />

Sie kündigten die Blockade <strong>der</strong> Personalie<br />

an, als Obama Rice zur Nachfolgerin<br />

seiner ersten Außenministerin Hillary<br />

Clinton machen wollte. Die Attackierte<br />

zog ihre Bewerbung schließlich zurück.<br />

Als Sicherheitsberaterin schien Rice<br />

für Obama mitunter das zu werden, was<br />

die Neocons für George W. Bush waren,<br />

eine Anstifterin zu militärischen Abenteuern:<br />

Während jene Waffengänge for<strong>der</strong>ten,<br />

um die Demokratie zu verbreiten,<br />

werde sie humanitäre Interventionen verlangen,<br />

das war die Erwartung. Motiviert<br />

werde sie dabei durch die traumatische<br />

Erfahrung des Genozids in Ruanda 1994.<br />

Sie ist selbst davon überzeugt, dass sie damals<br />

als junge Beraterin Bill Clintons zu<br />

lange passiv blieb. In <strong>der</strong> Libyen-Frage<br />

schien Rice dieses Image zu bestätigen,<br />

bis sie – zusammen mit Hillary Clinton<br />

und <strong>der</strong> heutigen UN-Botschafterin Samantha<br />

Power – den zunächst interventionsunwilligen<br />

Präsidenten zum Eingreifen<br />

überredete.<br />

Doch <strong>der</strong> Bürgerkrieg in Syrien<br />

lässt Rice nicht laut Militäraktionen zum<br />

Schutz <strong>der</strong> Zivilbevölkerung for<strong>der</strong>n. Unlängst<br />

signalisierte sie gar, Washing ton<br />

wolle sein Engagement im Nahen Osten<br />

reduzieren: „Wir können uns nicht rund<br />

um die Uhr mit einer einzigen Region beschäftigen,<br />

so wichtig sie auch sein mag.“<br />

Ist das ihre Überzeugung o<strong>der</strong> die<br />

des Präsidenten? Einem Journalisten<br />

beschied Rice: „Kein Nationaler Sicherheitsberater,<br />

<strong>der</strong> sein Geld wert ist, hat<br />

eine persönliche Agenda.“<br />

ANSGAR GRAW, Welt­Korrespondent in<br />

Washington, beneidet Rice nicht, die als<br />

Botschafterin noch NSA­Lauschaktionen<br />

lobte, die sie jetzt erklären muss<br />

Foto: Mike McGregor/Contour by Getty Images<br />

58<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

DER COWBOY<br />

Für den Schutz Amerikas ist ihm jedes Mittel recht – selbst wenn es zu politischen<br />

Verwerfungen führt. Die Empörung kann NSA-Chef Keith Alexan<strong>der</strong> nicht verstehen<br />

Von SHANE HARRIS<br />

Am 1. August 2005 trat Keith<br />

Alexan<strong>der</strong> seinen Dienst als<br />

16. Direktor <strong>der</strong> National Security<br />

Agency an. Er war hochdekorierter<br />

Offizier des Militärgeheimdiensts mit<br />

einem West-Point-Abschluss in Systemtechnik<br />

und Physik, Leiter von Geheimdienstoperationen<br />

in Kampfeinsätzen<br />

und ehemaliger Direktor eines Militärgeheimdiensts.<br />

Ein Soldat, Spion – und<br />

totaler Computerfreak. Viele glaubten,<br />

Alexan<strong>der</strong> sei perfekt für seine Aufgabe.<br />

Nur einer nicht: sein Amtsvorgänger.<br />

General Michael Hayden hatte die<br />

NSA seit 1999 geleitet, also auch, als mit<br />

den Anschlägen vom 11. September eine<br />

neue Ära begann, in <strong>der</strong> die global arbeitende<br />

Agentur sich immer mehr auf<br />

Lausch angriffe auf Amerikaner konzentrierte.<br />

Hayden bewegte sich dabei auch<br />

in Bereichen, die kaum mehr vom Recht<br />

gedeckt waren o<strong>der</strong> die leitende Regierungsbeamte<br />

sogar als Verstoß gegen die<br />

Verfassung betrachteten. Aber ausgerechnet<br />

er machte sich Sorgen, dass Alexan<strong>der</strong><br />

keinen Sinn für die juristischen Komplexitäten<br />

seines Amtes haben würde.<br />

„Alexan<strong>der</strong> hatte etwas Cowboyhaftes<br />

– nach dem Motto: ‚Lasst uns nicht<br />

an das Gesetz denken, son<strong>der</strong>n einfach<br />

unseren Job machen‘“, sagt ein früherer<br />

Geheimdienstmitarbeiter. „Hayden fand<br />

das äußerst problematisch.“<br />

Wie problematisch, zeigte sich erstmals<br />

kurz nach 9/11. Alexan<strong>der</strong>, damals<br />

Chef des Militärischen Geheim- und Sicherheitsdiensts<br />

in Fort Belvoir, Virginia,<br />

bestand darauf, bislang unausgewertetes<br />

Rohmaterial über Terrorverdächtige von<br />

<strong>der</strong> NSA zu erhalten. Er hatte mo<strong>der</strong>nste<br />

Analyse-Software zur Datengewinnung<br />

entwickelt und wollte damit das NSA-Datenmaterial<br />

nach Terroristen durchforsten,<br />

die weitere Anschläge auf die USA<br />

planen könnten.<br />

Rechtlich gab es aber klare Vorgaben:<br />

Die NSA hatte abgefangene Gespräche,<br />

die auch US-Bürger betrafen,<br />

vor <strong>der</strong> Weitergabe an an<strong>der</strong>e Agenturen<br />

zunächst zu „reinigen“. Alexan<strong>der</strong><br />

aber wollte, sagt ein ehemaliger Beamter,<br />

dass man die „Rohrleitungen etwas<br />

in seine Richtung biegt“, sodass er den<br />

gesamten Fluss, sprich die Metadaten, digitale<br />

Aufzeichnungen von Telefonaten<br />

und E-Mail-Verkehr abschöpfen konnte.<br />

Dass die NSA auf dem Proze<strong>der</strong>e Auswertung<br />

vor Herausgabe bestand, passte<br />

ihm nicht. Er hatte das Gefühl, berichtet<br />

ein ehemaliger NSA-Mitarbeiter, dass<br />

die Daten oft erst zur Verfügung standen,<br />

wenn sie nichts mehr nützen.<br />

AN ALEXANDERS SAMMELWUT hat sich<br />

bis heute nichts geän<strong>der</strong>t. Um den nächsten<br />

Terroranschlag verhin<strong>der</strong>n zu können,<br />

glaubt er, ganze Kommunikationsnetzwerke<br />

überblicken zu müssen. Er<br />

will den ganzen Heuhaufen, um die eine<br />

Nadel zu finden. Diese Strategie ist für<br />

ihn aufgegangen. Er ist <strong>der</strong> am längsten<br />

amtierende Direktor in <strong>der</strong> Geschichte<br />

<strong>der</strong> NSA, und er steht heute an <strong>der</strong> Spitze<br />

eines Überwachungsimperiums. Neben<br />

<strong>der</strong> Leitung <strong>der</strong> NSA übernahm er 2010<br />

auch noch das neu geschaffene Cyber<br />

Command. Damit ist er auch verantwortlich<br />

für die Abwehr von Angriffen auf<br />

das militärische Computernetzwerk und<br />

den Einsatz neu ausgebildeter „Cyberkrieger“,<br />

die in die gegnerischen Netzwerke<br />

eindringen sollten.<br />

Die NSA war ein Datenkrake, schon<br />

bevor Alexan<strong>der</strong> ihr Direktor wurde.<br />

Aber unter seiner Führung nahmen <strong>der</strong>en<br />

Aktivitäten Ausmaße an, die jenseits dessen<br />

lagen, was seine Amtsvorgänger je<br />

in Betracht gezogen hätten. 2007 wurde<br />

das Prism-Programm zur Gewinnung<br />

von Informationen von Internet- und<br />

Technologieunternehmen gestartet. Die<br />

NSA erhält Zugang zu den Rohdaten von<br />

Unternehmen, inklusive E-Mails und<br />

Nachrichten aus den sozialen <strong>Medien</strong>.<br />

Analysten durchforsten sie nach Hinweisen<br />

auf Terrornetzwerke o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e geheimdienstlich<br />

relevante Themen. Einige<br />

<strong>der</strong> größten IT-Unternehmen wie Google,<br />

Microsoft, Facebook o<strong>der</strong> Apple versorgen<br />

die NSA mit Daten – aber an<strong>der</strong>s als<br />

unter Hayden haben sie keine rechtliche<br />

Handhabe mehr, sich dagegen zu wehren.<br />

Das Prism-Programm ist rechtlich<br />

abgesichert und erlaubt es <strong>der</strong> Behörde,<br />

Daten in großem Umfang von IT-Unternehmen<br />

einzufor<strong>der</strong>n.<br />

Nach Schätzungen <strong>der</strong> NSA werden<br />

1,6 Prozent aller Internetdaten über<br />

ihre Systeme umgeleitet – das ist eine um<br />

50 Prozent größere Datenmenge als jene,<br />

die Google in <strong>der</strong> gleichen Zeit verarbeitet.<br />

Während des Irakkriegs entwickelte<br />

Alexan<strong>der</strong> Instrumente für eine Echtzeitanalyse,<br />

die darauf abzielte, jedes<br />

Telefongespräch, jede Mail o<strong>der</strong> SMS im<br />

Land für die Suche nach Aufständischen<br />

zu nutzen. Manche Militär- und Geheimdienstmitarbeiter<br />

behaupten, dass<br />

sie dadurch wertvolle Einblicke gewinnen<br />

konnten, die dazu beitrugen, die Situation<br />

im Irak wesentlich zum Vorteil<br />

<strong>der</strong> Amerikaner zu wenden. Auch dieses<br />

Programm war in seinem Ausmaß und<br />

Umfang beispiellos. Als Chef des Cyber<br />

Command hat Alexan<strong>der</strong> dieses Konzept<br />

gewissermaßen vom Irak auf eine globale<br />

Ebene übertragen.<br />

Das Ergebnis ist: Nie zuvor war die<br />

NSA so mächtig und allgegenwärtig wie<br />

heute. Aber auch politisch gefährdet.<br />

Die gleiche Philosophie, die Alexan<strong>der</strong><br />

groß gemacht hat, nämlich so viele Daten<br />

von so vielen Quellen wie möglich zu<br />

erhalten, könnte ihn nun zu Fall bringen.<br />

Zum ersten Mal und für ihn ganz und<br />

Text: © 2013, Foreign Policy; Foto: Win McNamee/Getty Images<br />

60<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

<strong>Der</strong> Chef des<br />

Geheimdiensts<br />

liebt Billard, Golf<br />

und „Bejeweled<br />

Blitz“, ein<br />

Puzzlespiel, bei<br />

dem er jedes<br />

Mal eine Million<br />

Punkte erreicht<br />

gar ungewöhnlich hat Alexan<strong>der</strong> seine<br />

einst geheimen Programme öffentlich zu<br />

rechtfertigen.<br />

Will er sein Reich bewahren, muss<br />

er zur größten Charmeoffensive seiner<br />

Karriere ansetzen. Zu seinem Glück hat<br />

Alexan<strong>der</strong> nicht nur ein technologisches<br />

Know-how, son<strong>der</strong>n auch in ein politisches<br />

Netzwerk investiert.<br />

Alexan<strong>der</strong>, 61, gilt als bescheiden<br />

und umgänglich. <strong>Der</strong> vierfache Vater<br />

schätzt eher abgestandene Witze, spielt<br />

gerne Billard, Golf und „Bejeweled Blitz“,<br />

ein Puzzlespiel mit Suchtpotenzial, bei<br />

dem er, so erzählt es Alexan<strong>der</strong> selbst,<br />

jedes Mal eine Million Punkte erreicht.<br />

IM WASHINGTONER POLITDICKICHT ist<br />

er einer <strong>der</strong> Ausgebufftesten. Um den Posten<br />

als NSA-Chef zu bekommen, machte<br />

er sich die höchste Pentagon-Ebene zum<br />

Verbündeten – inklusive des damaligen<br />

Verteidigungsministers Donald Rumsfeld,<br />

<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um Hayden misstrauisch unterstellte,<br />

er habe die NSA <strong>der</strong> Kontrolle<br />

durch das Pentagon zu entziehen versucht.<br />

Schon als Chef des Army’s Intelligence<br />

and Security Command hatte<br />

Alexan<strong>der</strong> viele seiner zukünftigen Alliierten<br />

in sein Hauptquartier eingeladen,<br />

das so genannte Information Dominance<br />

Center. Er hatte es nach dem Vorbild<br />

<strong>der</strong> Kommandobrücke von „Raumschiff<br />

Enterprise“ gestalten lassen, inklusive<br />

Chromverkleidung, einem riesigen<br />

Bildschirm gegenüber dem Le<strong>der</strong>sessel<br />

des Captains und Türen, die sich mit<br />

demselben zischenden Geräusch öffneten<br />

wie in <strong>der</strong> Serie. Seine Besucher liebten<br />

es, im Kommandosessel Platz zu nehmen,<br />

sich ein wenig wie Jean Luc Picard zu<br />

fühlen und sich die beeindruckende technische<br />

Ausrüstung vorführen zu lassen.<br />

Die NSA wurde geschaffen, um<br />

„klassische Aufgaben“ eines Geheimdiensts<br />

zu erfüllen. Sich zum Wächter<br />

<strong>der</strong> amerikanischen Wirtschaft aufzuschwingen,<br />

war nicht vorgesehen. Aber<br />

es ist nicht zu übersehen, dass es eine<br />

radikale Wende in diese Richtung gibt –<br />

und sie wäre typisch für Alexan<strong>der</strong>s<br />

Karriere. Unter seiner Führung hat <strong>der</strong><br />

Dienst seinen Einflussbereich in bisher<br />

ungekanntem Maß in die Privatwirtschaft<br />

ausgeweitet.<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> Defense-Industrial-Base-Initiative<br />

versorgt die NSA Unternehmen<br />

mit geheimdienstlichen Erkenntnissen<br />

über Cyberbedrohungen.<br />

Als Gegenleistung berichten die Unternehmen<br />

darüber, was sie in ihren Netzwerken<br />

beobachten. Pentagon-Beamten<br />

zufolge konnten durch dieses Programm<br />

tatsächlich einige Versuche von Cyberspionage<br />

gestoppt werden. Viele Unternehmer<br />

hingegen glauben, dass es<br />

Alexan<strong>der</strong> nicht darum ging, Informationen<br />

<strong>der</strong> NSA über Hacker weiterzugeben.<br />

Son<strong>der</strong>n darum, Informationen von<br />

den Unternehmen, seinen neuen digitalen<br />

Spähern, zu bekommen.<br />

Dieser Schritt war Alexan<strong>der</strong> jedoch<br />

nicht groß genug. Er wollte „eine<br />

Mauer um an<strong>der</strong>e sensible Einrichtungen<br />

in Amerika mithilfe einer Überwachung<br />

<strong>der</strong> Finanzinstitute und <strong>der</strong>en<br />

Netzwerke errichten“, so ein ehemaliger<br />

Beamter. Dieses Programm sollte<br />

in je<strong>der</strong> Bank an <strong>der</strong> Wall Street laufen.<br />

Aus rechtlichen Gründen wurde es allerdings<br />

nie vollständig umgesetzt. Denn<br />

hätte ein Unternehmen die Installation<br />

von Überwachungstechnologien erlaubt,<br />

hätte ein Gericht konstatieren können,<br />

dass es im Dienst <strong>der</strong> Regierung arbeitet.<br />

Wäre diese Überwachung ohne richterlichen<br />

Bescheid erfolgt, dann hätte dieses<br />

Unternehmen wegen <strong>der</strong> Verletzung<br />

des Vierten Verfassungszusatzes belangt<br />

werden können. „Überwachung ohne<br />

richterliche Anordnung kann eine Verletzung<br />

<strong>der</strong> Verfassung sein, gleich, ob<br />

dies durch die NSA, Google o<strong>der</strong> Goldman<br />

Sachs geschieht“, sagt <strong>der</strong> Beamte.<br />

„Hier gibt es ganz feine rechtliche Trennlinien,<br />

die die NSA aber oft nicht verstanden<br />

hat. Alexan<strong>der</strong> hat sich um die<br />

Frage einer möglichen Verletzung dieses<br />

Verfassungszusatzes nie geschert.“<br />

AUS DER VERBINDUNG seiner Behörde<br />

mit <strong>der</strong> Wirtschaft soll Alexan<strong>der</strong> immer<br />

mehr Kontrolle zuwachsen. Ohne<br />

Frage: Die NSA kann kaum das gesamte<br />

Internet selbst überwachen und braucht<br />

deshalb Informationen von Unternehmen.<br />

Doch sind Unternehmen, begann<br />

Alexan<strong>der</strong> sich zu fragen, wirklich in <strong>der</strong><br />

Lage, sich selbst zu verteidigen? „Wir beobachten<br />

immer mehr Aktivitäten in den<br />

Netzwerken“, sagte er jüngst während einer<br />

Sicherheitskonferenz in Kanada. „Ich<br />

fürchte, dass dies Ausmaße annimmt, die<br />

die Unternehmen nicht mehr allein bewältigen<br />

können und bei denen sie die<br />

Hilfe <strong>der</strong> Regierung benötigen.“<br />

Dass aber nun zum ersten Mal in<br />

Alexan<strong>der</strong>s Karriere Kongress und Öffentlichkeit<br />

Bedenken haben, Informationen<br />

mit <strong>der</strong> NSA zu teilen, irritiert ihn.<br />

Das tiefe Misstrauen, das <strong>der</strong> Behörde<br />

entgegengebracht wird, kann er nicht<br />

nachvollziehen. Geheimdienstler im Allgemeinen<br />

und Alexan<strong>der</strong> im Beson<strong>der</strong>en<br />

hätten oft ein Problem zu verstehen, wie<br />

wichtig es ist, dass ein Großteil <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

Vertrauen in sie hat, sagt ein<br />

ehemaliger Mitarbeiter Alexan<strong>der</strong>s. Er<br />

selbst sieht sich als ultimativen Verteidiger<br />

<strong>der</strong> Bürgerrechte; jemand, <strong>der</strong> einige<br />

ausspionieren muss, um alle zu schützen.<br />

Aber seine Glaubwürdigkeit ist schwer<br />

beschädigt. Selbst unter Alexan<strong>der</strong>s Kollegen<br />

schwindet das Vertrauen.<br />

„Man muss wohl nicht davon ausgehen,<br />

dass Keith sich während seines Mittagessens<br />

die aufgezeichneten Gespräche<br />

amerikanischer Bürger anhört“, sagt ein<br />

ehemaliger NSA-Mitarbeiter. „Aber in<br />

dieser Kontroverse zeigt er doch einige<br />

Naivität. Er denkt: ‚Was ist das Problem?<br />

Ich würde diese Macht niemals missbrauchen.<br />

Wir sind doch alle ehrenwerte<br />

Menschen.‘ Die NSA-Leute leben in ihrer<br />

eigenen Welt. Und Keith ist dafür ein<br />

perfektes Beispiel.“<br />

SHANE HARRIS recherchiert seit Jahren<br />

in den US­Geheimdiensten. Nachzulesen in<br />

seinem Buch: „The Watchers: The Rise Of<br />

America’s Surveillance State“<br />

62<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Vorstandssprecher <strong>der</strong> Deutschen Bank<br />

Alfred Herrhausen, Frankfurt 1989<br />

Fotograf: Roland Holschnei<strong>der</strong><br />

Journalismus für<br />

eine neue Generation.<br />

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12:00 Die Mittagsausgabe aus<br />

dem Newsroom in Düsseldorf<br />

20:00 Die Zeitung vom kommenden<br />

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WELTBÜHNE<br />

Spurensuche<br />

DER<br />

VERRÄTER<br />

Von THOMAS SCHULER<br />

Edward Snowden, Sohn einer braven Patriotenfamilie<br />

in Ellicott City an <strong>der</strong> US-Ostküste,<br />

<strong>der</strong> gegen die Geheimdienste einer Weltmacht antritt.<br />

Rekonstruktion eines Lebenswegs<br />

Illustration: Sebastian Haslauer<br />

64<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


© Foto Meyer: Antje Berghäuser; Schwennicke: Andrej Dallmann<br />

Am Ende die<br />

Revolution?<br />

Wie <strong>der</strong> Liberalismus<br />

überleben kann<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur Christoph<br />

Schwennicke im Gespräch mit Christian<br />

Lindner.<br />

Sonntag, 24. November 2013, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

24. November<br />

CHRISTIAN<br />

LINDNER<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

Berliner<br />

Ensemble<br />

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WELTBÜHNE<br />

Spurensuche<br />

Wenn jemand im Jahr 2009 die<br />

NSA gefragt hätte, ob ein<br />

Mann namens Edward Snowden,<br />

geboren am 21. Juni 1983, ein Sicherheitsrisiko<br />

ist, hätte sie nach einem<br />

Blick in ihre Daten vermutlich gesagt:<br />

Bullshit, <strong>der</strong> Junge hat sogar für die CIA<br />

gearbeitet, kein Problem.<br />

Wenn jemand zur selben Zeit die<br />

CIA gefragt hätte: Sagt mal, ist Edward<br />

Snowden, geboren am 21. Juni 1983, ein<br />

Sicherheitsrisiko? Dann hätte sie vermutlich<br />

gesagt: Verdammt, ja, <strong>der</strong> Typ<br />

wollte bei uns in Geheimdateien eindringen.<br />

Wir haben ihn gefeuert.<br />

Je<strong>der</strong> Thriller verlangt nach einem<br />

dramatischen Moment, nach einem<br />

Punkt, von dem aus alles hätte an<strong>der</strong>s<br />

laufen können. <strong>Der</strong> Punkt, an dem <strong>der</strong><br />

Held hätte gestoppt werden können. Bei<br />

Edward Snowden war dieser Moment<br />

2009 gekommen. Seit Mitte 2006 arbeitete<br />

er als Computerspezialist <strong>der</strong> CIA in<br />

Genf. Er war aber nicht nur für Computer<br />

zuständig, son<strong>der</strong>n als eine Art Hausmeister,<br />

auch für das Funktionieren <strong>der</strong><br />

Heizung. Einer seiner Chefs schrieb damals<br />

warnende Worte in seine Personalakte:<br />

Snowdens Verhalten gebe ihm Anlass<br />

zur Sorge. Er verdächtigte ihn, in<br />

geheime Computerdateien eindringen<br />

zu wollen, für die er keine Zugangserlaubnis<br />

besitze. Die CIA habe ihn entlassen<br />

und nach Hause geschickt, berichtete<br />

die New York Times und berief sich auf<br />

Geheimdienstmitarbeiter.<br />

Damit hätte Snowdens Karriere als<br />

Agent beendet sein können, und die Welt<br />

hätte nie von ihm und den Abhörmaßnahmen<br />

des Geheimdiensts National Security<br />

Agency erfahren. Doch weil Snowden<br />

nicht nur Genf, son<strong>der</strong>n auch die CIA<br />

verließ, wurde eine Untersuchung abgebrochen<br />

und seine Akte geschlossen. Die<br />

CIA führt Personalakten offenbar vollautomatisch.<br />

Deshalb wird eine solche<br />

persönliche Bemerkung nur im Ausnahmefall<br />

weitergegeben. Die NSA, bei <strong>der</strong><br />

Snowden dann in Japan über den privaten<br />

Dienstleister Dell und später über<br />

Booz Allen Hamilton in Hawaii anheuerte,<br />

erfuhr nichts davon. Die CIA gibt<br />

offenbar nur Auskunft, wenn sie explizit<br />

darum gebeten wird. Die NSA fragte<br />

aber nicht. So wurde die Warnung erst<br />

vier Jahre später gefunden, aus Sicht <strong>der</strong><br />

Behörden war es da schon zu spät.<br />

Wie konnte es passieren, dass ausgerechnet<br />

jenen Leuten, die alle überwachen,<br />

die entscheidende Information<br />

fehlt? Ihre Erklärung klingt banal.<br />

Die Warnung sei einfach „durch das<br />

Netz geschlüpft“, zitierte die New<br />

York Times anonyme Ermittler und<br />

Geheimdienstmitarbeiter.<br />

Durchs Netz geschlüpft – passt diese<br />

Beschreibung nicht auch auf Snowden<br />

selbst, auf sein Leben als Spion und<br />

als Enthüller? Snowden schlüpft ständig<br />

durchs Netz – nicht nur <strong>der</strong> Geheimdienste,<br />

auch <strong>der</strong> <strong>Medien</strong> und <strong>der</strong> Öffentlichkeit.<br />

Glenn Greenwald, <strong>der</strong> Snowden<br />

in Hongkong traf und seine Akten für den<br />

Londoner Guardian auswertet, nennt ihn<br />

einen Computernerd, einen, <strong>der</strong> im Netz<br />

lebt. Er taucht auf – und wie<strong>der</strong> ab. In den<br />

<strong>Medien</strong> ist er „<strong>der</strong> meistgesuchte Mann<br />

<strong>der</strong> Welt“. Wer ist er wirklich?<br />

Richtig scheint zu sein, dass sich in<br />

Genf <strong>der</strong> Geheimdienst und sein Hausmeister<br />

zu misstrauen begannen. Snowden<br />

konnte seine Arbeit nicht mehr mit<br />

seinem Gewissen vereinbaren: Im Sommer<br />

2007 kam die Jurastudentin Mavanee<br />

An<strong>der</strong>son aus Nashville für vier<br />

Monate als Praktikantin in die amerikanische<br />

UN-Vertretung nach Genf und<br />

lernte Snowden kennen. Sie durfte ihr<br />

Land bei Abrüstungsverhandlungen vertreten.<br />

Ihr wurde eine hohe Sicherheitsstufe<br />

zugeteilt. Nach eigenen Angaben in<br />

ihrer Vita durfte sie sogar an Besprechungen<br />

<strong>der</strong> Geheimdienste teilnehmen.<br />

An<strong>der</strong>sons Top-Sicherheitsstufe habe<br />

es Snowden ermöglicht, offen mit ihr über<br />

das zu reden, was ihn bewegte. Die beiden<br />

wurden Freunde, wie sie einem Fernsehsen<strong>der</strong><br />

im Rückblick erzählte. Sie bekam<br />

mit, wie ihn seine Arbeit mehr und mehr<br />

frustrierte. Snowden sprach mit ihr darüber,<br />

warum er immer mehr an Sinn und<br />

Berechtigung <strong>der</strong> CIA zweifle. Details <strong>der</strong><br />

Unterhaltungen wollte sie nicht verraten,<br />

um ihm nicht zu schaden. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> klug<br />

genug sei, um Zugang zu solchen Informationen<br />

zu erhalten, komme ins Grübeln,<br />

sagte sie. So verließ er die CIA.<br />

AM 1. JUNI 2013 trifft Snowden in Hongkong<br />

im Hotel Mira drei Journalisten, um<br />

ihnen Details über die Praktiken <strong>der</strong> NSA<br />

zu erzählen. Es hat Monate gedauert, den<br />

Kontakt aufzubauen, <strong>der</strong> nur verschlüsselt<br />

möglich war. Als Erkennungszeichen<br />

Illustration: Sebastian Haslauer<br />

66<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


„Ich möchte<br />

nicht in einer<br />

Welt leben,<br />

in <strong>der</strong> alles,<br />

was ich tue<br />

und sage,<br />

aufgezeichnet<br />

wird“<br />

Edward Snowden<br />

hält er einen Zauberwürfel in <strong>der</strong> Hand.<br />

Die Journalisten haben einen abgebrühten<br />

Aussteiger erwartet. Vor ihnen sitzt<br />

ein schmaler junger Mann mit einer<br />

Brille, die für sein Gesicht etwas zu groß<br />

ist. Er wirkt unbedarft. Aber das, was er<br />

erzählt, lässt keinen Zweifel zu, dass er<br />

weiß, worüber er berichtet. Er spricht ruhig<br />

und überlegt. Er sagt: „Sie haben ja<br />

keine Ahnung, was möglich ist. Das Ausmaß<br />

ist erschreckend. Wir können Software<br />

auf jeden Computer packen. Sobald<br />

jemand online geht, kann ich dessen<br />

Rechner identifizieren. Sie werden niemals<br />

sicher sein, egal, welchen Schutz Sie<br />

auch installieren.“<br />

Die Dokumentarfilmerin Laura<br />

Poitras packt unmittelbar nach dem ersten<br />

Aufeinan<strong>der</strong>treffen in Hongkong ihre<br />

Kamera aus und filmt Snowden tagelang.<br />

Für ihn war das zunächst eigenartig, wie<br />

er <strong>der</strong> New York Times in einem <strong>der</strong> wenigen<br />

Interviews, geführt über verschlüsselte<br />

E-Mails, sagte. „Normalerweise<br />

vermeiden Spione Kontakt mit Reportern.<br />

Als Quelle war ich eine Jungfrau.“<br />

An<strong>der</strong>erseits wollte er sich von Beginn<br />

an als Quelle <strong>der</strong> Enthüllungen outen,<br />

um glaubwürdig zu sein, und musste<br />

von den Journalisten zurückgehalten<br />

werden, wie Glenn Greenwald sagt. Sie<br />

baten ihn, mit dem Outing zu warten und<br />

erst über das System <strong>der</strong> Überwachung<br />

zu berichten, damit nicht von Beginn an<br />

Berichte über die Person Edward Snowden<br />

alle an<strong>der</strong>en Inhalte verdrängen.<br />

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Für alle, die es wissen wollen.<br />

Ist Krieg<br />

Fortschritt?<br />

ALS SNOWDEN AM 9. JUNI, einem Sonntagabend,<br />

schließlich an die Öffentlichkeit<br />

geht, sagt er dem Guardian zur Begründung:<br />

„Ich möchte nicht in einer<br />

Welt leben, in <strong>der</strong> alles, was ich tue und<br />

sage, aufgezeichnet wird.“ Im Video sagt<br />

er: „Als Systemadministrator bei den Geheimdiensten<br />

sieht man weit mehr als ein<br />

normaler Mitarbeiter. Irgendwann stellt<br />

man fest, dass man Rechtsbrüche gesehen<br />

hat, und will darüber reden. Aber<br />

je mehr man darüber redet, desto häufiger<br />

wird einem gesagt, dass es doch nicht<br />

so schlimm sei. Bis man an den Punkt<br />

kommt zu sagen, dass darüber die Öffentlichkeit<br />

zu entscheiden hat und nicht<br />

Angestellte <strong>der</strong> Regierung.“<br />

Seine Zweifel an <strong>der</strong> Rechtmäßigkeit<br />

und Berechtigung <strong>der</strong> Überwachung<br />

müssen sich allmählich entwickelt haben.<br />

»War! What is it good for? Absolutely<br />

nothing« – heißt es in einem legen dären<br />

Antikriegssong. Stimmt nicht, sagt Ian<br />

Morris. Seine umfassende Globalgeschichte<br />

enthüllt: Zu allen Zeiten hat<br />

Krieg Leben vernichtet – aber auch<br />

Innovationen gebracht, Gesellschaften<br />

erneuert, Frieden und Fortschritt vorangetrieben.<br />

Ist Krieg vielleicht sogar<br />

notwendig? Morris riskiert nicht nur<br />

eine provokante Frage, er kann sie auch<br />

beantworten.<br />

2013. 527 Seiten, gebunden. € 24,99<br />

Auch als E-Book erhältlich<br />

67<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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WELTBÜHNE<br />

Spurensuche<br />

Edition Nr. 9<br />

Strawalde<br />

Nebengekritzle<br />

2013<br />

Die Edition <strong>der</strong> Berliner Festspiele<br />

ist kostenlos im Festspielhaus<br />

und an 121 ausgewählten Orten<br />

in Berlin erhältlich.<br />

Aber es gab offenbar einen Schlüsselmoment:<br />

Zufällig sei er bei Reinigungsarbeiten<br />

im Computersystem auf einen<br />

geheimen Bericht über die illegale<br />

Überwachung während <strong>der</strong> Amtszeit von<br />

Präsident George W. Bush gestoßen. In<br />

dem Bericht beschrieb <strong>der</strong> für Kontrolle<br />

<strong>der</strong> Überwacher zuständige Staatsdiener,<br />

wie Gesetze umgangen werden, um<br />

im großen Stil illegales Abhören zu ermöglichen.<br />

Das löste bei Snowden Kritik<br />

aus: „Wenn die höchsten Staatsbeamten<br />

Gesetze brechen können, ohne Strafe<br />

fürchten zu müssen, dann sind geheime<br />

Mächte erheblich gefährlich.“<br />

Er wi<strong>der</strong>sprach aber dem Vorwurf,<br />

er habe sich in Genf unberechtigten Zugang<br />

zu Daten verschafft. Vielmehr sei<br />

die Bemerkung in seiner Personalakte<br />

eine Strafe dafür gewesen, dass er die<br />

CIA vor einer Sicherheitslücke im Computersystem<br />

warnte. Zudem wies er auf<br />

einen Streit mit einem Vorgesetzten hin,<br />

in dem es um eine Beför<strong>der</strong>ung und eine<br />

Gehaltserhöhung gegangen sei. <strong>Der</strong> Vorgesetzte<br />

habe einen angekündigten Test<br />

des Systems als unerlaubtes Eindringen<br />

beschrieben, um ihm zu schaden.<br />

Welche Version stimmt, ist aus <strong>der</strong><br />

Distanz schwer zu sagen. Snowden jedenfalls<br />

betont, <strong>der</strong> Vorfall habe ihm bewiesen,<br />

dass man nur verliere und bestraft<br />

werde, sobald man versuche, Fehler innerhalb<br />

des Systems zu korrigieren. Das<br />

habe er bei an<strong>der</strong>en Kollegen ähnlich erlebt.<br />

Die Erkenntnis: Um Dinge zu än<strong>der</strong>n,<br />

muss man sie öffentlich machen.<br />

Eines <strong>der</strong> Rätsel <strong>der</strong> Akte Edward<br />

Snowden lautet: Wie kam er rein? Wie<br />

hat er es ohne Studienabschluss 2005<br />

überhaupt in die CIA geschafft? Angeblich<br />

überzeugte er mit herausragenden<br />

Computerkenntnissen, die er sich selbst<br />

beigebracht hatte.<br />

Möglich ist auch, dass die Antwort<br />

in seiner Herkunft liegt. Jede gute Geschichte<br />

hat auch ein Element des Zufalls.<br />

Etwas, das den Helden fast zwangsläufig<br />

in die Geschichte führt. Eine Situation, in<br />

die er hineingeboren wird.<br />

Edward Snowden wird 1983 in Elizabeth<br />

City in North Carolina geboren.<br />

Als er neun Jahre alt ist, zieht die Familie<br />

nach Norden und 1999 weiter nach<br />

Ellicott City in die Gegend zwischen<br />

Washing ton und Baltimore. Seine Eltern<br />

arbeiten für den Staat. Vater Lonnie<br />

„Ed wollte seine<br />

Fähigkeiten<br />

einsetzen, um<br />

die Welt zu<br />

verbessern.<br />

Ich bewun<strong>der</strong>e<br />

seinen Mut“<br />

Mavanee An<strong>der</strong>son,<br />

Ex­Kollegin von Edward Snowden<br />

68<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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bei <strong>der</strong> Küstenwache, Mutter Elizabeth,<br />

genannt Wendy, als Verwaltungsangestellte<br />

beim Bezirksgericht in Maryland.<br />

Die Eltern lassen sich 2001 scheiden –<br />

<strong>der</strong> Vater lebt in Pennsylvania in zweiter<br />

Ehe im Ruhestand, die Mutter weiterhin<br />

in Ellicott City. Eine ältere Schwester<br />

ist Juristin und arbeitet für eine Behörde<br />

in Washington.<br />

Ellicott City im US-Bundesstaat<br />

Maryland hat 65 000 Einwohner. Vor<br />

50 Jahren ist die Stadt einmal in die<br />

Schlagzeilen geraten, als über ihr ein<br />

Flugzeug in einen Schwarm Schwäne flog<br />

und abstürzte. <strong>Der</strong> Ort liegt zwischen<br />

Hügeln, er hat einen alten Stadtkern<br />

und ein Eisenbahnmuseum. Ein einst beliebter<br />

Vergnügungspark musste einem<br />

Shopping-Komplex weichen. Sonst wird<br />

nicht viel geboten. Aber es ist ein ruhiger<br />

Ort, <strong>der</strong> regelmäßig gute Plätze in den<br />

Ranglisten für Lebensqualität einnimmt.<br />

Die Bevölkerung gilt als wohlhabend.<br />

Zur NSA ist es nicht weit. Die Behörde<br />

arbeitet in Fort Meade, 20 Meilen<br />

südlich von Baltimore, und ist <strong>der</strong> größte<br />

Arbeitgeber in Maryland. Snowden verbringt<br />

Kindheit und Jugend im Schatten<br />

des Geheimdiensts, dessen Mitarbeiter<br />

über ihre Arbeit nicht sprechen dürfen,<br />

<strong>der</strong> aber zum Alltag gehört und dessen<br />

Existenzberechtigung naturgegeben zu<br />

sein scheint wie die Berge in Bayern.<br />

Zu <strong>der</strong> Zeit, als Snowden in Ellicott<br />

City die Arundel High School besuchte,<br />

schickte die NSA regelmäßig Mitarbeiter<br />

aus ihrer Zentrale in die Schule, um Kin<strong>der</strong>n<br />

in Mathematik zu helfen. Unklar ist,<br />

ob Snowden diese privilegierte Nachhilfe<br />

erhielt. Nach seinem Abgang von <strong>der</strong><br />

High School besuchte er das Anne Arundel<br />

Community College, eine Art Volkshochschule.<br />

Er belegte Computerkurse.<br />

In seiner Jugend baute er mit Freunden<br />

in einer Wohnung, die zum Komplex<br />

<strong>der</strong> NSA gehörte, eine Website für japanische<br />

Animationskunst. 2004 arbeitete<br />

er als Wachmann in einem Sprachenzentrum<br />

<strong>der</strong> NSA.<br />

Er verbrachte viel Zeit vor dem Computer.<br />

Nachbarn beschrieben ihn später<br />

als stets freundlich grüßend, wenngleich<br />

er dabei nie Augenkontakt gehalten habe.<br />

Manche wollten sich an einen jungen<br />

Mann erinnern, <strong>der</strong> hinter dem Fenster<br />

stundenlang nachts vor dem erleuchteten<br />

Bildschirm sitzt.<br />

Die Familie Snowden glaubte an den<br />

Staat und die Herrschaft des Rechts. Edward<br />

Snowden flog Ende Juni von Hongkong<br />

nach Moskau. Einige Wochen später<br />

bat ihn sein Vater in einem Fernsehinterview,<br />

er solle zurückkommen und dem<br />

Rechtsstaat vertrauen. Auf die Frage, ob<br />

er seinen Sohn lieber in Freiheit in Russland<br />

o<strong>der</strong> im Gefängnis in den USA sehen<br />

würde, sagte er: lieber im Gefängnis<br />

in den USA. Inzwischen war <strong>der</strong> Vater<br />

in Moskau, und es sind keine Interviews<br />

mehr bekannt, in denen er den Sohn<br />

drängte zurückzukehren.<br />

ÜBER EDWARD SNOWDENS Leben in<br />

Moskau weiß man wenig. Selbst die, die<br />

ihn dort besucht haben, sagen nichts Wesentliches.<br />

Seine Vertraute und Helferin<br />

Sarah Harrison, die ihn von Hongkong<br />

nach Moskau begleitete und jetzt in Berlin<br />

lebt, schweigt, um ihn, wie sie sagt,<br />

nicht zu gefährden. Reist er viel durchs<br />

Land, wie Gerüchte besagten? Ist er von<br />

<strong>der</strong> Welt abgeschnitten und stets kontrolliert<br />

und bewacht, wie es hieß? O<strong>der</strong> hat<br />

sich ein Minimum an Normalität eingestellt,<br />

wie Schnappschüsse vom Einkaufen<br />

und von einer Ausflugsfahrt auf einem<br />

Fluss nahelegen? Angeblich lernt er<br />

Russisch, hat einen Job bei einem Onlineportal,<br />

wie sein Anwalt verbreitet hat.<br />

Snowdens Mutter hält sich ganz raus.<br />

Als nach <strong>der</strong> Enthüllung ihres Sohnes Reporter<br />

vor ihrem Haus standen, lief sie<br />

mit tief ins Gesicht gezogener Regenkapuze<br />

an ihnen vorbei auf ihr Auto zu und<br />

dabei rief sie laut: „Please do not get into<br />

my life – thank you!“ Ihr Sohn hat seine<br />

Freiheit aufs Spiel gesetzt, damit an<strong>der</strong>e<br />

nicht einfach so in unser Leben eindringen.<br />

Man würde sie gerne fragen, was sie<br />

über ihn denkt. Aber sie lehnt den Kontakt<br />

zu Journalisten ab.<br />

Snowden hat seiner ehemaligen Kollegin<br />

und Freundin in Genf, Mavanee<br />

An<strong>der</strong>son, immer wie<strong>der</strong> davon erzählt,<br />

dass er die Schule abgebrochen hat, erinnerte<br />

sie sich. Als schäme er sich deswegen.<br />

Er schien aber zugleich stolz zu sein,<br />

dass er sich sein Computerwissen selbst<br />

beigebracht hat. Die Hochschulreife erlangte<br />

er auf dem zweiten Bildungsweg<br />

am Community College, ein Informatikstudium<br />

brach er jedoch ab. An<strong>der</strong>son<br />

nennt ihn „prone to brood“ – einen Grübler<br />

und Brüter. Jemand, <strong>der</strong> lange über<br />

Foto: David Ausserhofer<br />

ISBN 978-3-89684-152-0<br />

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69<br />

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etwas nachdenkt, bevor er eine Entscheidung<br />

trifft. „Ed wollte seine Fähigkeiten<br />

einsetzen, um die Welt zu verbessern“,<br />

sagte sie. Deshalb habe er als Soldat in<br />

den Irak ziehen wollen. Deshalb habe er<br />

für die CIA gearbeitet. Ed sei nun ein<br />

Symbol für etwas, das größer als er selbst<br />

sei. „Ich bewun<strong>der</strong>e seinen Mut.“<br />

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JEDER GUTE THRILLER braucht auch eine<br />

Liebesgeschichte. Irgendwo muss es eine<br />

Frau geben, die auf den Helden wartet.<br />

Die mit ihm leidet und daran, dass er eine<br />

höhere Aufgabe zu bewältigen hat. Die er<br />

verlassen musste, weil er die Welt retten<br />

wollte. Die ein Rätsel umgibt. Eine Frau<br />

wie Lindsay Mills.<br />

Die 28-Jährige war mehr als vier<br />

Jahre mit Snowden zusammen. Kennengelernt<br />

haben sie sich, als sie beide an<br />

<strong>der</strong> Ostküste in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> NSA lebten.<br />

In ihrem Blog „Adventures of a worldtraveling,<br />

pole-dancing superhero“, <strong>der</strong><br />

in Teilen noch im Internet zu finden<br />

ist, bot sie private Einblicke in das Leben<br />

mit Snowden. Demnach lebten sie<br />

seit 2009 gemeinsam in Baltimore, dann<br />

in Japan, wo er für die NSA arbeitete.<br />

Mitte 2012 zogen sie nach Hawaii, wo<br />

Snowden 122 000 Dollar im Jahr verdiente.<br />

Sie fuhren zum Camping, gingen<br />

schnorcheln, machten Urlaub in Hongkong.<br />

Zwischendrin finden sich Aufnahmen<br />

und Videos von Mills Auftritten mit<br />

<strong>der</strong> Waikiki Acrobatic Troupe.<br />

2012 schrieb sie: „Vergesst bitte nicht,<br />

dass ich nach Hawaii gezogen bin, um<br />

meine Beziehung zu E aufrechtzuerhalten.<br />

Seit ich aus dem Flugzeug stieg, erlebte<br />

ich das Auf und Ab einer gefühlsmäßigen<br />

Achterbahn.“ Nach einem Tag<br />

in ihrem Vorgarten notierte sie: „Ich sah<br />

E an und lächelte. Das war <strong>der</strong> am meisten<br />

erwachsene, langweilige Moment in<br />

meinem Leben. Ich fühle mich erwachsen,<br />

vorstädtisch und eigenartig zufrieden.“<br />

Zwischen den Zeilen wird deutlich,<br />

dass Snowden viel arbeitet und nur wenig<br />

Zeit hat für seine Freundin. Denn Monate<br />

später schrieb sie: „Freitag konnte ich<br />

nun endlich E meinen skeptischen Freunden<br />

vorstellen (sie waren sich nicht sicher,<br />

ob E existiert).“ Mitte Mai kündigt sie<br />

Besuch von Snowdens Familie an, allerdings<br />

bleibt offen, ob die tatsächlich gekommen<br />

ist. Drei Tage später verlässt ihr<br />

Freund Hawaii in Richtung Hongkong.


www.aufbau-verlag.de<br />

Illustration: Sebastian Haslauer<br />

„Ich lass<br />

von mir hören<br />

o<strong>der</strong> nicht.<br />

Superhelden<br />

brauchen eine<br />

rätselhafte Aura“<br />

Lindsay Mills,<br />

Edward Snowdens Freundin<br />

Mills hatte offenbar keine Ahnung,<br />

was er plante, aber sie klang besorgt, als<br />

sie am 7. Juni schrieb: „Krank, erschöpft,<br />

lastet die ganze Welt auf mir.“ Kurz davor<br />

begannen <strong>der</strong> Guardian und die<br />

Washington Post mit <strong>der</strong> Enthüllung <strong>der</strong><br />

NSA-Abhöraktion. Sie schrieb: „Ich lass<br />

von mir hören o<strong>der</strong> nicht. Superhelden<br />

brauchen eine rätselhafte Aura.“<br />

Am Tag, nachdem Snowden seine<br />

Identität als Urheber <strong>der</strong> Enthüllungen<br />

offenlegte, schrieb sie ihre letzte Nachricht:<br />

„Während ich das hier auf mein tränengetränktes<br />

Keyboard tippe, denke ich<br />

an all die Gesichter, die meinen Weg gekreuzt<br />

haben.“ Als versuche sie damit<br />

zurechtzukommen, notierte sie: „Manchmal<br />

kann sich das Leben keinen richtigen<br />

Abschied leisten.“ Danach löschte sie ihren<br />

Blog und verschwand.<br />

Mills’ Vater bestätigte Journalisten,<br />

dass seine Tochter mit Snowden eine Beziehung<br />

hatte. Er habe ihn als Mann mit<br />

Prinzipien kennengelernt. Snowden sei<br />

„sehr nett, schüchtern, zurückhaltend“,<br />

sagte Jonathan Mills. Snowden habe genaue<br />

Vorstellungen von Recht und Unrecht.<br />

Die Beziehung zu Mills erscheint<br />

heute dennoch so rätselhaft wie Snowden<br />

selbst. Warum hat er sie nicht mitgenommen<br />

nach Hongkong? Wusste sie<br />

wirklich nichts?<br />

Wer also ist Edward Joseph Snowden?<br />

Auffällig ist <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch des<br />

einerseits fast naiv auftretenden Weltverbesserers<br />

– und des kühl und berechnend<br />

agierenden Computernerds. Aber<br />

vielleicht ist das nur wi<strong>der</strong>sprüchlich für<br />

Leute, die ihn nicht persönlich kennen.<br />

Am Ende bleiben Fragen: Snowden,<br />

<strong>der</strong> Brüter? Ist alles, was seit seinem<br />

Weggang von <strong>der</strong> CIA 2009 folgte, zielstrebig<br />

nach Plan abgelaufen? Hat Snowden<br />

seit dieser Zeit geheime NSA-Dokumente<br />

gesammelt, um eine Reform des<br />

Geheimdiensts zu erzwingen? Heute gibt<br />

es Berichte, wonach er bis zu 25 Kollegen<br />

in Hawai unter einem Vorwand ihre<br />

Passwörter abgeluchst haben soll. Aber<br />

wenn das zutrifft, wann fing er damit an?<br />

Und wie in jedem Thriller fragt man<br />

sich, was aus dem Helden werden soll.<br />

Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.<br />

THOMAS SCHULER ist Journalist in<br />

München. Er befasste sich während seiner<br />

Zeit als freier USA­Korrespondent vor<br />

15 Jahren erstmals mit <strong>der</strong> NSA<br />

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71<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


WELTBÜHNE<br />

Analyse<br />

TRAU. SCHAU,<br />

WEM<br />

Von WILLIAM J. DOBSON<br />

Eine Kette von Ereignissen lässt Län<strong>der</strong> von<br />

Europa bis Asien zweifeln, ob die USA<br />

überhaupt noch ihr zuverlässiger Partner sind<br />

ILLUSTRATION: SEBASTIAN HASLAUER<br />

Auf dem Höhepunkt des Kalten<br />

Krieges haben selbst<br />

zwei eingefleischte Feinde<br />

wie die USA und die Sowjetunion<br />

gewusst, dass sie zusammenarbeiten<br />

mussten. Um die Kluft<br />

zu überbrücken, haben sich die beiden<br />

Supermächte, ungeachtet ihrer ideologischen<br />

Unterschiede, <strong>der</strong> Anfeindungen<br />

und des globalen Wettrüstens, auf<br />

die Formel geeinigt: „Vertrauen ist gut,<br />

Kontrolle ist besser.“ Heute würden sich<br />

die Vereinigten Staaten glücklich schätzen,<br />

wenn ihre engsten Verbündeten ihnen<br />

überhaupt noch trauen würden.<br />

Das Misstrauen hat einen neuen Tiefpunkt<br />

erreicht, seit bekannt wurde, dass<br />

die National Security Agency (NSA) seit<br />

mindestens 2002 das Mobiltelefon von<br />

Bundeskanzlerin Angela Merkel abgehört<br />

hat. Natürlich ist das nur die Spitze<br />

des Eisbergs. Die Dokumente, die Edward<br />

Snowden veröffentlicht hat, offenbaren<br />

eine amerikanische Spionagebehörde<br />

mit einem unersättlichen Appetit<br />

auf Informationen. Sie bietet ein gigantisches<br />

Maß an technologischer Raffinesse<br />

auf, um Regierungen, Bürger und Organisationen<br />

auf <strong>der</strong> ganzen Welt zu überwachen,<br />

zu hacken und abzuhören – unabhängig<br />

davon, ob es sich um Freund<br />

o<strong>der</strong> Feind handelt. Einem Bericht des<br />

britischen Guardian zufolge scheint die<br />

NSA seit Oktober 2008 die Telefongespräche<br />

von 35 Staats- und Regierungschefs<br />

abgehört zu haben. US-Regierungsbeamte<br />

sind offensichtlich „ermuntert“<br />

worden, ihre Kontaktdaten <strong>der</strong> NSA anzuvertrauen,<br />

insbeson<strong>der</strong>e die Telefonnummern<br />

„ausländischer Politiker o<strong>der</strong><br />

führen<strong>der</strong> Militärs“. Über 200 Telefonnummern<br />

habe die NSA allein von einem<br />

Beamten <strong>der</strong> US-Regierung erhalten und<br />

sie schnell für ihre geheimdienstlichen<br />

Zwecke ausgeschlachtet.<br />

DIE REAKTION DEUTSCHLANDS, einem<br />

<strong>der</strong> unerschütterlichsten Verbündeten<br />

Amerikas, war schnell und unverblümt.<br />

Außenminister Guido Westerwelle bestellte<br />

Amerikas Botschafter ein, und<br />

Kanzlerin Angela Merkel betonte, dass<br />

die Beziehungen zwischen Deutschland<br />

und den USA „gravierend erschüttert“<br />

worden seien, dass „Vertrauen wie<strong>der</strong><br />

aufgebaut werden müsse“ und „Worte<br />

allein nicht ausreichen werden“.<br />

Ähnlich reagierte Frankreichs Präsident<br />

François Hollande, als er durch<br />

einen Bericht <strong>der</strong> französischen Tageszeitung<br />

Le Monde erfuhr, dass die NSA<br />

auch die Telefonate von Franzosen abgehört<br />

haben soll. Allein innerhalb eines<br />

Monats seien mehr als 70 Millionen<br />

Gespräche aufgezeichnet worden. Während<br />

<strong>der</strong> Überwachung wurden wohl Telefonate<br />

und Kurznachrichten gesammelt,<br />

wahrscheinlich auch von französischen<br />

Politikern und Wirtschaftsführern. An<strong>der</strong>e<br />

europäische Regierungschefs – die<br />

vermuten, dass auch sie Ziel <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Geheimdienste waren – reagierten<br />

ähnlich wie Merkel und Hollande.<br />

Die Empörung ist aber nicht allein<br />

auf Europa beschränkt: Bereits im September<br />

sagte Brasiliens Präsidentin Dilma<br />

Rousseff wegen ähnlicher Anschuldigungen<br />

ihren Besuch in Washington ab.<br />

Die NSA-Enthüllungen haben Amerikas<br />

Glaubwürdigkeit zu einer Zeit beschädigt,<br />

in <strong>der</strong> das Vertrauen in Washington<br />

73<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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Analyse<br />

816 S., 159 Abb. in Farbe u. 4 Ktn. Geb. € 25,–<br />

„Diese Geschichten sollten<br />

nie aufhören.“ Elisabeth von<br />

Thadden, DIE ZEIT<br />

„Dieses Buch ist so schön, so<br />

klug und so richtungweisend,<br />

dass es eigentlich in jede Bibliothek<br />

gehört.“ Tim Sommer,<br />

art – Das Kunstmagazin<br />

347 S., 125 Abb. in Farbe. Geb. € 29,95<br />

„Eine faszinierende Lektüre …<br />

und ein wun<strong>der</strong>schön ausgestattetes<br />

Buch, das man immer<br />

wie<strong>der</strong> gern in die Hand nehmen<br />

wird.“ Hubert Spiegel,<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

C.H.BECK<br />

www.chbeck.de<br />

nur noch eingeschränkt vorhanden ist. In<br />

den vergangenen zwölf Monaten hat es<br />

eine Reihe von Vorfällen gegeben, aufgrund<br />

<strong>der</strong>er die Weltgemeinschaft sich<br />

fragt, ob die USA überhaupt noch ein<br />

verlässlicher Partner sein können.<br />

Da wäre Präsident Obamas wankelmütige<br />

und unentschlossene Antwort<br />

auf Baschar al Assads Einsatz chemischer<br />

Waffen. In <strong>der</strong> Vergangenheit hatte<br />

Obama immer wie<strong>der</strong> betont, dass mit<br />

dem Gebrauch solcher Waffen eine „rote<br />

Linie“ überschritten sei. Und was tat <strong>der</strong><br />

US-Präsident, als diese Linie tatsächlich<br />

überschritten worden war? Erst bereitet<br />

er einen Raketenangriff auf Damaskus<br />

vor, dann gibt er den Plan eines Militärschlags<br />

unerwartet auf, um auf die russische<br />

Initiative zur Vernichtung <strong>der</strong> syrischen<br />

Chemiewaffen einzuschwenken.<br />

Was immer man von dieser Vereinbarung<br />

halten mag – die Tatsache, dass Obama<br />

seinen eigenen Versprechen keine Taten<br />

folgen ließ, hat Verbündete wie Südkorea,<br />

Japan, Israel und Taiwan verunsichert,<br />

die sich auf Amerikas Verteidigungszusagen<br />

verlassen.<br />

Fassungslos und besorgt ist man im<br />

Ausland auch über den Zustand des amerikanischen<br />

Regierungsapparats, <strong>der</strong> sich<br />

bei <strong>der</strong> jüngsten Haushaltssperre und <strong>der</strong><br />

Verletzung <strong>der</strong> Schuldengrenze in seinem<br />

ganzen Ausmaß offenbarte. Wegen <strong>der</strong><br />

Haushaltssperre sagte Obama eine wichtige<br />

Reise nach Asien ab, wo er am asiatisch-pazifischen<br />

Wirtschaftsgipfel APEC<br />

hätte teilnehmen soll. Das war die dritte<br />

Absage einer Reise in diese Region, und<br />

sie weckt Zweifel an <strong>der</strong> Ernsthaftigkeit<br />

<strong>der</strong> USA in ihren Beziehungen zum asiatisch-pazifischen<br />

Raum – zumal es <strong>der</strong><br />

Obama-Regierung nicht gelungen ist, irgendeinen<br />

bedeutenden Schritt zu unternehmen,<br />

<strong>der</strong> ihre „pivot“ nach Asien<br />

auch politisch untermauern würde. In<br />

<strong>der</strong> Region fragt man sich: Wie können<br />

die USA ihre Führung in Asien erneuern,<br />

wenn <strong>der</strong> Präsident nicht einmal in<br />

<strong>der</strong> Lage ist, sich in seine Air Force One<br />

zu setzen und die Region zu besuchen?<br />

Die asiatischen Staaten werden nicht auf<br />

die USA warten – schon gar nicht, wenn<br />

China parat steht.<br />

Die Vereinigten Staaten werden immer<br />

mehr als die unberechenbare Macht<br />

wahrgenommen, die unerwartet von einer<br />

Richtung in die an<strong>der</strong>e taumelt. Nach<br />

74<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013<br />

zwölf Jahren Krieg wirken die USA erschöpft,<br />

unsicher und gespalten. Angesichts<br />

einer Innenpolitik, die in Unordnung<br />

geraten ist, und einer Außenpolitik,<br />

die keine klare Linie erkennen lässt, werden<br />

Washingtons Verbündete immer wie<strong>der</strong><br />

überrascht: Man weiß einfach nicht,<br />

was als Nächstes zu erwarten ist.<br />

DIE NUN ENTHÜLLTEN DETAILS amerikanischer<br />

Spionagetätigkeit gegen enge<br />

Freunde und Verbündete kommen zu einem<br />

beson<strong>der</strong>s ungünstigen Zeitpunkt.<br />

Wie können diese ausländischen Mächte<br />

in enger Abstimmung mit den USA arbeiten,<br />

wenn Washington jede ihrer Bewegungen<br />

genau beobachtet? Warum sollten<br />

diese Verbündeten ihre Ressourcen<br />

o<strong>der</strong> gar das Leben ihrer Bürger und Soldaten<br />

aufs Spiel setzen – sei es im Irak,<br />

in Afghanistan, Libyen o<strong>der</strong> in einem<br />

<strong>der</strong> nächsten Krisengebiete in <strong>der</strong> Welt –,<br />

wenn sie ihrem wichtigsten Partner nicht<br />

vertrauen können? Wenn die USA sie in<br />

dieser Art und Weise ausspähten, sind sie<br />

dann überhaupt noch Verbündete?<br />

Natürlich haben die Obama-Regierung<br />

und ihre Verteidiger schnell darauf<br />

hingewiesen, dass es gute Gründe dafür<br />

gibt, warum die NSA so viele ausländische<br />

Daten sammelt. Am Anfang dieser<br />

Geheimdienstoperation stand die Terrorbekämpfung.<br />

Es ist eine Tatsache, dass –<br />

unter an<strong>der</strong>en – europäische Hauptstädte<br />

Brutstätten für islamistischen Terrorismus<br />

waren. Also sollte es niemanden<br />

überraschen, dass die USA ihr Äußerstes<br />

unternahmen, um sich diesen Bedrohungen<br />

so effektiv wie möglich zu stellen.<br />

Aber es gibt noch eine weitere Erklärung:<br />

Fast jede Regierung spioniert in irgendeiner<br />

Weise – auch bei ihren engsten<br />

Verbündeten. Viele <strong>der</strong> Staaten, die<br />

jetzt schockiert über die Aktivitäten <strong>der</strong><br />

NSA sind, spionieren ihrerseits in den<br />

USA und bei ihren europäischen Nachbarn.<br />

Zweifellos fürchten einige, dass<br />

Snowden schon bald Material über ihre<br />

eigenen geheimdienstlichen Unternehmungen<br />

offenbaren wird.<br />

Das Problem indessen sind das Ausmaß<br />

<strong>der</strong> globalen Überwachung durch<br />

Amerika und die Tatsache, dass kein an<strong>der</strong>es<br />

Land über eine Signalaufklärung<br />

verfügt, also eine ähnliche Fähigkeit wie<br />

die USA besitzt, Informationen zu sammeln,<br />

zu dekodieren und zu analysieren.


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Weil die<br />

Geheimdienste<br />

die Möglichkeit<br />

haben, Millionen<br />

ausländischer<br />

Telefongespräche<br />

abzuhören, tun<br />

sie es auch<br />

Viele <strong>der</strong> Snowden-Enthüllungen haben<br />

ein Ausmaß und Möglichkeiten <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Geheimdienstmethoden offengelegt,<br />

die bislang unbekannt waren.<br />

Das allein schon schürt die Sorge <strong>der</strong><br />

Staats- und Regierungschefs, die fürchten,<br />

die NSA habe ihre Telefongespräche<br />

abgehört.<br />

Die USA und insbeson<strong>der</strong>e die Obama-Regierung<br />

sollten sich aber noch ganz<br />

an<strong>der</strong>e Sorgen machen: Ein internes Regierungspapier,<br />

das Snowden im vergangenen<br />

Monat dem Guardian zukommen<br />

ließ, hat auch gezeigt, dass <strong>der</strong> Lauschangriff<br />

auf ausländische Regierungschefs<br />

und Beamte „wenig Ergiebiges“ erbracht<br />

hat. Hier stellt sich die Frage: Warum riskiert<br />

man eine Beschädigung <strong>der</strong> Beziehungen<br />

wegen eines Programms, das fast<br />

keine nützlichen geheimdienstlichen Erkenntnisse<br />

bringt?<br />

LEIDER IST DIE ERKLÄRUNG dafür keine<br />

gute. Sie lautet: Weil sie es können. Nach<br />

dem ersten Schock, <strong>der</strong> auf die Anschläge<br />

vom 11. September 2001 folgte,<br />

haben die USA eine Maschinerie für eine<br />

kraftvolle Terrorbekämpfung errichtet,<br />

die reich ausgestattet war mit den Instrumenten<br />

und <strong>der</strong> Technologie, einen<br />

weiteren großen Angriff zu verhin<strong>der</strong>n.<br />

Dass sich die Balance zwischen Freiheit<br />

und Sicherheit nach einem Angriff wie<br />

dem vom 11. September in Richtung Sicherheit<br />

verschoben hat, ist nicht weiter<br />

verwun<strong>der</strong>lich – das war in den USA<br />

nicht an<strong>der</strong>s als in den meisten an<strong>der</strong>en<br />

Demokratien. <strong>Der</strong> Unterschied beim<br />

Kampf gegen den Terror besteht darin,<br />

dass Washing ton nie zu seiner früheren<br />

Balance zurückgefunden hat.<br />

Die technischen Möglichkeiten haben<br />

ihre eigene Logik entwickelt. Weil<br />

die amerikanischen Geheimdienste die<br />

Möglichkeit haben, Millionen ausländischer<br />

Telefongespräche abzuhören, tun<br />

sie es auch. Die Verlockung, die Technik<br />

zu nutzen, die sie entwickelt haben, ist zu<br />

groß, um ihr zu wi<strong>der</strong>stehen. Es ist völlig<br />

offensichtlich, dass die US-Regierung es<br />

auch mehr als zehn Jahre nach 9/11 nicht<br />

geschafft hat, die Geheimdienstapparate<br />

wie<strong>der</strong> einer klaren Kontrolle zu unterstellen.<br />

Das Ergebnis war eine politische<br />

und diplomatische Peinlichkeit. Immerhin<br />

hat das Weiße Haus zugegeben, dass<br />

das Pendel zu weit ausgeschlagen ist.<br />

Solche Versicherungen werden vielen<br />

Verbündeten Amerikas aber nicht<br />

ausreichen. Aus diesem Grund werden<br />

Deutschland und die USA ein Anti-Spionage-Abkommen<br />

abschließen. Die Alliierten<br />

<strong>der</strong> USA, nicht nur in Europa,<br />

werden klare Auskunft über den Vertrauensbruch<br />

Washingtons verlangen.<br />

Es ist entscheidend, wie die USA<br />

mit <strong>der</strong> Empörung über die NSA-Überwachung<br />

umgehen werden. Beziehungen<br />

mögen verletzt worden sein, aber dies<br />

könnte die Obama-Regierung zum Anlass<br />

nehmen, den Glauben <strong>der</strong> Menschen<br />

an die Supermacht wie<strong>der</strong>herzustellen.<br />

Barack Obama kann nicht garantieren,<br />

dass er in Zukunft Haushaltssperren verhin<strong>der</strong>n<br />

kann o<strong>der</strong> Konflikte mit Baschar<br />

al Assad. Aber er kann sich ehrlich bemühen<br />

zu zeigen, wie ernst er die Sorgen<br />

<strong>der</strong> Verbündeten nimmt. Versäumt er<br />

das, wird es nicht nur um verletzte Gefühle<br />

o<strong>der</strong> bittere Worte auf Seiten <strong>der</strong><br />

Verbündeten gehen. Es werden auch die<br />

Möglichkeiten einer Zusammenarbeit <strong>der</strong><br />

USA mit ihren Partnern erheblich eingeschränkt.<br />

Bleiben die USA eine unberechenbare<br />

Macht, laufen sie Gefahr, allein<br />

dazustehen. Für Amerikas Verbündete<br />

gilt dann ebenfalls das Motto: Vertrauen<br />

ist gut, Kontrolle ist besser.<br />

WILLIAM J. DOBSON ist Außenpolitikchef<br />

des amerikanischen Online­Magazins Slate<br />

und Autor des Buches „Diktatur 2.0“<br />

€ 26,99 [D]<br />

ISBN 978-3-424-35084-5<br />

Unsere Umweltprobleme haben<br />

ein Ausmaß angenommen, das<br />

jede Lösung unmöglich erscheinen<br />

lässt. Umso prekärer, dass<br />

alle Hoffnung auf die Vermeidung<br />

des Unheils gesetzt wird.<br />

Roger Scrutons Kritik dieser<br />

Strategie entblößt nachhaltige<br />

Politik und internationale<br />

Abkommen als vernachlässigbare<br />

Faktoren. Hingegen<br />

positioniert <strong>der</strong> Philosoph den<br />

Konservatismus als jenen einen<br />

Denkansatz mit <strong>der</strong> Potenz<br />

unsere Zukunft auf dem Planeten<br />

zu sichern.<br />

Überleben durch<br />

Resilienz und<br />

Erfindungsgeist<br />

75<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

JESUS KAM<br />

BIS SIBIRIEN<br />

Fotos DAVIDE MONTELEONE<br />

Sergei Torop war Soldat, Polizist, einfacher Arbeiter.<br />

Dann erkannte er seine wahre Berufung. Seither suchen<br />

Tausende Menschen mitten in Sibirien ihr Heil<br />

bei dem selbst ernannten Jesus<br />

76<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

„Um mich anzunehmen, müssen<br />

die Menschen alles aufgeben, was sie besitzen“<br />

Sergei Torop alias Wissarion<br />

In Petropawlowka, knapp<br />

4000 Kilometer östlich von<br />

Moskau, haben die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

„Kirche des letzten Testaments“<br />

eine neue Heimat gefunden<br />

Eine Prozession in die<br />

umliegenden Berge von<br />

Petropawlowka gehört<br />

für die Gläubigen zum<br />

Sonntagsritual<br />

79<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Wenn es dunkel wird in<br />

Sibirien, treffen sich<br />

Wissarions Anhänger zur<br />

Abendliturgie


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

„Die Menschheit ist auf direktem Weg auf den<br />

Abgrund zugegangen“<br />

Sergei Torop alias Wissarion<br />

Oleg und seine kleine<br />

Familie gehören zu den<br />

etwa 5000 Anhängern,<br />

die Wissarion nach<br />

Sibirien gefolgt sind<br />

Die Streifen <strong>der</strong> Gardine<br />

in einer <strong>der</strong> Holzhütten<br />

erinnert an eine Stola, das<br />

liturgische Gewandstück<br />

katholischer Geistlicher<br />

82<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

Sergei Torops Leben hat eine furiose Wendung<br />

genommen. 1991 verkündete er:<br />

„Ja, ich bin Jesus.“ Seither versteht sich<br />

<strong>der</strong> einstige Verkehrspolizist als Religionsgrün<strong>der</strong><br />

mit universalem Anspruch.<br />

Seine wahre Berufung hatte <strong>der</strong> damals 29-Jährige<br />

im Mai 1990 durch ein „unglaubliches Aufleuchten<br />

<strong>der</strong> inneren geistigen Kraft“ erkannt. Seit dieser<br />

Zeit arbeitet er an seiner Unsterblichkeit.<br />

„Um mich anzunehmen, müssen die Menschen<br />

alles aufgeben, was sie besitzen“, sagt <strong>der</strong> neue<br />

Christus, <strong>der</strong> sich Wissarion nennt. Seine Jünger<br />

sind nur allzu gern bereit dazu. In Holzhütten<br />

ohne fließend Wasser leben die etwa 5000 Mitglie<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> „Kirche des letzten Testaments“ in<br />

35 Dörfern mit Petropawlowka als Zentrum, knapp<br />

4000 Kilometer östlich von Moskau. Im Winter fallen<br />

die Temperaturen auf minus 40 Grad, im Sommer<br />

wird es unerträglich heiß – ganz zu schweigen<br />

von den Scharen von Stechmücken.<br />

Seine erste Predigt hält Wissarion am 18. August<br />

1991. An diesem Tag beginnt <strong>der</strong> Putsch gegen<br />

Michail Gorbatschow. Es folgt eine chaotische Zeit.<br />

Ein neuer Jesus gibt manch einem Halt und Orientierung<br />

im neuen Russland. Keiner stört sich an<br />

<strong>der</strong> eher weltlichen Herkunft des neuen Heilsbringers.<br />

1961 in Krasnodar in Südrussland geboren,<br />

verlebt Torop eine typische sowjetische Kindheit.<br />

Den Militärdienst leistet er bei einem Bautrupp in<br />

<strong>der</strong> Mongolei ab, danach arbeitet er in einer Metallfabrik.<br />

Schließlich wird er Verkehrspolizist in<br />

Minusinsk. In seiner Freizeit malt er Heiligenbil<strong>der</strong>.<br />

Zum Heilsbringer ist es da nicht mehr weit.<br />

Für Wissarions Jünger, zu denen heute längst<br />

nicht mehr nur Russen zählen, ist er Gott. Jedes<br />

seiner Worte sei vom Licht <strong>der</strong> Wahrheit und <strong>der</strong><br />

Liebe durchdrungen. In seiner Nähe spüren seine<br />

Anhänger angeblich Schwingungen, Magnetfel<strong>der</strong><br />

o<strong>der</strong> kosmische Energie. Und Erlösung. „Die<br />

Menschheit ist auf direktem Weg auf den Abgrund<br />

zugegangen. Doch jetzt seid ihr an jener Stelle angekommen,<br />

wo von diesem verhängnisvollen Weg<br />

ein einziger Pfad abgeht, <strong>der</strong> zur wahren Vollkommenheit<br />

führt“, verspricht Wissarion.<br />

Diesen Weg weist selbstverständlich <strong>der</strong> selbst<br />

ernannte Heilsbringer. Wissarion verlangt von seinen<br />

Anhängern ein entsagungsvolles Leben. Kein<br />

Alkohol, kein Tabak, kein Fleisch. Das, was die<br />

Menschen in dieser Gemeinschaft essen, müssen<br />

sie dem kargen sibirischen Boden abtrotzen. Solch<br />

ein Leben muss man wollen.<br />

Mathilde Pal<br />

Bevor <strong>der</strong> Gottesdienst<br />

beginnt, recken Wissarions<br />

Jünger ihre Hände dem<br />

Konterfei des Vergötterten<br />

entgegen<br />

Fotos: Davide Monteleone/VII (Seiten 76 bis 84)<br />

84<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


KAPITAL<br />

„ Wenn Mario Monti<br />

ein Katholik ist, dann<br />

ist Mario Draghi im<br />

Vergleich dazu <strong>der</strong> Papst“<br />

<strong>Der</strong> Zitatgeber will lieber ungenannt bleiben, weil er sowohl mit dem<br />

ehemaligen italienischen Regierungschef Monti als auch mit dem Präsidenten<br />

<strong>der</strong> Europäischen Zentralbank Draghi befreundet ist. Seite 96<br />

85<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


KAPITAL<br />

Porträt<br />

GESCHICKT EINGEFÄDELT<br />

Christoph Rickerl flicht und färbt Schnüre in Wuppertal. Klingt banal, ist aber Hightech.<br />

Sein Betrieb hat sogar die aktuellen Nobelpreisträger mit einem Geflecht beliefert<br />

Von CAROLA SONNET<br />

Foto: Bettina Flitner für <strong>Cicero</strong><br />

Wäre Christoph Rickerl ein<br />

Schnürsenkel, dann jedenfalls<br />

kein herkömmlicher.<br />

Nicht die Standardversion in Schwarz,<br />

75 Zentimeter lang, auch wenn das immer<br />

noch <strong>der</strong> bestverkaufte Senkel von<br />

Barthels-Feldhoff ist, dem europäischen<br />

Marktführer aus Wuppertal.<br />

Rickerl, 44, wirkt jung, jedenfalls gemessen<br />

an dem altehrwürdigen Unternehmen,<br />

das er leitet. Die braunen Haare<br />

trägt er lang, Jeans statt Anzughose,<br />

keine Krawatte. Gäbe es eine Mischung<br />

aus dem handgewachsten Edelsenkel,<br />

den die Firma auf <strong>der</strong> Düsseldorfer Königsallee<br />

verkauft, und dem neonorangenen<br />

Hipster-Schuhband hinter ihm auf<br />

<strong>der</strong> Fensterbank, so würde ihn das beschreiben:<br />

ein Mann, <strong>der</strong> das Alte mit<br />

dem Neuen zu verflechten weiß.<br />

„Wir sehen uns auf dem Lernweg,<br />

<strong>der</strong> ständig im Begriff <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />

ist“, sagt Rickerl. Innovation ist nötig.<br />

Denn zwar geht es Barthels-Feldhoff gut,<br />

<strong>der</strong> Branche dagegen nicht. Das Wuppertaler<br />

Unternehmen, gegründet vor<br />

184 Jahren, ist fast allein in Deutschland.<br />

Ein Großteil <strong>der</strong> Mitbewerber produziert<br />

in Asien o<strong>der</strong> hat dichtgemacht.<br />

Die Wuppertaler entschieden sich gegen<br />

China, stattdessen fertigen sie in Thüringen<br />

und Polen.<br />

Doch <strong>der</strong> Markt stagniert. Bei den<br />

Schustern hat Barthels-Feldhoff einen<br />

Marktanteil von 75 bis 80 Prozent. Ein<br />

Paar Schnürsenkel verkaufte <strong>der</strong> Schuster<br />

den Kunden früher immer noch mit<br />

dazu. „Früher sind die Leute mit kaputten<br />

Schuhen noch häufiger zum Schuster<br />

gegangen“, sagt Rickerl. Heute kostet<br />

ein neuer Schuh kaum mehr als eine<br />

neue Sohle.<br />

Aber man muss aus dem etwas machen,<br />

was man hat. So war die Firma<br />

Barthels-Feldhoff schon erfolgreich, als<br />

sie 1950 einen winzigen goldfarbenen<br />

Ring an die von ihm gefertigten Schnürsenkel<br />

steckte. Ein Alltagsgegenstand<br />

wurde veredelt – es war die Geburtsstunde<br />

<strong>der</strong> Marke Ringelspitz, mit <strong>der</strong><br />

die Firma groß wurde.<br />

Heute geht es wie<strong>der</strong> darum, die alten<br />

Kompetenzen möglichst klug einzusetzen.<br />

Aus Karbonfasergeflecht stellt<br />

Barthels-Feldhoff Schläuche für Prothesen,<br />

Kranarme, Eishockeyschläger<br />

und Skier her, für Produkte, bei denen<br />

es auf jedes Gramm Gewicht ankommt.<br />

<strong>Der</strong> Textilbetrieb fertigt Schnüre für Angeln,<br />

Fallschirme und Lenkdrachen aus<br />

Hightechmaterialien. Mit <strong>der</strong> Bergischen<br />

Universität Wuppertal hat die Firma ein<br />

Geflecht für das Kernforschungszentrum<br />

Cern in Genf entwickelt. Es verhin<strong>der</strong>t,<br />

dass sich die Wärme im Innern des Teilchenbeschleunigers<br />

zu stark ausdehnt.<br />

Auf diesen Kunden ist Rickerl stolz.<br />

Mithilfe des eigenen Produkts wurde in<br />

Genf 2012 die Existenz des Higgs-Teilchens<br />

bestätigt, für dessen theoretische<br />

Herleitung Peter Higgs und François Englert<br />

den Physiknobelpreis erhielten.<br />

Rickerl erhöht die Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

an die über 200 Mitarbeiter ständig. Ein<br />

eigenes Forschungszentrum entwickelt<br />

neue Produkte: „Heute kann es passieren,<br />

dass ein Strömungstechniker, ein<br />

Verfahrenstechniker und ein Textiler an<br />

einem Projekt arbeiten“, sagt er.<br />

In Deutschland mit einem Textilhersteller<br />

Erfolg zu haben, ist für Rickerl<br />

auch eine persönliche Sache. Sein<br />

Vater hatte einen Textilbetrieb, als Dreijähriger<br />

sah er den Näherinnen zu, wie<br />

sie Bän<strong>der</strong> und Kordeln herstellten. Sie<br />

schoben ihm Süßigkeiten zu. „Ich bin<br />

schwerst vorbelastet“, sagt er. Er wurde<br />

Textilingenieur. Als er von einer Stelle<br />

bei Barthels-Feldhoff hörte, fragte er<br />

seinen Vater. „Eine solide Firma, mit<br />

interessanten Menschen, die lebt ihre<br />

Werte“, sagte <strong>der</strong> und fügte hinzu: „Die<br />

ticken etwas an<strong>der</strong>s.“<br />

Gerade deshalb passte sie zu Rickerl.<br />

Er ist ein Chef, <strong>der</strong> sich Gedanken<br />

macht: über eine schrumpfende Mittelschicht,<br />

über die Arbeitswelt, in die<br />

er seine Azubis entlässt, in <strong>der</strong> ein hohes<br />

Gehalt, schneller Aufstieg, die große<br />

Karriere wichtig scheinen.<br />

Kunstunterricht ist Bestandteil für<br />

die Ausbildung <strong>der</strong> „Lernlinge“. So nennt<br />

auch Götz Werner seine Auszubildenden,<br />

<strong>der</strong> Milliardär von <strong>der</strong> Drogeriemarktkette<br />

DM. Rickerl kennt ihn persönlich.<br />

Werner ist Vorreiter einer anthroposophischen<br />

Geschäftsphilosophie, <strong>der</strong> sich<br />

auch Rickerl „tief verbunden“ fühlt.<br />

Jeden Morgen treffen sich alle Abteilungsleiter.<br />

Das soll verhin<strong>der</strong>n, dass<br />

je<strong>der</strong> nur für sich arbeitet. Es gibt einen<br />

kleinen Chor, einige haben miteinan<strong>der</strong><br />

Theater gespielt. Wissenschaftliche<br />

Mitarbeiter tauschen sich mit den<br />

Produktionsleuten aus <strong>der</strong> Färberei o<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Flechterei aus, um das alte mit dem<br />

Neuen zusammenzubringen.<br />

CAROLA SONNET schreibt gern über<br />

Wirtschaft und Bildung, über beide<br />

Themenfel<strong>der</strong> konnte sie mit dem<br />

Schnürsenkelhersteller sprechen<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

Was hat Deutschland,<br />

was an<strong>der</strong>e nicht haben?<br />

Den Mittelstand!<br />

<strong>Cicero</strong> stellt in je<strong>der</strong> Ausgabe<br />

einen mittelständischen<br />

Unternehmer vor.<br />

Die bisherigen Porträts<br />

finden Sie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

87<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


KAPITAL<br />

Porträt<br />

DER PUNKROCK-STRATEGE<br />

Rausgehen, ausbuhen lassen, besser werden. Twitter-Grün<strong>der</strong> Jack Dorsey hat beim<br />

Börsengang des Jahres eine halbe Milliarde Dollar verdient, aber ums Geld ging es ihm nie<br />

Von CHRISTINE MATTAUCH<br />

Es war <strong>der</strong> 6. November 2011, als<br />

Barack Obama gut gelaunt eine<br />

kleine Bühne im Weißen Haus betrat<br />

und verkündete: „Ich werde jetzt Geschichte<br />

machen als erster Präsident, <strong>der</strong><br />

live tweetet.“ Über den Kurznachrichtendienst<br />

Twitter antwortete <strong>der</strong> Präsident<br />

direkt auf die Fragen <strong>der</strong> Nutzer.<br />

<strong>Der</strong> Mo<strong>der</strong>ator stand mit eingefrorenem<br />

Lächeln daneben: ein dünner junger<br />

Mann in einem hellgrauen Anzug mit<br />

schwarzer Krawatte, so verkrampft, dass<br />

er beim Hinsetzen fast den Stuhl verfehlte,<br />

nachdem er sich als „Jack Dorsey<br />

von Twitter“ vorgestellt hatte. Die Zuschauer<br />

wun<strong>der</strong>ten sich, wieso das Unternehmen<br />

so einen ungelenken Grünschnabel<br />

zum Präsidenten schickte.<br />

Inzwischen hat sich die Welt dramatisch<br />

verän<strong>der</strong>t. Twitter ist keine Neuheit<br />

mehr, son<strong>der</strong>n bekannt und etabliert – je<strong>der</strong><br />

fünfte amerikanische Internetnutzer<br />

ist inzwischen angemeldet. Beim Börsengang<br />

im November erlöste die Firma einen<br />

Milliardenbetrag. Und jener unsichere<br />

junge Mann, <strong>der</strong> im Weißen Haus<br />

vergaß, sich als Grün<strong>der</strong> von Twitter<br />

vorzustellen, ist heute ein Star <strong>der</strong> Tech-<br />

Szene und laut Forbes <strong>der</strong> sechstjüngste<br />

Milliardär <strong>der</strong> USA: Auf 1,3 Milliarden<br />

Dollar beziffert das Wirtschaftsmagazin<br />

das Vermögen des 37-Jährigen.<br />

Wer so erfolgreich ist, dem lässt die<br />

amerikanische Öffentlichkeit gern ein<br />

paar Beson<strong>der</strong>heiten durchgehen. Dass<br />

sich Dorsey als Punker einen Nasenring<br />

verpasste, drei Ausbildungen abbrach<br />

und kuriose Hobbys wie Botanisches<br />

Zeichnen pflegte, gilt aus heutiger Sicht<br />

nicht als asozial, son<strong>der</strong>n als Beleg seiner<br />

Genialität. Man muss aber auch etwas<br />

schräg ticken, um auf eine Idee wie<br />

Twitter zu kommen: Um sich vorstellen<br />

zu können, dass es Leute gibt, die sich<br />

mit 140 Anschlägen – die Obergrenze für<br />

eine Twitter-Kurznachricht – verständigen<br />

wollen. Die Spaß daran haben, sich<br />

im Telegrammstil zu äußern, mit kryptischen<br />

Abkürzungen, die man lernen<br />

muss wie einen Code.<br />

Ein geselliger Mensch hätte ein System<br />

wie Twitter wahrscheinlich nicht erfunden.<br />

Doch kommunikationsstark war<br />

Dorsey nie. <strong>Der</strong> Schauspieler Ashton<br />

Kutcher, <strong>der</strong> ihn gut kennt, sagt über<br />

Dorsey: „Wenn Jack spricht, zählt jede<br />

Silbe.“ Als Kind hatte er einen Sprachfehler<br />

und blieb am liebsten für sich.<br />

Auch als Heranwachsen<strong>der</strong> war er wortkarg<br />

und spröde, ein Eigenbrötler, <strong>der</strong><br />

unter dem Pseudonym JakDaemon düstere<br />

Gedichte und Manifeste ins Internet<br />

stellte.<br />

DORSEY WUCHS in St. Louis auf, einer<br />

Provinzhauptstadt in Missouri. Wie viele<br />

Jungs war er fasziniert von Fahrplänen<br />

und Landkarten, die er wie Poster an die<br />

Wände seines Kin<strong>der</strong>zimmers hängte.<br />

Dann kaufte sein Vater, ein Schiffsliebhaber,<br />

einen CB-Funkempfänger, um die<br />

Nachrichten <strong>der</strong> Mississippi-Kapitäne zu<br />

verfolgen. <strong>Der</strong> technikaffine Jack programmierte<br />

den Apparat so, dass er Polizeifunk<br />

und Krankenwagen abhören<br />

konnte. Die rituelle Struktur <strong>der</strong> Durchsagen<br />

faszinierte ihn: Die Teilnehmer<br />

meldeten Standort, Ziel und Mission:<br />

„Befinden uns in <strong>der</strong> Market Street Ecke<br />

Opernhaus, fahren zum Loretta-Park,<br />

kümmern uns um bewusstlose Person.“<br />

Es war ein System, das nach klaren Regeln<br />

funktionierte. Dorsey mochte das.<br />

Er mochte es so sehr, dass er versuchte<br />

eine Software zu bauen, die das, was er<br />

hörte, visualisierte.<br />

Bei den meisten Kin<strong>der</strong>n geht so eine<br />

Phase irgendwann vorbei. Bei Dorsey jedoch<br />

wurde die Suche nach <strong>der</strong> perfekten<br />

virtuellen Ordnung zur fixen Idee. In<br />

New York programmierte er ein digitales<br />

System, das Fahrradkuriere koordinierte;<br />

in San Francisco verbesserte er<br />

ein Programm für den Ticketverkauf <strong>der</strong><br />

Fähre nach Alcatraz. Als sei die Rationalität<br />

des Abstrakten die Konstante seines<br />

Lebens. Vielleicht war sie das ja auch.<br />

Alles an<strong>der</strong>e, was Dorsey anpackte, versandete<br />

irgendwie o<strong>der</strong> ging in die Brüche.<br />

Beziehungen zu Frauen. Hobbys<br />

wie Massage o<strong>der</strong> Botanikzeichnen, obwohl<br />

er auch die zeitweise so intensiv betrieb,<br />

dass er überlegte, damit sein Geld<br />

zu verdienen.<br />

Zwei Mal brach er ein Informatikund<br />

Mathematik-Studium ab, zunächst<br />

an <strong>der</strong> University of Missouri, dann an<br />

<strong>der</strong> New York University. Später verließ<br />

er vorzeitig eine Schule für Modedesign.<br />

2002 kehrte er in seine Heimatstadt<br />

St. Louis zurück wie einer, <strong>der</strong> es draußen<br />

nicht geschafft hat: „Ich fühlte mich<br />

wie ein Verlierer.“ Aber er gab nicht auf.<br />

Er machte es wie seine Idole, die Punkmusiker<br />

von Gruppen wie Operation Ivy<br />

and Rancid. Dorsey bewun<strong>der</strong>te sie, weil<br />

sie fast ohne jede Vorbildung mit den Instrumenten<br />

experimentierten und direkt<br />

live auftraten: „Sie wurden ausgebuht,<br />

ein ums an<strong>der</strong>e Mal. Aber sie gaben nicht<br />

auf, lernten und wurden besser. Ich fand<br />

diese Haltung einfach toll“, sagte er dieses<br />

Jahr bei einem Vortrag in New York.<br />

2005 ging er zurück nach San Francisco.<br />

Schlug sich mit kleinen Programmierjobs<br />

und Babysitten durch. Landete<br />

schließlich bei einem Start-up namens<br />

Odeo, das sich auf Podcasts spezialisiert<br />

hatte. „Die Podcasts interessierten mich<br />

nicht im Geringsten“, erinnert sich Dorsey,<br />

„aber ich mochte die Leute.“<br />

Als Odeo mangels funktionierenden<br />

Geschäftsmodells in die Krise geriet,<br />

baten die Chefs ihre Mitarbeiter<br />

um Einfälle. Dorsey holte seinen alten<br />

Foto: Kevin Abosch<br />

88<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


KAPITAL<br />

Porträt<br />

Jack Dorsey<br />

schrieb am<br />

21. März 2006 als<br />

@Jack den<br />

allerersten<br />

Tweet. Heute<br />

folgen ihm<br />

2,5 Millionen<br />

Menschen<br />

Traum wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Schublade: eine<br />

Art Ortungsdienst, den Menschen zur<br />

Standortbestimmung nutzen sollten, so<br />

wie in seiner Jugend die Ordnungshüter<br />

den Polizeifunk. Als Beispiele für<br />

Kurznachrichten notierte er seinerzeit<br />

„bin im Park“ o<strong>der</strong> „liege im Bett“. Dass<br />

so ein Dienst auch dazu dienen könnte,<br />

dass sich Menschen miteinan<strong>der</strong> unterhalten,<br />

sich Neuigkeiten mitteilen o<strong>der</strong><br />

Gefühle, fiel dem Einzelgänger gar nicht<br />

ein. Es waren, viel später, die Anwen<strong>der</strong>,<br />

die Funktionen vorschlugen wie die, Meldungen<br />

gezielt an Personen zu adressieren,<br />

o<strong>der</strong> Diskussionen unter bestimmten<br />

Stichworten zu führen.<br />

Odeos Firmenleitung war einverstanden,<br />

und ein Team von vier Leuten<br />

machte sich an die Arbeit. Was in den darauffolgenden<br />

Jahren geschah, davon hat<br />

je<strong>der</strong> <strong>der</strong> Beteiligten seine eigene Version.<br />

So wie es oft passiert, wenn ein Team<br />

nach anfänglichem Erfolg auseinan<strong>der</strong>bricht.<br />

Sicher ist, dass es Dorsey war, <strong>der</strong><br />

die Software schrieb und am 21. März<br />

2006 unter <strong>der</strong> Adresse @Jack den ersten<br />

offiziellen Tweet absetzte, <strong>der</strong> heute<br />

für die Fans des Dienstes Kultstatus hat:<br />

„just setting up my twttr“.<br />

Sicher ist auch, dass <strong>der</strong> stille Dorsey<br />

eine Zeit lang als Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong><br />

agierte, Fehler machte und abgelöst<br />

wurde; dass er enttäuscht war und half,<br />

gegen Evan Williams, seinen Nachfolger<br />

als Twitter-Chef, zu intrigieren, <strong>der</strong> ihn<br />

einst zu Odeo geholt hatte.<br />

Im Oktober, kurz vor dem Börsengang,<br />

erschienen in den USA fast<br />

zeitgleich zwei große Artikel über die<br />

Gründungsgeschichte von Twitter, einer<br />

in <strong>der</strong> New York Times und einer<br />

im New Yorker. In dem einen ist Dorsey<br />

ein Bösewicht, <strong>der</strong> absichtlich Kollegen<br />

aus dem Team drängt. <strong>Der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

stellt ihn als verträumten Weltverbesserer<br />

dar, <strong>der</strong> selbst fast kaltgestellt worden<br />

wäre. Wenn Dorsey über sein Leben<br />

spricht, spart er dieses Kapitel am<br />

liebsten aus.<br />

Für ihn ist es heute wichtiger, dass<br />

er sein neues Unternehmen vorantreibt.<br />

Square heißt es, eine Software, die je<strong>der</strong><br />

nutzen kann, um an einem Tablet o<strong>der</strong><br />

Laptop Kreditkarten einzulesen. Den<br />

Kartenleser verteilt Square kostenlos,<br />

auch die App ist gratis. Umsatz macht<br />

das Jungunternehmen durch Provisionen<br />

auf den Zahlungsverkehr. Die Provisionen<br />

liegen etwas niedriger als die<br />

<strong>der</strong> großen Abrechnungskonzerne, und<br />

die Technik ist schlanker und schicker.<br />

Viele kleine Händler nutzen das Zahlungssystem<br />

inzwischen und auch einige<br />

große, darunter die Kaffeekette Starbucks.<br />

Und Dorsey baut weitere Funktionen<br />

wie Square Wallet o<strong>der</strong> Square<br />

Cash auf, die alle das Ziel haben, den<br />

Bezahlvorgang zu vereinfachen.<br />

VOR ZWEI MONATEN hatte <strong>der</strong> Milliardär<br />

mal wie<strong>der</strong> einen öffentlichen Auftritt,<br />

an <strong>der</strong> New Yorker Elitehochschule Columbia.<br />

Er, <strong>der</strong> Studienabbrecher, warb<br />

dort um Talente für seine Firma und<br />

wurde empfangen wie ein Guru – es war<br />

eine Großveranstaltung, mit mehreren<br />

Hun<strong>der</strong>t Zuhörern. Wer sich noch an<br />

den peinlichen Auftritt mit Obama erinnerte,<br />

erkannte den Jungunternehmer<br />

kaum wie<strong>der</strong>: Statt eines dürren Jünglings<br />

präsentierte sich ein Mann mit Ausstrahlung,<br />

<strong>der</strong> souverän mit dem Publikum<br />

spielte, selbstironisch Fotos von sich<br />

als Punk mit blauen Haaren zeigte und<br />

auch um spontane Kommentare nicht<br />

verlegen war.<br />

Endlich hat er seinen Platz im Leben<br />

gefunden. Er wird respektiert. Das<br />

Wall Street Journal kürte ihn im vergangenen<br />

Jahr zum „Technikinnovator des<br />

Jahres“. Auf Twitter folgen ihm 2,5 Millionen<br />

Menschen. Dorsey hat sich mit<br />

seiner Punkrockstrategie durchgesetzt:<br />

einfach Sachen öffentlich ausprobieren,<br />

vor aller Augen Fehler machen, besser<br />

werden. Er weiß jetzt, was geht und was<br />

nicht. Und wie das System Silicon Valley<br />

funktioniert.<br />

Bei Twitter ist er heute Chairman,<br />

ohne operative Aufgaben. Als Symbolfigur<br />

ist er wichtig für das Unternehmen:<br />

einer, auf den man hört, wenn er Verbesserungsvorschläge<br />

macht. Auch bei <strong>der</strong><br />

Vorbereitung des Börsengangs setzte das<br />

Unternehmen auf die Bekanntheit seines<br />

Grün<strong>der</strong>s – Amerika verehrt erfolgreiche<br />

Firmengrün<strong>der</strong>, nicht erst seit dem<br />

Kult um den verstorbenen Apple-Übervater<br />

Steve Jobs. In einem Video für<br />

Investoren ist Dorsey in Jeans und mit<br />

charmantem Drei-Tage-Bart aufgetreten,<br />

wie man sich einen coolen Tech-Unternehmer<br />

vorstellt: „Wir starteten Twitter,<br />

weil wir das wollten, weil wir es liebten<br />

und weil wir sehen wollten, wie an<strong>der</strong>e<br />

Leute es nutzen.“<br />

Für ihn ist <strong>der</strong> Rummel um den erfolgreichen<br />

Börsengang vor allem wichtig,<br />

um Werbung für sein neues Unternehmen<br />

zu machen. Natürlich ist da das<br />

Geld. Beim Börsengang von Twitter gehörten<br />

ihm 4,7 Prozent <strong>der</strong> Firma, mehr<br />

als 20 Millionen Aktien, die rund eine<br />

halbe Milliarde Dollar wert sein dürften.<br />

Dorsey, <strong>der</strong> früher spartanisch in einem<br />

Mini-Apartment lebte und nie ein Auto<br />

besaß, hat Gefallen am Luxus gefunden.<br />

Er trägt jetzt Hemden von Prada und<br />

Dior und fährt BMW. Kürzlich hat er in<br />

San Francisco für zehn Millionen Dollar<br />

eine Villa mit Blick auf die Golden Gate<br />

Bridge gekauft. Dort wohnt er mit seiner<br />

Freundin, die ebenfalls erfolgreich<br />

in <strong>der</strong> Internetbranche arbeitet. Die Annehmlichkeiten<br />

des Lebens schätzen zu<br />

können, gehört vielleicht auch zum Erwachsenwerden.<br />

<strong>Der</strong> ehemalige Veganer<br />

erlaubt sich heute auch Fisch und Fleisch.<br />

Beim Auftritt an <strong>der</strong> Columbia University<br />

hatte er einen kleinen Bauchansatz.<br />

Er stand ihm gut.<br />

CHRISTINE MATTAUCH arbeitet als<br />

Wirtschaftskorrespondentin seit 2007 in<br />

New York, twittert selbst aber eher selten<br />

90<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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KAPITAL<br />

Interview<br />

„ ICH MÜSSTE DIE<br />

HÄLFTE ENTLASSEN “<br />

<strong>Der</strong> Mindestlohn im Praxistest: Ein Berliner Taxifahrer<br />

diskutiert mit seinem Chef, was passiert, wenn in Deutschland<br />

<strong>der</strong> flächendeckende Stundenlohn von 8,50 Euro kommt<br />

STEPHAN HAUBE<br />

ist 47 Jahre alt und arbeitet seit<br />

zehn Jahren als Taxifahrer. Sein<br />

monatliches Nettogehalt beziffert er<br />

auf rund 760 Euro, dazu kommen noch<br />

150 bis 200 Euro Trinkgeld im Monat.<br />

Er ist unterhaltspflichtig für seine<br />

14 Jahre alte Tochter<br />

ANDREAS DOMEK<br />

ist 56 Jahre alt und seit 32 Jahren<br />

als Taxi unternehmer in Berlin<br />

selbstständig. Sein Fuhr park umfasst<br />

25 Taxis, damit gehört Domeks Betrieb<br />

zu den größeren in <strong>der</strong> Stadt. Er legt<br />

Wert darauf, dass alle seine Fahrer<br />

regulär angestellt sind<br />

92<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Foto: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />

Herr Haube, Sie sind angestellter Taxifahrer<br />

in Berlin. Wie hoch ist Ihr durchschnittlicher<br />

Stundenlohn?<br />

Stephan Haube: Das ist von <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Schicht abhängig. An einem<br />

normalen Werktag komme ich auf ungefähr<br />

5,60 Euro die Stunde. An den Wochenendschichten<br />

kann es aber schon auf<br />

7,00 Euro hochgehen.<br />

Wie genau setzt sich das zusammen?<br />

Haube: Ich bekomme bis zu 45 Prozent<br />

vom Taxiumsatz, dazu kommen Zulagen<br />

für Nachtschichten, Sonn- und Feiertage<br />

und Essensgeld.<br />

Aber in jedem Fall liegen Sie unter dem<br />

anvisierten Mindestlohn von 8,50 Euro?<br />

Haube: Auf jeden Fall.<br />

Das heißt, Sie müssten ein Befürworter<br />

des Mindestlohns sein?<br />

Haube: Das bin ich auch. Obwohl<br />

ich die Verhältnisse in unserer Branche<br />

kenne.<br />

Und Sie, Herr Domek?<br />

Andreas Domek: Im Prinzip halte<br />

ich sehr viel von einem Mindestlohn. Es<br />

ist doch eine Sauerei, wenn zum Beispiel<br />

die Mitarbeiter einer Brotfabrik im Dreischichtbetrieb<br />

nur 3,62 Euro pro Stunde<br />

verdienen. Ich selbst würde ja auch gern<br />

einen Mindestlohn von 8,50 Euro zahlen –<br />

wenn ich denn die Möglichkeit dazu hätte.<br />

Was würden denn 8,50 Euro Mindestlohn<br />

für Sie als Taxiunternehmer konkret<br />

bedeuten?<br />

Domek: Die 8,50 Euro sind ja erst<br />

mal nur <strong>der</strong> Bruttolohn für den Arbeitnehmer.<br />

Als seriöser Betrieb, wie wir<br />

es sind, müssen da noch <strong>der</strong> Sozialversicherungsanteil<br />

von 20 Prozent draufgerechnet<br />

werden und ein Anteil von<br />

6 Prozent für die Berufsgenossenschaft.<br />

Außerdem muss <strong>der</strong> Urlaub bezahlt werden,<br />

und ich muss auch Krankheitsausfälle<br />

berücksichtigen. Das bedeutet unterm<br />

Strich eine Lohnkostenbelastung<br />

von 12,40 Euro pro Stunde für mich als<br />

Arbeitgeber.<br />

Wo ist das Problem?<br />

Domek: Das Problem ist, dass in Berlin<br />

<strong>der</strong> durchschnittliche Stundenumsatz<br />

eines Taxis bei knapp 13,70 Euro liegt –<br />

und zwar brutto, also ohne Betriebskosten<br />

für Benzin, für die Fahrzeuge und<br />

so weiter.<br />

Das heißt, bei 8,50 Euro Mindestlohn<br />

würden Sie Verluste machen?<br />

Domek: Ja. Trotzdem bin ich im<br />

Prinzip auch hier für einen Mindestlohn.<br />

Aber um 8,50 Euro die Stunde zahlen zu<br />

können, müssten meine Taxis einen Stundenumsatz<br />

von 21 Euro machen.<br />

Und diese Zahl ist nicht erreichbar?<br />

Domek: Nein, wie soll das gehen?<br />

Die Tarife fürs Taxifahren setzen ja<br />

nicht wir als Unternehmer fest, son<strong>der</strong>n<br />

die werden von <strong>der</strong> Senatsverwaltung<br />

für Wirtschaft vorgegeben. Und<br />

die hat die Taxitarife seit fünf Jahren<br />

nicht erhöht.<br />

Für einen Mindestlohn von 8,50 Euro<br />

müssten also die Taxitarife deutlich erhöht<br />

werden?<br />

Domek: Es müssten zuallererst einmal<br />

die Umsätze steigen. Wenn einfach<br />

nur die Preise fürs Taxifahren steigen,<br />

wird eben weniger Taxi gefahren, damit<br />

ist uns auch nicht gedient.<br />

Also?<br />

Domek: Am allerwichtigsten wäre<br />

es, die schwarzen Schafe in <strong>der</strong> Branche<br />

aus dem Markt zu nehmen. Dann hätten<br />

saubere Betriebe wie wir natürlich mehr<br />

Umsatz. Für Berlin gibt es ja sage und<br />

schreibe 7600 Taxikonzessionen.<br />

Was heißt „schwarze Schafe“?<br />

Domek: Da gibt es etliche Unternehmen,<br />

die dem Finanzamt nur einen<br />

Bruchteil ihrer Taxiumsätze melden; <strong>der</strong><br />

Rest wird schwarz erwirtschaftet. Auch<br />

Scheinselbstständigkeit ist weitverbreitet,<br />

indem den Fahrern ein Taxi pro forma<br />

verpachtet wird, um Sozialabgaben zu<br />

sparen. Sehr viele Taxibetriebe in Berlin<br />

arbeiten mit solchen Methoden. Viele seriöse<br />

Unternehmen haben wegen dieser<br />

Wettbewerbsverzerrung in den vergangenen<br />

Jahren aufgegeben.<br />

Gehen Sie davon aus, dass bei Einführung<br />

eines Mindestlohns die „schwarzen<br />

Schafe“ eher noch mehr werden<br />

würden?<br />

Domek: Natürlich.<br />

Herr Haube, waren Sie auch schon<br />

als scheinselbstständiger Taxifahrer<br />

unterwegs?<br />

Haube: Nein. Man muss auch klar<br />

sagen, dass solche Sachen vor allem in<br />

Taxiunternehmen mit arabischem, iranischem,<br />

russischem o<strong>der</strong> türkischem Hintergrund<br />

praktiziert werden. Das erzählen<br />

mir ja sogar <strong>der</strong>en Fahrer.<br />

Warum gehen denn die Behörden gegen<br />

solche Betriebe nicht vor?<br />

Domek: Weil sich die Berliner Verwaltung<br />

seit mindestens 20 Jahren im<br />

Tiefschlaf befindet.<br />

Haube: Die teilweise hanebüchenen<br />

Zustände im Taxigewerbe scheinen die<br />

Behörden hier einfach nicht zu interessieren.<br />

In an<strong>der</strong>en Städten wird da ganz<br />

an<strong>der</strong>s durchgegriffen.<br />

Inwiefern setzen denn Car-Sharing-Modelle<br />

o<strong>der</strong> Limousinen-Services Ihre<br />

Branche noch zusätzlich unter Druck?<br />

Domek: Car-Sharing ist für uns nicht<br />

schlecht, weil das viele Leute dazu bringt,<br />

ihr eigenes Auto abzuschaffen – die nutzen<br />

dann zur Not auch öfter mal ein Taxi.<br />

Die Limousinen-Services hingegen sind<br />

eine aggressive Konkurrenz für uns.<br />

Müssten Sie schließen, wenn <strong>der</strong> Mindestlohn<br />

von 8,50 Euro käme und ansonsten<br />

in <strong>der</strong> Branche alles gleich<br />

bliebe?<br />

Domek: Ich müsste mit Sicherheit die<br />

Hälfte aller Fahrer entlassen.<br />

Herr Haube, das Risiko einer Entlassung<br />

würden Sie zugunsten des Mindestlohns<br />

in Kauf nehmen?<br />

Haube: Schwierige Frage. Am Ende<br />

würde ich mir wahrscheinlich einen an<strong>der</strong>en<br />

Job suchen und mit dem Taxifahren<br />

aufhören.<br />

Das Gespräch führte<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

93<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


KAPITAL<br />

Kommentar<br />

EWIGER ETATSTREIT<br />

Von HENRIK ENDERLEIN<br />

Mit fragilen Haushaltskompromissen verhin<strong>der</strong>n die USA eine<br />

Apokalypse <strong>der</strong> Märkte, während sich die Politik radikalisiert<br />

Taugen die USA als Garant <strong>der</strong> Weltleitwährung, wenn die<br />

größte Volkswirtschaft in immer kürzeren Abständen auf<br />

einen Staatsbankrott zusteuert, während die Landesführung<br />

ein unwürdiges Polit-Wrestling veranstaltet?<br />

Zuletzt waren die USA im Oktober dabei, in die Zahlungsunfähigkeit<br />

zu schlittern. Präsident Barack Obama und Oppositionsführer<br />

John Boehner hatten nichts Besseres zu tun, als<br />

sich Begriffe wie „Armageddon“ o<strong>der</strong> „Apokalypse“ um die<br />

Ohren zu hauen und sich gegenseitig zu bezichtigen, das Land<br />

in den Abgrund jagen zu wollen.<br />

Wenige Stunden bevor die beim drohenden Staatsbankrott<br />

obligatorischen Countdown-Uhren <strong>der</strong> US-Nachrichtensen<strong>der</strong><br />

auf null standen, kam es dann doch noch zum erwarteten<br />

Happy End. Weltuntergang abgewendet. USA wie<strong>der</strong> zahlungsfähig.<br />

Zumindest für die nächsten drei Monate.<br />

In Deutschland wurde das Spektakel abfällig und unter<br />

Heranziehung <strong>der</strong> gängigen Antiamerikanismen kommentiert:<br />

Vergleiche mit Cowboys und Hollywood waren dabei noch die<br />

freundlicheren. Also alles nur ein Schmierentheater?<br />

Eine solch oberflächliche Betrachtung verkennt, worum es<br />

wirklich geht. <strong>Der</strong> US-Haushaltsstreit ist kein aufgebauschter<br />

Polit-Showdown kurz vor High Noon, son<strong>der</strong>n Ausdruck eines<br />

immer dysfunktionaleren politischen Systems. Die zunehmende<br />

Polarisierung <strong>der</strong> amerikanischen Parteien lähmt das<br />

politische System in Washington. Die schlechte Nachricht ist,<br />

dass sich daran kurzfristig nichts än<strong>der</strong>n wird. Die gute Nachricht<br />

ist, dass es dennoch nicht zu einem Staatsbankrott <strong>der</strong><br />

USA kommen wird.<br />

Das Problem ist, dass die Mitte in <strong>der</strong> US-Politik an Bedeutung<br />

verloren hat. Wahlen entscheiden sich an den Rän<strong>der</strong>n:<br />

Die meisten Parlamentssitze werden nicht mehr zwischen Republikanern<br />

und Demokraten ausgefochten, son<strong>der</strong>n innerhalb<br />

<strong>der</strong> Parteien.<br />

Wichtigster Grund ist das „Redistricting“, die geografische<br />

Neuordnung von Wahlkreisen. Wahlkreisgrenzen sind in<br />

den vergangenen Jahren so lange neu gezeichnet worden, bis<br />

fast nur noch „rein“ linke o<strong>der</strong> rechte Bevölkerungsgruppen<br />

einen Abgeordneten benennen. Konsequenz: 90 Prozent <strong>der</strong><br />

US-Wahlkreise für das Repräsentantenhaus gelten als eindeutig<br />

republikanisch o<strong>der</strong> demokratisch.<br />

Die Entscheidung über den Mandatsträger fällt nicht mehr<br />

bei <strong>der</strong> Wahl selbst, son<strong>der</strong>n bei den Primaries, den innerparteilichen<br />

Vorwahlen. Wer diese Art <strong>der</strong> Kandidatenkür in seiner<br />

eigenen Partei gewinnen will, rückt oft stärker nach rechts<br />

o<strong>der</strong> links, um möglichst viele Vorwähler anzusprechen.<br />

Die Wahlbeteiligung bei den Primaries liegt meist nur bei<br />

rund 10 Prozent <strong>der</strong> Wahlberechtigten je Partei. Wenn in einem<br />

republikanischen Wahlkreis 10 Prozent <strong>der</strong> Wahlberechtigten<br />

zwischen vier Kandidaten entscheiden, dann reicht theoretisch<br />

die Mobilisierung von 3 Prozent <strong>der</strong> Wahlberechtigten zum<br />

Illustration: Florian Bayer<br />

94<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Einzug ins Repräsentantenhaus. Die Realität kommt <strong>der</strong> Theorie<br />

sehr nahe: Je<strong>der</strong> US-Wahlkreis steht für rund 700 000 Wähler.<br />

In <strong>der</strong> Regel reichen aber 20 000 bis 30 000 Stimmen zum<br />

Gewinn <strong>der</strong> Vorwahlen aus – also weniger als 5 Prozent <strong>der</strong><br />

Gesamtwähler. Und weil Primaries vor allem polarisierte, oft<br />

radikalisierte Wählergruppen anziehen, polarisieren und radikalisieren<br />

sich auch die Kandidaten.<br />

Nur so konnte eine Bewegung wie die Tea Party bei den<br />

Republikanern entstehen. Gleiches gilt aber auch für die Demokraten.<br />

Dass die gesetzliche Gesundheitsversicherung nach<br />

Jahrzehnten <strong>der</strong> Debatte überhaupt eine Chance bekam, liegt<br />

am wachsenden Einfluss des linken Spektrums <strong>der</strong> Partei.<br />

Im Repräsentantenhaus prallen daher Gruppen von Abgeordneten<br />

aufeinan<strong>der</strong>, <strong>der</strong>en Partikularinteressen so ausgeprägt<br />

sind, dass sie sich Kompromissen mit dem politischen<br />

„Gegner“ im Grundsatz verweigern. Die gegenseitige Blockade<br />

wird zum Tagesgeschäft, verschärft durch den Umstand, dass<br />

die Republikaner das Repräsentantenhaus und die Demokraten<br />

den Senat kontrollieren.<br />

<strong>Der</strong> ewige Streit um den Haushalt ist nur vor diesem Hintergrund<br />

zu verstehen. Allein die Tatsache, dass die USA sich<br />

mit <strong>der</strong> „Fiskalklippe“ automatisch drohende Sparmaßnahmen<br />

nach <strong>der</strong> Rasenmäher-Methode verordnet haben, zeigt, dass die<br />

US-Politik starke Zweifel an <strong>der</strong> eigenen Handlungsfähigkeit<br />

hegt. Da sich <strong>der</strong> Kongress 2011 nicht einigen konnte, welche<br />

Steuersenkungen aus <strong>der</strong> Bush-Ära beibehalten werden sollten,<br />

wurde <strong>der</strong> 1. Januar 2013 als Frist gesetzt, nach <strong>der</strong>en Ablauf<br />

<strong>der</strong> Rasenmäher zum Einsatz kommt. Erst am 1. Januar 2013<br />

um 2 Uhr morgens verlängerte <strong>der</strong> US-Senat die Frist.<br />

Keine zehn Monate später brach <strong>der</strong> Streit erneut aus. Und<br />

viel spricht dafür, dass sich das Schauspiel bald wie<strong>der</strong>holt.<br />

Denn <strong>der</strong> Schuldenkompromiss vom 17. Oktober 2013 ist hastig<br />

zusammengezimmert und extrem zerbrechlich. Wie schon<br />

oft in den vergangenen Monaten und Jahren wurden die Kernprobleme<br />

auf die lange Bank geschoben. Immer noch ist unklar,<br />

wie <strong>der</strong> US-Schuldenberg zurückgehen soll, wenn weite Teile<br />

<strong>der</strong> Republikaner Steuererhöhungen strikt ablehnen, gleichzeitig<br />

weite Teile <strong>der</strong> Demokraten Ausgabenkürzungen aber<br />

für unmöglich halten.<br />

Und die nächsten Fristen stehen schon an: Ein Haushaltskompromiss<br />

soll bis Mitte Dezember stehen, dann greifen die<br />

nächsten Schuldengrenzen im Januar und Februar 2014. Die<br />

Saga geht also weiter.<br />

Trotzdem wird es auf keinen Fall zu einem US-Staatsbankrott<br />

kommen. Ein Zahlungsausfall <strong>der</strong> USA hätte so undenkbar<br />

große Auswirkungen, dass niemand in <strong>der</strong> US-Politik dafür<br />

die Verantwortung übernehmen wollte. An den Finanzmärkten<br />

gilt ein solches Horrorszenario ohnehin als ausgeschlossen,<br />

was wie<strong>der</strong>um dazu führt, dass <strong>der</strong> innerparteiliche Druck auf<br />

die Schlüsselfiguren des Haushaltsstreits in Washington nicht<br />

zu groß wird. Hinzu kommt, dass die US-Notenbank Fe<strong>der</strong>al<br />

Reserve immer noch rund vier Milliarden Dollar pro Arbeitstag<br />

in den US-Anleihemarkt pumpt. Von echter Preisbildung<br />

kann da schon lange keine Rede mehr sein. Und die Haushaltskrise<br />

im Oktober hat wahrscheinlich sogar dazu beigetragen,<br />

dass die Fe<strong>der</strong>al Reserve ihre Anleihekäufe noch länger fortsetzt<br />

als ursprünglich erwartet.<br />

Denn auch die Fe<strong>der</strong>al Reserve weiß, dass die Folgen eines<br />

US-Staatsbankrotts für die Weltfinanzmärkte apokalyptisch<br />

wären. Ein Großteil <strong>der</strong> weltweiten Finanzmarkttransaktionen<br />

ist indirekt durch US-Staatsanleihen abgesichert. Diese<br />

Papiere würden im Bankrottfall auf Ramschniveau heruntergestuft<br />

und würden ihren Sicherheitsstatus für immer verlieren.<br />

Die Weltmärkte würden kollabieren. Daran haben we<strong>der</strong><br />

Republikaner noch Demokraten ein Interesse. Und so einigen<br />

sie sich dann doch immer wie<strong>der</strong> in letzter Minute auf eine<br />

Fristverlängerung.<br />

Am Ende bleibt die Hoffnung, dass vor allem die Republikaner<br />

in <strong>der</strong> letzten Episode <strong>der</strong> Haushaltskrise gemerkt haben,<br />

dass sich <strong>der</strong> US-Präsident nicht in politische Geiselhaft<br />

nehmen lässt, weil <strong>der</strong> Staatsbankrott keine Option ist. An<strong>der</strong>erseits<br />

werden gerade die Abgeordneten <strong>der</strong> Tea Party ihre<br />

Nie<strong>der</strong>lage vom Oktober nicht einfach akzeptieren. <strong>Der</strong> politische<br />

Druck auf die Parteispitze <strong>der</strong> Republikaner könnte größer<br />

werden, beson<strong>der</strong>s im Hinblick auf die im kommenden Herbst<br />

anstehenden „Midterm Elections“, bei denen das gesamte Repräsentantenhaus<br />

und ein Drittel des Senats neu gewählt werden.<br />

Die ersten Primaries dafür beginnen im März 2014, kurz<br />

nachdem die nächste Frist im Haushaltsstreit abläuft.<br />

HENRIK ENDERLEIN ist Wirtschaftsprofessor an <strong>der</strong> Hertie<br />

School of Governance in Berlin und ist kürzlich von seiner<br />

Gastprofessur an <strong>der</strong> Kennedy School in Harvard zurückgekehrt<br />

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KAPITAL<br />

Porträt<br />

MEISTER<br />

DES GELDES<br />

Wort, Tat, Tempo. Mario Draghi will den<br />

Euro retten. Um jeden Preis. <strong>Der</strong> Chef <strong>der</strong><br />

Europäischen Zentralbank ist <strong>der</strong> mächtigste<br />

Mann <strong>der</strong> EU. Wer sich ihm in den Weg stellt,<br />

den lässt er einfach stehen<br />

Von TIL KNIPPER und JULIUS MÜLLER-MEININGEN<br />

Um zu verstehen, wie Mario<br />

Draghi tickt, muss man<br />

kein Volkswirt sein, geschweige<br />

denn Bankbilanzen<br />

lesen können. Es reicht<br />

eine Rückblende ins Jahr 2005, jenes<br />

Jahr, in dem Draghi als Gouverneur an<br />

die Spitze <strong>der</strong> Banca d’Italia rückte. Im<br />

Palazzo Koch, dem Sitz <strong>der</strong> italienischen<br />

Notenbank in <strong>der</strong> Via Nazionale in Rom,<br />

stand die Zeit, wie in den unzähligen an<strong>der</strong>en<br />

Adelspalästen <strong>der</strong> Stadt, in denen<br />

sich seit Jahrhun<strong>der</strong>ten nichts verän<strong>der</strong>t.<br />

Mit Draghi zog die Mo<strong>der</strong>ne ein. <strong>Der</strong><br />

Pomp und die Historie des Hauses interessierten<br />

den gebürtigen Römer nie. Sein<br />

Vorgänger hatte einen Kofferträger beschäftigt,<br />

Draghi entband ihn von seinen<br />

Aufgaben und trug seine Aktentasche<br />

selbst. Für sein Büro wählte er<br />

ein schlichtes, mo<strong>der</strong>nes Design, ein<br />

Gemälde mit den Leiden des heiligen<br />

Andreas musste weichen. Gemessen an<br />

<strong>der</strong> Schwerfälligkeit des italienischen<br />

Bankenadels sind solche Maßnahmen<br />

nichts an<strong>der</strong>es als Exorzismus. Aber<br />

Draghi hatte da erst begonnen.<br />

Die größten Verän<strong>der</strong>ungen musste<br />

<strong>der</strong> träge Organismus <strong>der</strong> Notenbank verdauen.<br />

Leitende Mitarbeiter bekamen<br />

Blackberrys, alle Computer erhielten<br />

einen Internetzugang. Noch heute halten<br />

die Mitarbeiter <strong>der</strong> Bank diesen,<br />

schon damals lange überfälligen Schritt<br />

für eine Revolution. Als Draghi für sich<br />

selbst einen Laptop for<strong>der</strong>te, stellte sich<br />

die Technikabteilung quer. Ein tragbarer<br />

Computer, wozu das denn? <strong>Der</strong> Gouverneur<br />

verlor nicht etwa die Fassung. Er rief<br />

seinen Sohn Giacomo an und trug ihm<br />

auf, einen Laptop für Papà zu besorgen.<br />

Typisch Draghi: Er sucht selten die<br />

direkte Konfrontation, son<strong>der</strong>n umgeht<br />

Hin<strong>der</strong>nisse o<strong>der</strong> Kontrahenten,<br />

die sich ihm in den Weg stellen,<br />

lieber. Die an<strong>der</strong>en lässt er<br />

so einfach stehen. „Er ist ein<br />

Meister darin, Mehrheiten zu<br />

organisieren und gleichzeitig<br />

seine Gegner zu isolieren“,<br />

sagt ein Notenbanker, <strong>der</strong><br />

seinen Namen nicht in <strong>der</strong><br />

Zeitung lesen will.<br />

Vor zwei Jahren hat<br />

<strong>der</strong> 66 Jahre alte Draghi<br />

die Nachfolge des Franzosen<br />

Jean-Claude Trichet<br />

als Präsident <strong>der</strong><br />

Europäischen Zentralbank<br />

angetreten.<br />

In <strong>der</strong> Krise um den<br />

Euro ist Draghi zum<br />

96<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


97<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


KAPITAL<br />

Porträt<br />

Chronik<br />

DER WEG DES<br />

MARIO DRAGHI<br />

Istituto Massimo, Rom<br />

Schon als Schüler des elitären<br />

Jesuitengymnasiums<br />

in Rom trat Mario Draghi<br />

auf wie ein Notenbanker:<br />

„Tadellos gekleidet im blauen<br />

Anzug, immer wohlfrisiert“,<br />

erinnert sich sein ehemaliger<br />

Mitschüler, <strong>der</strong> heutige<br />

Ferrari­Präsident Luca di<br />

Montezemolo, <strong>der</strong> ihm aus<br />

<strong>der</strong> Hinterbank immer die<br />

Haare zerzauste. Draghi<br />

sei „zwar etwas ernst, aber<br />

nie langweilig“ gewesen<br />

und habe ihn immer abschreiben<br />

lassen<br />

„Wenn wir<br />

das Richtige<br />

machen,<br />

kommen wir<br />

raus aus <strong>der</strong><br />

Nummer“<br />

Ministero del Tesoro, Rom<br />

Von 1991 bis 2001 diente<br />

Mario Draghi als Generaldirektor<br />

im italienischen<br />

Finanzministerium neun<br />

Regierungen. Durch die<br />

von ihm vorangetriebene<br />

Privatisierung <strong>der</strong> Italien<br />

AG verhin<strong>der</strong>te er den<br />

Staatsbankrott. Bei den<br />

Verhandlungen des<br />

Maastricht­Vertrags leitete<br />

Draghi die italie nische<br />

Delegation und brachte es<br />

fertig, Italien trotz <strong>der</strong><br />

schwachen Lira als<br />

Gründungsmitglied in die<br />

europäische Gemeinschaftswährung<br />

zu führen<br />

mächtigsten Mann Europas aufgestiegen,<br />

das Wirtschaftsmagazin Forbes hat ihn<br />

kürzlich auf Platz 9 <strong>der</strong> einflussreichsten<br />

Menschen <strong>der</strong> Welt gesetzt. Voraussichtlich<br />

ab Ende des kommenden Jahres<br />

übernimmt die EZB im Rahmen <strong>der</strong> Bankenunion<br />

auch noch die Aufsicht über<br />

Europas Großbanken. Draghis Stärke<br />

zeigt zugleich die Schwäche <strong>der</strong> europäischen<br />

Politiker.<br />

Auch bei <strong>der</strong> EZB in Frankfurt ist<br />

mit Draghi die Mo<strong>der</strong>ne eingezogen, in<br />

diesem Fall die geldpolitische. Durch<br />

entschlossenes Auftreten hat er in seiner<br />

noch relativ kurzen Amtszeit bereits<br />

zwei Mal verhin<strong>der</strong>t, dass die Eurozone<br />

auseinan<strong>der</strong>bricht.<br />

ES BEGANN MIT <strong>der</strong> „Dicken Bertha“. So<br />

hieß eigentlich die größte deutsche Kanone<br />

im Ersten Weltkrieg. Aber kurz<br />

nach Draghis Arbeitsbeginn im November<br />

2011 war damit eine Billion Euro<br />

gemeint, die die EZB den europäischen<br />

Banken zur Verfügung stellte, Laufzeit<br />

drei Jahre, Zinssatz 1 Prozent. Die Banken<br />

sollten mit diesem Geld Staatsanleihen<br />

kaufen. Für die Geldhäuser ein lohnendes<br />

Geschäft, da sie die Zinsdifferenz<br />

zwischen dem billigen EZB-Geld und den<br />

Anleihen von Län<strong>der</strong>n wie Spanien und<br />

Italien, die damals an den Märkten 4 bis<br />

5 Prozent Zinsen zahlen mussten, ohne<br />

großes Risiko für sich verbuchen konnten.<br />

Kurzfristig verhin<strong>der</strong>te Draghi damit,<br />

dass die Anleihezinsen dieser Län<strong>der</strong> weiter<br />

in die Höhe schossen und Spanien und<br />

Italien unter den ESM-Rettungsschirm<br />

hätten fliehen müssen, womit dieser Mechanismus<br />

angesichts <strong>der</strong> Größe <strong>der</strong> beiden<br />

Län<strong>der</strong> überfor<strong>der</strong>t gewesen wäre.<br />

Als sich die Zinsspanne zwischen<br />

den Staatsanleihen <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> Eurozone<br />

erneut vergrößerte, unternahm<br />

Draghi im Sommer 2012 seinen bisher<br />

gewagtesten Schritt. Am 26. Juli, einen<br />

Tag vor <strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> Olympischen<br />

Spiele in London, brachte er bei<br />

einer Investorenkonferenz in <strong>der</strong> britischen<br />

Hauptstadt die Märkte mit den<br />

inzwischen legendären Worten „whatever<br />

it takes“ zur Räson: Koste es, was<br />

es wolle. Die Botschaft kam an: Wer an<br />

den Finanzmärkten gegen den Euro wettert,<br />

hat Super-Mario als Gegner, <strong>der</strong> als<br />

EZB-Chef über unbegrenzte Geldreserven<br />

verfügt.<br />

Unter dem Namen outright monetary<br />

transaction, o<strong>der</strong> OMT, hat die<br />

EZB Draghis Aussagen kurz darauf präzisiert.<br />

Die Zentralbank verspricht, in<br />

unbegrenzter Menge Staatsanleihen eines<br />

Landes zu kaufen mit einer Laufzeit<br />

von weniger als drei Jahren. Voraussetzung<br />

dafür ist, dass das Land sich an den<br />

ESM-Rettungsfonds wendet und sich dessen<br />

Bedingungen unterwirft: eine rigide<br />

Sparpolitik und harte Strukturreformen.<br />

In Anspruch genommen hat das<br />

OMT-Programm noch kein Staat. Die<br />

bloße Ankündigung Draghis hat die Spekulationen<br />

gegen den Euro beendet und<br />

die Refinanzierungskosten <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> an<br />

den Märkten gesenkt. Anfang November<br />

setzte Draghi geldpolitisch einen drauf,<br />

als er die Leitzinsen <strong>der</strong> Eurozone auf<br />

0,25 Prozent senken ließ, <strong>der</strong> tiefste Wert<br />

seit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> EZB 1998.<br />

Während Draghi in Italien bewun<strong>der</strong>t<br />

wird und auch international viel<br />

Lob erhält, steht er in Deutschland immer<br />

wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Kritik. Seine profiliertesten<br />

Gegner hierzulande sind <strong>der</strong><br />

Ökonom Hans-Werner Sinn, Chef des<br />

Ifo-Instituts in München, <strong>der</strong> ehemalige<br />

EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark und<br />

Bundesbankchef Jens Weidmann. Im Rat<br />

<strong>der</strong> Europäischen Zentralbank stimmte<br />

Weidmann gegen die Dicke Bertha, gegen<br />

das OMT-Programm und auch gegen<br />

die jüngste Zinssenkung. Seine Worte<br />

finden hierzulande viel Gehör.<br />

Sinn, Stark und Weidmann argumentieren<br />

eher juristisch als ökonomisch,<br />

wenn sie sich um die Unabhängigkeit<br />

<strong>der</strong> Zentralbank sorgen und<br />

Draghi Verstöße gegen die europäischen<br />

Verträge vorwerfen. Unabhängig ist in<br />

den Augen dieser Ökonomen aber ohnehin<br />

immer nur <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> ihre Meinung<br />

teilt. Am Telefon holt Jürgen Stark<br />

tief Luft, um dann in einem Kurzreferat<br />

zu erklären, warum die Maßnahmen<br />

<strong>der</strong> EZB unter Draghi und Trichet gegen<br />

den Maastrichter Vertrag verstoßen<br />

und Draghi mit seinen außergewöhnlichen<br />

Maßnahmen das Mandat <strong>der</strong> Zentralbank<br />

bereits weit überdehnt hat. OMT<br />

steht bei Stark daher für „outside the<br />

mandate transactions“, weil sie gegen<br />

das Verbot <strong>der</strong> Vergemeinschaftung <strong>der</strong><br />

Haftung für Staatsschulden und gegen<br />

die direkte Staatsfinanzierung durch die<br />

Zentralbank verstießen.<br />

Fotos: Olaf Blecker (Seite 97), Antonio Scattolon/A3/Contrasto/laif<br />

98<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Verstehen, worüber an<strong>der</strong>e nur schreiben.<br />

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KAPITAL<br />

Porträt<br />

Goldman Sachs, London<br />

2002 ging Draghi als<br />

Managing Director nach<br />

London ausge rechnet<br />

zu Goldman Sachs, <strong>der</strong><br />

US­Investmentbank,<br />

die Griechenland bei <strong>der</strong><br />

Verschleierung ihrer<br />

Staats schulden geholfen<br />

haben soll. Nach eigenen<br />

Angaben hat Draghi in<br />

seiner Zeit bei Goldman<br />

keinen „einzigen Deal<br />

mit Regierungen gemacht“<br />

und auch keine Kenntnis<br />

von den Transaktionen<br />

mit <strong>der</strong> Regie rung in<br />

Athen gehabt<br />

Sinn und Stark reden gerne darüber,<br />

was Draghi und die EZB alles nicht machen<br />

dürfen. Auf Nachfrage, wie ihre Lösungsvorschläge<br />

für die Krise aussehen,<br />

plädieren sie mehr o<strong>der</strong> weniger offen<br />

für den Austritt einiger Krisenstaaten<br />

aus <strong>der</strong> gemeinsamen Währung. Welche<br />

Konsequenzen sich daraus für das<br />

weltweite Finanzsystem ergäben, können<br />

sie auch nicht voraussagen. Hauptsache,<br />

die einmal aufgestellten Regeln<br />

werden in <strong>der</strong> engstmöglichen Auslegung<br />

eingehalten. Sinn scheint fast zu<br />

hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht,<br />

das sein Urteil zur EZB vermutlich<br />

Anfang 2014 treffen wird, Draghis Politik<br />

des billigen Geldes für verfassungswidrig<br />

erklären wird.<br />

Weidmann ist ein Befürworter <strong>der</strong><br />

Sparpolitik von Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkel, <strong>der</strong>en wirtschaftspolitischer Berater<br />

er bis zu seinem Wechsel zur Bundesbank<br />

war. Dass diese Politik die Krisenlän<strong>der</strong><br />

wirtschaftlich noch mehr zu<br />

schwächen droht, scheint ihn nicht zu<br />

stören, solange sich die EZB auf die Einhaltung<br />

<strong>der</strong> Preisstabilität konzentriert.<br />

Weidmann lässt sich in Interviews gerne<br />

mit Aussagen wie dieser zitieren: „Ich<br />

möchte, dass in Europa öffentlich und<br />

konkret darüber diskutiert wird, zu welchem<br />

Maß an wirtschaftspolitischer Integration<br />

wir bereit sind.“<br />

Er möchte lieber diskutieren statt<br />

handeln. Das ist <strong>der</strong> größte Unterschied<br />

zwischen Draghi und Weidmann. Während<br />

<strong>der</strong> Deutsche noch zur Diskussion<br />

einlädt, hat <strong>der</strong> Italiener bereits eine<br />

Mehrheit für seinen Vorschlag organisiert.<br />

Draghis Credo lautet: „Das größte<br />

Risiko in Krisenzeiten ist nicht das Handeln,<br />

son<strong>der</strong>n das Nichthandeln.“<br />

Er hat diese Lektion auf die denkbar<br />

härteste Weise lernen müssen. Draghis<br />

Vater starb, als Mario 15 Jahre alt war,<br />

seine Mutter wenige Jahre später. So<br />

wurde er zum Familienvorstand für<br />

sich und seine Geschwister. Das Geld,<br />

„Ich weiß, was<br />

Inflation ist.<br />

Ich weiß, was<br />

sie anrichten<br />

kann“<br />

Banca d’Italia, Rom<br />

Die Zeit wirkt wie stehen<br />

geblieben im Palazzo Koch,<br />

dem Sitz <strong>der</strong> italienischen<br />

Zentralbank. Die aus weißem<br />

Travertin gemeißelte<br />

Ehrentreppe, ausgelegt mit<br />

rotem Teppich, signalisiert<br />

jedem Besucher: „Du bist<br />

klein, die Bank ist groß.“<br />

Als italienischer Zentralbankchef<br />

( 2005 bis 2011 )<br />

interessierte sich Mario<br />

Draghi nicht für den Pomp<br />

des alten Adelspalasts mit<br />

den antiken Scherben und<br />

den flämischen Wandteppichen.<br />

Er benutzte immer<br />

den schnellsten Weg in sein<br />

Büro vom Hof direkt in<br />

den Direktorentrakt<br />

Fotos: Jiri Rezac/VISUM, IMAGO<br />

100<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


das ihnen die Eltern hinterlassen hatten,<br />

legte ein Vormund in italienischen<br />

Staats papieren in Lira an. Die grassierende<br />

Inflation in Italien in den siebziger<br />

Jahren mit Teuerungsraten von 15 Prozent<br />

fraß fast das Erbe auf. Draghi, <strong>der</strong><br />

damals bereits Wirtschaftswissenschaften<br />

an <strong>der</strong> La Sapienza in Rom studierte,<br />

musste tatenlos zusehen, da <strong>der</strong> Vater<br />

verfügt hatte, dass sie das Geld erst mit<br />

<strong>der</strong> Volljährigkeit <strong>der</strong> jüngsten Schwester<br />

erhielten.<br />

Draghi weiß aus eigener Erfahrung,<br />

wie sich Inflation anfühlt. Als Meister<br />

<strong>der</strong> subtilen Kommunikation hat er<br />

diese Episode aus seinem Leben weiterverbreitet.<br />

Insofern ist es fast beleidigend,<br />

dass Draghi vorgeworfen wird, die EZB<br />

schüre mit <strong>der</strong> jüngsten Zinssenkung die<br />

Inflation in <strong>der</strong> Eurozone.<br />

Dabei ist das Gegenteil <strong>der</strong> Fall. Die<br />

Preissteigerung in <strong>der</strong> Eurozone ist so gering,<br />

dass Experten eher Angst vor einer<br />

Deflation haben. Wenn die Preise<br />

sinken, steigen die Sparguthaben im<br />

Wert, was zu einer Abwärtsspirale für<br />

die Konjunktur führen kann, weil keiner<br />

mehr Geld ausgeben will. Die Zinssenkung<br />

soll dem entgegenwirken, weil<br />

in einer Deflation auch die Schulden<br />

real ansteigen. Für Krisenlän<strong>der</strong> wird<br />

es noch schwieriger, ihre Schulden zu<br />

bedienen. Wenn aber durch niedrigere<br />

Zinsen mehr Euro auf den Markt kommen<br />

und <strong>der</strong> Kurs dadurch sinkt, ist das<br />

für die Zentralbank ein willkommener<br />

Nebeneffekt: Die Wettbewerbsfähigkeit<br />

<strong>der</strong> Schuldenlän<strong>der</strong> verbessert sich zumindest<br />

kurzfristig.<br />

BERLINER POLITIKER halten sich mit<br />

Aussagen über Draghi immer mit dem<br />

Hinweis auf die Unabhängigkeit <strong>der</strong><br />

Notenbank zurück. Zu den wenigen<br />

Ausnahmen gehört <strong>der</strong> haushaltspolitische<br />

Sprecher <strong>der</strong> Unionsfraktion Norbert<br />

Barthle, <strong>der</strong> seit Draghis Rede im<br />

Bundestag im Oktober 2012 ein Fan des<br />

EZB-Chefs ist. Er nennt ihn nur noch<br />

„den preußischsten aller Italiener“.<br />

Das wichtigste Argument von<br />

Draghis Kritikern ist <strong>der</strong> Reformdruck<br />

auf die schwächelnden Staaten: Wenn<br />

sie sicher sein können, dass die Notenbank<br />

eh einspringt, können sie es mit<br />

den Verän<strong>der</strong>ungen langsam angehen<br />

lassen. In die Debatte hat sich kürzlich<br />

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<strong>Cicero</strong>-<br />

Hotel<br />

Bad Doberan – Heiligendamm: Grand Hotel Heiligendamm · Bad Pyrmont: Steigenberger Hotel<br />

Baden-Baden: Brenners Park-Hotel & Spa · Baiersbronn: Hotel Traube Tonbach · Bergisch Gladbach:<br />

Grandhotel Schloss Bensberg, Schlosshotel Lerbach · Berlin: Hotel Concorde, Brandenburger Hof,<br />

Grand Hotel Esplanade, InterContinental Berlin, Kempinski Hotel Bristol, Hotel Maritim, The Mandala<br />

Hotel, The Mandala Suites, Savoy Berlin, The Regent Berlin, The Ritz-Carlton Hotel · Binz/Rügen:<br />

Cerês Hotel · Dresden: Hotel Taschenbergpalais Kempinski · Celle: Fürstenhof Celle · Düsseldorf:<br />

InterContinental Düsseldorf, Hotel Nikko · Eisenach: Hotel auf <strong>der</strong> Wartburg · Ettlingen: Hotel-Restaurant<br />

Erbprinz · Frankfurt a. M.: Steigenberger Frankfurter Hof, Kempinski Hotel Gravenbruch · Hamburg:<br />

Crowne Plaza Hamburg, Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten, Hotel Atlantic Kempinski, Madison<br />

Hotel Hamburg, Panorama Harburg, Renaissance Hamburg Hotel, Strandhotel Blankenese · Hannover:<br />

Crowne Plaza Hannover · Hinterzarten: Parkhotel Adler · Keitum/Sylt: Hotel Benen-Diken-Hof Köln:<br />

Excelsior Hotel Ernst · Königstein im Taunus: Falkenstein Grand Kempinski, Villa Rothschild Kempinski<br />

· Königswinter: Steigenberger Grand Hotel Petersberg · Konstanz: Steigenberger Inselhotel<br />

Magdeburg: Herrenkrug Parkhotel, Hotel Ratswaage · Mainz: Atrium Hotel Mainz, Hyatt Regency<br />

Mainz · München: King’s Hotel First Class, Le Méridien, Hotel München Palace · Neuhardenberg: Hotel<br />

Schloss Neuhardenberg · Nürnberg: Le Méridien · Rottach-Egern: Park-Hotel Egerner Höfe, Hotel<br />

Bachmair am See, Seehotel Überfahrt · Stuttgart: Hotel am Schlossgarten, Le Méridien · Wiesbaden:<br />

Nassauer Hof · ITALIEN Tirol bei Meran: Hotel Castel · ÖSTERREICH Wien: Das Triest · SCHWEIZ<br />

Interlaken: Victoria Jungfrau Grand Hotel & Spa · Lugano: Splendide Royale · Luzern: Palace Luzern<br />

St. Moritz: Kulm Hotel, Suvretta House · Weggis: Post Hotel Weggis · Zermatt: Boutique Hotel Alex


KAPITAL<br />

Porträt<br />

Europäische Zentralbank,<br />

Frankfurt<br />

Seit zwei Jahren steht<br />

Mario Draghi jetzt an <strong>der</strong><br />

Spitze <strong>der</strong> EZB. In <strong>der</strong> Krise<br />

<strong>der</strong> Währungsunion ist<br />

<strong>der</strong> Italiener zum wichtigsten<br />

Wirtschaftspolitiker<br />

Europas aufgestiegen.<br />

Durch die Einrichtung <strong>der</strong><br />

gemeinsamen europäischen<br />

Bankenaufsicht bei<br />

<strong>der</strong> EZB in Frankfurt erhält<br />

Draghi in den kommenden<br />

Jahren noch mehr Verantwortung.<br />

Seine achtjährige<br />

Amtszeit endet 2019<br />

„Wenn du<br />

überzeugt bist,<br />

dass etwas<br />

getan werden<br />

muss, musst<br />

du es tun“<br />

Lancaster House, London<br />

<strong>Der</strong> 26. Juli 2012 könnte<br />

einmal als Wendepunkt <strong>der</strong><br />

Eurokrise in die Geschichte<br />

eingehen. Bei einer<br />

Investorenkonferenz im<br />

feudalen Lancaster House<br />

in London überraschte<br />

Mario Draghi seine Zuhörer<br />

mit <strong>der</strong> mutigsten Aussage<br />

seiner Karriere: „Innerhalb<br />

unseres Mandats ist die<br />

EZB bereit, alles Notwendige<br />

zu tun, um den Euro<br />

zu erhalten“, sagte er und<br />

fügte nach einer effektvollen<br />

Pause hinzu, „und<br />

glauben Sie mir, es wird<br />

genug sein“<br />

Draghis Doktorvater, <strong>der</strong> Wirtschaftsnobelpreisträger<br />

Robert Solow, eingemischt:<br />

„Natürlich braucht Europa Reformen.<br />

Das gilt für die Staaten des Südens,<br />

aber auch für Deutschland. Aber es kann<br />

doch nicht sein, dass die Notenbanker die<br />

Wirtschaft wissentlich in eine Depression<br />

stürzen, nur damit die Politik zum Handeln<br />

gezwungen wird“, sagte er in einem<br />

Interview mit <strong>der</strong> Zeit. Er wünsche sich,<br />

dass Draghi sich weiter so gegen den Abschwung<br />

stemmt. „Es ging uns nie um<br />

die reine Lehre, son<strong>der</strong>n immer auch um<br />

die praktische Anwendung“, sagt Solow.<br />

Draghi ist ein gelehriger Schüler.<br />

„Wenn du überzeugt bist, dass etwas getan<br />

werden muss, musst du es tun“, sagt<br />

er, nur dann sei er mit seinem Gewissen<br />

im Reinen.<br />

Auch mit drohenden Staatspleiten<br />

hat Draghi Erfahrungen gesammelt in<br />

seiner Zeit als Generaldirektor des italienischen<br />

Finanzministeriums in den<br />

Neunzigern. „Wir waren nur Millimeter<br />

vom Abgrund entfernt“, erinnert sich<br />

sein Freund Francesco Giavazzi, Professor<br />

für Ökonomie am MIT in Boston. Er<br />

arbeitete damals gemeinsam mit Draghi<br />

im Finanzministerium. „Mario bleibt<br />

extrem cool in Situationen, in denen<br />

normale Leute längst durchdrehen. Er<br />

sagt dann immer: ‚Wenn wir das Richtige<br />

machen, kommen wir raus aus <strong>der</strong><br />

Nummer.‘ Ich konnte in <strong>der</strong> Zeit nachts<br />

kein Auge zumachen, während Mario<br />

jeden Morgen bestens erholt ins Ministerium<br />

kam.“<br />

Draghi sagt selbst oft, dass die EZB<br />

alleine die Krise nicht beenden, son<strong>der</strong>n<br />

nur Zeit für Reformen kaufen kann. Er<br />

hat immer betont, dass er nur ein Diener<br />

des Staates sei. Im aufgedrehten Palazzo,<br />

wie das politisch-wirtschaftliche Machtsystem<br />

in Rom genannt wird, macht ihn<br />

dies zu einem Fremdkörper – aber zu einem<br />

mit hohem Ansehen. Seit seiner Zeit<br />

im Finanzministerium gibt es in <strong>der</strong> italienischen<br />

Politik kaum einen, <strong>der</strong> einen<br />

so tadellosen Ruf genießt: „Wenn Mario<br />

Monti ein Katholik ist, dann ist Mario<br />

Draghi im Vergleich dazu <strong>der</strong> Papst“, sagt<br />

einer, <strong>der</strong> mit beiden gut befreundet ist.<br />

Durch seine exponierte Stellung als<br />

EZB-Präsident während <strong>der</strong> schlimmsten<br />

Krise <strong>der</strong> Währungsunion wird Draghi<br />

inzwischen überall erkannt. Er erträgt es<br />

mit seinem stoischen Gesichtsausdruck,<br />

hinter dem er auch bei zähen Sitzungen<br />

allergrößte Langeweile verbergen kann.<br />

Er ist kein typischer Römer. Sein fast britisches<br />

Un<strong>der</strong>statement lädt selten zum<br />

in Rom beinahe obligatorischen Schwatz<br />

ein. Zu Hause im Parioli-Viertel im Norden<br />

<strong>der</strong> Stadt geht er am liebsten in die<br />

Trattoria „Ambasciata d’Abruzzo“. Meist<br />

isst er allein, setzt sich an einen abgelegenen<br />

Tisch. Er will kein Aufsehen. <strong>Der</strong><br />

Wirt Roberto Poggi serviert ihm ohne zu<br />

fragen abbacchio al forno, Lammbraten<br />

mit Kartoffeln, eine römische Spezialität<br />

und Draghis Leibgericht.<br />

IN DER NACHBARSCHAFT IN ROM kennt<br />

ihn je<strong>der</strong>. Niemand verliert ein schlechtes<br />

Wort über ihn. Die Einzelhändler gegenüber<br />

haben zwar leichte Umsatzeinbußen<br />

hinnehmen müssen, weil Carabinieri aus<br />

Sicherheitsgründen immer einige Parkplätze<br />

vor dem Haus <strong>der</strong> Draghis absperren<br />

müssen, sodass die Kunden <strong>der</strong> Bar,<br />

des Tabakladens und des Maßschnei<strong>der</strong>s<br />

nicht mehr anhalten können. „Aber er<br />

will dieses Chaos ja auch nicht“, sagt <strong>der</strong><br />

Schnei<strong>der</strong>. Draghi ist gar nicht mehr so<br />

häufig in Rom, da seine Tochter Fe<strong>der</strong>ica<br />

mit den zwei Enkeln in Mailand lebt, sodass<br />

er und seine Frau Serena zwischen<br />

Frankfurt, Rom und Mailand pendeln.<br />

In <strong>der</strong> Banca d’Italia weisen noch<br />

eine Plakette und ein Ölgemälde im vornehmen<br />

Rosa Salon auf sein Wirken hin.<br />

Auf dem Bild ist Draghi akkurat gescheitelt<br />

wie immer. Im Gesicht hat er viele<br />

Falten, als habe <strong>der</strong> Künstler geahnt,<br />

dass Draghis Aufgabe in Frankfurt noch<br />

anstrengen<strong>der</strong> wird. Wie immer trägt er<br />

einen dunklen Anzug, das Hemd ist weiß<br />

ohne Manschettenknöpfe. Seine Hand<br />

ruht auf einem Stapel Bücher, auf einem<br />

Tisch liegen drei Murmeln. Symbole für<br />

die Weisheit eines Mannes, <strong>der</strong> viel ins<br />

Rollen gebracht hat und an<strong>der</strong>s ist als die<br />

üblichen Krakeeler des öffentlichen Lebens<br />

in Italien? Wenn er in sechs Jahren<br />

zum Ende seiner Amtszeit so alt ist, wie<br />

er jetzt schon auf dem Bild aussieht, hat<br />

er immer noch Zeit, als Staatspräsident<br />

die italienische Politik zu reformieren.<br />

Bei den Recherchen von JULIUS MÜLLER-<br />

MEININGEN in Italien und TIL KNIPPER<br />

in Deutschland gab es eine gemeinsame<br />

Erkenntnis: Draghi mag nicht <strong>der</strong> größte<br />

Charismatiker sein, aber in seinem Umfeld<br />

kann er fast jeden für sich gewinnen<br />

Foto: Action Press<br />

102<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


STIL<br />

„ Oft habe ich mich<br />

gefragt, warum Weinläden<br />

ihr Angebot nicht nach<br />

Wirkung auffächern,<br />

son<strong>der</strong>n nach Rebsorten<br />

und Regionen. Warum<br />

berät einen niemand<br />

bezüglich <strong>der</strong> vielen<br />

grundverschiedenen Arten<br />

<strong>der</strong> Trunkenheit? “<br />

<strong>Cicero</strong>-Autorin Lena Bergmann über<br />

ihre persönliche Art des Weingenießens, Seite 106<br />

103<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


STIL<br />

Interview<br />

„ES MUSS JA NICHT ÖDE SEIN“<br />

Was können wir von Vampiren über das Leben lernen? Die Schauspielerin Tilda Swinton<br />

über ihre Rolle als kunstbeflissene Blutsaugerin in Jim Jarmuschs neuem Film<br />

Foto: VELTMAN/NYT/Redux/laif<br />

Frau Swinton, „Only Lovers Left Alive“<br />

ist ein Vampirfilm mit sehr schönen<br />

Bil<strong>der</strong>n, was auch daran liegt, dass<br />

das von Ihnen und Tom Hiddleston gespielte<br />

Vampirpaar einen seit Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />

verfeinerten Lebensstil pflegt.<br />

Sie räkeln sich auf Samtsofas, komponieren<br />

Musik, sammeln alte Vinylplatten,<br />

schätzen gute Literatur. Sind die<br />

beiden gelangweilte Bohemiens?<br />

Tilda Swinton: Adam und Eve langweilen<br />

sich eben nicht. Sie füllen ihr Dasein<br />

mit Kunst und mit schönen Dingen.<br />

Das ist ihre Rettung, da die Kunst wie die<br />

beiden unsterblich ist. Doch trotz ihrer<br />

Kultiviertheit ernähren sie sich von Blut<br />

und vertragen nur die Dunkelheit. Allerdings<br />

töten sie nicht und trinken unverseuchte<br />

Blutreserven aus langstieligen<br />

Kristallgläsern. Die Vampire, die wir bislang<br />

kannten, wirkten doch immer so, als<br />

hätten sie nichts zu tun, waren völlig ihrem<br />

barbarischen Tötungsinstinkt unterworfen.<br />

Sie hatten keinerlei Interessen<br />

o<strong>der</strong> Talente, was für ein ödes Dasein!<br />

Was reizt Sie noch an Ihrer Filmfigur?<br />

<strong>Der</strong> Weitblick, den Eve hat. Sie hat<br />

die Inquisition, Cholera, Pest und alle<br />

Weltkriege überlebt. Sie kann damit umgehen,<br />

dass das Dasein aus Höhen und<br />

Tiefen besteht. Das hat sie auch ihrem Lebenspartner<br />

voraus, <strong>der</strong> viel später zum<br />

Vampir wurde. Adam will sich zu Beginn<br />

des Filmes mal wie<strong>der</strong> das Leben nehmen,<br />

weil er die Gegenwart nicht mehr<br />

ertragen kann. Eve ist seine Retterin, immer<br />

wie<strong>der</strong>. Sie ist sehr emanzipiert.<br />

Es geht auch um die romantische Vorstellung<br />

<strong>der</strong> ewigen Liebe. Adam und<br />

Eve sind schon seit Jahrhun<strong>der</strong>ten ein<br />

Liebespaar …<br />

… und wie im richtigen Leben ist<br />

es für die beiden ein ständiger Kampf –<br />

irgendwann fühlt es sich immer an<br />

wie eine Ewigkeit und man droht zu<br />

ersticken. Man muss eine tiefe Verbindung<br />

pflegen, um nicht depressiv auf<br />

dem Sofa zu enden. Beson<strong>der</strong>s als Vampir.<br />

Und je<strong>der</strong> muss sein Leben mit Inhalten<br />

füllen. Adam und Eve leben deswegen<br />

auch nicht immer am gleichen Ort,<br />

aber sie telefonieren miteinan<strong>der</strong>. Er mit<br />

einem Gerät aus den Siebzigern, sie mit<br />

dem neuesten iPhone.<br />

Adam hat sich in einer Villa im morbiden<br />

Detroit verschanzt, die ätherische Eve<br />

lebt in Tanger. Es gibt eine Szene, in <strong>der</strong><br />

sie nachts durch die Kasbah von Tanger<br />

läuft und trotzdem von allen angestarrt<br />

wird, weil sie so an<strong>der</strong>s aussieht.<br />

Das kennen Sie sicher auch.<br />

Nicht auf diese Art, nein. Ich bin<br />

ziemlich gut darin, unsichtbar zu sein.<br />

Wenn ich in meinem Dorf in Schottland<br />

unterwegs bin, sorgt das für null Aufsehen,<br />

weil wir uns alle seit Ewigkeiten<br />

kennen.<br />

Anfang des Jahres traten Sie zusammen<br />

mit David Bowie im Video zu seinem<br />

Song „The Stars (Are Out Tonight)“<br />

als alterndes Ehepaar auf, dem durch<br />

den Einzug junger Musiker in <strong>der</strong> Nachbarschaft<br />

das eigene Älterwerden<br />

schmerzlich vor Augen geführt wird.<br />

Schön, dass Sie die Verbindung sehen.<br />

Auch da geht es um die Unvergänglichkeit<br />

von Kunst. Er singt „stars are<br />

never sleeping, the dead ones and the<br />

living“.<br />

David Bowies Comeback in diesem Jahr<br />

kam überraschend. Wussten Sie davon?<br />

Nun, auch Stars hören ja nicht auf zu<br />

leben, nur weil man eine Weile nichts von<br />

ihnen hört. Ich kenne David seit Jahren,<br />

und ich wusste, dass er an einem neuen<br />

Album arbeitet. Aber ich bin eine große<br />

Verfechterin von Geheimnissen. Es ist ein<br />

großer Luxus, ein Kunstwerk so unerwartet<br />

auf die Welt kommen zu lassen.<br />

<strong>Der</strong> Film beginnt mit einer Einstellung,<br />

in <strong>der</strong> die Kamera Sie dabei beobachtet,<br />

wie Sie friedlich schlummern, ein<br />

fast außerirdisch wirkendes Wesen mit<br />

langen Haaren. Das erinnert an Ihre<br />

eigene Kunstperformance „The Maybe“<br />

im New Yorker Museum of Mo<strong>der</strong>n Arts,<br />

wo die Besucher Ihnen beim Schlaf in einer<br />

Glasvitrine zuschauen konnten.<br />

Im Film wird viel geschlafen. Und<br />

viel getanzt. Beides habe ich als Performances<br />

getan. Ich kann gar nicht sagen,<br />

woher diese Gleichzeitigkeit kommt.<br />

Aber natürlich kreist man als Künstler<br />

immer wie<strong>der</strong> um die gleichen Themen.<br />

Was hatte es mit dieser Schlaf-Installation<br />

auf sich?<br />

Ein Teil dieser Performance war,<br />

keine Erklärung o<strong>der</strong> Interpretation<br />

abzugeben. Ich habe sie erstmals vor<br />

18 Jahren in London aufgeführt, ein Jahr<br />

später in Rom. Das Moma hatte mich bereits<br />

vor einiger Zeit eingeladen, aber ich<br />

wusste nicht genau, wie ich das Stück<br />

adap tieren sollte. Bis mir klar wurde,<br />

dass es für genau diesen Zeitpunkt, diese<br />

Stadt und dieses Museum nur funktioniert,<br />

wenn ich ohne Ankündigung und<br />

ohne Statement auftauche, rein zufällig.<br />

Und genauso überraschend verschwand<br />

ich auch wie<strong>der</strong>.<br />

Sie sind in so vielen Bereichen tätig, bleibt<br />

man da als Künstlerin glaubwürdig?<br />

Wahrscheinlich liegt es daran, dass<br />

ich aus <strong>der</strong> Kunst komme, durch meine<br />

Arbeit mit dem Künstler und Filmemacher<br />

<strong>Der</strong>ek Jarman in den achtziger Jahren,<br />

das sind meine Wurzeln. Ich bin kein<br />

Filmstar, <strong>der</strong> mal was mit Kunst machen<br />

will. Wenn ich experimentiere, drehe ich<br />

einen Blockbusterfilm, das ist für mich<br />

die große Ausnahme.<br />

Das Gespräch führte<br />

THOMAS ABELTSHAUSER<br />

105<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


STIL<br />

Weinprobe<br />

WEISSE<br />

WEIHNACHT<br />

Von LENA BERGMANN<br />

Die kalte Jahreszeit verlangt Ohrensessel-Weine,<br />

gehaltvoll, komplex, ausdauernd – und rot.<br />

Unsere Autorin än<strong>der</strong>t ihre Strategie:<br />

Sie überwintert diesmal mit Weißwein<br />

106<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Illustration: Lisa Schweizer<br />

<strong>Der</strong> Rotwein gehört zum<br />

Winter wie <strong>der</strong> Rauschebart<br />

zum Weihnachtsmann,<br />

lehrt das deutsche Bildungsbürgerbrauchtum.<br />

In dieser<br />

Hinsicht war auch ich konservativ. Von<br />

<strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong> ersten Flocken bis zu<br />

jener <strong>der</strong> ersten Knospen sah man mich<br />

in vergangenen Jahren nach 17 Uhr nur<br />

selten ohne einen großen Kelch in <strong>der</strong><br />

Hand. Das Rot darin meist mit Tendenz<br />

zur Tinte – denn ich liebe meine Weine<br />

effektiv: Nach zwei Gläsern sollten sie<br />

mich mit <strong>der</strong> Welt versöhnt haben. Das<br />

heißt: Ich sollte einen Zustand erreicht<br />

haben, den ich „die angenehme Grunddichte“<br />

nenne. Und dann ab ins Bett.<br />

In diesem Jahr ist alles an<strong>der</strong>s. Es<br />

begann an einem nasskalten Oktobertag.<br />

Nach <strong>der</strong> Arbeit lenkte sich mein<br />

Auto wie automatisch zu einem guten<br />

Berliner Weinladen, wo ich mich vor<br />

dem Regal mit Cabernet Sauvignon aus<br />

Kalifornien wie<strong>der</strong>fand. Wahrscheinlich<br />

deshalb, da ich aus finanzieller Vernunft<br />

gerade eine Einladung meiner Schwägerin<br />

ins Napa Valley ausgeschlagen<br />

hatte. Die Arbeit getan, die Hauptstadt<br />

grau, <strong>der</strong> Mann verreist: Eiche, mindestens<br />

14,5 Prozent, dachte ich mir. Da entdeckte<br />

ich das Etikett auf einer Flasche<br />

Chardonnay von Lewis Cellars, rund, ein<br />

schwarzes „L“ mit festlichen Serifen auf<br />

goldenem Untergrund.<br />

Sofort war ich in Gedanken bei einem<br />

an<strong>der</strong>en regnerischen Abend. Mein<br />

Mann und ich, noch kin<strong>der</strong>los und frei.<br />

Ein Wolkenbruch hatte uns in einem Fischerdörfchen<br />

in Neuengland Zuflucht in<br />

<strong>der</strong> Bar eines kleinen Hotels suchen lassen.<br />

Zum Wetter empfahl uns <strong>der</strong> Kellner<br />

eben diesen Lewis, <strong>der</strong> uns schon nach<br />

wenigen Schlucken tief in die Sessel am<br />

Kamin massierte. Mit seiner öligen Textur<br />

unsere Kehlen streichelnd, verlangsamte<br />

<strong>der</strong> Wein unser Gespräch, was wir<br />

als sehr angenehm empfanden.<br />

Für mich war dieser Chardonnay ein<br />

Schlüsselerlebnis. So glücklich hatten mich<br />

bisher sehr beson<strong>der</strong>e Rotweine gemacht.<br />

Da war sie, meine angenehme Grunddichte,<br />

diesmal kam sie in tiefem Gold.<br />

Dazu diese spezifische Geschmacksnote,<br />

die ich heute als jene von im Eichenfass<br />

ausgebauten Chardonnays kenne. Kein<br />

an<strong>der</strong>er Weißwein schmeckt ähnlich.<br />

So verließ ich den Weinladen an<br />

diesem Tag nicht mit einem Cabernet,<br />

son<strong>der</strong>n mit einer Kiste Chardonnay<br />

von Lewis – für <strong>der</strong>en Preis ich mir allerdings<br />

auch fast ein Ticket nach Kalifornien<br />

hätte leisten können. In diesem<br />

Winter, so beschloss ich, würden mich<br />

nur die Weißen wärmen – zum Nikolaus,<br />

an den Adventssonntagen und unterm<br />

Weihnachtsbaum.<br />

Oft habe ich mich gefragt, warum<br />

Weinläden ihr Angebot nicht nach Wirkung<br />

auffächern, son<strong>der</strong>n nach Rebsorten<br />

und Regionen. Warum berät einen<br />

niemand bezüglich <strong>der</strong> vielen grundverschiedenen<br />

Arten <strong>der</strong> Trunkenheit, die<br />

sich durch den Konsum von Wein erzielen<br />

lassen? Warum regelt man das nicht<br />

wie in <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>ländischen Cannabis-Industrie?<br />

Wer schon einmal in Amsterdam<br />

Marihuana gekauft hat, dem ist sicher angenehm<br />

aufgefallen, dass die Menükarten<br />

<strong>der</strong> Coffeeshops ihr Sortiment nach Effekt<br />

aufschlüsseln: „Sanftes, fröhlich stimulierendes<br />

High“. „Ebenso wunschlos<br />

wie reglos“. „Euphorisierendes, kommunikatives<br />

High“. Diesen Service wünsche<br />

ich mir auch vom deutschen Weinhandel.<br />

Es sollte Standard werden, dass man<br />

als Kunde sagen kann: Lieber Weinhändler,<br />

ich brauche mal einen Expertenrat.<br />

107<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


STIL<br />

Weinprobe<br />

Kommunizieren will ich heute nach Feierabend<br />

nicht mehr, dafür mein Buch zu<br />

Ende lesen, etwa 70 Seiten Richard Yates.<br />

Ich will mit meinem Mobiliar eins werden.<br />

Dabei soll <strong>der</strong> Wein geschmacklich<br />

nicht stehen bleiben. Ich darf morgen keinen<br />

Kater haben. Nach zwei großen Gläsern<br />

will ich in mein Bett. Mit <strong>der</strong> angenehmen<br />

Grunddichte. Verstehen Sie?<br />

Bei meinem Bekannten Guido Walter,<br />

Weinhändler in München, stößt mein<br />

Anliegen sofort auf Verständnis. Lei<strong>der</strong><br />

hat er seine Idee, ein Buch über unterschiedliche<br />

Wirkungsgrade von Alkohol<br />

zu schreiben, verworfen. Aber er berät<br />

mich am Telefon: „Du willst also keinen<br />

Sprinter.“ Ein Sprinter, erklärt er mir,<br />

ist ein typischer Vernissage-Wein. „Einer,<br />

<strong>der</strong> gleich da ist. Und dann kommt<br />

auch geschmacklich nicht mehr viel hinterher.“<br />

Also ein Wein, <strong>der</strong> frisch, fruchtig<br />

und vor<strong>der</strong>gründig ist. Dies sind die<br />

Eigenschaften, die man gemeinhin mit<br />

Weißwein assoziiert.<br />

Weine dieser Art befeuern Partys,<br />

Stehempfänge und Boutique-Eröffnungen,<br />

sind animierend und halten das<br />

Energielevel oben. Sie brauchen keine<br />

Essensbegleitung, sind sogenannte „Solo-Sipper“<br />

zum unkomplizierten Runterschütten<br />

und können durchaus schmecken.<br />

Aber sie sind nicht das, was ich<br />

suche. Sie sind nicht meditativ. Sie rufen<br />

keine Gelassenheit hervor. Ich suche<br />

im Wein die Entspannung. Gerade jetzt,<br />

im Winter.<br />

„Du suchst Ohrensessel-Weine“, sagt<br />

Guido. „Vielschichtige Weine, die deine<br />

Neugier halten. Gehaltvoll und konzentriert.<br />

Dies sind natürlich eher Rotwein-Attribute.“<br />

Er schickt mir drei<br />

seiner weißen Favoriten in dieser Kategorie,<br />

die ich in den folgenden Tagen auf<br />

ihre Wintertauglichkeit teste. Für meine<br />

70 Seiten Richard Yates zum Beispiel<br />

hat mir Guido einen Chardonnay „Tiglat“<br />

von Heinz Velich am Neusiedlersee<br />

empfohlen, den ich – wo sonst – in meinem<br />

Ohrensessel verkoste. Beim Lesen<br />

halte ich mich grundsätzlich an reinsortige<br />

Weine, denn aus Erfahrung weiß ich,<br />

dass sich bei einer Cuvée auch die Gedanken<br />

bald zu einer solchen mischen.<br />

Im Glas tiefes Goldgelb mit Bronzestich,<br />

ein Chardonnay, wie ich ihn liebe: Getoastete<br />

Eiche, Textur ölig. Aprikose, Vanille,<br />

Haselnuss, Rosenblüte. Ich muss<br />

nur alle vier Buchseiten einen Schluck<br />

nehmen, so lange dauert <strong>der</strong> Nachhall.<br />

Am nächsten Morgen katerfrei,<br />

abends dann einen Blanc de Noir, so<br />

nennt man einen Weißwein, <strong>der</strong> aus<br />

roten Trauben hergestellt wird. In <strong>der</strong><br />

Champagnerproduktion gang und gäbe,<br />

gilt dieses Verfahren bei stillen Weinen<br />

noch als Experiment. <strong>Der</strong> junge Winzer<br />

Benedikt Baltes gilt als experimentierfreudig,<br />

und mit dem „Blanc de Noir<br />

R“ des Weinguts Stadt Klingenberg hat<br />

er einen wahren Exoten auf die Flasche<br />

gezogen. Eleganter Rosé-Schimmer im<br />

„Du suchst<br />

vielschichtige<br />

Weißweine,<br />

die deine<br />

Neugier halten.<br />

Gehaltvoll und<br />

konzentriert“<br />

Guido Walter leitet die Münchner<br />

Weinhandlung „Walter und Sohn“<br />

und bildet Sommeliers aus<br />

Strohblond. Ein Schluck, und ich stehe<br />

im Wald: Duftende Nadelhölzer, Moos,<br />

gleichzeitig Frische. <strong>Der</strong>selbe Sinneseindruck,<br />

<strong>der</strong> mich beim Joggen im heimatlichen<br />

Taunus die Zivilisation vergessen<br />

lässt. Ein Wein wie ein deutsches Mittelgebirge.<br />

Und doch – höre ich da nicht ein<br />

Flattern? Nach längerer Zeit im Glas offenbart<br />

sich <strong>der</strong> Paradiesvogel, <strong>der</strong> im „R“<br />

steckt: Karamell, Zitrus, Tropenfrüchte.<br />

Sicher ein guter Begleiter zu thailändischem<br />

Essen – aber eben auch zum Rehrücken<br />

o<strong>der</strong> zum Hirschgulasch, beteuert<br />

Guido am Telefon.<br />

Am Mittwoch habe ich das Alleintrinken<br />

satt und lade mir eine bürogestresste,<br />

ausgehungerte Single-Freundin<br />

ein. Sie ist offen für alles. Für ein<br />

Käsefondue, zum Beispiel. Und noch<br />

eine dritte Frau ist an diesem Abend präsent:<br />

Die Winzerin Eva Fricke, die uns<br />

mit ihrem „Lorcher Schlossberg Riesling“<br />

einen geschmeidigen Gruß aus dem<br />

Rheingau nach Berlin schickt: die Reichhaltigkeit<br />

einer Auslese, auch etwas von<br />

<strong>der</strong>en Süße. Klar wie <strong>der</strong> Klang <strong>der</strong> Glocke<br />

des Kirchturms in Kiedrich. Aprikose,<br />

Kirsche und ein leichtes Mousseux,<br />

das dem Käse die Schwere nimmt. Ein<br />

Langstreckenläufer, <strong>der</strong> es spielerisch mit<br />

einem Pfund Gruyère aufnehmen kann,<br />

ohne seine Komplexität zu verleugnen.<br />

Ohne sich unterzuordnen. <strong>Der</strong> Lorcher<br />

Schlossberg ist ein emanzipierter Wein.<br />

Und sehr Ohrensessel-tauglich. Zum<br />

Glück habe ich <strong>der</strong>er zwei, in die meine<br />

Freundin und ich uns mit einem letzten<br />

Schluck zurückziehen.<br />

Am nächsten Morgen leichte Ausfallerscheinungen.<br />

Weckruf vom Postboten:<br />

Eine weitere Guido-Sendung, unangekündigt.<br />

Ihm sei da noch so ein Champagner<br />

eingefallen, „Cuvée Louis“ von<br />

Tarlant, halb Chardonnay, halb Pinot<br />

Noir, mit seinen Brioche-Noten perfekt<br />

zur Gans mit Semmelfüllung – was zu<br />

meinen Plänen für Weihnachten passt.<br />

LENA BERGMANN lebt in Berlin, leitet<br />

das Stil­Ressort von <strong>Cicero</strong> und ist immer<br />

offen für Weinempfehlungen<br />

Illustration: Lisa Schweizer<br />

108<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


LATTE MACCHIATO VON DE’LONGHI<br />

STATE OF THE ART<br />

Das neue LatteCrema-Milchaufschäumsystem von De’Longhi:<br />

Für perfekten Milchschaum.<br />

Latte Macchiato, Cappuccino und Caffè Latte haben eines gemeinsam: ohne den richtigen Milchschaum<br />

geht es nicht. Daher hat De’Longhi sein patentiertes Milchaufschäumsystem noch weiterentwickelt.<br />

Das neue LatteCrema-System zaubert Ihnen mühelos cremigen, löffelfesten Milchschaum. Nur<br />

durch das ideale Zusammenspiel von Dampf und Luft entsteht ein Milchschaum wie beim Barista, um<br />

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www.delonghi.de


STIL<br />

Besuch<br />

DER HERR<br />

DER HÄUSER<br />

Von<br />

ULRICH CLEWING<br />

Es gibt Menschen, die sammeln Kunst,<br />

kostbare Erstausgaben o<strong>der</strong> seltene Briefmarken.<br />

Lars Sjöberg aus Odenslunda in <strong>der</strong> Nähe von<br />

Stockholm sammelt Häuser. Und leistet so seinen<br />

Beitrag zum Lauf <strong>der</strong> Geschichte<br />

Fotos: Ingalill Snitt<br />

111<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


STIL<br />

Besuch<br />

Lars Sjöberg wirkt nicht wie jemand,<br />

<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s erpicht<br />

ist auf Weihnachtsgeschenke.<br />

Aber einen Wunsch hätte er<br />

schon. Er denkt einen Moment<br />

nach: „Ein Sky-Lift wäre nicht schlecht.<br />

Wenn ich auf einem Baum stehe, um die<br />

Äste zurückzuschneiden“, erzählt <strong>der</strong><br />

72-Jährige, „dann hat inzwischen zumindest<br />

meine Frau Angst um mich.“ Demnach<br />

führen die beiden gerade ein eher<br />

aufregendes Leben, denn Lars Sjöberg<br />

besitzt viele, viele Bäume, verstreut auf<br />

Grundstücken in ganz Schweden. Und<br />

um alle muss er sich kümmern.<br />

Manche Menschen sammeln Kunst,<br />

kostbare Erstausgaben o<strong>der</strong> seltene Briefmarken.<br />

Lars Sjöberg aus Odenslunda in<br />

<strong>der</strong> Nähe von Stockholm sammelt Häuser.<br />

Neun hat er schon, dazu noch eine<br />

alte Kirche. Sein erstes kaufte er 1966,<br />

da war er 25 und suchte eine Bleibe für<br />

sich und seine Verlobte Ursula. Sieben<br />

Jahre später erwarb er das zweite, das<br />

in Odenslunda, in dem die beiden noch<br />

immer wohnen. Danach kam etwas ins<br />

Rollen, bei dem er nicht mehr genau weiß,<br />

was überwog, die Leidenschaft o<strong>der</strong> die<br />

Verzweiflung.<br />

ALTE HÄUSER HATTEN Lars Sjöberg schon<br />

als kleinen Jungen fasziniert. Er war ein<br />

schlechter Schüler, „wie Albert Einstein“:<br />

ein Legastheniker. Aber das hieß<br />

nicht, dass er nichts mit Büchern anfangen<br />

konnte. „Als ich zehn war, schenkte<br />

mir mein Onkel eine Ausgabe von ‚Suerica<br />

antiqua et hieronum‘. Darin habe<br />

ich jahrelang geschmökert“, sagt Sjöberg.<br />

Das erstmals um 1720 erschienene<br />

Kompendium war seinerzeit nicht nur<br />

das größte je in Nordeuropa gedruckte<br />

Buch. Es sprengte auch sonst alle Dimensionen.<br />

<strong>Der</strong> schwedische Feldherr und<br />

Architekt Erik Dahlbergh unternahm<br />

darin mit Dutzenden Helfern den Versuch,<br />

sämtliche gebauten und geplanten<br />

Herrenhäuser seiner Heimat in Wort und<br />

großen, in Kupfer gestochenen Schautafeln<br />

zu beschreiben.<br />

Das war <strong>der</strong> eine Teil <strong>der</strong> Prägung<br />

des Lars Sjöberg. <strong>Der</strong> an<strong>der</strong>e Teil bestand<br />

aus frühen Übungen in unmittelbarer<br />

Anschauung. Seine Mutter arbeitete<br />

als Lehrerin für Geschichte. „Sie<br />

liebte es, durchs Land zu fahren und<br />

Orte zu besichtigen. Dabei nahm sie mich<br />

Das Haus in Leufsta Bruk steht<br />

Besuchern nach Verabredung zur<br />

Besichtigung offen<br />

immer mit.“ Später studierte er Kunstgeschichte<br />

und wurde Kurator für Möbel<br />

und historische Stoffe am Nationalmuseum<br />

in Stockholm. Doch sein Interesse<br />

für alles Gebaute hatte nicht nachgelassen<br />

– und was er da sah, schockierte ihn.<br />

„In den sechziger und siebziger Jahren<br />

war Schweden ein Land, das viele als<br />

rückständig empfanden“, sagt Sjöberg.<br />

„Deshalb wollten sie es mit aller Macht<br />

verän<strong>der</strong>n.“<br />

Foto: Ingalill Snitt<br />

112<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Die Frage ist doch,<br />

ob man in <strong>der</strong><br />

kurzen Zeit, die<br />

einem in dem Lauf<br />

<strong>der</strong> Geschichte<br />

gegeben ist, etwas<br />

zerstören möchte.<br />

O<strong>der</strong> sie dazu nutzt,<br />

die Dinge zu<br />

erhalten<br />

Die Neuerer spalteten sich in zwei<br />

Fraktionen: Die einen waren Sozialisten,<br />

orientierten sich an Moskau und<br />

schwärmten für riesige Apartmentblocks,<br />

in denen je<strong>der</strong> eine mo<strong>der</strong>ne<br />

Wohnung finden sollte. Die an<strong>der</strong>en<br />

schielten Richtung USA und sahen<br />

überall nur noch Wolkenkratzer. Für<br />

Lars Sjöberg war das wie die Wahl zwischen<br />

Pest und Cholera. „Einmal reiste<br />

Le Corbusier nach Stockholm und legte<br />

Pläne vor, die gesamte Stadt einzuebnen<br />

– alle schwedischen Architekten<br />

klatschten Beifall. Damals wurden sehr<br />

viele alte Gebäude abgerissen, in den<br />

Städten, aber auch auf dem Land.“<br />

Also beschloss er, dagegen etwas zu<br />

unternehmen. Seine Frau verfügte über<br />

ein kleines Vermögen, das erleichterte<br />

einiges. Lars Sjöberg hat keinen Computer,<br />

kennt seine Postleitzahl nicht auswendig<br />

und ist auch nicht imstande, auf<br />

seinem mobilen Telefon SMS abzurufen.<br />

Aber abgesehen davon ist er als Akademiker<br />

doch recht praktisch veranlagt.<br />

Erst stellte er sich die Frage, „ob man in<br />

<strong>der</strong> kurzen Zeit, die einem in dem Lauf<br />

<strong>der</strong> Geschichte gegeben ist, etwas zerstören<br />

möchte. O<strong>der</strong> sie nicht lieber dazu<br />

nutzt, die Dinge zu erhalten.“ Dann begann<br />

er, gegen den Abrisswahn auf<br />

seine Art zu protestieren. Er gründete<br />

dazu keine Bürgerinitiative, ging nicht<br />

auf Demonstrationen. Er kaufte einfach<br />

Landsitze und Gutshöfe, einen nach dem<br />

an<strong>der</strong>en: Salaholm, Sörby, Regnaholm,<br />

Ekensberg, Bratteberg und noch vier<br />

weitere. Die ältesten aus dem späten 17.,<br />

die jüngsten aus <strong>der</strong> ersten Hälfte des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Allzu prächtig darf man sie sich nicht<br />

vorstellen. Nach den gescheiterten Großmachtsansprüchen<br />

im Dreißigjährigen<br />

Krieg erlebte Schweden zwar eine lange<br />

Phase <strong>der</strong> Neutralität und des kontinuierlichen<br />

Aufschwungs. Doch <strong>der</strong> zunehmende<br />

Wohlstand kollidierte mit einer<br />

landestypischen Eigenschaft, mit <strong>der</strong> sich<br />

seine Bewohner später auf an<strong>der</strong>en Gebieten<br />

noch viele Freunde machen sollten.<br />

Diese spezielle Form von Bescheidenheit,<br />

die Lars Sjöberg so sehr mag – und <strong>der</strong><br />

man im ausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>t den<br />

Namen Reduziertheit gab.<br />

„Es ist erstaunlich, wie klein die Häuser<br />

waren, in denen die Adligen früher<br />

lebten“, sagt <strong>der</strong> Sammler. Das Haupthaus<br />

eines Herrensitzes wie Sörby aus<br />

<strong>der</strong> Zeit um 1680 maß im Grundriss nur<br />

etwa acht mal zehn Meter. Und das Innere<br />

sieht aus, als hätte Schweden während<br />

des Barock kurzerhand zwei Epochen<br />

übersprungen, und wäre direkt im<br />

Klassizismus gelandet. Die Wandgestaltung<br />

mit wenigen antikisierenden Girlanden<br />

ist zurückhaltend, die Möbel folgen<br />

dem geometrischen Gerüst <strong>der</strong> Säulen<br />

und Pilaster römischer Tempel, schnörkellos,<br />

unaufgeregt – und aus heutiger<br />

Sicht sehr mo<strong>der</strong>n.<br />

SEIT LANGEM IST SCHWEDEN – und Skandinavien<br />

allgemein – bekannt für die<br />

schlichte Eleganz seines Designs. Auf<br />

dem internationalen Kunstmarkt erzielen<br />

Vintage-Möbel des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

anhaltend hohe Preise. Seltene Stücke<br />

werden gar richtig teuer bezahlt. Modelabels<br />

wie Filippa K. o<strong>der</strong> Acne liefern<br />

die Pendants dazu, gradlinige, unprätentiöse<br />

Schnitte, die weltweit begeisterte<br />

Anhänger finden. Ausstellungen mit den<br />

in ihrer Einfachheit sehr verfeinert wirkenden<br />

Gemälden bürgerlicher Interieurs<br />

von Vilhelm Hammershøi sind – wie<br />

2008 in London o<strong>der</strong> letztes Jahr in München<br />

– zuverlässig Publikumsmagneten.<br />

Die Ursprünge all dessen, sie liegen hier,<br />

in Häusern wie Sörby.<br />

<strong>Der</strong> Kunstgeschichtler Sjöberg schlägt<br />

noch einen weiteren Bogen. „Wenn man<br />

es genau nimmt“, sagt er, „ist die schwedische<br />

Architektur nicht denkbar ohne<br />

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113<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013<br />

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STIL<br />

Besuch<br />

Palladio.“ Irgendwoher muss diese Vorliebe<br />

für harmonische Schlichtheit in <strong>der</strong><br />

Gestaltung herrühren – warum nicht von<br />

jenem Renaissance-Baumeister, dessen<br />

Lehre auch in Dänemark und vor allem<br />

in England so begeisterte Aufnahme gefunden<br />

hatte?<br />

Wenn man ihm eine Weile zuhört,<br />

könnte man denken, Lars Sjöberg lebte<br />

am liebsten in <strong>der</strong> Vergangenheit. Ein<br />

Nostalgiker, <strong>der</strong> mit gewissen Erscheinungen<br />

<strong>der</strong> Gegenwart nicht zurechtkommt.<br />

Nichts wäre falscher.<br />

MANCHMAL SPIELT ER einen Mann, <strong>der</strong><br />

sich selber bedauert ob <strong>der</strong> enormen Anstrengungen,<br />

die ihm seine Leidenschaft<br />

abverlangt, physisch wie finanziell. <strong>Der</strong><br />

dann Sätze sagt wie: „Lei<strong>der</strong> bin ich<br />

nicht so realistisch, wie ich sein sollte.“<br />

O<strong>der</strong>: „Das alles kostet weit mehr, als ein<br />

72-Jähriger zu ertragen bereit ist.“<br />

Doch im Grunde weiß er, dass er und<br />

seine Frau glückliche Menschen sind. Sie<br />

haben etwas in Gang gesetzt. Haben sich<br />

auf eine schwierige Mission eingelassen<br />

Schweden ist heute<br />

allgemein bekannt<br />

für die Schlichtheit<br />

seines Designs.<br />

Die Ursprünge all<br />

dessen liegen in<br />

diesen Häusern<br />

Die evangelische Kirche im<br />

Dörfchen Bolsta Bruk wurde<br />

1906 fertiggestellt und erinnert<br />

Sjöberg an Pippi Langstrumpfs<br />

schräge Villa Kunterbunt<br />

damals, und sind seitdem zwar nicht unbedingt<br />

reicher geworden, aber auf ihrem<br />

Weg ein gutes Stück vorangekommen.<br />

„Wir wollten die Menschen darauf<br />

aufmerksam machen, dass alte Dinge einen<br />

Wert haben, den man heute nicht so<br />

ohne Weiteres ersetzen kann“, sagt Sjöberg<br />

und fängt an, von <strong>der</strong> Akademie zu<br />

erzählen, an <strong>der</strong> er schon lange lehrt.<br />

Die Träakademien Mittuniversitetet<br />

befindet sich in dem Städtchen Kramfors<br />

in Mittelschweden, rund 500 Kilometer<br />

nördlich von Stockholm. Dort unterrichtet<br />

Sjöberg Studenten in den Fächern<br />

Holzbearbeitung und Polsterei. Möbel<br />

aus seiner eigenen Sammlung dienen als<br />

Anschauungsmaterial. „Das ist <strong>der</strong> einzige<br />

Grund, so viel Geld dafür auszugeben.<br />

Es ist etwas ganz an<strong>der</strong>es, ob man<br />

als Student vor Originalen lernt o<strong>der</strong> nur<br />

Fotos zur Verfügung hat.“ Sein Anliegen<br />

ist, historische Handwerkstechniken weiterzutragen,<br />

weil sie mo<strong>der</strong>nen Verarbeitungen<br />

um so viel überlegen sind. Und<br />

um sie nicht völlig in Vergessenheit geraten<br />

zu lassen. „Als ich einmal die Fenster<br />

Foto: Ingalill Snitt<br />

114<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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Datum<br />

Unterschrift


STIL<br />

Besuch<br />

geschrieben. Wun<strong>der</strong>bar aufgemachte,<br />

reich illustrierte Bände mit Titeln wie<br />

„The Swedish Room“ o<strong>der</strong> „Making Swedish<br />

Furniture“ o<strong>der</strong> „Klassische Schwedische<br />

Interieurs“. Und auf den Umschlägen<br />

Fotos, die tatsächlich ein bisschen<br />

aussehen wie von Vilhelm Hammershøi<br />

gemalt. Die Bücher handeln von den traditionellen<br />

Werten nordischer Gestaltung,<br />

von Funktionalität, Robustheit, Authentizität.<br />

Sie erzählen vom Altern, und<br />

warum es Dinge gibt, die dabei mehr als<br />

an<strong>der</strong>e ihre Würde bewahren.<br />

in unserem Haus in Odenslunda untersucht<br />

habe“, sagt Sjöberg, „merkte ich,<br />

dass es immer noch die ersten waren. Sie<br />

wurden aus Hartholz gefertigt und haben<br />

die letzten 200 Jahre Wind und Wetter<br />

schadlos überdauert. Erzählen Sie das<br />

mal einem Fabrikanten von heute. <strong>Der</strong><br />

bricht in Tränen aus.“<br />

Lars Sjöberg und seine Frau Ursula<br />

sind unter die Autoren gegangen. Zehn<br />

Bücher haben sie über ihre Passion bisher<br />

Sjöberg in Regnaholm, in dem<br />

Haus, das er mit seiner Frau<br />

bewohnt. Für das Esszimmer ließ<br />

er 26 typisch­gustavianische<br />

Stühle nachfertigen<br />

AUCH SONST HAT Lars Sjöberg, bei aller<br />

Bescheidenheit, Sinn für öffentlichkeitsrelevante<br />

Maßnahmen. Mitte <strong>der</strong> neuziger<br />

Jahre gelang ihm in <strong>der</strong> Hinsicht<br />

sogar ein Coup. Er luchste dem Möbelgiganten<br />

Ikea nicht nur Geld ab für die<br />

Instandhaltung gefährdeter Gebäude.<br />

Sie legten auch eine Kollektion auf, die<br />

Sjöberg gestaltete, mit Lampen, Stühlen,<br />

Sesseln und Sofas, die sich an schwedischen<br />

Entwürfen des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

orientierten. Drei Jahre lief das, noch im<br />

aktuellen Katalog stößt man auf Überbleibsel,<br />

etwa bei <strong>der</strong> Alvine-Serie von<br />

Heimtextilien. Als Teil <strong>der</strong> Ikea-Aktion<br />

wurde seinerzeit ein altes schwedisches<br />

Herrenhaus gebaut, ganz aus Holz, nach<br />

Sjöbergs Plänen. „Wir haben es auf dem<br />

Vorplatz des Nationalmuseums aufgestellt,<br />

gut sichtbar vom königlichen Palast<br />

gegenüber“, sagt Sjöberg. „Am Ende<br />

des Sommers kaufte es ein Arzt, <strong>der</strong> es<br />

in die Nähe von Uppsala transportieren<br />

ließ.“<br />

Es scheint, als läge bei dem Gedanken<br />

ein Anflug von Bedauern in seiner<br />

Stimme. Doch vielleicht täuscht das auch.<br />

Manchmal wird Lars Sjöberg gefragt, ob<br />

er glaubt, dass Häuser so etwas wie eine<br />

Seele haben können. Dass sie etwas von<br />

ihren Bewohnern in sich aufnehmen und<br />

bewahren. Da muss <strong>der</strong> Wissenschaftler<br />

lachen. „Ich bin fest davon überzeugt,<br />

dass es für jeden eine Bereicherung darstellt,<br />

geschichtliche Zusammenhänge zu<br />

kennen und sich darauf zu besinnen, was<br />

einem an <strong>der</strong> Vergangenheit wertvoll erscheint.“<br />

Er macht eine Pause, dann sagt<br />

er noch: „Aber es tut mir leid: Ich glaube<br />

nicht an Geister.“<br />

ULRICH CLEWING schreibt regelmäßig<br />

über Kunst und beson<strong>der</strong>e Immobilien<br />

Foto: Ingalill Snitt<br />

116<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


STIL<br />

Klei<strong>der</strong>ordnung<br />

Foto: Thomas Kierok für <strong>Cicero</strong><br />

TIM RAUE<br />

Wenn ich meine Kochjacke anziehe,<br />

bin ich <strong>der</strong> Chef. Dann<br />

bin ich nicht mehr <strong>der</strong> private<br />

Tim, son<strong>der</strong>n Tim Raue, <strong>der</strong> Sternekoch.<br />

Ich trage dann eine Uniform, die einen<br />

Teil meiner Persönlichkeit för<strong>der</strong>t, die<br />

des Bestimmers. Meine Mimik, Gestik<br />

und Ausstrahlung sagen dann: Wenn ich<br />

das will, will ich das. Allerdings ohne<br />

Rumschreierei. Im Restaurant bin ich offensiv<br />

und präsent, während ich im Privaten<br />

eher zurückgezogen lebe.<br />

Traditionell besteht die Kluft <strong>der</strong><br />

Köche aus einer weißen Jacke und einer<br />

schwarzen Hose. Das habe ich durchbrochen.<br />

Zu meiner Zeit als Chefkoch<br />

des Hotel Adlon marschierte ich ganz<br />

in Schwarz ein – ziemlich Avantgarde.<br />

Als diese schwarze Periode zu Ende ging,<br />

war klar, dass ich etwas Neues brauchte.<br />

Ich wollte etwas, das mit <strong>der</strong> Region verbunden<br />

ist. Ich fühle mich nämlich nicht<br />

als Deutscher, son<strong>der</strong>n als Preuße, als<br />

Berliner. Das sind meine Wurzeln.<br />

Blau war schon immer meine liebste<br />

Farbe, also habe ich für diesen neuen Abschnitt<br />

ein eigenes Blau kreiert. Aus einem<br />

Pantone-Ton habe ich die Farbe definiert<br />

und selbst angemischt. Für den<br />

Stoff meiner Uniform habe ich eine imprägnierte<br />

Baumwolle gewählt, die leicht<br />

und atmungsaktiv ist. Denn bei einem<br />

Arbeitstag von durchschnittlich 16 bis<br />

18 Stunden muss ich mich wohlfühlen.<br />

Ich brauche Bewegungsfreiheit, ein gewisses<br />

Spiel. Deshalb sind meine Uniformen<br />

auch maßgeschnei<strong>der</strong>t. Und da ich<br />

in meiner Küche großen Wert auf regionale<br />

Produkte lege, werden auch meine<br />

Kochuniformen in Deutschland gefertigt.<br />

Ich bestehe auf gutem Handwerk. Sie<br />

werden mich nie mit industriell gefertigten<br />

Massenprodukten begeistern können.<br />

Tim Raue, 39 Jahre alt, arbeitete<br />

zunächst als Küchenchef des<br />

Berliner Swissôtels und wechselte<br />

dann zum Adlon. Prämiert mit zwei<br />

Michelin­Sternen und 19 Punkten<br />

im Gault­Millau betreibt er heute<br />

die Restaurants „Tim Raue“ und<br />

„La Soupe Populaire“<br />

Außer bei Schuhen. Ich habe einen ausgeprägten<br />

Hang zu Nike. Ich besitze bestimmt<br />

100 Paare. Die sind aber bei mir<br />

auch nach drei Wochen durchgetreten.<br />

Ich trage sie natürlich auch beim Kochen.<br />

Außerhalb <strong>der</strong> Küche strebe ich nach<br />

einer Mischung aus englischer Handwerksarbeit<br />

und italienischem Lebensstil.<br />

Ich mag kräftige Farben, meine absolute<br />

Stilikone ist in dieser Hinsicht <strong>der</strong><br />

Fiat-Erbe und Lebemann Lapo Elkann,<br />

auch wenn ich selbst nie so schrill auf die<br />

Straße gehen würde. Das schürt zu viel<br />

Aufmerksamkeit. Ich will nicht leuchten.<br />

Wir Berliner lassen jeden so sein, wie<br />

er ist. Ganz gleich, ob Punk o<strong>der</strong> Prinzessin.<br />

Für meine Küche spielt das eine wichtige<br />

Rolle. Ich glaube, dass Geschmack<br />

keine Attitüde mehr braucht. Die Menschen<br />

wollen kein Schischi, son<strong>der</strong>n Genuss,<br />

ohne angestrengt darüber nachdenken<br />

zu müssen. Und so ist meine Küche:<br />

klar, reduziert, punktuell – wie ich auch.<br />

Hier gibt es keine harten Kontraste, dafür<br />

aber eine persönliche Note. Das bringe<br />

ich auch meinen Leuten bei: ihrer Arbeit<br />

einen eigenen Stil zu geben.<br />

Aufgezeichnet von<br />

SARAH-MARIA DECKERT<br />

118<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


SALON<br />

„ Für die Probleme<br />

dieser Welt gibt es<br />

genau zwei Lösungen:<br />

den Abzug und<br />

das Gaspedal “<br />

<strong>Der</strong> Kulturphilosoph Alexan<strong>der</strong> Pschera über die zynische Machowelt in<br />

Grand Theft Auto, dem erfolgreichsten Videospiel aller Zeiten, Seite 126<br />

119<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


SALON<br />

Porträt<br />

GRÖSSER ALS WIR SELBST<br />

Die Geigerin Carolin Widmann verbindet die Neue mit <strong>der</strong> Alten Musik. Wie ihr Bru<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> Komponist Jörg Widmann, setzt sie auf Leidenschaft und Selbstkritik statt Show<br />

Von VOLKER HAGEDORN<br />

Foto: Marco Borggreve<br />

Warum sie nun weggehe? „Ich<br />

muss Geige spielen.“ „Das<br />

kannst du doch auch daheim!“<br />

Carolin Widmann lacht sehr, als sie diesen<br />

Dialog mit ihrer Tochter erzählt. Die<br />

hat zwar schon ein paar Mal zugehört,<br />

wenn ihre Mutter auf dem Podium stand,<br />

aber dass genau das es ist, worauf es ankommt,<br />

leuchtet einer Vierjährigen nicht<br />

ein. <strong>Der</strong> 37-jährigen Solistin gefällt das<br />

„Warum?“ ihrer Tochter vielleicht auch<br />

deshalb, weil sie das eigene Tun weitaus<br />

tiefer befragt, als erfolgreiche Musiker es<br />

üblicherweise zu erkennen geben.<br />

Dass sie sich aussuchen kann, was<br />

sie spielt, dass die besten Komponisten<br />

für sie Konzerte schreiben, dass ihr beim<br />

jüngsten Berliner Musikfest ein ganzer<br />

Soloabend in <strong>der</strong> Philharmonie gehörte<br />

und auch die neue Aufnahme bei dem<br />

Label ECM auf <strong>der</strong> Bestenliste <strong>der</strong> deutschen<br />

Schallplattenkritik landete, hätte<br />

sie vor zehn Jahren nicht zu träumen gewagt:<br />

„Zu viele Einladungen, um aufzuhören,<br />

zu wenige zum Überleben.“ Doch<br />

<strong>der</strong> Krise folgte einer <strong>der</strong> erstaunlichsten<br />

Aufstiege im Felde <strong>der</strong> Kunstgeigerei. Erstaunlich,<br />

weil Widmann sämtliche Gebote<br />

<strong>der</strong> Branche ignoriert, zuvör<strong>der</strong>st jenes,<br />

dem Affen Zucker zu geben.<br />

<strong>Der</strong> letzte Affe, mit dem sie musikalisch<br />

zu tun hatte, war aus Plüsch und<br />

spielte – 30 Jahre ist das her – den Monostatos<br />

im Münchener Kin<strong>der</strong>zimmer.<br />

Carolin und ihr Bru<strong>der</strong> Jörg führten die<br />

„Zauberflöte“ mit Stofftieren auf, „vor<br />

null Zuschauern“. <strong>Der</strong> Junge spielte Klavier,<br />

das Mädchen sang sämtliche Rollen,<br />

ein Schaf im Divenkleid war die Königin<br />

<strong>der</strong> Nacht. Bald darauf begann Jörg Widmann<br />

zu komponieren und Carolin zu<br />

geigen. Beides tun sie bis heute, als berühmtestes<br />

deutsches Musikgeschwisterpaar<br />

seit den Mendelssohns. Jedoch steht<br />

Carolin nicht im Schatten des Bru<strong>der</strong>s.<br />

Vor ein paar Jahren musste sie sich,<br />

wenn sie Veranstaltern ein Stück Neue<br />

Musik vorschlug, Bemerkungen anhören<br />

wie: „Aber Sie ziehen sich noch was<br />

Schöneres an?“ Inzwischen wird sie geradezu<br />

gebeten, einen Boulez, Xenakis,<br />

Sciarrino, Haas mitzubringen. Es gibt<br />

ein wachsendes Publikum, das sich nach<br />

Geist sehnt, nicht nach Geigengirlies.<br />

BEI IHREM BERLINER RECITAL verband<br />

sie Bach und Bartók und neueste Musik.<br />

Georg Friedrich Haas, <strong>der</strong> stille Extremist<br />

aus Graz, arbeitet mit Vierteltönen<br />

und führt Hörer an Grenzen, von denen<br />

auch die meisten Musiker wenig wissen.<br />

„Ich habe nach zwei Sekunden gespürt,<br />

hier funktioniert es, die machen mit mir<br />

diese Reise. Es wurden zwei Stunden<br />

ohne einen Huster. Atemlose Andacht!“<br />

Solche Abende geben Kraft für die Professur<br />

in Leipzig, wohin sie nach elf Jahren<br />

in London gezogen ist. Und für die<br />

Familie. Zwei Berufstätige, <strong>der</strong> Mann ist<br />

Landschaftsarchitekt, zwei Kin<strong>der</strong>, das<br />

schlaucht: „Ich komme mir vor wie im<br />

Vorstand eines Kleinbetriebs.“<br />

Auffällig wurde sie 2005 mit einer<br />

Debüt-CD, die gemessen an den Marktgesetzen<br />

ein Suizidversuch war: mit den<br />

irrwitzigen „Capricci“ im Zentrum, die<br />

Salvatore Sciarrino 1976 jenseits aller<br />

„schönen Töne“ komponierte. Aber sie<br />

drang in seine Sprache so virtuos ein, wie<br />

sie es in ihren nächsten Aufnahmen auch<br />

bei Schubert und Schumann tat, <strong>der</strong>en<br />

Glut hier schon dem Eiswind des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

ausgesetzt ist, fragmentarisch,<br />

flackernd, verletzlich. Neue Musik ist ihr<br />

alles, auch wenn sie mit <strong>der</strong> Akademie<br />

für Alte Musik Berlin den Frühklassiker<br />

Franz Benda aus <strong>der</strong> Versenkung holt.<br />

Die ganz neue Musik beginnt bei ihr<br />

nicht im Elfenbeinturm, eher mit einer<br />

Jamsession wie jener, aus <strong>der</strong> Rebecca<br />

Saun<strong>der</strong>s ihr Konzert „Still“ entwickelte.<br />

Etwa 15 Violinkonzerte wurden für Carolin<br />

Widmann geschrieben, Wolfgang<br />

Rihm und Salvatore Sciarrino markieren<br />

die ästhetischen Extreme: „Wir haben<br />

eine ähnliche Zeit <strong>der</strong> Vielfalt wie vor<br />

1914“, meint sie, nicht sicher, ob diese<br />

Parallele so ein gutes Zeichen ist. Sicher<br />

ist aber gar nichts, außer „dass die Musik<br />

großartiger ist als wir“.<br />

Das ist keine Demutspose. „Man<br />

wird zwar selbstbewusster, wenn man<br />

Bestätigung bekommt, aber auch kritischer.<br />

Ich bezweifle jeden Tag alles. Das<br />

hört sich sehr tugendhaft an, und es<br />

ist einfach Mist“, sagt sie, lachend und<br />

ernst zugleich. Je mehr ein Musiker zeigt,<br />

desto verletzlicher macht er sich, fragiler.<br />

„Wenn ich rausgehe auf die Bühne, hilft<br />

es mir nicht zu wissen, dass ich die Chaconne<br />

schon 30 Mal gespielt habe. Es ist<br />

das erste Mal.“ Nach jedem Konzert analysiert<br />

sie, was nachhallt. Schriftlich, in<br />

einem Notizbuch. „Hier war etwas nicht<br />

gut, und da und da auch nicht. Darf ich<br />

trotzdem in den Himmel kommen?“<br />

Aber die Spannung zwischen Ethos<br />

und Erdung, Skepsis und Entschlossenheit<br />

ist es ja, die diese Künstlerin – Pardon!<br />

– attraktiv macht. Dass da eine<br />

schöne Frau auf <strong>der</strong> Bühne steht in <strong>der</strong><br />

Kölner Philharmonie, rothaarig im grünen<br />

Kleid, tut nach drei Tönen nichts zur<br />

Sache. Ins Konzert, das <strong>der</strong> Schweizer<br />

Dieter Ammann für sie geschrieben hat,<br />

stürzt sie sich, als wolle sie die funkelnde<br />

Partitur neu komponieren. Bohrende<br />

Fragen, rauchende Saiten, auch mal eine<br />

Quarte aufwärts, als käme gleich Tschaikowski.<br />

Lebensgier. „Was nur geigerisch<br />

ist“, hat sie gesagt, „das ist gar nichts.“<br />

VOLKER HAGEDORN, gelernter Bratscher,<br />

war von Carolin Widmanns Geigenkunst<br />

schon vor zwölf Jahren fasziniert<br />

121<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


SALON<br />

Porträt<br />

SITZEN, REDEN, SCHLAFEN AUCH<br />

Die Brü<strong>der</strong> Joel und Ethan Coen gelten als Inbegriff des lässigen Kinos. Ihr Film<br />

„Inside Llewyn Davis“ handelt von Bob Dylans unglücklichem und fast nur fiktivem Vetter<br />

Von DIETER OSSWALD<br />

Cool. Cooler. Coens – diese Formel<br />

gilt für die Kinobrü<strong>der</strong> Joel und<br />

Ethan seit Beginn ihrer Karriere,<br />

als sie 1984 mit dem bitterbösen Krimi<br />

„Blood Simple“ Robert Redfords renommiertes<br />

Festival von Sundance aufmischten.<br />

„Inside Llewyn Davis“, ihr 16. Werk,<br />

erzählt von einem höchst talentierten<br />

Musiker, <strong>der</strong> 1961 in <strong>der</strong> Folk szene von<br />

Greenwich Village sein Glück versucht.<br />

Und grandios scheitert.<br />

Dass <strong>der</strong> Titelheld den Pechvogel-Vetter<br />

von Bob Dylan abgeben<br />

könnte, die Donald-Duck-Variante sozusagen,<br />

ist kein Zufall. „Dylan steht<br />

als Schatten über dieser Geschichte“, erläutert<br />

Joel Coen, wobei er dieses unbekannte<br />

Kapitel <strong>der</strong> Folkgeschichte „viel<br />

faszinieren<strong>der</strong> und exotischer“ findet als<br />

bekannte Biografien. Als realer Pate für<br />

die fiktive Story dient <strong>der</strong> Musiker Dave<br />

Van Ronk, von dessen Memoiren die beiden<br />

Filmemacher begeistert waren.<br />

An einem sonnigen Herbsttag in London<br />

scheinen die Coen-Brü<strong>der</strong> beachtlich<br />

guter Laune, was keineswegs immer so<br />

ist. Mal sind die beiden witzig und charmant,<br />

mal lassen sie sich die Worte mühsam<br />

aus <strong>der</strong> Nase ziehen o<strong>der</strong> brechen<br />

mitten im Satz einfach ab.<br />

Die Rollen des Künstlerpärchens sind<br />

im Gespräch klar verteilt. Es ist die alte<br />

Geschichte von good cop und bad cop.<br />

<strong>Der</strong> 56-jährige Ethan gibt mit Kurzhaarfrisur<br />

und run<strong>der</strong> Nickelbrille den lieben<br />

Lächler, <strong>der</strong> Augenkontakt nicht ausweicht<br />

und als Verkäufer in einem Technikmarkt<br />

eine gute Figur abgäbe. Sein drei<br />

Jahre älterer Bru<strong>der</strong> Joel tritt vorzugsweise<br />

mit dunkler Sonnenbrille und stoischer<br />

Mimik auf. Auffallend gelangweilt.<br />

Lethargisch. Er könnte ebenso gut eingeschlafen<br />

sein. <strong>Der</strong> Gesprächs-Pokerspieler<br />

lauert freilich nur auf das ihm passende<br />

Stichwort. Als Gebrauchtwagenverkäufer<br />

hätte Joel wenig Erfolg. Bei den Filmen<br />

sieht die Bilanz brillant aus.<br />

Abgesehen vom Aufguss <strong>der</strong> „Ladykillers“<br />

findet sich kein Flop im Schaffen<br />

<strong>der</strong> Regisseure, die sich einst mit Rasenmähen<br />

das Geld für eine Super-8-Kamera<br />

zusammensparten und mit dem Nachbarskind<br />

Filme aus <strong>der</strong> Flimmerkiste<br />

nachdrehten. Das Sprungbrett für die<br />

Karriere bot Sam Raimi, <strong>der</strong> Joel 1981<br />

als Regieassistenten für den Horrorfilm<br />

„The Evil Dead“, „Tanz <strong>der</strong> Teufel“ engagierte.<br />

Mittlerweile sind die Coens in<br />

vielen Genres sattelfest.<br />

Für die Hollywood-Persiflage „Barton<br />

Fink“ bekamen sie Gold in Cannes.<br />

Für ihre Kidnapper-Geschichte „Fargo“<br />

kassierten sie den Drehbuch-Oscar. Mit<br />

<strong>der</strong> Gewalt-Groteske „No Country for<br />

Old Men“ räumten sie bei den Academy<br />

Awards dreifach ab. Ihr letztes Werk, <strong>der</strong><br />

Western „True Grit“, brachte es auf zehn<br />

Oscar-Nominierungen.<br />

DER NEUE STREICH handelt von ihrem<br />

Lieblingsthema: dem Versager, <strong>der</strong> als<br />

trotziges Stehaufmännchen gegen die<br />

Windmühlen des Schicksals ankämpft.<br />

Die Coens glauben an den verkannten<br />

Musikus und lassen ihn zum Auftakt<br />

ein komplettes Lied anstimmen. Ausgespielte<br />

Songs im Film entpuppen sich<br />

sonst als Gähneinlagen. Im Kino-Universum<br />

<strong>der</strong> lässigen Regie-Brü<strong>der</strong> gelten eigene<br />

Gesetze, holprige Titel inklusive.<br />

Zu diesen Regeln gehört das Scheitern<br />

<strong>der</strong> Helden, die sich nicht verbiegen<br />

lassen wollen. Das große Thema vom<br />

Ausverkauf <strong>der</strong> Ideale hängen die Coens<br />

aber niedrig auf. „In seiner übertriebenen<br />

Vorstellung erlebt Llewyn sich als<br />

sehr integrer Musiker, auf gewisse Weise<br />

mag er das sein. Gleichwohl ist er bereit,<br />

vor einem wichtigen Produzenten auf<br />

dem Boden zu kriechen“, erläutet Ethan.<br />

Seit über 20 Jahren bewahren sie<br />

ihre eigene Handschrift. „Die Welt hat<br />

uns mehr künstlerischen Freiraum gegeben<br />

als diesem Typen im Film. Insofern<br />

können wir uns glücklich schätzen“,<br />

meint Ethan. „Man darf den Faktor<br />

Glück niemals unterschätzen“, fügt sein<br />

älterer Bru<strong>der</strong> hinzu. Wo man diese<br />

Grenze zieht zwischen Ausverkauf und<br />

aufrechtem Gang? Ethan antwortet im<br />

Coen-Stil. „Man zieht seine rote Linie,<br />

wo man seine Linie eben zieht.“<br />

Die Brü<strong>der</strong> führen nicht nur gemeinsam<br />

Regie, sie machen den Schnitt, übernehmen<br />

die Produktion und schreiben<br />

die Drehbücher zusammen. „Eigentlich<br />

kann man nicht von einem Prozess sprechen“,<br />

sagt <strong>der</strong> eine. „Wir sitzen herum.<br />

Reden manchmal etwas. Und legen viele<br />

Schlafpausen ein“, ergänzt <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e.<br />

Von minimalistischen Aussagen berichten<br />

auch Schauspieler: „Mit Feedback<br />

sollte man nicht rechnen“, erinnert<br />

sich Hauptdarsteller Oscar Isaac. Ob die<br />

beiden beim Thema Tiere gesprächiger<br />

werden? Immerhin spielt eine Katze eine<br />

entscheidende Rolle im neuen Film und<br />

hört, wie George Clooney in „O Brother<br />

Where Art Thou“ auf den Namen „Ulysses“.<br />

„Katzen sind zum Kotzen, je<strong>der</strong><br />

Dreh mit einem Tier dauert ewig und ist<br />

frustrierend“, stöhnt Ethan. „Nie wie<strong>der</strong><br />

Katzen für die Coens!“, fügt Joel hinzu.<br />

Fast kann man sich denken, was<br />

beide von Prädikaten wie „Kult“ und<br />

„Cool“ halten. „Solche Etiketten waren<br />

immer schon ein Rätsel für mich“, meint<br />

Joel. Bru<strong>der</strong> Ethan ergänzt: „Über irgendwelchen<br />

Kultstatus machen wir uns<br />

keine Gedanken. Wer möchte sich schon<br />

in eine Schublade stecken lassen?“<br />

DIETER OSSWALD traf das kreative<br />

Duo gut ein halbes Dutzend Mal. So<br />

vergnüglich wie ihre Werke sind die<br />

Macher nicht – besser als umgekehrt<br />

Foto: Picture Press/Camera Press/Rob Greig/Time Out<br />

122<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


SALON<br />

Porträt<br />

DER GEISTERBESCHWÖRER<br />

Er schreibt und spielt, singt und swingt: Ulrich Tukur gibt <strong>der</strong> Liebe zum Morbiden<br />

denkbar viele, höchst vitale Formen. Und immer ist da diese Hoffnung, dass es an<strong>der</strong>s wäre<br />

Von BJÖRN EENBOOM<br />

Foto: interTOPICS/Photomovie/Max&Douglas<br />

Kaum ein Ort ist geeigneter für eine<br />

Begegnung mit Ulrich Tukur als<br />

das Frankfurter Literaturhaus. Das<br />

klassizistische Gebäude mit seinem imposanten<br />

Portikus beschwört den Geist<br />

des vielbegabten Gastes herauf. Tukur<br />

hat sich fernab aller digitalen Hochgeschwindigkeit<br />

dem entschleunigten Habitus<br />

des frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts verschrieben.<br />

Gleich achtmal ließ er sich<br />

einen Anzug schnei<strong>der</strong>n in Form und<br />

Farbe eines Originals <strong>der</strong> dreißiger Jahre.<br />

Bei Lesungen trägt er ihn stets.<br />

In seinen Rollen verhandelt Tukur<br />

das Fragmentarische, Abseitige. Er spielt<br />

Charaktere mit dem berühmten Knacks,<br />

die im Mahlwerk des Lebens verloren<br />

gehen, dem Jenseits näherstehen als <strong>der</strong><br />

Erde. In „Das weiße Band“ war er ein<br />

herrschsüchtiger Baron, in „Rommel“<br />

<strong>der</strong> titelgebende NS-General und „Wüstenfuchs“,<br />

in „Das Leben <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en“<br />

ein regimetreuer Oberstleutnant.<br />

„Mich rühren“, sagt er, „Menschen<br />

zutiefst, die einen aussichtslosen Kampf<br />

kämpfen. Die Aufgabe eines Schauspielers<br />

besteht auch darin, die Figuren zu verteidigen,<br />

die er spielt. Wie ein Strafverteidiger<br />

einen Verbrecher verteidigt.“ So<br />

hält er es im aktuellen Kinofilm „Houston“<br />

des Regisseurs und Autors Bastian<br />

Günther, <strong>der</strong> dafür bei den Hofer Filmtagen<br />

mit dem För<strong>der</strong>preis Neues Deutsches<br />

Kino prämiert worden ist.<br />

Tukur spielt den Headhunter Clemens<br />

Trunschka, <strong>der</strong> von einem deutschen<br />

Konzern beauftragt wird, den<br />

Spitzenmanager eines texanischen Ölunternehmens<br />

abzuwerben. Doch die<br />

Mechanismen <strong>der</strong> globalisierten Wirtschaftswelt<br />

haben Trunschka lädiert. Alkoholkrank<br />

ist er längst, das Band zur Familie<br />

wird dünn und dünner. Im fernen<br />

Texas soll er mit allen Mitteln Kontakt zu<br />

dem Topmanager aufnehmen. Bald irrt<br />

Trunschka in den Hotel- und Häuserwüsten<br />

Houstons ziellos umher: ein<br />

Wünschelrutengänger des Geldes, dem<br />

<strong>der</strong> Kompass entzweibrach. Aus dem<br />

Psychogramm eines Alkoholikers wird<br />

ein Roadmovie, ein Wirtschaftswestern.<br />

Dieser Trunschka sei „ein Mensch<br />

im turbokapitalistischen System, <strong>der</strong><br />

verzweifelt versucht, seine Fassade aufrechtzuerhalten“.<br />

Tukur sieht in <strong>der</strong><br />

Gegenwart eine „Zivilisation, die uns<br />

Menschen beschädigt. Wir haben etwas<br />

losgetreten, das uns überrennt. Die Geschwindigkeit,<br />

die wir angeschlagen haben,<br />

ist einfach viel zu schnell. Wir sind<br />

als Menschen ganz an<strong>der</strong>s disponiert.“<br />

ÄHNLICH DÜSTERE KLÄNGE stimmt <strong>der</strong><br />

zwischen den Künsten frei schwebende<br />

Ulrich Tukur in <strong>der</strong> Novelle „Die Spieluhr“<br />

an, die er soeben vorgelegt hat. Sie<br />

beruht auf dem französischen Kinofilm<br />

„Séraphine“, in dem Tukur den preußischen<br />

Kunstsammler Wilhelm Uhde verkörperte.<br />

Nun erzählt er eine spielerische<br />

Variante zu diesem Film. Die Figuren<br />

werden buchstäblich aufgesogen von den<br />

Gemälden eines verwunschenen Schlosses<br />

und kommen <strong>der</strong> Realität abhanden.<br />

Zwar fehle beim Schreiben <strong>der</strong> Sparringspartner.<br />

„Aber“ – bricht es aus Tukur<br />

hervor – „du lernst deine Ängste<br />

kennen. Eigentlich ist die Novelle die<br />

Geschichte meines Todes. Sie ist beseelt<br />

von dem Wunsch weiterzuleben, wenigstens<br />

in <strong>der</strong> Kunst, in Gemälden, <strong>der</strong> Musik.<br />

Aber auch vor dieser Welt habe ich<br />

Angst. Sie ist unheimlich.“<br />

So zeigt „Die Spieluhr“ auch, dass<br />

Tukurs große Leidenschaft <strong>der</strong> Musik<br />

gilt. „Musik ist die Königin <strong>der</strong> Künste“,<br />

schwärmt er, „sie zielt aus <strong>der</strong> Seele direkt<br />

in die Herzen.“ Vor 18 Jahren gründete<br />

er die Tanzkapelle „Rhythmus<br />

Boys“, die den Charme <strong>der</strong> „Roaring<br />

Twenties“ aufleben lässt. Mit dem Quartett<br />

hat er als singen<strong>der</strong> Frontmann bisher<br />

vier Alben veröffentlicht.<br />

Das Nachdenken über den Tod begann<br />

früh. Im Jugendzimmer in Wedemark<br />

bei Großburgwedel, wohin die<br />

Familie des gebürtigen Viernheimers<br />

umgezogen war, hatte er eine Wand mit<br />

ganzseitigen Todesanzeigen aus <strong>der</strong> FAZ<br />

dekoriert. Über dem Epitaphium thronte<br />

ein Gemälde seines Großvaters, eines<br />

Kunstmalers. Es zeigte: einen sterbenden<br />

Soldaten im Dreißigjährigen Krieg.<br />

<strong>Der</strong> Hang zum Morbiden bleibt die<br />

Konstante über alle Umbrüche hinweg.<br />

Tukur lebt in <strong>der</strong> vom Untergang bedrohten<br />

Lagunenstadt Venedig. Nein, düster<br />

sei er gar nicht, depressiv nicht, „ich bitte<br />

Sie!“, höchstens von einer „mediterranen<br />

Melancholie“ angesteckt, einer lebenszugewandten<br />

Traurigkeit. „Wenn man<br />

über das 50. Lebensjahr gesprungen ist<br />

und aus dem Paradies vertrieben wurde,<br />

ist man umstellt vom Tod. Gerade dann<br />

darf man sich den Schneid nicht abkaufen<br />

lassen. Du musst weitermarschieren,<br />

in Würde und Aufrichtigkeit. Da ist mir<br />

eine italienische Traurigkeit viel näher<br />

als eine robuste deutsche Depression.“<br />

In diesen fellinihaften Tönen ist <strong>der</strong><br />

für Mitte Dezember angekündigte neue<br />

„Tatort“ namens „Schwindelfrei“ mit Tukur<br />

als Ermittler Felix Murot gehalten.<br />

Spielort ist ein Zirkus. Murot schleust<br />

sich als Pianist in die Zirkusband ein,<br />

dargestellt von den „Rhythmus Boys“.<br />

<strong>Der</strong> darauffolgende „Tatort“, verspricht<br />

Tukur feixend, werde ein echter<br />

Paukenschlag: „47 Menschen kommen<br />

da ums Leben. Das hat noch nicht einmal<br />

ein österreichischer Krimi geschafft.“<br />

BJÖRN EENBOOM sympathisiert wie Ulrich<br />

Tukur mit den tragischen Charakteren im Film.<br />

Blockbuster­Helden sind ihm ein Graus<br />

125<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


SALON<br />

Report<br />

KNARRE?<br />

GASPEDAL!<br />

Videospiele wie Grand Theft Auto<br />

bieten eine perfekte Flucht<br />

aus <strong>der</strong> Wirklichkeit.<br />

In ihrer zynischen Machowelt<br />

soll die Moral schweigen<br />

Von ALEXANDER PSCHERA<br />

126<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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Buchtipps: <strong>Der</strong><br />

Erste Weltkrieg<br />

Christopher Clark<br />

Die Schlafwandler<br />

(gelesen v. Frank Arnold)<br />

4 MP3-CDs, 29 Std. 17 Min.,<br />

29,99 € (D), auch<br />

im Download erhältlich<br />

ISBN 978-3-8371-2329-6<br />

Bahnbrechende Darstellung über<br />

den Ausbruch des Ersten Weltkriegs<br />

Trug Deutschland wegen seiner Großmachtträume<br />

wirklich die Hauptverantwortung am<br />

Ersten Weltkrieg? <strong>Der</strong> renommierte Historiker<br />

Christopher Clark kommt jetzt zu einer an<strong>der</strong>en<br />

Einschätzung. Das ungekürzte Hörbuch wird<br />

gelesen von Regisseur Frank Arnold.<br />

Hans Fenske<br />

<strong>Der</strong> Anfang vom Ende<br />

des alten Europa<br />

OLZOG 2013, 144 Seiten,<br />

Broschur, € 19,90,<br />

ISBN 978-3-7892-8348-2<br />

Wer wollte den Krieg, wer den Frieden?<br />

Viele Fragen, die »Urkatastrophe des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts«<br />

betreffend, sind noch nicht geklärt<br />

o<strong>der</strong> müssen neu gestellt werden. <strong>Der</strong> Freiburger<br />

Historiker Prof. Hans Fenske nimmt sich<br />

dieser Aufgabe an.<br />

Nicolas Wolz<br />

Und wir verrosten<br />

im Hafen<br />

dtv 2013, 352 Seiten,<br />

gebunden mit Schutzumschlag,<br />

21,90 € (D),<br />

ISBN 978-3-423-28025-9<br />

Das Fiasko <strong>der</strong> deutschen Flotte<br />

»Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser« verkündete<br />

Wilhelm II. Doch die Marine blieb<br />

gefangen im Wartezustand und zerstörerischer<br />

Kaisertreue bis sie sich 1919 selbst versenkte.<br />

Ein faszinieren<strong>der</strong> Einblick anhand von Tagebüchern,<br />

Briefen und Erinnerungen.<br />

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SALON<br />

Report<br />

Stellen Sie sich vor: Sie sitzen<br />

vor dem Fernseher und lauschen<br />

den Dialogen von John<br />

Travolta und Samuel L. Jackson<br />

in Quentin Tarantinos<br />

Film „Pulp Fiction“. Auf einmal bleibt<br />

das Bild stehen. Verärgert greifen Sie zur<br />

Fernbedienung – und plötzlich sind Sie<br />

mitten im Film, den Sie als Ihr eigener<br />

Regisseur mit einem Eingabegerät steuern.<br />

Sie werfen Jackson aus dem Auto,<br />

<strong>der</strong> Ihnen einen Fluch hinterherschickt.<br />

Sie steigen ein, lassen den Motor aufheulen,<br />

machen einen U-Turn und reißen<br />

dabei einen Hydranten aus <strong>der</strong> Verankerung.<br />

Wasser prasselt auf die Windschutzscheibe.<br />

Eine Polizeisirene heult<br />

auf. Die Stadt gleitet fotorealistisch an<br />

Ihnen vorüber. Auf nassem Asphalt<br />

spiegelt sich die Neonbeleuchtung eines<br />

Nachtclubs. Sie stellen den Wagen ab, erholen<br />

sich. Danach klauen Sie einen bulligen<br />

Ford und rasen stundenlang durch<br />

die Metropole, über <strong>der</strong> die Sonne versinkt.<br />

Die Welt gehört Ihnen. Tarantino<br />

kann in Rente gehen.<br />

So ähnlich fühlt sich das Videospiel<br />

Grand Theft Auto an. Wild, unberechenbar,<br />

grell. Hinter dem Kürzel<br />

GTA verbergen sich ein amerikanischer<br />

Straftatbestand, „schwerer Kraftfahrzeugdiebstahl“,<br />

und das erfolgreichste<br />

Videospiel aller Zeiten. Die Serie wurde<br />

1997 gestartet und ging soeben mit<br />

GTA V in die fünfte Runde. Dan und Sam<br />

Houser, die Grün<strong>der</strong> des produzierenden<br />

Rockstar-Studios, sind die Wun<strong>der</strong>kin<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Videospielindustrie.<br />

DIE GESAMTE BRANCHE hat im vergangenen<br />

Jahr mit einem Umsatzvolumen von<br />

weltweit 31 Milliarden Dollar die 28 Milliarden<br />

<strong>der</strong> Filmbranche hinter sich gelassen.<br />

Allein in Deutschland wurden<br />

gewaltige 73 Millionen Videospiele verkauft.<br />

Die meisten Spiele, so auch GTA,<br />

werden auf Konsolen gespielt, auf Sonys<br />

„Play Station“ und <strong>der</strong> „X-Box“ von<br />

Microsoft. Die grafischen Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> neuen Games sind handelsüblichen<br />

Computern längst über den Kopf gewachsen.<br />

Diese Konsolen, zwischen 400 und<br />

500 Euro teuer, werden direkt an den<br />

Fernseher angeschlossen und über sogenannte<br />

Controller, wuchtige Fernbedienungen<br />

mit vielen Knöpfen und Schaltern,<br />

gesteuert.<br />

Um die Figuren und Fahrzeuge durch<br />

die rasanten Szenerien zu bewegen, benötigt<br />

man viel Übung. Bestimmte Bewegungen<br />

und Manöver lassen sich nur<br />

ausführen, wenn mehrere Knöpfe gleichzeitig<br />

gedrückt werden. Selbst erfahrene<br />

Computerspieler haben oft Mühe, ein Fadenkreuz<br />

bei einem Konsolenspiel präzise<br />

zu justieren. Vor allem dann, wenn<br />

neben ihnen gerade ein Öltank explodiert<br />

und die Figur durch ein trümmerübersätes<br />

Schlachtfeld sprinten muss.<br />

Die grafische Perfektion <strong>der</strong> Spiele<br />

hat ihren Preis: GTA kostet <strong>der</strong>zeit im<br />

Handel rund 60 Euro. Die Produktionskosten<br />

liegen mit 265 Millionen Dollar<br />

deutlich über denen eines Hollywoodfilms.<br />

Auch <strong>der</strong> Umsatz <strong>der</strong> Spiele bewegt<br />

sich in an<strong>der</strong>en Regionen. GTA V<br />

spielte allein am ersten Verkaufswochenende<br />

weltweit annähernd eine Milliarde<br />

US-Dollar ein. Zum Vergleich: <strong>Der</strong> Erfolgsfilm<br />

„Gravity“ mit George Clooney<br />

und Sandra Bullock liegt nach mehreren<br />

Wochen Präsenz auf den Kinoleinwänden<br />

des Globus bei gerade einmal<br />

365 Millionen Dollar.<br />

Wo das Geld bei GTA V hinfloss,<br />

sieht man sofort: Das Spiel ist eine Orgie<br />

an visueller Präzision. Alles fühlt sich<br />

real an, hautnah, brutal sinnlich. Man<br />

kann sich in dieser Welt frei bewegen.<br />

„Open World“ heißt das Konzept in <strong>der</strong><br />

Sprache <strong>der</strong> Videospiele.<br />

In <strong>der</strong> fiktiven Stadt Los Santos, die<br />

unverkennbar Los Angeles nachempfunden<br />

ist, stimmt alles – das kleinste Architekturdetail,<br />

das Wetter, die urbane<br />

Geräuschkulisse. Gesprächsfetzen von<br />

Handytelefonaten schwirren vorbei, das<br />

Autoradio dudelt lokale Werbespots,<br />

nasse Joggingschuhe quietschen wie<br />

Plastikenten, im Ghetto wächst schmutziges<br />

Gras aus dem Asphalt. Fast meint<br />

man, das verbrannte Gummi <strong>der</strong> Autoreifen<br />

und den Urin <strong>der</strong> Hinterhöfe<br />

riechen zu können. Die Kulisse von<br />

„Pulp Fiction“ ist angesichts dieses Realitätssogs<br />

kaum mehr als ein barockes<br />

Guckkastentheater.<br />

<strong>Der</strong> Pixelirrsinn von GTA ist kein<br />

Selbstzweck. Er formuliert einen neuen<br />

Stil. Man könnte ihn „Hardcore-Realismus“<br />

nennen. Über die Bil<strong>der</strong>rampe<br />

gleitet man in ein Universum aus Gewalt,<br />

Drogen und Pornografie. Die offizielle<br />

Altersfreigabe „ab 18“ ist angemessen.<br />

Illustrationen: Rockstar Games [M] (Seiten 126 bis 129)<br />

Alle Bücher sind in<br />

Ihrer Buchhandlung erhältlich<br />

128<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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GTA V sorgt<br />

für antizivilisatorische<br />

Hypnose.<br />

Bereits das<br />

Autofahren<br />

wird dabei zur<br />

Therapie<br />

Das Spiel hat keinerlei pädagogischen<br />

Nutzen. Es erfüllt eine ganz an<strong>der</strong>e<br />

Funktion: Es befreit den Spieler aus <strong>der</strong><br />

Überregulierung einer nicht nur in politischer<br />

Hinsicht manisch korrekten Welt.<br />

Indem GTA nicht auf einem fernen<br />

Planeten o<strong>der</strong> einem Schlachtfeld in <strong>der</strong><br />

arabischen Wüste spielt, son<strong>der</strong>n in den<br />

Schluchten <strong>der</strong> Urbanität, macht es die<br />

Grenzüberschreitung, den Regelbruch erlebbar.<br />

Das ist <strong>der</strong> Kunstgriff, <strong>der</strong> GTA<br />

zum neuen medialen Paradigma formt:<br />

Dieses Universum ist real genug, um<br />

Identifikation zu ermöglichen, aber ausreichend<br />

fiktiv, um als Ausbruch aus dem<br />

engen Alltag großer Koalitionen mit minimalen<br />

Ideen empfunden zu werden.<br />

GTA V hat eine fundamental <strong>der</strong>egulierende<br />

Funktion. Es bietet ein Format<br />

für antizivilisatorische Hypnose, bei<br />

<strong>der</strong> schon das bloße Autofahren zur Therapie<br />

wird. Lohnsteuerkarten, Dispokredite<br />

und Krankenkassen wirken aus <strong>der</strong><br />

GTA-Optik wie Relikte eines früheren<br />

Lebens.<br />

Unsere oftmals moraldiktatorische<br />

Gesellschaft hat diese Form animalischer<br />

Befreiung offenbar nötig. An<strong>der</strong>s<br />

ist <strong>der</strong> Erfolg <strong>der</strong> GTA-Serie nicht zu erklären.<br />

Das Videospiel übernimmt dabei<br />

die Rolle des Kinos. Diesen Trend bestätigt<br />

Christian Schiffer, Spieleexperte und<br />

Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> ambitionierten deutschen<br />

Games-Zeitschrift WASD. Texte über<br />

Games: „Dass Hollywoodstars in Games<br />

auftauchen wie zuletzt Ellen Page und<br />

Willem Dafoe in ‚Beyond: Two Souls‘ für<br />

die ‚Play Station‘, wird bald schon völlig<br />

normal werden. Zugleich werden Spiele<br />

sich in ein Mittel verwandeln, durch das<br />

die Entwickler persönliche Statements<br />

zu gesellschaftlichen Problemen abgeben<br />

können. Autoren-Games werden<br />

eine ähnliche Funktion einnehmen wie<br />

heute noch die Autorenfilme.“<br />

FRÜHER WAR DAS KINO <strong>der</strong> Ort <strong>der</strong> Freiheit.<br />

Filme waren ein Medium <strong>der</strong> Entgrenzung<br />

und des Stressabbaus. Doch je<br />

stärker die Digitalisierung des Kinos voranschreitet<br />

und je ähnlicher die Oberflächen<br />

von Filmen und Spielen einan<strong>der</strong><br />

werden, desto anziehen<strong>der</strong> werden<br />

Games. Ein durchanimierter Film unterscheidet<br />

sich von einem Spiel nur noch<br />

dadurch, dass <strong>der</strong> Betrachter nicht in ihn<br />

einsteigen kann. Ein interaktives Game<br />

ist da für viele die bessere Alternative.<br />

Mit GTA sind Games zum gesellschaftlichen<br />

Leitmedium geworden, auch wenn<br />

sie <strong>der</strong> bildungsbürgerliche Kanon unter<br />

„Trash“ einreiht.<br />

Man könnte GTA ein „Super- o<strong>der</strong><br />

Metamedium“ nennen, sagt Christian<br />

Schiffer: In <strong>der</strong> Welt von GTA kann<br />

man ins Kino gehen, fernsehen, Zeitung<br />

lesen, Radio hören. In Zukunft könnte<br />

sich ein Großteil des <strong>Medien</strong>konsums in<br />

Welten wie Los Santos abspielen. „Ingame-Marketing“<br />

nennt sich das künftige<br />

Geschäftsmodell, bei dem virtuelle Werbeflächen<br />

in Spielestädten ebenso real<br />

vermarktet werden wie Downloadportale<br />

wie Spotify. So hermetisch, wie sie<br />

aussieht, ist die digitale Welt also nicht.<br />

Spiele definieren nicht nur die Art<br />

und Weise, wie zukünftig Geld verdient<br />

Wie reich und mächtig sind die<br />

Kirchen wirklich? Spielt Religion<br />

in einem säkularisierten<br />

Deutsch land noch eine Rolle?<br />

Matthias Drobinski zeigt, warum<br />

es gut ist, wenn Staat und<br />

Religionen zusammen arbeiten,<br />

und welche Voraussetzungen<br />

dafür nötig sind.<br />

256 S. / geb. mit Schutzumschlag<br />

€ 19,99 (D) / € 20,60 (A) / CHF* 28,50<br />

ISBN 978-3-579-06595-3<br />

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GLAUBEN LEBEN...<br />

... o<strong>der</strong><br />

Politik machen?<br />

Was soll und was will die<br />

evangelische Kirche heute?<br />

Eine Streitschrift zum Themenjahr<br />

2014 „Religion und Politik“ in <strong>der</strong><br />

Lutherdekade.<br />

NEU<br />

„Die Führung des Staates muss nicht<br />

heilig sein, auch seine Regierung<br />

braucht keine christliche sein. Es genügt<br />

völlig, dass im Staat die Vernunft<br />

herrscht.“<br />

Martin Luther 1528 (WA 27, 418, 3-4)<br />

480 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag<br />

ISBN 978-3-7892-8351-2 · EUR 48,00<br />

129<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013<br />

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Sa melbeilage von<br />

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Liebe, Gesundheit, Karriere: Immer weniger wollen<br />

wir dem Zufall überlassen. Doch wie weit reicht<br />

unsere Kontrolle?<br />

16-SEITIGES<br />

BOOKLET<br />

Sammelbeilage von<br />

Nr. 12<br />

Nr. 10<br />

Nr. 1<br />

„Die Welt als Wi le und Vorste lung"<br />

Buch IV, Paragraf 57<br />

„<strong>Der</strong> Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt” (1792/93)<br />

SOMMERAUSGABE<br />

NR. 05 / 2013<br />

0 4<br />

Deutschland 6,90 €<br />

Österreich: 7 €; Schweiz: 12,50 SF; Luxemburg: 7,40 €.<br />

Italien & Spanien: Auf Nachfrage.<br />

0 5<br />

192451 806907<br />

4 192451 806907 0 5<br />

4 192451 806907<br />

Die Welt<br />

mit<br />

philosophischen<br />

Augen<br />

betrachten<br />

Sammelbeilage von<br />

Woher kommt<br />

das<br />

Böse ?<br />

Es erschüttert unsere Welt, ist das radikal Fremde.<br />

Doch wenn an<strong>der</strong>e ihm verfallen, kann es dann<br />

auch mich erfassen?<br />

Ein Tag als perfekter Utilitarist<br />

Peter Singer unterzieht seine<br />

umstrittene Ethik dem Praxistest<br />

„Selbstverwirklichung<br />

ist zur Zumutung geworden“<br />

Gespräch mit Rahel Jaeggi<br />

Nr. 13<br />

René<br />

Descartes<br />

Das Experiment des Zweifelns<br />

„Meditationen über die Grundlagen <strong>der</strong> Philosophie“ (1641)<br />

Pussy Riot < > Slavoj Žižek<br />

Wie stabil<br />

ist das System ?<br />

Ein Briefwechsel aus dem Gefängnis<br />

Liegt das<br />

gute<br />

Leben<br />

auf dem<br />

Entscheidet<br />

<strong>der</strong><br />

Land?<br />

Zufall<br />

mein Leben ?<br />

Michael Sandel im Dialog<br />

mit Peer<br />

Steinbrück<br />

Wie viel Ungleichheit ist gerecht?<br />

Stéphane Hessels<br />

Vermächtnis<br />

Vermesse dich selbst!<br />

„Ich wurde im KZ zum Europäer“<br />

Gespräch mit Imre Kertész:<br />

Von den Amazonen zu den Femen<br />

Künstliche Befruchtung<br />

Eltern werden um jeden Preis?<br />

16-SEITIGES<br />

BOOKLET<br />

16-SEITIGES<br />

BOOKLET<br />

SCHOPEN<br />

HAUER<br />

Die Grünen und Heidegger<br />

Ist das Leben sinnlos?<br />

Goethe<br />

Die Erschließung <strong>der</strong> Natur<br />

Descartes<br />

Den Zweifel besiegen<br />

Wie werde ich<br />

(ein bisschen)<br />

freier ?<br />

Wir haben so viele Möglichkeiten wie noch nie,<br />

trotzdem fühlen wir uns ständig eingeengt.<br />

Welche Wege führen in ein selbstbestimmteres Leben?<br />

Eine wegweisende Wahlverwandtschaft<br />

„Es gibt keine wahre Religion“<br />

Gespräch mit dem Ägyptologen Jan Assmann<br />

Was macht Fußball schön ?<br />

Volker Finke im Dialog mit Gunter Gebauer<br />

SCHOPENHAUER<br />

ALBERT CAMUS<br />

Das Glück <strong>der</strong> Rebellion<br />

Die Macht des Willens<br />

Goethe<br />

JUNI/JULI<br />

NR. 04 / 2013<br />

Gestalte dein Werden !<br />

Deutschland 6,90 €<br />

Öste reich: 7 €; Schweiz: 12,50 SF; Luxemburg: 7,40 €.<br />

Italien & Spanien: Auf Nachfrage.<br />

4 1 9 2 4 5 1 8 0 6 9 0 7 0 4<br />

4 1 9 2 4 5 1 8 0 6 9 0 7<br />

OKTOBER/NOVEMBER<br />

NR. 06 / 2013<br />

WINTERAUSGABE<br />

NR. 01 / 2014<br />

Die neue Ausgabe,<br />

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SALON<br />

Report<br />

wird, son<strong>der</strong>n auch, wie Geschichten erzählt<br />

und erlebt werden: crossmedial,<br />

interaktiv, offen. GTA V hat ein faszinierendes<br />

narratives Muster, das dieser<br />

Welt ohne Richtung Orientierung verleiht<br />

und sie damit von gescheiterten virtuellen<br />

Räumen in <strong>der</strong> Art von „Second<br />

Life“ unterscheidet. Es wirkt wie eine<br />

blutgetränkte Antwort auf Richard David<br />

Prechts so harmlose Frage nach dem<br />

Ich und den vielen. <strong>Der</strong> Spieler hat hier<br />

die Freiheit, ständig zwischen drei verschiedenen<br />

Figuren hin- und herzuwechseln,<br />

<strong>der</strong>en Wege sich kreuzen: Franklin<br />

ist ein kleiner Autodieb aus dem Ghetto,<br />

Michael ein pensionierter Gangster, den<br />

„Sopranos“ entsprungen, <strong>der</strong> sich in einer<br />

Villa über <strong>der</strong> Stadt verschanzt, und Trevor<br />

ein psychopathischer Drogendealer,<br />

<strong>der</strong> auch mit Waffen handelt.<br />

ZWISCHEN DIESEN FIGUREN entspinnt<br />

sich eine gut choreografierte Geschichte<br />

mit überraschenden Wendungen. Am<br />

Ende kann man sich entscheiden, einen<br />

<strong>der</strong> Protagonisten ins Jenseits zu beför<strong>der</strong>n,<br />

ehe nach mindestens 30 Stunden<br />

Spieldauer wie anno dazumal im<br />

Lichtspielhaus <strong>der</strong> Abspann über den<br />

Flatscreen läuft. <strong>Der</strong> Spieler kann zwischendurch<br />

aber auch das skurrile Universum<br />

<strong>der</strong> Nebenfiguren erkunden.<br />

Zum Beispiel lässt sich mit dem<br />

am Hals tätowierten und strohdummen<br />

Gangster Lamar und seinem fetten<br />

Rottweiler Chop das Ghetto aufmischen.<br />

Mehr darf über den Gang <strong>der</strong> Geschichte<br />

nicht verraten werden. Das gebietet ein<br />

ungeschriebenes Gesetz <strong>der</strong> Gamingwelt,<br />

die das „Spoilern“, das Verraten von<br />

zentralen Handlungselementen, unter<br />

Höchststrafe stellt. Das Schreiben über<br />

neue Spiele ist eine eigene journalistische<br />

Disziplin geworden, bei <strong>der</strong> es darum<br />

geht, viel zu sagen, ohne zum Spielver<strong>der</strong>ber<br />

zu werden.<br />

Man verrät allerdings kein Geheimnis,<br />

wenn man darauf hinweist, dass die<br />

Dialoge von GTA urkomisch und filmreif<br />

sind. Wenn sich Lamar und Franklin<br />

im <strong>der</strong>bsten Jargon darüber unterhalten,<br />

wessen Bild nun in den „Mitarbeiter<br />

des Monats“-Rahmen gehört, dann ist<br />

das eine würdige Replik auf das philosophische<br />

Gequassel in „Pulp Fiction“.<br />

Die Figuren selbst sind dagegen vollkommen<br />

ironielos. Sonst könnten sie<br />

Die distanzlos<br />

präsentierte<br />

Gewalt macht<br />

Videospiele<br />

für viele<br />

unerträglich,<br />

beson<strong>der</strong>s für<br />

Frauen. Das soll<br />

sich än<strong>der</strong>n<br />

nicht <strong>der</strong>egulierend funktionieren. Ein<br />

Gangster, <strong>der</strong> sich selbst bewitzelt, ist<br />

eine schlechte Projektionsfigur für Ausbruchsfantasien.<br />

Diese distanzlose Hermetik<br />

<strong>der</strong> Gewalt macht Videospiele für<br />

viele so unerträglich und ausweglos.<br />

GTA ist ein extremes Beispiel für<br />

diese Ausweglosigkeit. Will man die Geschichte<br />

Trevors zu Ende spielen, muss<br />

man einen vermeintlichen Terroristen<br />

mit Faustschlägen, Elektroschocks o<strong>der</strong><br />

heftigeren Methoden wie Waterboarding<br />

und Zähneziehen foltern, um an Informationen<br />

zu gelangen, die für das Weiterspielen<br />

notwendig sind. Versagt dabei<br />

das Herz des Opfers, wird es mit Adrenalin<br />

belebt. Für eine neue Folterrunde.<br />

Diese Szene hat dem Spiel viel Kritik<br />

eingebracht. In einigen Län<strong>der</strong>n, unter<br />

Illustration: Rockstar Games<br />

www.philomag.de<br />

130<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Anzeige<br />

Foto: Jürgen Bauer<br />

an<strong>der</strong>em in Japan, wurde sie geschnitten,<br />

in <strong>der</strong> deutschen Version ist sie spielbar.<br />

Die entscheidende Frage lautet: Ist die<br />

Sequenz ausreichend als Satire markiert?<br />

Während Human-Rights-Organisationen<br />

wie „Freedom from Torture“<br />

Menschenrechte für Spielefiguren einfor<strong>der</strong>n,<br />

beharren Spieleexperten wie<br />

Michael Graf, stellvertreten<strong>der</strong> Chefredakteur<br />

<strong>der</strong> deutschen Spielezeitschrift<br />

Gamestar, auf <strong>der</strong> Doppelbödigkeit <strong>der</strong><br />

Szene: „Die GTA-Serie war schon immer<br />

bissiger Spott, satirische Abrechnung mit<br />

den Schattenseiten des amerikanischen<br />

Traumes. In diesen Kontext passt auch<br />

die Folterszene von GTA V. Sie führt den<br />

Spielern brutal, aber auch brutal ehrlich<br />

die Abgründe des ‚Kampfes gegen den<br />

Terror‘ vor Augen: Man muss einen Mann<br />

misshandeln, um eine letztlich sinnlose<br />

Mission zu erfüllen.“<br />

Graf gesteht ein, dass <strong>der</strong> satirische<br />

Unterton nicht für jeden Spieler klar erkennbar<br />

ist. An<strong>der</strong>erseits seien die brutalen<br />

Szenen „ein mutiges Statement gegen<br />

Untaten, die tatsächlich begangen werden<br />

– und sogar, wie es heißt, zu unserem<br />

Schutz, in unserem Namen. GTA V<br />

hält uns den Spiegel vor, zwingt uns zur<br />

Konfrontation mit Tatsachen, mit denen<br />

wir uns lieber nicht beschäftigen wollen.<br />

Das Medium Spiel wird erwachsen.“<br />

Dennoch kann die bewusste Sequenz<br />

nicht ohne Weiteres als ethische<br />

Reflexion über die Legitimation von<br />

Folter gelesen werden wie vergleichbare<br />

Szenen in Kathryn Bigelows Film „Zero<br />

Dark Thirty“ o<strong>der</strong> jüngst in Denis Villeneuves<br />

„Prisoners“. Auch die Tatsache,<br />

dass im Spiel die Regierung persönlich<br />

den Folterbefehl erteilt, macht die<br />

Sequenz nicht umstandslos zur Satire.<br />

Will man GTA V zu Ende spielen, gibt<br />

es keine Alternative, als in die Rolle des<br />

Folterknechts zu schlüpfen.<br />

Damit positioniert sich das Spiel außerhalb<br />

des moralischen Diskurses. Moralisch<br />

relevant wäre das Spiel, wenn<br />

<strong>der</strong> Spieler die Freiheit zur Entscheidung<br />

hätte. Das würde bedeuten, mehrere<br />

Handlungsfäden anzubieten und<br />

dem Spieler die Wahl zu lassen, welchen<br />

Weg er gehen will. Ein solches Szenario<br />

könnte zu einem Instrument ethischer<br />

Reflexion werden, zu einer Simulation<br />

moralischen Handelns, die die Missstände<br />

<strong>der</strong> realen Welt kritisch spiegelt.<br />

Das Spiel greift zwar immer wie<strong>der</strong><br />

gesellschaftliche Probleme auf: Rassismus,<br />

Drogen, Frauenfeindlichkeit, den<br />

Diebstahl sozialer Daten. Facebook heißt<br />

im GTA-Slang Life Inva<strong>der</strong>. Aber daraus<br />

folgt nichts. Es gibt keine Botschaft.<br />

<strong>Der</strong> Hyperrealismus verdichtet sich nie<br />

zur Sozialkritik. Für die Probleme dieser<br />

Welt gibt es genau zwei Lösungen: den<br />

Abzug und das Gaspedal.<br />

WEIL JEDE KRITISCHE DISTANZ zum eigenen<br />

Ich fehlt, sind GTA und Konsorten<br />

für die an<strong>der</strong>e Hälfte <strong>der</strong> Weltbevölkerung<br />

uninteressant: für die Frauen.<br />

Stolze 85 Prozent <strong>der</strong> Gamer sind Männer.<br />

Los Santos ist eine maskuline Architektur,<br />

in <strong>der</strong> man auch ein Bordell<br />

aufstöbern kann. Entsprechend schaut<br />

das weibliche GTA-Personal aus: Es ist<br />

vollbusig, willig, extrem verdorben und<br />

gerne blond. Christian Schiffer von <strong>der</strong><br />

Zeitschrift WASD. Texte über Games<br />

sieht aber eine Umkehr voraus: „Die<br />

Zielgruppe für Spiele ist in den letzten<br />

Jahren größer, älter und vor allem<br />

weiblicher geworden. Dieser Trend wird<br />

sich fortsetzen. Die Zielgruppe wird anspruchsvoller,<br />

insbeson<strong>der</strong>e, was den Inhalt<br />

und die Handlung anbelangt.“<br />

Da stellt sich unweigerlich die Frage:<br />

Welche Form postindustrieller Meditation<br />

müssen Videogames bieten, um<br />

künftig auch von Frauen als Ventil für<br />

ihren Alltagsdruck erkannt zu werden?<br />

Braucht es Küchenzerstörungssequenzen?<br />

Kin<strong>der</strong>zimmerapokalypsen?<br />

Kastrationsfantasien?<br />

Vielleicht sieht die Zukunft <strong>der</strong> Games<br />

aber auch ganz an<strong>der</strong>s aus. <strong>Der</strong>zeit<br />

sind mehr als 88 Prozent <strong>der</strong> Spieleentwickler<br />

männlich. Doch immer mehr<br />

Frauen drängen in den Markt. Spiele, die<br />

von Frauen mitentwickelt werden, sind<br />

an<strong>der</strong>s. Bestes Beispiel ist die erfolgreiche<br />

Familiensimulation „Die Sims“. Vielleicht<br />

kann man ja demnächst in Grand<br />

Theft Auto VI einfach Brombeeren pflücken<br />

und mit Freunden ums Lagerfeuer<br />

sitzen, statt wehrlosen Menschen mit <strong>der</strong><br />

Kombizange Backenzähne aus dem Kiefer<br />

zu drehen.<br />

ALEXANDER PSCHERA ist ein gestresster<br />

Kulturphilosoph („Vom Schweben“), <strong>der</strong><br />

sich abends gerne bei Rotwein und GTA V<br />

von den Mühen des Alltags erholt<br />

131<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013<br />

Roman. Geb. 337 S. € 19,95 (D)<br />

Auch als eBook erhältlich<br />

»Marion Poschmanns<br />

Sonnenposition ist ein<br />

virtuos gearbeiteter<br />

Roman, <strong>der</strong> in einer<br />

dunkel funkelnden<br />

Sprache die Rän<strong>der</strong><br />

unserer Wirklichkeit<br />

ausleuchtet.«<br />

Sandra Kegel, FAZ<br />

Wilhelm-Raabe-<br />

Literaturpreis 2013<br />

Suhrkamp<br />

www.suhrkamp.de


SALON<br />

Hopes Welt<br />

DANKE, DU MICH AUCH!<br />

Wie ich in Frankreich einmal lernte, dass Musiker vor keinem<br />

Kraftwort zurückschrecken, um böse Geister zu bannen<br />

Von DANIEL HOPE<br />

Kommt alles Gute von oben, wie es in<br />

<strong>der</strong> Bibel heißt? Lässt es sich herbeiflehen,<br />

durch fromme Wünsche o<strong>der</strong> Beschwörungsformeln?<br />

Niemand weiß es. Trotzdem hat<br />

sich die Menschheit nie von dem Versuch<br />

abhalten lassen, dem Schicksal in die Karten<br />

zu sehen.<br />

Lang ist die Kette von vermeintlich sicheren<br />

Methoden, den Schleier des großen Geheimnisses<br />

zu lüften, angefangen beim Orakel in Delphi<br />

bis zum Horoskop in <strong>der</strong> Tageszeitung. Und immer<br />

wie<strong>der</strong> gab es Wahrsager und Wun<strong>der</strong>heiler,<br />

denen man übersinnliche Fähigkeiten zutraute,<br />

ob es die Vogelbeschauer im alten Rom waren<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> unheimliche Rasputin.<br />

Dass man Musikern und beson<strong>der</strong>s Komponisten<br />

eine beson<strong>der</strong>e Anfälligkeit für alles<br />

Über natürliche zuschreiben muss, will ich nicht<br />

behaupten. Aber Beispiele hat es zweifellos gegeben.<br />

Es bleibt schwer zu beurteilen, ob es sich<br />

dabei um Grenzfälle geistiger Verwirrung handelte.<br />

Bei Musikern ist es üblich, dass wir uns<br />

Sprüche überlegen, um den bösen Geistern aus<br />

dem Weg zu gehen. Neulich, kurz vor meinem<br />

Auftritt in Moskau, sagten mir meine russischen<br />

Freunde, dass man zum Schulterklopfen<br />

„geh zum Teufel!“ antworten müsse und sich<br />

niemals bedanken dürfe. Irgendwann in Frankreich<br />

hatte mir ein Mitstreiter auf dem Weg zur<br />

Bühne „Je vous dis merde“ zugeraunt. Ich glaubte,<br />

mich verhört zu haben. Er wünschte mir Scheiße?<br />

Nicht viel besser erging es mir in Italien.<br />

„In bocca al lupo!“, rief mir jemand vor einem<br />

Konzert zu. Als ich ihn völlig verständnislos<br />

ansah, sagte er nur, ich müsse mit „Crepi il lupo!“<br />

antworten. Hinterher habe ich im Wörterbuch<br />

nachgeschlagen und begriffen, dass er mir das<br />

„Maul des Wolfes“ an den Hals gewünscht<br />

hatte und ich daraufhin mit <strong>der</strong> Parole „Tod dem<br />

Wolf“ zu reagieren hatte. Angeblich geht <strong>der</strong><br />

Spruch auf die kapitolinische Wölfin zurück, von<br />

<strong>der</strong> Romulus und Remus gesäugt wurden.<br />

Verglichen mit Exkrementen, Raubtieren und<br />

Satan, kommt mir das im deutschen Sprachraum<br />

übliche „Hals- und Beinbruch“ sehr zivil vor.<br />

Am besten, so die abergläubische Theorie, führt<br />

man die Dämonen dadurch in die Irre, dass man<br />

das Gegenteil von dem sagt, was man meint.<br />

Das funktioniert deshalb leicht, weil die unliebsamen<br />

Gesellen nicht nur böse, son<strong>der</strong>n obendrein<br />

von sehr begrenzter Intelligenz sind.<br />

Wünscht man also einem Musiker vor dem Auftritt<br />

nicht Glück und Erfolg, son<strong>der</strong>n eben<br />

Hals- und Beinbruch, halten die Geister eigenes<br />

Eingreifen für überflüssig, weil ihnen Schlimmeres<br />

als eine Mehrfachfraktur für einen<br />

Geiger nicht einfällt.<br />

Wobei die Täuschung durch das Wort<br />

„Beinbruch“ zu Shakespeares Theaterzeiten eine<br />

Spur subtiler war: Üblicherweise warf das<br />

Publikum, wenn es mit <strong>der</strong> Vorstellung zufrieden<br />

war, Trinkgel<strong>der</strong> auf die Bühne. Wenn sich<br />

die Schauspieler danach bückten, brachen sie<br />

sich zwar nicht die Beine, verrenkten diese aber,<br />

um an das Kleingeld zu kommen. Je häufiger sie<br />

es tun konnten, desto höher waren ihre Einnahmen.<br />

Zum Glück ist diese Art <strong>der</strong> Abendgage passé.<br />

DANIEL HOPE ist Violinist von Weltrang. Sein<br />

Memoirenband „Familien stücke“ war ein Bestseller.<br />

Zuletzt erschienen sein Buch „Toi, toi, toi! – Pannen<br />

und Katastrophen in <strong>der</strong> Musik“ ( Rowohlt ) und<br />

die CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

132<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Dahinter steckt<br />

immer ein kluger Kopf.<br />

www.faz.net<br />

Jens Weidmann, Bundesbankpräsident


SALON<br />

Gespräch<br />

„BEIM ISLAM<br />

IST ES HEIKLER“<br />

Rémi Brague ist Frankreichs Mann für Glaube und<br />

Diesseits. <strong>Der</strong> Religionsphilosoph lehrte an <strong>der</strong><br />

Sorbonne, schrieb über die „Weisheit <strong>der</strong> Welt“ und<br />

„Europa – seine Kultur, seine Barbarei“. Ein Pariser<br />

Gespräch mit dem Experten für arabische Philosophie<br />

über die Abgründe und Aufschwünge des Menschen<br />

134<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Was meinen wir eigentlich, wenn wir<br />

Religion sagen, Monsieur Brague?<br />

Rémi Brague: Sie haben damit die<br />

schwierigste Frage gleich zu Beginn gestellt.<br />

<strong>Der</strong> Begriff ist eine relativ späte<br />

Prägung aus christlichem Geist. Eigentlich<br />

können wir erst seit 1799 von Religion<br />

reden, seit Friedrich Schleiermachers<br />

Reden „Über die Religion“. Mit<br />

Schleiermacher beginnt die Geschichte<br />

des Religionsbegriffs im Westen. Er<br />

nannte die Religion ein Gefühl, später<br />

das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“<br />

von dem einen Gott, und grenzte es<br />

so vom Wissen einerseits, vom Tun an<strong>der</strong>erseits<br />

ab.<br />

Inwiefern drückt sich in einer solchen<br />

Definition christlicher Geist aus?<br />

Diese Vorfestlegung grenzt viele Bereiche<br />

aus, die in nichtwestlichen Kulturen<br />

essenziell zur Religion gehören. Im<br />

Buddhismus etwa gibt es die Vorstellung<br />

eines Gottes nur am Rande. Für Muslime<br />

wie<strong>der</strong>um ist das Recht das Zentrum ihrer<br />

Religion. Die Mystik ist im Islam erlaubt,<br />

die Ausübung <strong>der</strong> religiösen Pflichten<br />

hingegen ist erfor<strong>der</strong>lich. Auch <strong>der</strong><br />

Dschihad, den wir mit Krieg übersetzen<br />

müssen, zählt untrennbar zum Islam. Die<br />

älteste Biografie Mohammeds – von Ibn<br />

Ishaq aus dem 8. Jahrhun<strong>der</strong>t – zeigt, dass<br />

die militärische Dimension im Leben des<br />

Propheten überall präsent war. Zumindest<br />

nach <strong>der</strong> Hidschra, seiner Auswan<strong>der</strong>ung<br />

von Mekka nach Medina.<br />

damit ist auch <strong>der</strong> Anspruch gemeint,<br />

den die Wahrheit auf den Gläubigen erhebt.<br />

Augustinus trennt sehr schön eine<br />

veritas lucens, eine offenbarte Wahrheit<br />

also, die leuchtet und erleuchtet, und eine<br />

veritas redarguens. Darunter versteht er<br />

jene Wahrheit, die herausfor<strong>der</strong>t, die den<br />

Gläubigen angreift, ihn bloßstellt. Auch<br />

Levinas und Heidegger haben diese Unterscheidung<br />

aufgegriffen.<br />

Irrte Jan Assmann also?<br />

Ich bezweifle stark, dass die polytheistischen<br />

Religionen weniger gewalttätig<br />

waren. Denken Sie an die Menschenopfer<br />

im Namen <strong>der</strong> aztekischen Religion<br />

o<strong>der</strong> bei meinen Vorfahren, den Galliern.<br />

Außerdem müssen wir differenzieren, in<br />

welcher Form Gewalt in den sogenannten<br />

heiligen Büchern erscheint. Wird von ihr<br />

erzählt, o<strong>der</strong> wird zu ihr aufgerufen? Das<br />

Alte Testament schil<strong>der</strong>t etwa die grausame<br />

Eroberung Kanaans. Ganze Völker<br />

werden ausgerottet, man kann fast von<br />

einem Genozid sprechen. Es handelt sich<br />

um einen rückblickenden Albtraum in einer<br />

Zeit, da es die kanaanitischen Völker<br />

nicht mehr gibt. Hier liegt erzählte, aber<br />

nicht erwünschte Gewalt vor.<br />

Gibt es religiös erwünschte Gewalt?<br />

Gerne wird in diesem Zusammenhang<br />

auf den berühmten Psalm 137<br />

verwiesen. Dort lesen wir, die Säuglinge<br />

Babylons sollten gepackt und „am Felsen<br />

zerschmettert“ werden. Das ist eindeutig<br />

ein Wunschtraum, eine Rachefantasie aus<br />

<strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Unterdrückten. Es kommt<br />

oft vor, dass die Opfer mit ihren Henkern<br />

nicht eben höflich verfahren. Zudem ist<br />

es eine zeitgebundene Aussage. An<strong>der</strong>s<br />

stellt sich die Lage im Koran dar. Weil<br />

er das Werk eines ewigen und allwissenden<br />

Gottes ist, gelten die Gebote für<br />

jede Epoche, haben die Aufrufe zur Unterdrückung<br />

von Ungläubigen kein Ablaufdatum.<br />

Man könnte, einen berühmten<br />

Spruch abwandelnd, sagen: Jede Epoche<br />

ist unmittelbar zum Koran.<br />

Auch durch die Geschichte des Christentums<br />

zieht sich eine Blutspur. Die Kreuzzüge,<br />

die Inquisition, <strong>der</strong> Dreißigjährige<br />

Krieg sind Etappen. Verdanken sich<br />

diese Gewaltexplosionen alle einer falschen<br />

Lektüre des Neuen Testaments?<br />

Selbst wenn Ihnen diese Antwort<br />

vielleicht nicht schmecken wird: Im Fall<br />

des Christentums muss man sagen, dass<br />

die Gewalttäter ihrer eigenen Religion<br />

untreu geworden sind. Dadurch wird natürlich<br />

keine einzige Brutalität geringer.<br />

Beim Islam ist es abermals heikler, eben<br />

aufgrund dessen zeitloser Gültigkeit. In<br />

<strong>der</strong> Biografie des Propheten gibt es eine<br />

Szene, in <strong>der</strong> Mohammed anordnet, den<br />

Fotos: Patrick Gaillardin/Picturetank für <strong>Cicero</strong><br />

Gibt es eine generelle Geneigtheit zur<br />

Gewalt in den monotheistischen Religionen,<br />

weil diese einen Wahrheitsanspruch<br />

erheben? In diesem Sinne sind<br />

die Arbeiten Jan Assmanns verstanden<br />

worden. Auch Benedikt XVI. sprach<br />

beim letzten Treffen mit seinem Schülerkreis<br />

im Sommer 2012 davon: „<strong>Der</strong><br />

Gedanke von Wahrheit und <strong>der</strong> von Intoleranz“,<br />

so <strong>der</strong> damalige Papst, „haben<br />

sich fast völlig miteinan<strong>der</strong> verschmolzen,<br />

und so wagen wir gar nicht<br />

mehr, an Wahrheit zu glauben, von<br />

Wahrheit zu sprechen.“<br />

Das ist schon wie<strong>der</strong> eine sehr verzwickte<br />

Frage. <strong>Der</strong> Wahrheitsanspruch<br />

in den monotheistischen Religionen bindet<br />

in zwei Richtungen. Es handelt sich<br />

nicht nur um den Anspruch auf Wahrheit,<br />

den <strong>der</strong> Gläubige erhebt. Nein,<br />

135<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


SALON<br />

Gespräch<br />

Schatzmeister eines gerade besiegten<br />

Stammes zu foltern, um an dessen Geld<br />

zu kommen. Die Zentralfigur des heute<br />

in Saudi-Arabien herrschenden wahabitischen<br />

Islam, Ibn Taimiya (13. Jahrhun<strong>der</strong>t),<br />

zieht daraus die Schlussfolgerung,<br />

es sei erlaubt, einen Dieb zu foltern.<br />

So entsteht eine Rechtsquelle, über die<br />

zu diskutieren nicht gestattet ist, da sie<br />

auf einer Tat des Propheten beruht. Aus<br />

demselben Grund scheiterte vor einigen<br />

Jahren <strong>der</strong> Versuch des iranischen Parlaments,<br />

das Mindestalter für die Verheiratung<br />

von Mädchen auf zwölf Jahre<br />

zu erhöhen. Die Mullahs argumentierten,<br />

dass <strong>der</strong> Prophet bereits mit seiner<br />

neunjährigen Braut die Ehe vollzogen<br />

habe. Damit war die Gesetzesinitiative<br />

vom Tisch. Mohammed gilt Muslimen als<br />

„das schönste Vorbild“.<br />

<strong>Der</strong> Aufruf des heiligen Bernhard von<br />

Clairvaux zum zweiten Kreuzzug, „Deus<br />

lo vult“, „Gott will es“, ist auch kein<br />

menschenfreundliches Motto gewesen.<br />

Gewiss nicht. Und doch müssen wir<br />

uns vor dem Lupeneffekt hüten – davor<br />

also, mit <strong>der</strong> Lupe die Abgründe des<br />

Westens in den alleinigen Fokus zu rücken.<br />

Die Geschichte etwa Amerikas vor<br />

Kolumbus ist ebenso wenig makellos wie<br />

die Geschichte des Nahen Ostens, ehe <strong>der</strong><br />

Monotheismus entstand.<br />

Es gab also Gewalt ausdrücklich im Namen<br />

von polytheistischen Religionen?<br />

Das ist schon wie<strong>der</strong> nicht so einfach<br />

zu sagen. <strong>Der</strong> Unterschied zwischen Religion<br />

und Staat existierte damals kaum.<br />

Ob man im Namen des Volkes Gottes<br />

o<strong>der</strong> des Königs o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Nation Menschen<br />

schlachtete, war nicht zu entscheiden.<br />

In <strong>der</strong> vormonotheistischen Welt gab<br />

es Religion als eigenständiges Phänomen<br />

gar nicht. Krieg zwischen den Völkern<br />

war immer auch ein Krieg zwischen konkurrierenden<br />

Göttern. Mit dem Aufkommen<br />

des Monotheismus trat nicht die Gewalt<br />

in die Welt, wohl aber fand sie eine<br />

neue Form. Im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t haben<br />

dann bekanntlich zwei spätatheistische<br />

Regimes unter nationalsozialistischen<br />

beziehungsweise marxistisch-leninistischen<br />

Vorzeichen die Gewalttaten <strong>der</strong><br />

Religionen um ein Vielfaches übertroffen.<br />

Hitler verstand den Nationalsozialismus<br />

als eine „wissenschaftliche Lehre“,<br />

kühl und streng – so sagte er es zumindest<br />

1936. Wenn er vom Allmächtigen<br />

und <strong>der</strong> Vorsehung schwafelte, dachte<br />

er in darwinistischen Kategorien. Bisher<br />

gibt es keinen Grund zur Annahme,<br />

dass ein Atheismus, einmal zur Macht<br />

gelangt, lammfromm wäre.<br />

Das Problem ist demnach <strong>der</strong> Mensch,<br />

nicht seine Religion. Also liegt im<br />

Menschen eine Versuchung zu Gewalt<br />

und <strong>Blutrausch</strong>?<br />

Es gibt lei<strong>der</strong> einen grundlegenden<br />

Fanatismus, <strong>der</strong> sich innerhalb wie außerhalb<br />

einer Religion austoben kann.<br />

Auch wissenschaftlichen Fanatismus<br />

kann es geben. Ich schreibe gerade an<br />

einem Buch mit dem Titel „Die Herrschaft<br />

des Menschen“ und lese dazu, was<br />

<strong>der</strong> herausragende britische Chemiker<br />

John Desmond Bernal 1929 zu Papier<br />

brachte. Er for<strong>der</strong>te, den Menschen wissenschaftlich<br />

zu verbessern, und wurde<br />

so ein Ahnherr des Transhumanismus.<br />

Wenn es den wissenschaftlich verbesserten,<br />

den schöneren, klügeren, kräftigeren<br />

Menschen gäbe, dann – so Bernal –<br />

müsse dieser neue Mensch vermutlich<br />

die Zahl <strong>der</strong> übrigen, <strong>der</strong> nicht verbesserten<br />

Menschen verringern. Diese Ausmerzung<br />

<strong>der</strong> Missgeratenen erinnert<br />

doch sehr an die Vernichtung von Ungläubigen.<br />

Es ist eine sehr alte und eben<br />

auch ganz aktuelle Versuchung.<br />

Die Globalisierung macht vor den Religionen<br />

nicht halt. Sollten sie miteinan<strong>der</strong><br />

ins Gespräch kommen? Ist <strong>der</strong> interreligiöse<br />

Dialog, wie es oft heißt, ein Mittel<br />

zum Frieden?<br />

Religionen können nicht miteinan<strong>der</strong><br />

ins Gespräch kommen, son<strong>der</strong>n nur<br />

Menschen, die eine Religion haben. Im<br />

Bereich des Islam ist ein solches Gespräch<br />

beson<strong>der</strong>s schwierig, weil <strong>der</strong> Islam<br />

sich als eine Religion begreift, die<br />

Judentum und Christentum überflüssig<br />

gemacht hat. Ich rate generell eher zum<br />

interkulturellen als zum interreligiösen<br />

Gespräch. Lassen sie uns reden darüber,<br />

wie die verschiedenen Menschen ihren<br />

Glauben zum Ausdruck bringen. Reden<br />

wir über Gebetsmethoden, über das Fasten,<br />

über das Pilgern. Sobald man den Inhalt<br />

des Geglaubten berührt, wachsen die<br />

Schwierigkeiten exponentiell.<br />

Für ein solches Gespräch scheinen die<br />

Partner abhandenzukommen. Selbst in<br />

Frankreich, das einmal <strong>der</strong> Kirche erste<br />

Tochter hieß, glauben nur noch 16 Prozent<br />

an einen persönlichen Gott, wie ihn<br />

das Christentum voraussetzt. Macht<br />

die Säkularisierung des Westens Religionsgespräche<br />

obsolet?<br />

Europa beschreitet einen Son<strong>der</strong>weg.<br />

Und offenbar bekommt ihm die<br />

Foto: Patrick Gaillardin/Picturetank für <strong>Cicero</strong><br />

136<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


zunehmende Säkularisierung nicht beson<strong>der</strong>s,<br />

wenn ich mir die demografischen<br />

Fakten anschaue. Ist Europa vielleicht<br />

heute schon eine rosa geschminkte<br />

Leiche? <strong>Der</strong> Atheismus scheint nicht in<br />

<strong>der</strong> Lage zu sein, die grundlegende Frage<br />

zu beantworten, warum es unbedingt<br />

Menschen geben sollte.<br />

Sie schrieben davon in Ihrem Buch zur<br />

„Weisheit <strong>der</strong> Welt“: „Wir wissen nicht<br />

mehr, warum es moralisch gut ist, dass<br />

es Menschen in dieser Welt gibt.“<br />

Wirklich? Das ist ja erstaunlich. Mir<br />

war dieser Satz ganz entfallen, ich will<br />

ihn in „Herrschaft des Menschen“ ausführlich<br />

behandeln. Rousseau sagte einmal:<br />

<strong>Der</strong> Atheismus bringt keine Menschen<br />

um, aber er verhin<strong>der</strong>t, dass neue<br />

geboren werden. Wenn mit dem Tod alles<br />

aus ist, ist es ein extrem undemokratischer<br />

Akt, Menschen ins Leben zu rufen,<br />

ohne sie davor um ihre Erlaubnis<br />

zu fragen.<br />

„Bisher gibt es<br />

keinen Grund<br />

zur Annahme, dass<br />

ein Atheismus, zur<br />

Macht gelangt,<br />

lammfromm wäre“<br />

Rémi Brague, bis 2012 Inhaber des<br />

Guardini­Lehrstuhls in München<br />

sich in religiöse wie in nichtreligiöse Formen<br />

kleiden, manche Religionen aber<br />

haben o<strong>der</strong> hatten ein durchaus ambivalentes<br />

Verhältnis zur Gewalt. Schließen<br />

möchte ich mit einem schönen Gedanken,<br />

den ich ebenfalls in „Weisheit<br />

<strong>der</strong> Welt“ gefunden habe. Sie schreiben,<br />

die Technik sei in <strong>der</strong> Neuzeit „eine Art<br />

PSH_1213_210x140_<strong>Cicero</strong>:Layout Ziehen wir ein Fazit: Die 1 Versuchung<br />

04.11.2013 14:44 Moral“ Uhr geworden, Seite „und 1 vielleicht sogar<br />

zur Gewalt ist unausrottbar, sie kann die wahre Moral“. Nimmt die Technik<br />

damit die Rolle einer Religion in postreligiöser<br />

Zeit ein?<br />

Die Welt erscheint heute in <strong>der</strong> Regel<br />

als schlecht, das ist die große gnostische<br />

Versuchung <strong>der</strong> Neuzeit. Darum<br />

soll sie verbessert werden mithilfe <strong>der</strong><br />

Technik. Religion und Moral dürfen wir<br />

aber nicht in eins setzen. Das Christentum<br />

zum Beispiel brachte gar keine neue<br />

Moral in die Welt, es geht in moralischer<br />

Hinsicht nicht über die Zehn Gebote hinaus.<br />

Es gibt überhaupt keine christliche<br />

Son<strong>der</strong>moral. Es gibt jetzt lediglich<br />

Gnade und Vergebung als neue Zutaten<br />

zur globalen Heilsökonomie – also eine<br />

neu gewährte Freiheit zum unmoralischen<br />

Tun und zur Umkehr. Das Christentum<br />

ist kein Knäuel aus Religion und<br />

Volk wie im Judentum, aus Religion und<br />

Recht wie im Islam, aus Religion und<br />

Weisheitslehre wie im Buddhismus. Das<br />

Christentum ist nur eine Religion. Eine<br />

Religion gewissermaßen mit Punkt und<br />

Absatz. Aus.<br />

Das Gespräch führte<br />

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Liebe schützt nicht vor<br />

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aneinan<strong>der</strong> vorbei. Doch<br />

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Zuhörens und Miteinan<strong>der</strong>sprechens<br />

lassen sich<br />

Konflikte entschärfen.<br />

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Kind „an<strong>der</strong>s“ ist<br />

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SALON<br />

Man sieht nur, was man sucht<br />

DIONYSOS am Machtpol,<br />

<strong>der</strong> WELTKRIEG als Kunstwart Von<br />

BEAT WYSS<br />

Rund 1400 Bil<strong>der</strong> umfasst die verschollen geglaubte Sammlung des<br />

Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt – auch „Pferde“ von Franz Marc<br />

Nein, es ist nicht <strong>der</strong> weiterhin<br />

verschollene „Turm<br />

<strong>der</strong> Blauen Pferde“, jenes<br />

legendäre Gemälde von<br />

Franz Marc, wovon zur<br />

Nachkriegszeit Poster in Zimmern von<br />

Mädchen hingen, die gern Tierärztin<br />

werden und reiten lernen wollten. Die<br />

schlichte Gouache auf Papier zeigt eine<br />

In Hitlers Auftrag erwarb<br />

Gurlitt Meisterwerke zu<br />

Schnäppchenpreisen. Sohn<br />

Cornelius hortete sie in einer<br />

Münchner Wohnung<br />

monochrom gehaltene Horde von Pferden,<br />

<strong>der</strong>en Rücken sich wie Wellen über<br />

ein Feld ergießen, um mit <strong>der</strong> Landschaft<br />

eins zu werden. Auf den ersten<br />

Blick ein unspektakuläres Blatt, verrät<br />

die kompakte, dynamische Komposition<br />

eine Formsprache, die Art Déco um<br />

mindestens ein Jahrfünft vorwegnimmt.<br />

Selten zeigt Marc so viel Ähnlichkeit<br />

Foto: Marc Müller/Picture Alliance/dpa<br />

138<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Foto: Artiamo<br />

mit Wassily Kandinsky, seinem Mitstreiter<br />

im Geist des „Blauen Reiters“,<br />

wie in dieser abstrakten Reduktion von<br />

Tierleibern, rhythmisch skandiert mit<br />

schwarzer Zeichnung.<br />

Mit dem Münchner Fund muss<br />

Marcs Bedeutung in <strong>der</strong> Kunstgeschichte<br />

nicht umgeschrieben werden.<br />

Dennoch wirkt das nun entdeckte Depot,<br />

das über 300 Werke <strong>der</strong> „entarteten<br />

Kunst“ enthalten soll, wie ein Blindgänger:<br />

Noch 70 Jahre nach dem Zusammenbruch<br />

vermag die Kulturpolitik <strong>der</strong><br />

Nationalsozialisten Schockwellen auf<br />

die Gegenwart auszusenden.<br />

Die Affäre erinnert an die immer<br />

wie<strong>der</strong> verdrängte Tatsache, dass viele<br />

Mitläufer des „Dritten Reiches“ als politische<br />

Opportunisten im Kunstbetrieb<br />

nach dem Krieg wichtige Stellungen einnahmen,<br />

zumal, wenn sie im Ruf standen,<br />

die verfolgte Avantgarde in schwieriger<br />

Zeit geför<strong>der</strong>t zu haben. Aber im<br />

Fall von Hildebrand Gurlitt, <strong>der</strong> bis<br />

1956 den Düsseldorfer Kunstverein leitete,<br />

muss kritische Häme im Hals stecken<br />

bleiben: Will man es dem Kunsthändler<br />

verübeln, dass es dem „jüdischen<br />

Mischling zweiten Grades“ gelang, sich<br />

und seine Familie unbeschadet durch die<br />

Zeit <strong>der</strong> Rassenverfolgungen zu bringen?<br />

Wer hier verurteilt, muss sich fragen, wie<br />

viel politischen Wi<strong>der</strong>stand die eigene<br />

Zivilcourage aushalten würde.<br />

Was bei <strong>der</strong> Debatte außer Acht<br />

bleibt, sind die politischen Haltungen<br />

<strong>der</strong> damals verfemten Künstler, die als<br />

Opfer des Nationalsozialismus in die<br />

Kunstgeschichte eingegangen sind. Dabei<br />

wird vergessen, dass etliche Expressionisten<br />

mit <strong>der</strong> Bewegung sympathisierten,<br />

allen voran Emil Nolde, Mitglied <strong>der</strong><br />

NSDAP Nordschleswig <strong>der</strong> ersten Stunde.<br />

Als <strong>der</strong> Maler erfuhr, sein Werk werde<br />

im Rahmen <strong>der</strong> Münchner Ausstellung<br />

„Entartete Kunst“ von 1937 gezeigt, beschwerte<br />

sich das Parteimitglied brieflich<br />

bei Propagandaminister Goebbels.<br />

Zu diesem Zeitpunkt war Franz Marc<br />

über 20 Jahre tot, gefallen im Ersten Weltkrieg.<br />

Wie wir seinen Aufzeichnungen<br />

entnehmen, teilte er die Kriegsbegeisterung<br />

mit Ernst Jünger und Hun<strong>der</strong>ttausenden<br />

junger Männer seiner Generation.<br />

Krieg war ihm Fortsetzung <strong>der</strong><br />

Kunst mit <strong>der</strong> Waffe. Er stehe „mit pochenden<br />

Herzen am Anfang <strong>der</strong> Dinge“,<br />

schrieb Marc an <strong>der</strong> Westfront im Frühjahr<br />

1915: „Unsere Herzen zittern in dieser<br />

Kriegsstunde, nicht vor <strong>der</strong> Gefährlichkeit<br />

<strong>der</strong> Krise, son<strong>der</strong>n vor Freude, die<br />

böse, dunkle Stunde Europa’s erlebt zu haben.<br />

Das Aussfallsthor <strong>der</strong> That.“<br />

Aus den Briefen des Künstlers spricht<br />

ein Mystiker in Uniform, <strong>der</strong> im Schützengraben<br />

den Weltgeist <strong>der</strong> Erneuerung<br />

donnern hört. Die Apokalypse,<br />

vom „Blauen Reiter“ 1912 im Feld <strong>der</strong><br />

Kunst verkündet, war jetzt im Schlachtfeld<br />

angekommen. Marc empfand keinen<br />

Wi<strong>der</strong>sinn, während <strong>der</strong> Gefechtspausen<br />

zu zeichnen. Er fand sein Symbol im frei<br />

schweifenden Tier. Seine Pferde, die Rehe<br />

und beson<strong>der</strong>s das Raubtier haben ihren<br />

Artverwandten in Nietzsches „blon<strong>der</strong><br />

Bestie“. Marc strebte eine animalische<br />

Kunst an, die sich einfühlt in den ungebändigten,<br />

dionysischen Lebenstrieb. Inmitten<br />

des Geschützlärms fühlte er sich<br />

eins mit dem schöpferischen Schwung<br />

des Chaos. Dass er selbst von einer Kugel<br />

getroffen wurde – am 4. März 1916 in<br />

Verdun –, nahm er als Schicksal hin. In<br />

<strong>der</strong> mystischen Verschmelzung mit dem<br />

Weltwillen gab es keinen Tod.<br />

Im Schützengraben vom „Geheimen<br />

Europa“ träumend, war Marc überzeugt,<br />

dass <strong>der</strong> Sieg den Deutschen gebühre.<br />

<strong>Der</strong> gewonnene Krieg würde eine befriedete<br />

Menschheit für die Botschaften <strong>der</strong><br />

Avantgarde reif gemacht haben: „Es ist<br />

das Geheimnis <strong>der</strong> Schaffenden (wie <strong>der</strong><br />

Natur, dem Symbol <strong>der</strong> Schaffenden), gerade<br />

den Wi<strong>der</strong>sinn, das Spröde und Böse<br />

zu ihrem Werke zu gebrauchen.“<br />

Das Amt Rosenberg erwies sich noch<br />

nicht reif für Franz Marc, als es dessen Bil<strong>der</strong><br />

konfiszierte, um sie in München als<br />

„Entartete Kunst“ anzuprangern. Bald<br />

protestierte <strong>der</strong> Deutsche Offiziersbund<br />

dagegen, dass hier das Werk eines tapferen<br />

Kriegshelden in den Schmutz gezogen<br />

werde. Auf Wunsch <strong>der</strong> Kriegsveteranen<br />

und in Würdigung eines für das<br />

Vaterland Gefallenen, wurden Marcs Gemälde<br />

vom Pranger genommen. Unter<br />

den sechs Gemälden war jener „Turm<br />

<strong>der</strong> Blauen Pferde“: Kein Geringerer als<br />

Hermann Göring erwarb das Gemälde für<br />

seine Sammlung.<br />

<strong>Der</strong> Reichsfeldmarschall hatte Sinn<br />

für jenen Anflug von spirituellem Faschismus<br />

in einem Werk, das den spießigen<br />

Propagandaideologen verschlossen<br />

bleiben musste. Göring sah die Sache mit<br />

<strong>der</strong> „Entarteten Kunst“ nicht so eng. Er<br />

besaß Werke von Cézanne, van Gogh,<br />

Munch, die aus dem offiziellen Kanon<br />

verbannt worden waren.<br />

Im April 2001 brachte die Zeitschrift<br />

Art die Vermutung in Umlauf, <strong>der</strong> „Turm<br />

<strong>der</strong> Blauen Pferde“ befinde sich möglicherweise<br />

in einem Zürcher Banksafe unter<br />

<strong>der</strong> Bahnhofstraße. Wer weiß, vielleicht<br />

gibt es dazu bald Neuigkeiten.<br />

Zum Autor<br />

BEAT WYSS<br />

ist einer <strong>der</strong> bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt Kunstwissenschaft<br />

und <strong>Medien</strong>philosophie an<br />

<strong>der</strong> Staatlichen Hochschule<br />

für Gestaltung in Karlsruhe<br />

139<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


SALON<br />

Literaturen<br />

Neue Bücher, Texte, Themen<br />

Roman<br />

Außen Klasse, innen hohl<br />

Edith Whartons Roman „Dämmerschlaf“ stammt von 1927 – ein<br />

Gesellschaftsbild, das unserer Jetztzeit verwirrend ähnlich sieht<br />

Um 7.30 Uhr Mentales Verjüngungstraining,<br />

8.00 Psychoanalyse,<br />

8.30 Stilles Meditieren,<br />

8.45 Gesichtsmassage, 9.45 Eurhythmische<br />

Übungen“, dazwischen und danach<br />

Frühstück, Post, Friseur und noch einiges<br />

an<strong>der</strong>e, immer im Halbstundentakt;<br />

ein Besuch beim Osteopathen und ein<br />

das Daseinsgefühl neu justieren<strong>der</strong> Termin<br />

beim Heiler müssen natürlich auch<br />

noch ins Tagesprogramm. Werden die<br />

vorgesehenen Zeiten strikt eingehalten,<br />

bleibt sogar Raum fürs gesellschaftliche<br />

Engagement – lässt es sich mit einem<br />

Scheck erledigen, umso besser. Abends<br />

ist man zum Dinner mit Freunden verabredet<br />

und beschließt den Tag mit dem Besuch<br />

eines Clubs, in dem die gerade angesagte<br />

Band spielt: Sage keiner, das Leben<br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Frau sei nicht ausgefüllt!<br />

Zur Einhaltung eines <strong>der</strong>art minutiös<br />

durchgeplanten Tageslaufs freilich<br />

braucht es eiserne Disziplin, sie ist überhaupt<br />

die erste Tugend <strong>der</strong> Strateginnen<br />

auf dem Felde <strong>der</strong> Selbstoptimierung.<br />

Das eigentliche Lebenskunststück aber<br />

muss als Surplus täglich neu hervorgebracht<br />

werden: Auf den gleichbleibend<br />

entspannten Eindruck kommt hier<br />

schließlich alles an.<br />

Wer in dieser uhrwerkartig abschnurrenden<br />

Lebensführung mit esoterischen<br />

Einschlägen die besseren Kreise<br />

im Deutschland des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts erkennt,<br />

täuscht sich allerdings. Es war<br />

das Jahr 1927, als die amerikanische<br />

Foto: Hulton Archive/Getty Images<br />

140<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Schriftstellerin Edith Wharton den Angehörigen<br />

<strong>der</strong> New Yorker Upper Class<br />

mit ihrem Roman „Dämmerschlaf“ den<br />

satirisch amüsant verzerrten Spiegel vorhielt.<br />

Dass sich darin frappieren<strong>der</strong>weise<br />

auch unsere eigene Gegenwart zu zeigen<br />

scheint, hängt mit einer bis in die Details<br />

reichenden Gemeinsamkeit zusammen –<br />

es geht um die enorme Anstrengung des<br />

Einzelnen, den schönen Schein von Stil<br />

und Klasse zu kultivieren.<br />

Edith Wharton wusste besser als an<strong>der</strong>e,<br />

wovon sie da sprach. 1862 in eine<br />

Familie des New Yorker Hochadels hineingeboren,<br />

die ihre Wurzeln bis zu den<br />

ersten Siedlern zurückverfolgen konnte,<br />

war sie selbst unter einem gesellschaftlichen<br />

Diktat aufgewachsen, das gerade<br />

Frauen kaum Spielraum zur persönlichen<br />

Entfaltung ließ; <strong>der</strong> Erziehungsdrill galt<br />

<strong>der</strong> Perfektionierung höchster Standards<br />

in Auftreten und Erscheinung. Geld war<br />

genug vorhanden: Die Männer hatten es<br />

als Anwälte, Immobilienmakler und Banker<br />

zu mehren, die Frauen wendeten es<br />

zur Verschönerung ihrer repräsentativen<br />

Häuser und Gartenanlagen an; Spenden<br />

für wohltätige Zwecke galten ebenso wie<br />

Zahlungen an aus dem Ru<strong>der</strong> gelaufene<br />

Familienmitglie<strong>der</strong> letztlich ebenfalls <strong>der</strong><br />

Repräsentation.<br />

Auf dieses Frauendasein war Edith<br />

Wharton selbst getrimmt worden. In einer<br />

arrangierten Ehe heiratete sie 1885<br />

einen ebenfalls aus bester Familie stammenden<br />

Anwalt aus Philadelphia. Als er<br />

psychisch erkrankte, zog sich das Paar in<br />

das von Wharton selbst entworfene und<br />

ausgestattete Landhaus in Massachusetts<br />

zurück. Im Jahr 1913, 51 Jahre alt, ließ<br />

sie sich scheiden – da war sie bereits eine<br />

erfolgreiche Autorin, die sich ihre Millionen<br />

durch Schreiben selbst verdiente.<br />

Sie verließ die USA, in Paris und in ihrem<br />

Landhaus in <strong>der</strong> Provence entstand<br />

1920 <strong>der</strong> Roman, <strong>der</strong> sie zur Weltautorin<br />

machte: „Zeit <strong>der</strong> Unschuld“ (1993 verfilmt<br />

von Martin Scorsese). Nach Amerika<br />

kam sie zum letzten Mal 1923, um –<br />

als erste Frau – die Ehrendoktorwürde<br />

<strong>der</strong> Yale University entgegenzunehmen.<br />

Den Pulitzer-Preis hatte sie, ebenfalls als<br />

erste Frau, bereits 1921 erhalten, für den<br />

Nobelpreis war sie seit den späten zwanziger<br />

Jahren immer wie<strong>der</strong> im Gespräch.<br />

„Dämmerschlaf“ war Whartons 18.<br />

Roman, und er geriet endgültig zu einer<br />

Perfekt<br />

durchgestyled,<br />

mit eisern fit<br />

gehaltenem<br />

Körper, geht es<br />

nachmittags<br />

ab zum<br />

neuesten Heiler<br />

ironiegesättigten Abrechnung mit ihren<br />

eigenen Klassengenossen, insbeson<strong>der</strong>e<br />

aber mit <strong>der</strong>en weiblichen Leitfiguren.<br />

Hatte sie in früheren Büchern den Fokus<br />

vor allem auf die Domestizierung <strong>der</strong><br />

weiblichen Charaktere gelegt, so zeigte<br />

„Dämmerschlaf“ nun die innere Verheerung<br />

<strong>der</strong>er, die sich die gesellschaftlichen<br />

Regeln in nachgerade militärischer<br />

Manier zu eigen gemacht hatten. Perfekt<br />

gestyled, keine Mühe zur Jung erhaltung<br />

des alternden Körpers scheuend und<br />

für die bisweilen irritierte Seele von einem<br />

Wun<strong>der</strong>heiler zum nächsten eilend,<br />

hat die Protagonistin Pauline Manford<br />

sich selbst und ihre Umwelt eisern im<br />

Griff: „Mrs Manfords Tagesplan war unumstößlich.<br />

Selbst Krankheit und Tod<br />

verursachten darin kaum einen leisen<br />

Wellenschlag. Man hätte genauso gut<br />

versuchen können, eine Pyramide mit<br />

einem Sonnenschirm zum Einsturz zu<br />

bringen, wie den Gedanken wagen, das<br />

eng gefügte Mosaik von Mrs Manfords<br />

Terminkalen<strong>der</strong> durcheinan<strong>der</strong>zubringen.<br />

Nicht einmal Mrs Manford selbst<br />

hätte dies zuwege gebracht, beim besten<br />

Willen nicht, und wie Mrs Manfords Kin<strong>der</strong><br />

und das ganze Haus wussten, war<br />

ihr Wille <strong>der</strong> beste.“<br />

„Dämmerschlaf“ läutet literarisch<br />

das Ende des Jazz Age ein, das Edith<br />

Wharton zuvor mit grandiosem Witz<br />

zelebriert hatte. Nun wird die innere<br />

Brüchigkeit des Gesellschaftsgebäudes<br />

deutlich, das <strong>der</strong> „Schwarze Freitag“<br />

nur ein Jahr darauf in seinen materiellen<br />

Grundfesten erschüttern sollte. Die Familie<br />

Manford – die erwachsenen Kin<strong>der</strong><br />

Jim und Nona stammen aus Paulines<br />

erster und zweiter Ehe – bekommt es mit<br />

den <strong>Medien</strong> zu tun, als Skandalfotos erscheinen,<br />

auf denen Jims Ehefrau Lita unter<br />

an<strong>der</strong>en entblößten Damen bei einer<br />

geheimen Session des Gurus Mahatma<br />

klar zu erkennen ist. Lita allerdings, von<br />

Ehe und Kleinkind gelangweilt, stets in<br />

herrlichster Gar<strong>der</strong>obe und mit „goldfischfarbenem<br />

Haar“, tanzversessen und<br />

affärenselig, bereitet schon den nächsten,<br />

weit härteren Schlag gegen die Manfords<br />

vor: Sie will in Hollywood Karriere machen.<br />

Nichts aber könnte für die New<br />

Yorker Elite grausiger sein als die Vorstellung,<br />

eine <strong>der</strong> Ihren blicke, womöglich<br />

leicht bekleidet, von einem überlebensgroßen<br />

Filmplakat auf sie herab. Das<br />

also muss verhin<strong>der</strong>t werden. Außerdem<br />

gilt es, den zunehmend <strong>der</strong>angierten ersten<br />

Ehemann auf Linie zu halten, den aktuellen<br />

Ehemann trotz dessen ganz an<strong>der</strong>er<br />

Gelüste aufs Eheleben zu verpflichten<br />

und schließlich die 19-jährige Nona von<br />

<strong>der</strong> Liebe zu ihrem leichtlebigen verheirateten<br />

Vetter abzubringen. Genug zu<br />

tun und zusammenzuhalten also für die<br />

Dame des Hauses, die sich persönlich am<br />

meisten für Alarmanlagen und blitzende<br />

Armaturen interessiert.<br />

Außer <strong>der</strong> durchscheinend bleibenden<br />

Lita sind alle Figuren dieses Romans<br />

mit gleichmäßiger Sympathie gezeichnet.<br />

Wir sehen eine saturierte Gesellschaft<br />

am Abgrund tanzen, von dessen Existenz<br />

sie noch nichts ahnt, und können<br />

verfolgen, wie sich in jedem Einzelnen<br />

ein Schwarzes Loch aufzutun beginnt:<br />

Diese Menschen machen, bei ständig<br />

erhöhter Schlagzahl, einfach immer so<br />

weiter. Vollkommen vergessen haben sie<br />

die Grun<strong>der</strong>schütterung des Ersten Weltkriegs,<br />

<strong>der</strong> noch nicht einmal zehn Jahre<br />

zurückliegt – Geschichtsvergessenheit,<br />

so zeigt sich bei aller Lustigkeit in „Dämmerschlaf“,<br />

ist die Kehrseite <strong>der</strong> ehrgeizigen<br />

Fassadenverschönerung. Und wo die<br />

Vergangenheit gelöscht ist, bleibt auch für<br />

den Gedanken an Zukunft kein Raum<br />

mehr.<br />

Frauke Meyer-Gosau<br />

EDITH WHARTON<br />

„Dämmerschlaf“<br />

Aus dem Amerikanischen von<br />

Andrea Ott. Manesse, Zürich 2013.<br />

314 Seiten, 24,95 €<br />

141<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


SALON<br />

Literaturen<br />

Roman<br />

Ein Friedhofs­<br />

Sommertags­<br />

Traum<br />

Monika Maron stellt in<br />

einem heiteren kleinen Buch<br />

die ganz großen Fragen<br />

Irgendwann kommt in je<strong>der</strong> Biografie<br />

<strong>der</strong> Punkt, an dem <strong>der</strong> Blick nicht nur<br />

nach vorn, son<strong>der</strong>n auch zurückgeht,<br />

weil man schon so viel Leben hinter sich<br />

gelassen hat. Ruth, Ich-Erzählerin in Monika<br />

Marons neuem Roman „Zwischenspiel“,<br />

gerät ebenfalls in den Sog <strong>der</strong> Vergangenheit.<br />

Sie schaut zurück auf ihre<br />

früheren Ichs, die irgendwo geblieben<br />

sein müssen, denn schließlich verdankt<br />

sie ihnen die Person, die sie geworden<br />

ist, jetzt, heute. Ruth, die vor kurzem<br />

ihren 60. Geburtstag gefeiert hat, Museumsangestellte<br />

in Berlin, Mutter <strong>der</strong><br />

Tochter Fanny, von <strong>der</strong>en Vater, Bernhard,<br />

sie längst getrennt ist. Die Vergangenheit<br />

aber holt Ruth ein, denn an dem<br />

Tag, an dem <strong>der</strong> Roman spielt, soll Olga<br />

beerdigt werden – Olga, die Mutter von<br />

Bernhard, die Ruths Freundin geworden<br />

war, die ein hohes Maß an Einfühlung<br />

besaß, aber ihr eigenes Leben ein Stück<br />

weit verpasst hat.<br />

Das Schöne an Monika Marons<br />

neuem Buch ist, dass Ruth ihre verschiedenen<br />

früheren Ichs nicht einfach anhand<br />

von Erinnerungen aufblättert. Stattdessen<br />

arbeitet die Autorin mit einem surrealen<br />

Kunstgriff: Die Hauptfigur wird von<br />

einer seltsamen Sehstörung heimgesucht,<br />

die irritierend und reizvoll zugleich ist.<br />

Ihre Umgebung löst sich auf, die Konturen<br />

<strong>der</strong> Dinge verwischen, die Welt erscheint<br />

verpixelt. Und plötzlich tauchen<br />

Menschen aus Ruths Vergangenheit auf,<br />

die bereits gestorben sind, ein skurriler<br />

Totentanz, dem sich Ruth nicht entziehen<br />

kann. So sitzt ihr mit einem Mal Olga<br />

gegenüber, freundlich, offen, die beiden<br />

Frauen sprechen über Schuld – ein zentrales<br />

Motiv in Marons kurzem Roman.<br />

Ruth hatte damals Bernhard verlassen,<br />

<strong>der</strong> sich auch um seinen kranken Sohn<br />

kümmern musste, und Ruth fürchtete<br />

sich vor <strong>der</strong> Verantwortung. Später ist<br />

sie mit einem neuen Mann und Fanny<br />

in den Westen gegangen. Allerdings ist<br />

auch Bernhard kein Heiliger, auch er hat<br />

Schuld auf sich geladen.<br />

Im Verlauf <strong>der</strong> Handlung tauchen<br />

immer weitere Tote auf, mit denen sich<br />

Ruth unterhält, als sie ziellos durch einen<br />

Park läuft. Eigentlich hätte sie längst<br />

auf Olgas Beerdigung sein wollen, aber<br />

auf dem Weg dorthin hat sie sich verfahren,<br />

und <strong>der</strong> merkwürdige Tag entfaltet<br />

seine eigene, fantastische Logik.<br />

In <strong>der</strong> sogar auch ein Quäntchen Humor<br />

aufblitzt, wodurch <strong>der</strong> Tod einiges<br />

von seinem Schrecken verliert. Olga ist<br />

plötzlich wie<strong>der</strong> da, dieses Mal nicht im<br />

Totenhemd, son<strong>der</strong>n in Rock und Strickjacke.<br />

Sie hat die Beerdigung hinter sich<br />

gebracht, die Trauernden „trinken schon<br />

fröhlich und brauchen mich nicht mehr“,<br />

sagt sie und genießt die Schönheit des<br />

Parkes. Eine hübsche Pointe ergibt sich,<br />

als schließlich Margot und Erich vorbeikommen,<br />

ja, genau die, verbohrt und lächerlich.<br />

Ruth macht ihnen entschieden<br />

klar, dass keiner das Herrscherpärchen<br />

mehr haben will. Und verrät ihnen lieber<br />

nicht, dass <strong>der</strong> Kapitalismus gerade<br />

unter einer schweren Finanzkrise ächzt.<br />

Monika Maron ist ein eindrucksvolles<br />

Spiel mit den komplizierten Verästelungen<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit gelungen. Erst<br />

die Auflösung des Vertrauten, Alltäglichen<br />

ermöglicht hier die Erinnerung. Darüber<br />

hinaus stellt <strong>der</strong> Roman fast beiläufig<br />

die großen Fragen des Lebens: Wie<br />

weit kann man sich dem Schicksal, das einem<br />

plötzlich gegen das Schienbein tritt,<br />

verweigern, sich einfach verdrücken? Ist<br />

es Mut o<strong>der</strong> Feigheit, sich aus <strong>der</strong> Verantwortung<br />

zu stehlen? Wo bleiben die<br />

Anteile des Bösen, das wir in uns tragen,<br />

und wie weit erlauben wir unserer Fantasie,<br />

diese in Szenarien von Mord und<br />

Totschlag zu verwandeln? Werden wir,<br />

solange wir leben, automatisch schuldig,<br />

so o<strong>der</strong> so? Natürlich ist Monika Maron<br />

viel zu klug, darauf Antworten zu geben.<br />

Die Fragen aber hallen nach <strong>der</strong> Lektüre<br />

lange nach. Franziska Wolffheim<br />

MONIKA MARON<br />

„Zwischenspiel“<br />

S. Fischer, Frankfurt am Main<br />

2013, 192 Seiten, 18,99 €<br />

Jugendbuch<br />

Enkel haben’s<br />

auch nicht leicht<br />

Die Geschichte einer<br />

komplexen Beziehung<br />

Einmal quer durch Kanada sind <strong>der</strong><br />

17-jährige Royce und seine Mutter<br />

gefahren: <strong>Der</strong> Großvater braucht<br />

Hilfe. Aber wie soll man einem Egomanen<br />

helfen, <strong>der</strong> jede Pflegekraft in kürzester<br />

Zeit vergrault? So trifft es Royce,<br />

<strong>der</strong> nach einer längeren Krankheit noch<br />

nicht wie<strong>der</strong> zur Schule gehen kann. Jeden<br />

Tag verbringt er lange Stunden mit<br />

seinem unausstehlichen Großvater, den<br />

er so nicht nennen darf, weil <strong>der</strong> sich<br />

dann alt fühlt: „Arthur“ also, einst gefeierter<br />

Cellist und Frauenheld, <strong>der</strong> die<br />

Tage schlafend o<strong>der</strong> MTV schauend verbringt.<br />

Von <strong>der</strong> Welt will er nichts mehr<br />

wissen, die Vorhänge vor den Panoramafenstern<br />

zum See bleiben zugezogen.<br />

<strong>Der</strong> Jugendroman „Arthur o<strong>der</strong> Wie<br />

ich lernte, den T-Bird zu fahren“ erzählt<br />

realistisch und mit herbem Humor die<br />

Geschichte einer allmählichen Annäherung<br />

zwischen den beiden so unterschiedlichen<br />

Familienmitglie<strong>der</strong>n. Royce<br />

lässt sich die Unverschämtheiten seines<br />

Großvaters nicht mehr gefallen, was ihm<br />

wie<strong>der</strong>um die knurrige Zuneigung Arthurs<br />

einbringt. Nach und nach entdeckt<br />

<strong>der</strong> Enkel zudem in alten Fotoalben und<br />

<strong>der</strong> verstaubten Schallplattensammlung<br />

die Geschichte des einstigen Stars, er<br />

darf ihn nun sogar mit dem prächtigen<br />

alten T-Bird in die Stadt fahren. Als <strong>der</strong><br />

alte Mann stirbt, ist Royce gereift und<br />

neu ins Leben hineingewachsen.<br />

Sarah N. Harvey gelingt ein wohltuend<br />

nüchterner Blick auf das so oft sentimental<br />

verklärte Großvater-Enkel-Verhältnis.<br />

An menschlicher Anteilnahme<br />

und einfühlsamer Personenzeichnung<br />

fehlt es dennoch nicht: Beeindruckend<br />

und sehr lesenswert. Britta Sebens<br />

SARAH N. HARVEY<br />

„Arthur o<strong>der</strong> Wie ich lernte,<br />

den T­Bird zu fahren“<br />

DTV, 235 Seiten, 13,95 €<br />

142<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


IMPRESSUM<br />

Krimi<br />

VERLEGER Michael Ringier<br />

CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke<br />

STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS<br />

Alexan<strong>der</strong> Marguier<br />

REDAKTION<br />

TEXTCHEF Georg Löwisch<br />

CHEFIN VOM DIENST Kerstin Schröer<br />

RESSORTLEITER Lena Bergmann ( Stil ),<br />

Judith Hart ( Weltbühne ), Dr. Alexan<strong>der</strong> Kissler ( Salon ),<br />

Til Knipper ( Kapital ), Constantin Magnis<br />

( Reportagen ) , Frauke Meyer­Gossau ( Literaturen ),<br />

Christoph Seils ( <strong>Cicero</strong> Online )<br />

POLITISCHER CHEFKORRESPONDENT<br />

Hartmut Palmer<br />

ASSISTENTIN DES CHEFREDAKTEURS<br />

Monika de Roche<br />

REDAKTIONSASSISTENTIN Sonja Vinco<br />

PUBLIZISTISCHER BEIRAT Heiko Gebhardt,<br />

Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer, Jacques Pilet,<br />

Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />

ART DIRECTOR Viola Schmieskors<br />

BILDREDAKTION Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

PRODUKTION Utz Zimmermann<br />

VERLAG<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />

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VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG<br />

Thorsten Thierhoff<br />

REDAKTIONSMARKETING Janne Schumacher<br />

NATIONALVERTRIEB/LESERSERVICE<br />

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VERTRIEBSLOGISTIK Ingmar Sacher<br />

ANZEIGEN-DISPOSITION Erwin Böck<br />

HERSTELLUNG Roland Winkler<br />

VERLAGSGRAFIK Franziska Daxer<br />

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Verborgener<br />

Aufmarsch<br />

Friedrich Ani spürt die<br />

Neonazis im Alltag auf<br />

Wer sind sie eigentlich und wie<br />

sehen sie aus: die Neonazis?<br />

Auf Demonstrationen sieht<br />

man sie in Kampfklamotten, mit kahlem<br />

Schädel, eine gesellschaftliche Massenbewegung<br />

traut man ihnen kaum zu.<br />

Doch ist auch bekannt, dass sie sich netzwerkartig<br />

vorzugsweise auf dem flachen<br />

Land ausbreiten: durch soziale Unterstützung<br />

im Alltag, Musik, Feste. Diesen verborgenen<br />

Aufmarsch von rechts hat sich<br />

jetzt Friedrich Ani in seinem Krimi „M“<br />

vorgenommen. Die militanten Rechten<br />

sind hier in Münchens Fußballstadien<br />

und bürgerlichen Kneipen ebenso zu<br />

Hause wie in einem reputierlichen Hotel<br />

am Starnberger See.<br />

Privatdetektiv Tabor Süden wird dieser<br />

Zusammenhang erst allmählich klar.<br />

Lange kann er sich nicht vorstellen, dass<br />

Menschen in angesehenen Berufen zugleich<br />

treibende Kräfte eines Nazi-Netzwerks<br />

sind. Doch als er die Spur eines<br />

vermissten Taxifahrers aufnimmt und dabei<br />

<strong>der</strong> Kripo und dem Verfassungsschutz<br />

in die Quere kommt, zeichnen sich die<br />

Umrisse eines politischen Falles ab. Die<br />

kleine Detektei, für die er arbeitet, wird<br />

dabei selbst betroffen: Ein alter Kollege<br />

wird brutal zusammengeschlagen, die<br />

junge findige Detektivin fällt fast einem<br />

Mordanschlag zum Opfer, und Südens<br />

Chefin stößt auf Bezüge <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

Ereignisse zur zehn Jahre zurückliegenden<br />

Ermordung ihres kleinen Sohnes.<br />

Friedrich Ani vermeidet alles Plakative,<br />

und so setzt uns <strong>der</strong> Fall nicht nur<br />

unter Hochspannung, son<strong>der</strong>n zunehmend<br />

auch in Schrecken. <strong>Der</strong> aber entstammt<br />

nicht mehr dem Roman, son<strong>der</strong>n<br />

unserer alltäglichen Wirklichkeit. FMG<br />

FRIEDRICH ANI<br />

„M. Ein­Tabor­Süden­Roman“<br />

Droemer, München 2013,<br />

356 Seiten, 19,99 €<br />

144<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Anzeige<br />

Historische Biografie<br />

Unterwegs im<br />

Namen <strong>der</strong><br />

Eindeutigkeit<br />

Stefan Weinfurter verfolgt<br />

im Leben Karls des Großen<br />

ein Leitmotiv<br />

Kein Mangel herrscht an Biografien<br />

über Karl den Großen. Gerade<br />

drei Monate ist es her, dass<br />

<strong>der</strong> Nestor <strong>der</strong> Mittelalterforschung,<br />

Johannes Fried, „Karl <strong>der</strong> Große: Gewalt<br />

und Glaube“ vorlegte. Nun folgt<br />

mit dem deutlich kürzer ausgefallenen<br />

„Heiligen Barbar“ von Stefan Weinfurter<br />

<strong>der</strong> nächste Versuch, dem sattsam Ausgedeuteten<br />

neue Facetten abzugewinnen.<br />

Man sieht: Ein Karlsjahr steht vor <strong>der</strong> Tür.<br />

2014 wird sich <strong>der</strong> Tod des „Ahnherrn<br />

Europas“ zum 1200. Mal jähren.<br />

Die Quellenlage ist bekannt, die<br />

meisten Fragen wurden mehrfach erörtert;<br />

das Amüsement, als ein Zeitforscher<br />

einmal große Teile des Mittelalters<br />

für gefälscht erklären wollte, verpuffte<br />

schnell. Was also rechtfertigt den Versuch,<br />

noch einmal eine Summe zu ziehen?<br />

Stilistischer Ehrgeiz scheidet bei<br />

dem Heidelberger Ordinarius aus, formuliert<br />

er doch trockener, sprö<strong>der</strong> als sein<br />

Kollege Fried. Dessen panoramatische<br />

Gesamtschau ist ebenfalls Weinfurters<br />

Sache nicht. Er wartet mit dem Versuch<br />

auf, <strong>der</strong> gesamten Vita ein Leitmotiv abzulauschen,<br />

das den Imperator neu konturiert.<br />

Dieses erkenntnisstiftende Motiv<br />

ist die „Idee <strong>der</strong> Eindeutigkeit“.<br />

Daraus ergeben sich zwei gegenläufige<br />

Effekte. Das staunenswerte Handeln<br />

und Trachten des mächtigsten mittelalterlichen<br />

Herrschers gewinnt eine Stringenz,<br />

die ihn als Mensch greifbar macht<br />

und ihn insofern unserer Gegenwart näher<br />

rückt. An<strong>der</strong>erseits ist ihm die zeitgenössische<br />

Eingemeindung verwehrt,<br />

denn heute, so Weinfurter, sind wir Kin<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Vielheit, des Changierenden, des<br />

Polyvalenten – als wären die Postmo<strong>der</strong>nen<br />

frisch aus jener vorchristlichen „altorientalisch-assyrischen<br />

Welt“ gefallen,<br />

die ebenfalls in die Variabilität als Lebensform<br />

vernarrt war.<br />

Karls Idee findet sich unter an<strong>der</strong>em<br />

beim größten Gelehrten seines Hofes, Alkuin<br />

von York, und wirkte sich auf nahezu<br />

jedem politischen wie kulturellen<br />

Feld aus. „Die Eindeutigkeit <strong>der</strong> Wahrheit<br />

wurde zum alles bestimmenden Programm“,<br />

sie mündete in ein christlich<br />

hierarchisiertes Großreich nach augustinischem<br />

Muster, aber auch in die karolingische<br />

„Wissens- und Bildungsoffensive“.<br />

Denn genau benennen und trennscharf<br />

erklären muss können, wer die damals<br />

wie heute bunte Welt nach Prinzipien <strong>der</strong><br />

Eindeutigkeit ordnen will.<br />

Auf Alkuins Spuren sichtet also<br />

Weinfurter das Material. Bereits <strong>der</strong><br />

Krieg gegen die Langobarden und die<br />

Entmachtung des bayerischen Herzogs<br />

Tassilo III. hatten demnach das Ziel politischer<br />

Eindeutigkeit. Karl wollte die<br />

„alleinige Herrschaft über die Völker<br />

Galliens, Germaniens und Italiens zum<br />

Schutz und im Dienst <strong>der</strong> römischen Kirche“.<br />

<strong>Der</strong> brutale „Missionskrieg“ gegen<br />

die Sachsen war von <strong>der</strong>selben Grundkonzeption<br />

motiviert, <strong>der</strong> „Idee von<br />

Frieden, Vertrauen und Treue durch den<br />

gleichen Glauben (…) – so grausam und<br />

unmenschlich es sich für uns heute auch<br />

darstellt“. Konsequent, fast aus einem<br />

Guss erscheint die 43-jährige Regentschaft<br />

Karls. Forscher, die eher das Improvisierte<br />

und Zufällige betonen, sind<br />

Weinfurter nur eine Fußnote wert.<br />

Wird Karl so in unziemlicher Weise<br />

spiritualisiert? Nein. Weinfurter macht<br />

Ernst mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>norts nur beschworenen<br />

Prämisse, historische Gestalten<br />

vor dem Hintergrund ihrer eigenen Zeit<br />

zu bewerten. Er hält es für unredlich,<br />

dem „außerordentlichen Sendungsauftrag“<br />

Karls den Moralismus <strong>der</strong> Nachgeborenen<br />

entgegenzuhalten. Solchermaßen<br />

fokussiert, ist es letztlich <strong>der</strong> fromme<br />

Krieger, <strong>der</strong> Bildungs-, Glaubens- und<br />

Kalen<strong>der</strong>reformer, Kaiser und Reichsorganisator,<br />

<strong>der</strong> eine Frage an uns richtet:<br />

Sag an, lässt Weinfurter ihn reden, heutiger<br />

Leser, wie hältst denn du es mit <strong>der</strong><br />

Eindeutigkeit? Alexan<strong>der</strong> Kissler<br />

STEFAN WEINFURTER<br />

„Karl <strong>der</strong> Große. <strong>Der</strong> heilige Barbar“<br />

Piper, München 2013,<br />

352 Seiten, 22,99 €<br />

145<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013<br />

208 S., 115 Abb., 1 Karte. Halbln. € 19,95<br />

„Patrick Bahners legt ein<br />

Opus magnum zur Exegese<br />

Entenhausens vor.“<br />

Peter Iwaniewicz, Falter<br />

261 S., 174 Abb., 2 Ktn. Halbln. € 21,95<br />

Peter Peter erzählt in diesem<br />

Buch facettenreich die<br />

Geschichte <strong>der</strong> grandiosen<br />

Küche Österreichs, <strong>der</strong><br />

Köchinnen und Köche, ihrer<br />

Rezepte und Traditionen,<br />

ihrer Institutionen wie Kaffeehaus<br />

und Beisl.<br />

C.H.BECK<br />

www.chbeck.de


SALON<br />

Bibliotheksporträt<br />

ALLEIN MIT DEN BILDERN,<br />

DEN DINGEN<br />

<strong>Der</strong> New Yorker Architekt Richard Meier zeigt sich auch in seinen<br />

Büchern als Kind <strong>der</strong> europäischen Mo<strong>der</strong>ne<br />

Von SEBASTIAN MOLL<br />

Für die beengten New Yorker Verhältnisse ist die Wohnung von Richard<br />

Meier geradezu ein Palast. Das Loft reicht von einer Außenwand des Apartmenthauses<br />

an <strong>der</strong> 72. Straße bis zur an<strong>der</strong>en. Helles Sonnenlicht durchflutet<br />

aus beiden Richtungen das Wohn- und Arbeitszimmer, das die gesamte Fläche<br />

des Grundrisses einnimmt. Sogar für eine mannshohe Plastik von Frank<br />

Stella, einem engen Freund, ist Platz. Von <strong>der</strong> Raummitte aus schwingt sich<br />

eine breite Treppe elegant in das Obergeschoss des einzigen Domizils, das<br />

<strong>der</strong> Stararchitekt jemals für seinen eigenen Bedarf gestaltet hat.<br />

Dennoch ist die Wohnung zu klein für Meiers Büchersammlung. Seine<br />

wohlsortierte Bibliothek zur Architektur des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts zieht sich<br />

über zwei Wände des Raumes und kriecht wie Efeu um die Fenster. Mittendrin<br />

steht <strong>der</strong> Schreibtisch. Rundherum türmen sich Bücherstapel, von Ausstellungskatalogen<br />

bis zu Originalskizzen von Corbusier und Frank Lloyd<br />

Wright, Meiers großen Vorbil<strong>der</strong>n. „Im Obergeschoss“, verrät <strong>der</strong> weißhaarige<br />

Baumeister, „sind die Kunstbücher, da sieht’s noch schlimmer aus.“ Deshalb<br />

will er den Besucher lieber nicht die Treppe hinaufbitten.<br />

„Ich komme nicht nach mit dem Aussortieren und Verschenken“, sagt er<br />

mit seiner sanften, warmen Stimme. Auch die Bibliothek in seinem Büro an<br />

<strong>der</strong> 36. Straße platze schon aus allen Nähten, von seiner Sommerresidenz<br />

in East Hampton ganz zu schweigen. Unbesehen Bücher wegzuwerfen o<strong>der</strong><br />

weiterzugeben, ist nicht sein Stil. „Das brächte ich nicht fertig.“<br />

Schon seit Wochen liegt auf Meiers Schreibtisch <strong>der</strong> Katalog zur Corbusier-Ausstellung<br />

im Moma. Es ist ein Geschenk des Museums an den berühmten<br />

Schüler des visionären Schweizers, und es bringt Meiers Erinnerung<br />

in Schwung. <strong>Der</strong> Sommer 1957 ersteht vor seinem inneren Auge, als er<br />

mit seinem druckfrischen Diplom nach Paris flog, beseelt von dem Wunsch,<br />

bei dem großen Corbusier ein Praktikum zu absolvieren.<br />

Im Studio von Corbusier schlug man ihm aber die Tür vor <strong>der</strong> Nase zu.<br />

„Sobald sie meinen amerikanischen Akzent hörten, wollte keiner mehr mit<br />

mir reden.“ Den Grund erklärte ihm tags darauf <strong>der</strong> Meister, als Meier ihn<br />

bei <strong>der</strong> Eröffnung seiner Maison du Brésil ansprach. Corbusier war sauer,<br />

146<br />

<strong>Cicero</strong> – 12.2013


weil Amerika nichts hatte von ihm wissen wollen. Nicht einen einzigen Auftrag<br />

hatte Corbusier in den USA bekommen, vor allem nicht den, von dem<br />

er glaubte, er sei ihm auf den Leib geschrieben: die Vereinten Nationen in<br />

New York. Das musste Meier, ein glühen<strong>der</strong> Verehrer Corbusiers, büßen.<br />

Die Gedanken, die Corbusier in seinen „Fünf Punkten <strong>der</strong> Architektur“<br />

formulierte, fanden ihren Weg dennoch über den Ozean. Zu verdanken<br />

hatte er das vor allem Meier und dessen Kollegen von den „New York<br />

Five“ – <strong>der</strong> berühmten Gruppe damals junger Architekten, für die Corbusiers<br />

Vision des mo<strong>der</strong>nen Bauens eine Offenbarung war.<br />

1972 trafen sich die Five, zu denen neben Meier sein Cousin Peter Eisenman,<br />

Michael Graves, Charles Gwathmey und John Hejduk gehörten, in<br />

New York. <strong>Der</strong> Essayband „Five Architects“, <strong>der</strong> aus dem Treffen entstand,<br />

entfachte die erste ernsthafte Debatte über Architektur in <strong>der</strong> Neuen Welt.<br />

Den Fünf mit ihren hochtrabenden europäischen Ideen über die Befreiung<br />

des Innenraums von <strong>der</strong> Fassade und die Bedeutung des Lichtes in <strong>der</strong> Architektur<br />

wurde Gleichgültigkeit gegenüber dem architektonischen Kontext<br />

vorgeworfen. Doch die Kritik vermochte den Fünf wenig anzuhaben, je<strong>der</strong><br />

wurde ein Star. Meiers Magnum Opus, das Getty Center in Los Angeles, ist<br />

eine Hommage an Corbusier – ein in Weiß erstrahlen<strong>der</strong> Kunst-Campus.<br />

Ein Kind <strong>der</strong> europäischen Mo<strong>der</strong>ne ist Meier geblieben. Das spiegelt<br />

seine Bibliothek wi<strong>der</strong>. Ein komplettes Regal ist dem russischen Konstruktivismus<br />

gewidmet, ein an<strong>der</strong>es dem deutschen Expressionismus. Eine Wand<br />

gehört <strong>der</strong> holländischen Architektur des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, eine weitere <strong>der</strong><br />

französischen, und natürlich gibt es ein vollständiges Regal Corbusier. Neben<br />

dem Schreibtisch steht ein Corbusier-Sessel. Dort sitzt Meier oft das gesamte<br />

Wochenende. Manchmal liest er, manchmal bastelt er an den Collagen,<br />

die er seit vielen Jahren in Din-A4-Hefte klebt – Karten, Einladungen, Magazin-Schnipsel.<br />

Dazu läuft klassische Musik von Brahms, Bartók, Mahler.<br />

Kein Roman ist in den Stapeln zu entdecken. Auf die Frage nach dem<br />

Lieblingsschriftsteller muss Meier grübeln. „Norman Mailer“ fällt ihm ein,<br />

ein guter Bekannter. „Die Nackten und die Toten“ sei ein wichtiges Buch<br />

für ihn gewesen. Ein Buch, das nichts mit Kunst o<strong>der</strong> Architektur zu tun<br />

hat, findet sich aber doch noch. Am Rand des Schreibtischs liegt ein kleines<br />

blaues Paperback, „Too Soon to Say Goodbye“. Es ist die Geschichte<br />

des Satirikers Art Buchwald, dem die Ärzte nach seiner Krebsdiagnose nur<br />

wenige Wochen zu leben gaben. Buchwald zog in ein Hospiz. Doch das Leben<br />

spielte ihm einen Streich – es ging einfach weiter, noch mehr als ein<br />

Jahr lang. Buchwald genoss jeden Tag mit Humor und schrieb darüber. Es ist<br />

eine Geschichte über Haltung und Mut im Angesicht des Unausweichlichen.<br />

„Das hat mich wirklich aufgemuntert“, sagt Meier. Er verabschiedet sich<br />

höflich, ja herzlich, aber letztlich wohl doch erleichtert, wie<strong>der</strong> allein zu sein.<br />

Allein mit den schönen Dingen, die er in seinem Palast an <strong>der</strong> 72. Straße angehäuft<br />

hat, allein mit seinem Universum.<br />

SEBASTIAN MOLL lernte als Wahl­New­Yorker den Luxus des Raumes schätzen<br />

148<br />

<strong>Cicero</strong> – 12.2013<br />

Foto: Wolfgang Wesener für <strong>Cicero</strong> [M] (Seiten 146 bis 148)


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REDAKTEUR ERLEBEN.<br />

Die Welt gehört denen,<br />

die lauter denken,<br />

als an<strong>der</strong>e schreien.<br />

ALAN POSENER,<br />

REDAKTEUR


SALON<br />

Serie<br />

1933 – ALS DEUTSCHLAND DIE DEMOKRATIE VERLOR, TEIL XI<br />

Nach einem<br />

knappen Jahr war <strong>der</strong> Einheitsstaat<br />

schon Realität.<br />

Verhaftet wurde, wer nicht<br />

mitmachte, etwa Kommunisten<br />

ALLE REIHEN FEST<br />

GESCHLOSSEN<br />

Von PHILIPP BLOM<br />

Das „Gesetz zur Sicherung <strong>der</strong> Einheit von Partei und Staat“<br />

setzte im Dezember 1933 den Schlusspunkt unter die<br />

nationalsozialistische Revolution. Die Demokratie war überwunden<br />

Foto: Eastblockworld.com, Peter Rigaud<br />

150<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Innerhalb von elf Monaten, vom<br />

31. Januar bis Ende November 1933,<br />

hatte die neue nationalsozialistische<br />

Regierung des Deutschen Reiches<br />

die Weimarer Verfassung ausgehebelt<br />

und Staat und Gesellschaft in fast allen<br />

Aspekten gleichgeschaltet. Das „demokratische<br />

Chaos“ war beendet. Was<br />

hier von Hitlers Regierung ruhig und<br />

ganz offiziell beschlossen wurde, war<br />

eine Revolution.<br />

Gewerkschaften und an<strong>der</strong>e Parteien<br />

waren verboten worden, das Parlament<br />

aufgelöst, die Beamtenschaft zur<br />

Linientreue verpflichtet und alle Regierungsentscheidungen<br />

dem Führerprinzip<br />

untergeordnet. Auch die Gesellschaft<br />

hatte sich enorm verän<strong>der</strong>t: Zuerst einmal<br />

gab es wie<strong>der</strong> Arbeit. 1932 waren<br />

sechs Millionen Deutsche arbeitslos, ein<br />

Viertel <strong>der</strong> werktätigen Bevölkerung.<br />

Im Herbst 1933 waren es dann nur noch<br />

3,7 Millionen.<br />

Dieser positive Wandel wurde <strong>der</strong><br />

neuen Regierung zugutegehalten, dabei<br />

hatte sich <strong>der</strong> Aufschwung bereits im<br />

Vorjahr abgezeichnet. Vor <strong>der</strong> Machtergreifung<br />

im Januar war die Arbeitslosenzahl<br />

bereits um eine halbe Million gefallen.<br />

Hitler investierte allerdings noch<br />

in diese Dynamik – mit einer defizitären<br />

Politik, die schon darauf hinauslief,<br />

dass die hohen Schulden nur durch einen<br />

siegreichen Krieg wie<strong>der</strong> zu begleichen<br />

wären.<br />

Auch das kulturelle und intellektuelle<br />

Leben des Landes hatte sich radikal<br />

verän<strong>der</strong>t. Sport und Freizeit lagen zum<br />

Teil in den Händen von „Kraft durch<br />

Freude“ und ihrer Teilorganisationen.<br />

Die Kirchen wurden geschickt marginalisiert,<br />

kompromittiert und gespalten,<br />

eine mögliche Einmischung aus dem Vatikan<br />

wurde durch das Konkordat praktisch<br />

neutralisiert. Jugendverbände wurden<br />

aufgelöst o<strong>der</strong> in die „Hitler-Jugend“<br />

überführt, Künstler, Filmschaffende und<br />

Schriftsteller in <strong>der</strong> Reichskulturkammer<br />

glattgebürstet.<br />

Einige Deutsche, hauptsächlich finanziell<br />

privilegierte, hatten das Land<br />

bereits verlassen. Juden und Oppositionellen<br />

wurde das Leben und oft das pure<br />

Überleben in Deutschland zunehmend<br />

schwer gemacht. Sie verloren ihre Lebensgrundlage,<br />

manche wurden in Konzentrationslager<br />

eingesperrt.<br />

Am 1. Dezember war die deutsche<br />

Premiere des Filmes „King Kong und die<br />

weiße Frau“. <strong>Der</strong> Führer liebte den Film<br />

aus den Vereinigten Staaten, obwohl <strong>der</strong><br />

Gedanke, dass hier eine blonde Frau<br />

von einem schwarzen Primaten zärtlich<br />

berührt wurde, einige Parteigenossen<br />

erschau<strong>der</strong>n ließ. Während <strong>der</strong> privaten<br />

Vorführung konnte Hitler sich in<br />

dem Bewusstsein zurücklehnen, an diesem<br />

1. Dezember sich endlich die absolute<br />

Macht gesichert zu haben. Als Krönung<br />

<strong>der</strong> beispiellos raschen Kampagne,<br />

mit <strong>der</strong> die Nationalsozialisten Deutschland<br />

in einen totalitären Staat verwandelt<br />

hatten, als letzte Bestätigung ihrer<br />

Allmacht, wurde an diesem Tag das Gesetz<br />

zur Sicherung <strong>der</strong> Einheit von Partei<br />

und Staat verabschiedet.<br />

IN DEM GESETZ wurde die NSDAP, die<br />

einzige im Parlament vertretene Partei,<br />

zur „Trägerin des deutschen Staatsgedankens“<br />

erklärt und zu einer Körperschaft<br />

des öffentlichen Rechtes gemacht.<br />

Damit waren hohe Parteifunktionäre<br />

automatisch auch Regierungsmitglie<strong>der</strong>.<br />

Partei und SA hatten allen Ämtern<br />

gegenüber ein Weisungsrecht. Die Partei<br />

war damit im Herzen des Staatsapparats<br />

angekommen. Wache Zeitgenossen<br />

wussten, was die Stunde geschlagen<br />

hatte. Allein zwischen Januar und Mai<br />

waren 1,7 Millionen Deutsche <strong>der</strong> Partei<br />

beigetreten und hatten <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong>zahl<br />

verdreifacht.<br />

Noch im November war Adolf Hitler<br />

mit überwältigen<strong>der</strong> Mehrheit wie<strong>der</strong>gewählt<br />

worden. 92,2 Prozent <strong>der</strong><br />

Deutschen hatten für ihn gestimmt. Das<br />

Regime hatte hart für seinen Sieg gearbeitet.<br />

„Die maßlose Propaganda für das<br />

‚Ja‘“ beschrieb Victor Klemperer in seinem<br />

Tagebuch: „Auf jedem Geschäftswagen,<br />

Postwagen, Fahrrad <strong>der</strong> Postboten,<br />

an jedem Haus und Schaufenster,<br />

auf breiten Spruchbän<strong>der</strong>n, die über die<br />

Straße gespannt sind – überall Sprüche<br />

von Hitler …“<br />

Dessen Liste war denn auch die einzige<br />

überhaupt auf dem Wahlzettel. Eine<br />

Proteststimme o<strong>der</strong> einen leeren Wahlzettel<br />

abzugeben, war angesichts des<br />

Drucks, den die SA häufig in den Wahllokalen<br />

ausübte, ein großes persönliches<br />

Risiko. Immerhin 7 Prozent <strong>der</strong> Deutschen<br />

waren dieses Risiko eingegangen.<br />

Zum Autor<br />

PHILIPP BLOM ist<br />

Historiker und Autor.<br />

Er stammt aus Hamburg<br />

und wurde in Oxford<br />

promoviert. Seine Bücher<br />

„<strong>Der</strong> taumelnde Kontinent“<br />

und „Böse Philosophen“<br />

sind mehrfach preisgekrönt<br />

Victor Klemperer war einer von ihnen.<br />

Er hatte mit Nein gestimmt, obwohl<br />

er mit Repressalien rechnete. Am 31. Dezember<br />

schrieb er: „Dies ist das charakteristischste<br />

Faktum des abgelaufenen<br />

Jahres, dass ich mich von zwei nahen<br />

Freunden trennen musste, von Thieme,<br />

weil Nationalsozialist, von Gusti Wiegandt,<br />

weil sie Kommunistin wurde.<br />

Beide sind damit nicht einer politischen<br />

Partei beigetreten, son<strong>der</strong>n ihrer Menschenwürde<br />

verlustig gegangen.“<br />

Am Ende des Eintrags folgt: „Das<br />

historische Erlebnis dieses Jahres ist unendlich<br />

viel bitterer und verzweiflungsvoller,<br />

als es <strong>der</strong> Krieg war. Man ist tiefer<br />

gesunken.“<br />

Hiermit endet unsere Serie über<br />

Deutschlands Weg in die nationalsozialistische<br />

Diktatur<br />

151<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


SALON<br />

152<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

Die letzten 24 Stunden<br />

Leben heißt,<br />

wach zu bleiben<br />

und den Tod zu<br />

erwarten<br />

WOELKI<br />

RAINER MARIA<br />

Rainer Maria Woelki<br />

<strong>Der</strong> gebürtige Kölner leitet<br />

seit 2011 das Erzbistum Berlin.<br />

Benedikt XVI. erhob ihn<br />

2012 in den Kardinalsrang.<br />

Sein Wahlspruch als Bischof<br />

lautet „Wir sind Zeugen“<br />

Wie nah Hoffnung und<br />

Todesangst beieinan<strong>der</strong>liegen<br />

und wie<br />

flüchtig die sicher geglaubte<br />

Rettung sein<br />

kann, hat meine Mutter schon als junges<br />

Mädchen erlebt. Ihre Familie hatte ihre<br />

letzte Hoffnung auf einen Platz in <strong>der</strong><br />

„Wilhelm Gustloff“ gesetzt, um <strong>der</strong> heranrückenden<br />

Front zu entkommen. Die<br />

Verzweiflung und Enttäuschung müssen<br />

groß gewesen sein, als das Schiff ohne<br />

sie abfuhr. Nur wenige Stunden später<br />

dann allerdings die schreckliche Nachricht:<br />

Die „Wilhelm Gustloff“, voll beladen<br />

mit Flüchtlingen, wurde versenkt,<br />

nur ein Teil <strong>der</strong> Passagiere konnte aus<br />

<strong>der</strong> eisigen Ostsee gerettet werden.<br />

Meine Mutter spricht nicht viel über<br />

dieses Erlebnis. Ich verbinde damit zwei<br />

für mich wichtige Einsichten: Wir wissen<br />

– Gott sei Dank! – nicht, wann unser<br />

Leben endet. Und ich habe mir vorgenommen,<br />

so zu leben, dass jede Stunde<br />

auch meine Todesstunde sein könnte,<br />

o<strong>der</strong> es zumindest zu versuchen.<br />

Ob ich voller Hoffnung bin o<strong>der</strong> ob<br />

mich Todesangst übermannt, ist nur ein<br />

schwaches Indiz. Das sicher geglaubte<br />

Ende vor Augen, kann es doch wie<strong>der</strong><br />

weitergehen, aber auch in <strong>der</strong> größten Lebensfreude<br />

kann uns <strong>der</strong> Herr zu sich rufen.<br />

Beson<strong>der</strong>s drastisch schil<strong>der</strong>t es Jesus<br />

in <strong>der</strong> Erzählung von dem reichen<br />

Mann, <strong>der</strong> sich Gedanken macht, wie<br />

er sich möglichst lang an seiner großen<br />

Ernte erfreuen kann: „Da sprach Gott<br />

zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht<br />

wird man dein Leben von dir zurückfor<strong>der</strong>n.“<br />

( Lukas 12,20 )<br />

Ich bin froh, dass die Stunde meines<br />

Todes für mich nicht verfügbar ist.<br />

Es wird kein Countdown starten, es wird<br />

keine Henkersmahlzeit, keinen letzten<br />

Wunsch geben, den man mir erfüllen<br />

wird. Wirklich realistisch ist das Gedankenspiel<br />

mit den letzten 24 Stunden nur<br />

für Menschen, die zum Tode verurteilt<br />

wurden, für die also ein Mensch den Todeszeitpunkt<br />

festgelegt hat. Meine letzte<br />

Stunde kennt nur Gott, und ich lebe aus<br />

dem Glauben, dass er auch dann bei mir<br />

ist und mich auf meinem letzten irdischen<br />

Weg begleitet.<br />

„Dann wird es mit dem Himmelreich<br />

sein wie mit zehn Jungfrauen, die ihre<br />

Lampen nahmen und dem Bräutigam<br />

entgegengingen. Fünf von ihnen waren<br />

töricht und fünf waren klug. Die törichten<br />

nahmen ihre Lampen mit, aber kein<br />

Öl, die klugen aber nahmen außer den<br />

Lampen noch Öl in Krügen mit“ (Matthäus<br />

25,1-4): So beschreibt Jesus die<br />

letzten 24 Stunden von zehn Frauen, die<br />

zu einer Hochzeit eingeladen sind.<br />

Heutzutage besteht die Versuchung<br />

darin, die Ankunft des Bräutigams zu<br />

beeinflussen, anstatt sich auf eine lange<br />

Wartezeit einzustellen. Ich verfolge die<br />

Diskussion um die Sterbehilfe mit großer<br />

Sorge. Auch mir selbst macht die Vorstellung<br />

Angst, einsam o<strong>der</strong> unter großen<br />

Schmerzen die Todesstunde erwarten<br />

zu müssen. Aber ich habe keine Wahl,<br />

wenn ich das Gleichnis Jesu weiterlese:<br />

„Seid also wachsam! Denn ihr wisst we<strong>der</strong><br />

den Tag noch die Stunde.“ So lautet<br />

seine Ermahnung.<br />

Wie in früheren Zeiten jedes Einschlafen<br />

ein „kleines Sterben“ war, so<br />

ist für mich jedes morgendliche Aufwachen<br />

ein Dankeschön für das mir geschenkte<br />

Leben und eine täglich neue<br />

Mahnung an mich selbst, wach zu bleiben<br />

und den Tod zu erwarten. Das hat<br />

mit Todessehnsucht überhaupt nichts zu<br />

tun. Ich kenne diesen Gedanken schon<br />

seit Jugendtagen.<br />

Das Gebet um einen guten Tod gehört<br />

zu meinem täglichen Beten, genauso<br />

wie die Fürbitte für die mir anvertrauten<br />

Menschen, Freunde und<br />

Verwandten. Und ich bin auch im Gebet<br />

mit denen verbunden, die mir auf<br />

diesem Weg vorausgegangen sind, auch<br />

mit denen, denen ich in ihrem Sterben<br />

zur Seite stehen durfte.<br />

153<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


POSTSCRIPTUM<br />

N°-12<br />

EIGHTIES<br />

Eigentlich ist Deutschland ein mo<strong>der</strong>nes<br />

Land. Aber weil man es mit nichts<br />

übertreiben soll, erst recht nicht mit <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>nität, halten wir uns so gern an<br />

die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Also an eine Zeit, die für viele<br />

mittelalte Erwachsene von heute noch<br />

nicht lange genug zurückliegt, um endgültig<br />

<strong>der</strong> nostalgischen Verklärung anheimzufallen.<br />

Es ist ein bisschen wie mit einem<br />

S-Klasse-Mercedes des Baujahrs 1982: <strong>Der</strong><br />

darf zwar schon mit dem steuerermäßigten<br />

Oldtimer-Kennzeichen als „kraftfahrzeugtechnisches<br />

Kulturgut“ herumfahren, wird<br />

aber dennoch als „Newtimer“ bezeichnet.<br />

Die meisten Angehörigen <strong>der</strong> Generation<br />

40 plus, mich eingeschlossen, können<br />

sich zwar nicht mehr allzu detailgetreu<br />

an die Achtziger erinnern. Doch das Gefühl,<br />

damals einen Epochenwandel miterlebt zu<br />

haben, ist noch einigermaßen frisch. Allein<br />

schon deshalb, weil plötzlich alles digital<br />

wurde: die Spiele, die Musik, die Textverarbeitung<br />

– bis hin zu Frisuren, die aussahen,<br />

als wären sie am Computer entstanden.<br />

Die erfolgreichste deutsche Band dieses<br />

Jahrzehnts trug den Mo<strong>der</strong>nitätsanspruch<br />

sogar im Namen, und es ist kein Zufall,<br />

dass <strong>der</strong> „Mo<strong>der</strong>n Talking“-Veteran Dieter<br />

Bohlen inzwischen zum alterslosen Inventar<br />

<strong>der</strong> Fernsehcastingunterhaltung geworden ist.<br />

Nena übrigens auch.<br />

Während unsere französischen Nachbarn<br />

die Musealisierung ihrer Nation mit aller<br />

Konsequenz vorantreiben, halten wir<br />

Deutsche immerhin an den Newtimern fest.<br />

Aber bekanntlich gibt es nicht nur Alte<br />

Nationalgalerien, son<strong>der</strong>n auch Pinakotheken<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Und in Deutschland werden<br />

eben die Errungenschaften <strong>der</strong> achtziger<br />

Jahre unter beson<strong>der</strong>en konservatorischen<br />

Schutz gestellt. So gilt „Wetten, dass?“<br />

( Erstausstrahlung 1981 ) dem Staatssen<strong>der</strong><br />

ZDF immer noch als gelungenes Entertainmentformat<br />

„für die ganze Familie“, während<br />

sich bei <strong>der</strong> fö<strong>der</strong>alen ARD nach wie<br />

vor ein gewisser Horst Schimanski ( Erstauftritt<br />

ebenfalls 1981 ) durch Duisburger Industriebrachen<br />

ermittelt. Das kann man wohlwollend<br />

als „Kontinuität“ bezeichnen,<br />

obwohl „Einfallslosigkeit“ treffen<strong>der</strong> wäre.<br />

Auch die Großen Koalitionsverhandlungen<br />

anno 2013 atmen den Geist <strong>der</strong> achtziger<br />

Jahre. Da wird von allen Beteiligten ein<br />

mo<strong>der</strong>ner Gesellschaftsentwurf beschworen,<br />

wo es in Wahrheit darum geht, Klientelpolitik<br />

Kohl’scher Prägung zu betreiben:<br />

angefangen bei Rentengeschenken <strong>der</strong> CDU<br />

für die Zuschauerschaft von „Wetten, dass?“<br />

( Durchschnittsalter über 60 ) bis zur sozialdemokratischen<br />

Variante von „Zurück in<br />

die Zukunft“, <strong>der</strong> Rente mit 63. Nur Horst<br />

Schimanski muss tapfer weiterermitteln,<br />

obwohl er auf die 80 zugeht. Ein Zukunftsversprechen<br />

ist das trotzdem nicht.<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

ist stellvertreten<strong>der</strong> Chefredakteur<br />

von <strong>Cicero</strong><br />

DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 19. DEZEMBER<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

154<br />

<strong>Cicero</strong> – 12. 2013


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