Cicero Operation Rot-Rot-Grün (Vorschau)
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September 2013<br />
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<strong>Operation</strong><br />
<strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong><br />
Der stille Plan des<br />
Sigmar Gabriel<br />
„Ich werd’ noch<br />
katholisch!“<br />
Fünf überraschende Kniefälle<br />
vor dem neuen Papst<br />
Macht der<br />
Kapitalismus krank?<br />
Ein Marktliberaler denkt um<br />
Der Held als Schurke<br />
Roger Cohen über Barack Obama<br />
Weil i di mog<br />
Eine Liebeserklärung an die Lederhose<br />
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09<br />
Österreich: 8,50 EUR, Benelux: 9,50 EUR, Italien: 9,50 EUR,<br />
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Am 22. Juli 2009 hat das ganze Land<br />
Die erste Seite<br />
eine Sonnenfinsternis beobachtet; zwei<br />
Tage vor dieser Sonnenfinsternis lud<br />
mich meine kleine Schwes ter nach zwei Uhr nachts zu<br />
einem »Gespenster imbiss« ein, wie früher die kleinen,<br />
illegalen Buden, die nur in der Nacht öffneten, genannt<br />
wurden; sie wollte in das berühmte »Schweinefüße<br />
mit Sichuan-Pfeffer bei Muttern«. Dieser normale »Fliegen<br />
laden«, so heißen in Chengdu liebevoll diese kleinen,<br />
billigen Stände, war, wie es hieß, über zwanzig Jahre<br />
alt, zigmal umgezogen und immer noch der alte Sau stall;<br />
aber er zog die Nacht schwärmer in Massen an. (…) Es<br />
war ein wirklich ungewöhnlicher Trubel; (…) wer keinen<br />
Tisch und keine Bank ergatterte, stellte seine Schweinefüße<br />
und die Dipschale auf den Boden und aß in der<br />
Hocke, ein Bissen Schweine füße mit Sichuan-Pfeffer,<br />
ein Schluck Schnaps – wobei niemand vergaß, lobend<br />
mit der Zunge zu schnalzen: Die Knochen sind sehr<br />
knusprig! Sehr lecker!<br />
Meine kleine Schwester hob beim Essen und Trinken<br />
zufällig die Augen, entdeckte gegenüber ein bekanntes<br />
Gesicht und grüßte: He, Zhou, mein Alter, lange<br />
nicht gesehn! Du hast doch selbst einen Laden, wieso<br />
treibst dich hier draußen rum? (…)<br />
»Meinen Laden habe ich längst zugemacht. Es ging<br />
nicht vorwärts und nicht rückwärts, also habe ich aufgegeben,<br />
ich konnte mit den großen Läden rundrum<br />
nicht mithalten.«<br />
Sie könnten doch so einen Laden für Schweine füße<br />
aufmachen wie den hier, sagte ich.<br />
»Ganz am Anfang hat hier ein Schweinefuß einen Kuai<br />
gekostet, heute kostet er das Zehnfache. Die haben hier<br />
auch jede Menge Schwierigkeiten gehabt, durch deren<br />
Hände sind ein paar Millionen Schweinefüße gegangen,<br />
mindestens, dass sie es bis heute geschafft haben.<br />
Das mit dem Geldverdienen hört nie auf, ich kann nicht<br />
mehr, so esse ich halt eingelegtes Gemüse zu meinem<br />
Schnaps. Bei den paar hundert Millionen Chinesen fällt<br />
es niemandem auf, wenn ich<br />
alter Tagedieb fehle. Oder was<br />
meinen Sie?«<br />
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C i c e r o | A t t i c u s<br />
Von: <strong>Cicero</strong><br />
An: Atticus<br />
Datum: 22. August 2013<br />
Thema: <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>, Barack Obama, <strong>Cicero</strong> im Oktober<br />
Auf leisen Sohlen<br />
Titelbild: Jens Bonnke; Illustration: Christoph Abbrederis<br />
V<br />
on Kindern kennt man das: dass sie sich einfach die Hände vors Gesicht halten,<br />
und dann ist diese Sache oder diese Situation nicht da, mit der sie gerade<br />
konfrontiert werden. Die SPD macht es im Moment genauso: Sie tut so, als<br />
gebe es das Thema nicht, als sei <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> nur eine böse Erfindung des politischen<br />
Gegners. Das ist aber nicht der Fall. Natürlich stellt sich völlig zu Recht die Frage,<br />
warum dieses Bündnis unter allen vorstellbaren Konstellationen nach der kommenden<br />
Bundestagswahl am 22. September ausgeblendet werden soll. Denn, ganz egal, wie man<br />
dazu steht: Natürlich ist <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> eine Machtoption, vielleicht die einzige, die die<br />
SPD künftig haben wird, wenn sie den Kanzler stellen will.<br />
Und da soll man glauben, dass sie diese Option kategorisch ausschlägt, weil es einmal<br />
einen Oskar Lafontaine gab, der mit der PDS-Nachfolgepartei seine Rachegelüste stillte<br />
und überhaupt die sogenannte Linke nur eine zweimal überlackierte SED ist? In der<br />
Titelgeschichte führen wir aus, wie weit die Annäherungen unterhalb des offiziellen Tabus<br />
schon fortgeschritten sind, und wie vor allem einer seit Jahren diesen Prozess vorantreibt:<br />
der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel. Dessen Augenmerk richtet sich schon jetzt auf die<br />
Zeit nach der Schließung der Wahllokale. Wenn das absehbare Schicksal Peer Steinbrücks<br />
feststeht und Gabriel zusehen muss, wie er seine Chance auf eine Kanzlerschaft sichert.<br />
Die hat viel mit dem Schleifen eines Tabus zu tun. Wenn man genau hinschaut, arbeitet er<br />
daran schon seit vier Jahren (ab Seite xx).<br />
Der Titel des aktuellen <strong>Cicero</strong> war schon in Arbeit, als uns ein unverlangt eingesandtes<br />
Manuskript eines freien Autors namens Jürgen Trittin erreichte, das wir in diesem<br />
Zusammenhang sehr interessant fanden: weil das Mastermind der <strong>Grün</strong>en in diesem<br />
Beitrag kurz vor der Wahl seine Partei in Richtung CDU abdichtet und in Richtung sozial<br />
schärfer konturiert (ab Seite xx). Also baten wir obendrein die Vorsitzende der Linkspartei,<br />
Katja Kipping, zu beantworten, ob sie <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> genauso entgegenfiebert wie ihr<br />
Parteiveteran Gregor Gysi, der sich schon als Außenminister sieht (ab Seite xx).<br />
Roger Cohen gehört in meinen Augen zu den besten Journalisten der westlichen Welt.<br />
Deshalb freue ich mich besonders, dass der renommierte US-Kollege für <strong>Cicero</strong> in die<br />
Tasten haut, um sein Bild eines Barack Obama zu zeichnen, den wir Europäer zunehmend<br />
als eine Fata Morgana unserer eigenen Wunschprojektionen in den US-Präsidenten nach<br />
Bush wahrnehmen (ab Seite xx).<br />
Wenn <strong>Cicero</strong> das nächste Mal erscheint, dann wird die Bundestagswahl vorüber sein.<br />
Wir haben das Erscheinen auf den 26. September verlegt, also um eine Woche nach hinten.<br />
Dann warten wir mit einer doppelten Überraschung auf. Wir freuen uns darauf.<br />
In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />
der römische Politiker und Jurist<br />
Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />
Freund Titus Pomponius Atticus<br />
das Herz ausgeschüttet<br />
Mit besten Grüßen<br />
Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 3
I n h a l t | C i c e r o<br />
Titelthema<br />
16<br />
Und was wird aus mir?<br />
Vom 22. September an kämpft Sigmar Gabriel nur noch für die eigene Zukunft. Seine einzige Kanzleroption: <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<br />
<strong>Grün</strong>, spätestens 2017. In allen drei Parteien existiert die Machtperspektive. Geschichte einer Annäherung<br />
von Georg Löwisch und Christoph Schwennicke<br />
25<br />
26<br />
28<br />
Illustration: Jens Bonnke<br />
„Regieren ist immer Besser“<br />
Schleswig-Holsteins<br />
Ministerpräsident über<br />
Koalitionen und Klinkenputzen<br />
Interview mit Torsten Albig<br />
Die Angstkultur<br />
Die Linken-Vorsitzende<br />
fordert die SPD auf, ihre<br />
Abgrenzungsrituale aufzugeben<br />
von Katja Kipping<br />
<strong>Grün</strong> Muss sozial sein<br />
Der <strong>Grün</strong>en-Spitzenkandidat<br />
erklärt, warum ihm das Soziale<br />
näher ist als das Marktliberale<br />
von Jürgen Trittin<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 5
C i c e r o | I n h a l t<br />
34 Großes Ego<br />
66 Starke Aura<br />
94<br />
Überdrehter Kapitalismus<br />
BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />
30 | Der Anachronist<br />
Prism? Nie gehört. Ulrich Birkenheier<br />
und der altmodische Geheimdienst MAD<br />
Von Hartmut Palmer<br />
56 | Des Volkes general<br />
Abdel Fattah al Sisi ist der neue, starke<br />
Mann Ägyptens<br />
Von Julia Gerlach<br />
76 | Der ach so nette Thomas<br />
Die Doping-Diskussion könnte Thomas<br />
Bachs Wahl zum IOC-Chef gefährden<br />
Von Jens Weinreich<br />
32 | Ein Einsamer Putschist<br />
Die FDP folgte ihm nicht. Nun kämpft<br />
Dirk Niebel um sein Ministeramt<br />
Von Werner Sonne<br />
58 | Bush reloaded?<br />
Ist Barack Obama ein Widergänger<br />
seines Amtsvorgängers?<br />
Von Roger Cohen<br />
78 | Immer gut verpackt<br />
In Berlin kämpft Lencke Wischhusen für<br />
die Interessen junger Unternehmer<br />
Von Til Knipper<br />
34 | Planet Röschen<br />
Wie es kommt, dass Ursula von der<br />
Leyen in ihrer ganz eigenen Welt lebt<br />
Von Constantin Magnis<br />
62 | Tanz auf dem Vulkan<br />
In Beirut lebt die Jugend zwischen Partys<br />
und einem drohenden Bürgerkrieg<br />
Von Jan Rübel<br />
80 | Berlins Banker<br />
KfW-Chef Ulrich Schröder verwaltet<br />
mehr Steuergelder als das Bundeskabinett<br />
Von Heinz-Roger Dohms<br />
37 | Frau fried Fragt sich ...<br />
... wie ein Gemeinwesen mit Egoisten<br />
funktionieren soll<br />
Von Amelie Fried<br />
38 | Mein Wunschkabinett<br />
Eine Kanzlerin schwebt über allem?<br />
Dann nehmen wir doch Sibylle Berg<br />
Von Else Buschheuer<br />
40 | Einfach Göttlich<br />
Leben im Kloster – eine Fotoreportage<br />
Von Kiên Hoàng Lê<br />
48 | „Mehr Aufrichtigkeit“<br />
Der FDP-Chef Philipp Rösler über<br />
Shitstorms und die Streitkultur im Netz<br />
Interview von Alexander Marguier und<br />
Christoph Schwennicke<br />
52 | Mein Schüler<br />
<strong>Cicero</strong>-Serie: Guido Westerwelles Lehrer<br />
über seinen einstigen Schützling<br />
Von Constantin Magnis<br />
54 | Nein, lieber Otto<br />
Überwachungsmacht ist heute: Allmacht<br />
Von Frank A. Meyer<br />
66 | Liebe auf den ersten Blick<br />
Papst Franziskus begeistert Menschen<br />
über alle Glaubensgrenzen hinweg<br />
Von Julius Müller-Meiningen<br />
72 | Franziskus? find ich gut!<br />
Warum fasziniert der Papst?<br />
Fünf Versuche einer Antwort<br />
Von Amelie Fried, Martina Gedeck,<br />
Bodo Kirchhoff, Sebastian Turner,<br />
Michael Wolffsohn<br />
74 | Die Mittelschicht begehrt auf<br />
In der Türkei, in Bulgarien, Russland<br />
und Brasilien vollzieht sich eine<br />
Revolution der Leistungsträger<br />
Von Ulrich Speck<br />
86 | Strom gegen Sprit<br />
Tradition und Zukunft von BMW:<br />
zwei Ingenieure, zwei Welten<br />
Von Lutz Meier<br />
92 | Der digitale Kiosk<br />
Wo bleibt das deutsche Amazon als<br />
Retter der jammernden Printmedien?<br />
Von Petra Sorge<br />
94 | Macht der Kapitalismus<br />
uns unglücklich?<br />
Der tägliche Wettbewerb kennt nur<br />
Verlierer – Erkenntnis eines Geläuterten<br />
Von Max A. Höfer<br />
Fotos: Victoria Bonn-Meuser/Picture Alliance/DPA, DDP Images; Illustrationen: Jan Rieckhoff, Christoph Abbrederis<br />
6 <strong>Cicero</strong> 9.2013
I n h a l t | C i c e r o<br />
102 Heimathose<br />
132<br />
18 000 Goethebücher<br />
Stil<br />
Salon<br />
98 | AM RAMPENLICHT<br />
Die legendäre Background-Sängerin<br />
Lisa Fischer erklärt ihren Beruf<br />
Von CLAUDIA STEINBERG<br />
110 | jazz an der wursttheke<br />
Helge Schneider treibt seine Kunst mit<br />
neuem Album und neuem Film voran<br />
Von daniel Haas<br />
132 | bibliotheksporträt<br />
Michael Engelhard lässt sich als<br />
Redenschreiber von Goethe inspirieren<br />
Von bertram weiss<br />
100 | Warum ich trage, was ich trage<br />
Auf der Bühne muss ich nicht auch noch<br />
durch meine Kleidung hervorstechen<br />
Von HÉLÈNE GRIMAUD<br />
112 | die raumpflegerin<br />
Candida Höfer kämpft gegen das<br />
Verschwinden der Realität<br />
Von ralf hanselle<br />
136 | die letzten 24 Stunden<br />
Wen es zum Sterben nach Finnland<br />
verschlägt, der braucht <strong>Rot</strong>wein<br />
Von aki kaurismäki<br />
Fotos: Gregor Hohenberg, Frank Schoepgens; Illustration: Christoph Abbrederis<br />
102 | STOLZEs BEKENNTNIS<br />
Durch ihre uralte Ästhetik vermittelt die<br />
Lederhose das Gefühl von Heimat<br />
Von SARAH-MARIA DECKERT<br />
109 | KÜCHENKABINETT<br />
Die Schrot-Frage: Gedanken zum<br />
Verzicht auf Kohlenhydrate<br />
Von JULIUS GRÜTZKE UND THOMAS PLATT<br />
114 | überall ist Nossendorf<br />
Hans-Jürgen Syberberg wurde vom<br />
Regisseur zum Tagebuchschreiber<br />
Von ingo langner<br />
116 | Man sieht nur, was man sucht<br />
Hilma af Klint begründete die abstrakte<br />
Malerei aus dem Geist der Theosophie<br />
Von beat wyss<br />
118 | Zwitscher mir das Lied<br />
vom Widerstand<br />
Twitter könnte die Kommunikation<br />
grundlegend verändern<br />
Von alexander pschera<br />
122 | Es galt der Gunst,<br />
nicht der Kunst<br />
Durch die Reichskulturkammer wurden<br />
alle Künste gleichgeschaltet<br />
Von philipP blom<br />
124 | schluss mit der Willkür<br />
Die Universitäten haben den Kampf<br />
gegen Plagiate verschlafen<br />
Von heiner barz<br />
126 | BloSS nicht bequem sein<br />
Oskar Roehler und Thor Kunkel über<br />
Film, Literatur und den Sinn von Kunst<br />
Von alexander Kissler<br />
Standards<br />
Atticus —<br />
Von Christoph Schwennicke — seite 3<br />
Stadtgespräch — seite 8<br />
Forum — seite 12<br />
Impressum — seite 22<br />
Postscriptum —<br />
Von Alexander Marguier — seite 138<br />
Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />
erscheint am 26. September 2013<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 7
C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />
Einen Comedian der SPD spornt seine Chancenlosigkeit an, Fachleute für<br />
Gebärden deuten Merkels Raute, am Brandenburger Tor schwitzen die Pferde,<br />
ein CDU-Mann will Blut sehen – und Oskar Lafontaine ärgert die Saar-Linke<br />
Erkans Stefan:<br />
Brontalangriff<br />
A<br />
ls teil des Comedy-Duos „Erkan<br />
& Stefan“ hat Florian Simbeck<br />
alias „Stefan Lust“ einst den<br />
Gaumenkitzler „brontal“ erfunden – ein<br />
Kofferwort aus „brutal“ und „frontal“, Bedeutung:<br />
„sehr“, „total“. Brontal überraschend<br />
hat die SPD Simbeck als Bundestagsdirektkandidaten<br />
in München-Freising<br />
aufgestellt. Der Polit-Neuling ist nicht nur<br />
rhetorisch begabt, sondern hat auch ganz<br />
eigene Vorstellungen über mögliche Regierungskoalitionen:<br />
„Ich hätte mit einer rotrot-grünen<br />
Koalition auf Bundesebene kein<br />
Problem. Im Gegenteil: Ich finde, das ist<br />
eine bedenkenswerte Option.“ Brontal offen<br />
– bloß wie steht’s um seine Chancen,<br />
im Bundestag eine Karriere als Berufspolitiker<br />
zu begründen? Simbeck hat es in der<br />
Vergangenheit zwar schon mit den Mächten<br />
der Finsternis aufgenommen (in einem<br />
Kinofilm). Aber was sind die Mächte<br />
der Finsternis gegen die Christlich-Soziale<br />
Union? Simbeck über seinen CSU-Widersacher<br />
Erich Irlstorfer: „Der könnte im<br />
Bett bleiben und hätte immer noch gute<br />
Chancen, das Ding zu gewinnen.“ Davon<br />
lässt er sich aber nicht die Laune verderben:<br />
„Das allein spornt mich schon an, es zu versuchen.“<br />
Brontalissimo! cb<br />
Raute der MAcht:<br />
Künstlerische Vagina<br />
A<br />
m Ende von Angela Merkels zweiter<br />
Amtszeit lautet die entscheidende<br />
Frage: Was war zuerst da,<br />
die Kanzlerin oder die Raute – ihr gestisches<br />
Markenzeichen? Sie führt dabei<br />
die Fingerspitzen beider Hände zusammen,<br />
die Daumen zeigen nach oben, die<br />
Zeige- und anderen Finger nach unten.<br />
Die Frage folgt einer philosophischen<br />
Tradition: Schon Aristoteles wollte wissen,<br />
wie es sich mit Ursache und Wirkung<br />
verhalte, wo der Ursprung des Seins nun<br />
liege, im Ei oder in der Henne. Im Falle<br />
der Kanzlerin verhält es sich nicht minder<br />
existenziell: Gibt es für diese Körperhaltung<br />
einen Grund und demnach eine Botschaft?<br />
Angestoßen hat die Debatte der<br />
moderne Staatstheoretiker Benjamin von<br />
Stuckrad-Barre im Endspurt des Wahlkampfs<br />
vor vier Jahren. Er fragte Merkel<br />
als Erster nach der Bedeutung der Geste.<br />
Die CDU-Vorsitzende stellte sie damals<br />
großflächig auf einem Plakat aus. Ihre<br />
Antwort fiel schlicht aus: „Nichts.“ Sie<br />
garantiere mithilfe dieser Geste nur, dass<br />
sie aufrecht stehe. Die Deuter der Kanzlerin<br />
gaben sich damit nicht zufrieden.<br />
Das Rätsel wurde zur eigenen Disziplin<br />
der Merkologie, es beschäftigte auch die<br />
Verschwörungstheoretiker. Ist die Raute<br />
ein Landezeichen für Außerirdische? Ein<br />
Symbol der Freimaurer? Sendet sie dem<br />
Publikum Energie? Oder lenkt sie gar den<br />
Blick – Geborgenheit vermittelnd – auf<br />
den Bauch?<br />
Vier Jahre später hat Merkel ihre Raute<br />
noch einmal neu erklärt. Typisch. Je länger<br />
unbewussten Eigenschaften Bedeutungen<br />
zugeschrieben werden, desto eher macht<br />
sie bewusst etwas draus. Bei einer Veranstaltung<br />
der Zeitschrift Brigitte sagte sie, sie<br />
habe nicht gewusst, wohin mit den Armen,<br />
zudem zeige die Raute „eine gewisse Liebe<br />
zur Symmetrie“. Das können die einen ein<br />
wenig augenzwinkernd lesen, die anderen<br />
dagegen bedeutungsvoll (Ausgleich! Inneres<br />
Gleichgewicht!).<br />
Ungeklärt ist bisher jedoch eine weitere<br />
Vermutung geblieben: Dass Merkel<br />
die Gebärdensprache benutze, in der die<br />
Raute Vagina bedeute. Wenn das stimmt,<br />
könnte es sich sogar um ein feministisches<br />
illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />
8 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Sie hat auf alles<br />
eine Frage.<br />
maybrit illner<br />
Do 22. August | 22:15 Uhr
C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />
Statement handeln. Das wäre doch mal<br />
eine Kanzlerinnen-Inzenierung!<br />
Leider ist die Raute schon mal keine<br />
Gebärde, wie Wolfgang Schinmeyer, gehörloser<br />
Grafiker und Herausgeber des Buches<br />
„Gebärden auf St. Pauli“ auf Anfrage klarstellt.<br />
Wer Vagina in der Gehörlosensprache<br />
ausdrücken möchte, führt nur Daumen<br />
und Zeigefinger zusammen, hält sie<br />
kurz offen nach unten und schließt sie wieder.<br />
Bei der Merkel-Raute handelt es sich<br />
um eine Geste – ein Missverständnis, das<br />
häufig auftaucht. „Gebärdensprachen sind<br />
nicht nur die Gebärden an sich, sondern es<br />
ist immer wichtig, auch Mimik, Mundbild,<br />
Körperstellung, Bewegung zu beachten“,<br />
erklärt Cornelia von Pappenheim, Referentin<br />
des Deutschen Gehörlosen-Bundes.<br />
Sie hat jedoch eine andere Vermutung, wie<br />
es zu der Gleichsetzung von Merkels Raute<br />
mit Vagina kommen konnte: 2005 hat das<br />
internationale visuelle Theater aus Paris mit<br />
ausschließlich gehörlosen Schauspielern<br />
die „Vagina Monologe“ in Deutschland<br />
aufgeführt. „Dort kommt die Geste von<br />
Frau Merkel vor, denn es ist eine künstlerische<br />
Form, um Vagina darzustellen.“ sl<br />
Der Sommer in Berlin:<br />
Schwitzende Pferde<br />
E<br />
ine rote Ampel an der Ecke Unter<br />
den Linden/Wilhelmstraße<br />
Richtung Brandenburger Tor. Einem<br />
fülligen Rikschafahrer stehen kleine<br />
Schweißperlen auf der Stirn. „Over sär, se<br />
bilding wiss sse grien rroof“, erläutert er<br />
den beiden Asiatinnen mit den tiefen gefüllten<br />
Ausschnitten auf seiner Rückbank.<br />
„SSät is where Michael Jackson held out his<br />
baby out of sse window.“ Die beiden jungen<br />
Damen folgen seinem Fingerzeig, der<br />
schräg links in Richtung Hotel Adlon geht.<br />
„Good description!“, lobt ein Radfahrer, der<br />
auch an der Ampel wartet. „Ditt interessiert<br />
Se alle!“, sagt der Rikschafahrer. „Und<br />
wo die Aindschie wohnt!“ In beiden Sätzen<br />
schwingt jahrelange Erfahrung, gemischt<br />
mit Stolz. Die Ampel schaltet auf <strong>Grün</strong>.<br />
Der Rikschafahrer tritt schwer in seine<br />
Pedale, der andere Radler zieht flink an<br />
ihm vorbei. Der Pariser Platz riecht nach<br />
schwitzenden Pferden. Dit is Balin, Mitte<br />
Juli 2013. swn<br />
Provokation der <strong>Grün</strong>en:<br />
Bitte Blutig!<br />
M<br />
ichael Fuchs, Unionsvize im<br />
Bundestag, geht regelrecht blutrünstig<br />
gegen den politischen<br />
Gegner vor. Ziel seines Angriffs sind die<br />
<strong>Grün</strong>en, die einen fleischfreien Tag pro<br />
Woche fordern, als „Veggie-Day“ empfehlen<br />
sie den Donnerstag. <strong>Grün</strong>e Bundespolitiker<br />
speisen gern im italienischen Restaurant<br />
Il Punto. Genau wie Fuchs. Sichtet<br />
er einen grünen Volksvertreter, bestellt<br />
er sich – Donnerstag oder nicht – möglichst<br />
unüberhörbar „das größte und blutigste<br />
Steak“. Ob sein Konsumstil zu mehr<br />
CDU-Wählern beiträgt, ist allerdings offen.<br />
Die <strong>Grün</strong>en werben immerhin mit Zahlen<br />
aus dem rot-grün regierten Bremen für ihre<br />
Position: Als erste deutsche Großstadt hat<br />
Bremen die Initiative „Vegetarischer Donnerstag“<br />
unterstützt. Die Einwohner sparen,<br />
wenn sie sich einen Tag pro Woche<br />
fleischlos ernähren, ein CO 2<br />
-Abgasäquivalent<br />
von 40 000 Autos pro Jahr. Das<br />
beeindruckt Fuchs nicht: Zähle man alle<br />
Verbotswünsche der <strong>Grün</strong>en zusammen –<br />
Grillen im Park, Fahren alter Motorroller,<br />
Tempolimit et cetera – führe das zu<br />
einem Kaufkraftverlust von 40 Milliarden<br />
Euro. Wer zahlt? Natürlich der Mittelstand,<br />
schimpft Fuchs. Da schluckt er vorsorglich<br />
lieber ein paar Steaks. Weilt <strong>Grün</strong>en-Chefin<br />
Claudia <strong>Rot</strong>h im Il Punto, sagt Fuchs,<br />
schmecke es ihm besonders. tz<br />
Lafontaines Wahlkampf:<br />
Sahra statt saar<br />
W<br />
enn oskar lafontaine den Eindruck<br />
hat, ihm werde nicht genug<br />
gehuldigt, sucht er schon<br />
mal das Weite. Diese Erfahrung hat 1999<br />
seine einstige Partei, die SPD, machen<br />
dürfen: Als er sich als Bundesfinanzminister<br />
nicht gegen die Gefolgsleute Gerhard<br />
Schröders durchsetzen konnte, warf<br />
er von einem Tag auf den anderen hin<br />
und entschwand gen Saarbrücken – sein<br />
Ministeramt und das des Parteivorsitzenden<br />
in Bonn zurücklassend. Der Rest der<br />
Geschichte ist bekannt. Bekannt ist auch,<br />
dass Geschichte sich wiederholt. Diesmal<br />
im Saarland, wo die Linkspartei sich partout<br />
weigerte, die von Lafontaine favorisierte<br />
frühere Tennisspielerin Claudia<br />
Kohde-Kilsch zur Saar-Spitzenkandidatin<br />
für die Bundestagswahl zu küren. Anstatt<br />
der ehemaligen Weltranglisten-Vierten<br />
steht jetzt Thomas Lutze auf Platz eins<br />
der Liste für die Wahl, ausgerechnet ein<br />
Widersacher Lafontaines bei den Saar-Linken.<br />
Was Letzteren wiederum dazu veranlasste,<br />
sich auf Oskar-typische Weise vom<br />
Acker zu machen – zumindest im Wahlkampf.<br />
Anstatt im Saarland für seine Partei<br />
zu werben, wird Lafontaine sein rhetorisches<br />
Talent in der heißen Phase nun<br />
wohl der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen<br />
zur Verfügung stellen; dort sind im<br />
September acht Auftritte geplant. Immerhin<br />
bleibt es diesmal gewissermaßen in der<br />
Familie: In NRW kandidiert nämlich mit<br />
Sahra Wagenknecht Oskar Lafontaines Lebensgefährtin<br />
auf dem Spitzenplatz. mar<br />
illustration: Cornelia von Seidlein<br />
10 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Es wird Zeit für eine neue Art der<br />
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Es geht um Bildung, Titelgestaltung, die Kanzlerin und das Auto<br />
Zur Preiserhöhung/August 2013<br />
kein weg<br />
Zu weit<br />
Die Augustausgabe des <strong>Cicero</strong> hat mir zu einer nicht geplanten, zusätzlichen sportlichen<br />
Aktivität verholfen. In der Annahme, dass die Ausgabe 8 Euro kostet, habe<br />
ich genau 8 Euro eingesteckt und bin mit dem Rad, bei der momentanen Hitzewelle,<br />
einige Kilometer zum nächstgelegenen Kiosk gefahren. Hier in Brandenburg<br />
gibt es nicht an jeder Ecke einen Kiosk, und nicht alle bieten den <strong>Cicero</strong> an. Ich<br />
hatte die Ausgabe schon in der Hand, und beim Verlassen kam die Verkäuferin<br />
hinterher und wollte die restlichen 50 Cent. War mir peinlich. Also bin ich wieder<br />
nach Hause und habe die 50 Cent geholt. Ärgerlich, aber ich werde den <strong>Cicero</strong><br />
auch weiterhin kaufen.<br />
R. Wonner, Birkenwerder<br />
zum beitrag „Klamme<br />
kaderschmieden“ von Benno<br />
stieber/August 2013<br />
Chance verpasst<br />
Schon die Wahl der Beispiele zeigt<br />
das. SIMT und EBS, International<br />
University Bruchsal, Witten-Herdecke<br />
und Jacobs University wurden seit über<br />
einem Jahrzehnt zig Mal als Beispiele<br />
für das vermeintliche Scheitern privater<br />
Initiative im Hochschulwesen in der<br />
Presse zitiert. Gerade diese sind jedoch<br />
nicht repräsentativ für die Privathochschulen,<br />
schon gar nicht in puncto<br />
Finanzierung. Sie haben nämlich den<br />
Webfehler, dass sie initial oder konsekutiv<br />
mit öffentlichen Geldern gefördert<br />
wurden, das heißt, sie sind tatsächlich<br />
Public-Private-Partnership-Modelle.<br />
PPP hat sich auch in anderen Bereichen<br />
als problematisch erwiesen, weil hier<br />
zusammengespannt wird, was nicht<br />
zusammengehört (unternehmerisches<br />
Handeln und öffentliche Haushalte).<br />
Die wirklich privaten Hochschulen,<br />
die im Verband der privaten Hochschulen<br />
organisiert sind, vertreten den<br />
Grundsatz „Wo privat draufsteht, muss<br />
auch privat drin sein“. Das gilt auch und<br />
gerade für die Finanzierung. Dass dieses<br />
Modell nachhaltig funktioniert, zeigen<br />
unsere 55 Mitgliedshochschulen, die seit<br />
Jahrzehnten nicht nur fachlich, sondern<br />
auch wirtschaftlich erfolgreich sind.<br />
Dass der Ruf der privaten Hochschulen<br />
seit der Jahrhundertwende<br />
gelitten hat, ist ein von den Befürwortern<br />
eines staatlichen Bildungsmonopols<br />
gern verbreitetes Vorurteil. Es wird von<br />
der Realität nicht gestützt, wie allein<br />
die seit 2000 zweistellig wachsenden<br />
Studierendenzahlen der Privaten zeigen.<br />
Auch das 2012 erschienene unabhängige<br />
Gutachten des Wissenschaftsrats kommt<br />
zu einer sehr positiven Einschätzung<br />
der privaten Hochschulen. In seiner<br />
wissenschaftlichen Kommission sitzen,<br />
nota bene, nur Vertreter von Staatshochschulen.<br />
Wenn einen sogar die Konkurrenz<br />
positiv bewertet, kann der Ruf so<br />
schlecht nicht sein.<br />
Prof. Klaus Hekking, Vorsitzender des Verbands<br />
der Privaten Hochschulen e. V., VPH<br />
zur Titelgestaltung<br />
„Christdemokratische<br />
Einheitspartei Deutschlands“,<br />
„Obamas Stasi“/August 2013<br />
Falsche Symbolik<br />
Den Vogel hat die Redaktion mit<br />
„Christdemokratische Einheitspartei<br />
Deutschlands“ abgeschossen. Man kann<br />
ja viel schreiben, aber mit Zeichnungen<br />
und Symbolen hat es schon eine andere<br />
illustration: cornelia von seidlein<br />
12 <strong>Cicero</strong> 9.2013
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Bewandtnis. Die Farben und Symbole<br />
der SED, einer kommunistischen und<br />
diktatorischen Partei, zu übertragen, ist<br />
mehr als geschmacklos, es ist politisch<br />
unkorrekt bis diffamierend. Auch das<br />
Dreieinigkeitsbanner der Titelseite<br />
spricht Bände über den Denkansatz.<br />
Ich kenne die CDU über 40 Jahre,<br />
habe viele Wahlkämpfe (mit Kurt Georg<br />
Kiesinger persönlich) mitgefochten,<br />
„Bürger für Brandt“ erlebt und nun<br />
Dr. Angela Merkel – eine kluge, unaufgeregte<br />
Kanzlerin. Das passt der Presse<br />
nicht, die lieber über Krawall berichtet.<br />
Der <strong>Cicero</strong>-Redaktion empfehle ich<br />
die Lektüre der Merkel-Biografie, vielleicht<br />
geht da manchem Redakteur noch<br />
ein Licht auf.<br />
Dieter Zauft, Waldshut-Tiengen<br />
zum Titel „Die neuen<br />
Statussymbole“, Jan Kuhlbrodt/<br />
Juli 2013<br />
DAs Auto lebt<br />
„Mein Auto ist kein Statussymbol, nur<br />
ein Transportmittel, um von A nach B<br />
zu kommen“, haben die Mitglieder Ihrer<br />
Redaktion wohl gesagt und fühlen sich<br />
als Avantgarde. Ich fürchte, so ganz<br />
stimmt das nicht. Denn zum ersten Mal<br />
habe ich diesen Satz um 1970 herum<br />
während meines Ingenieurstudiums<br />
gehört. Nicht von denen, die damals<br />
schon als Student Porsche oder Alfa Spider<br />
gefahren haben; aber diejenigen, die<br />
sich ihre 500-Mark-Schrottkiste vom<br />
Mund abgespart hatten und sich noch<br />
nicht einmal das Benzin leisten konnten,<br />
haben das gar oft von sich gegeben. Ich<br />
hatte übrigens damals weder Auto noch<br />
Führerschein, weil ich mir beides nicht<br />
leisten konnte. Die Diskussionen habe<br />
ich also still verfolgt.<br />
In den letzten 40 Jahren habe ich<br />
immer wieder diesen Satz gehört, in<br />
ganz wenigen Abwandlungen, und<br />
immer war die relative Position der Sprechenden<br />
gleich. Und dennoch ist und<br />
bleibt vorläufig das Auto das Statussymbol,<br />
denn Kirschholzlautsprecher, DVD-<br />
Sammlungen oder Bündel von Zwiebeln<br />
kann man erst dann zeigen, wenn man<br />
das zu manipulierende Opfer in die<br />
richtige Sichtposition gebracht hat, das<br />
Auto stellt man einfach vor die Tür und<br />
schaut aus dem Küchenfenster ganz<br />
befriedigt zu, wie die Vorbeigehenden<br />
hingucken.<br />
Porsche oder Bentley liegen wohl<br />
eher außerhalb der Gehaltsklasse Ihrer<br />
Redaktionsmitglieder, aber ob ein<br />
50 000-Euro-Auto, das passen könnte,<br />
am unteren Ende der Premiumskala<br />
zum Statussymbol taugen würde,<br />
könnte man ja mal überlegen.<br />
Nun wurde ich leider 65 und<br />
leider pensioniert, aber meinen letzten<br />
Geschäftswagen, ein 5er BMW, habe<br />
ich meinem Arbeitgeber abgekauft. Eine<br />
ökonomisch völlig falsche Entscheidung,<br />
meistens steht der Wagen in der Garage.<br />
Aber ab und zu bereitet es mir richtig<br />
Freude, mit meinem Zweieinhalbliter-<br />
Sechszylinder irgendwohin zu fahren,<br />
und was andere darüber denken, ist mir<br />
so was von egal.<br />
Kurt Reuter, Heusenstamm<br />
zum Titel „Christdemokratische<br />
Einheitspartei Deutschlands“,<br />
Alexander Marguier/August 2013<br />
wie Queen Elizabeth<br />
Angela Merkel ist in mehrfacher Hinsicht<br />
für Deutschland ein Glücksfall.<br />
Und man muss schon schmunzeln, wie<br />
immer wieder versucht wird, in diese<br />
eintönige politische Figur etwas an<br />
Größe oder Mystery hineinzuinterpretieren,<br />
anstatt es einfach bleiben zu<br />
lassen.<br />
Es ist bekannt, dass diese Frau<br />
bereits in ihrer Jugend eher unauffällig,<br />
brandenburgisch stoisch und von<br />
schlichtem Gemüt war, zu leichtem<br />
Phlegma neigend, aber stets von (typisch<br />
ostdeutsch) offener Freundlichkeit und<br />
einfältiger Gutgläubigkeit. Brillante<br />
Rhetorik der Berufsgruppe Journalisten,<br />
Pfarrer und Anwälte war bis heute<br />
nicht ihre Sache. Damit erfüllt sie<br />
die Vorstellung vieler Wähler und ist<br />
ein Abbild der bescheidenen Seele des<br />
einfachen, unbescholtenen Bürgers. Ihr<br />
sind Korruption und Amtsmissbrauch<br />
wirklich nicht zuzutrauen, ebenso wenig<br />
wie goldene Löffel zu stehlen. Sie ist<br />
nicht käuflich.<br />
Aber auch das stellt hier kein Problem<br />
dar. Wie das Volk, so finden die<br />
Reichen und Mächtigen, die Shareholder<br />
der deutschen Dax-Unternehmen,<br />
ihre Interessen gewahrt. Bisherige<br />
Bundeskanzler waren Alphatiere,<br />
eigensinnige Querulanten, die immer<br />
schwer zu steuern waren. Das ist bei<br />
der leichtgläubigen und etwas praxisfernen<br />
Angie nicht der Fall. Und auch<br />
die gehobenen und mittleren Schichten<br />
der Ministerialbürokratie freuen sich<br />
ob ihrer neu gewonnenen Freiheit, man<br />
kann schalten und walten und nicht mal<br />
immer zum Nachteil des Volkes.<br />
Hier ist nun tatsächlich kein<br />
Schaden durch das fehlende Charisma<br />
und die fehlende Streitsüchtigkeit und<br />
Konfliktinszenierung der Bundeskanzlerin<br />
für die Nation erkennbar.<br />
Noch nie ging es dem Land angesichts<br />
weltwirtschaftlich schwieriger Konstellation<br />
so gut wie jetzt. Und nur weil<br />
Medien so vor sich hin dümpeln und<br />
Auflagenschwund verzeichnen, sollte<br />
das Erfolgsmodell einer nicht charismatischen<br />
Kanzlerin nicht der banalen<br />
Strategie des Enthüllungsjournalismus<br />
geopfert werden und auch nicht dem<br />
Ansinnen, einem SPD-Kabarettisten<br />
aufs Pferd zu helfen.<br />
Man kann nur hoffen, dass diese Frau<br />
nicht nur für die nächste Legislatur<br />
Kanzlerin bleibt, sondern, beliebt wie<br />
eine deutsche Queen Elizabeth, diesem<br />
Land, so wie es ihre Gesundheit erlaubt,<br />
noch viele Jahre dient.<br />
Max Lehmann, Berlin<br />
(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />
illustrationen: cornelia von seidlein<br />
14 <strong>Cicero</strong> 9.2013
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T i t e l<br />
16 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Und was wird<br />
aus mir?<br />
Dieser Wahlkampf ist Sigmar Gabriels letzter Kampf<br />
für einen anderen. Nach dem 22. September geht<br />
es um seine Zukunft. Dafür muss er die absehbare<br />
Wahlniederlage der SPD überstehen – und ein Tabu<br />
brechen. <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>, spätestens 2017.<br />
Geschichte einer systematischen Annäherung<br />
Von Georg Löwisch und Christoph Schwennicke<br />
E<br />
s ist ein heißer Sommertag in<br />
Ahlen, an dem man gute <strong>Grün</strong>de<br />
und einen eisernen Willen haben<br />
muss, eine Stadthalle zu betreten,<br />
die aussieht, als hätte jemand aus<br />
Denkmalschutzgründen den Zweckbau der<br />
späten siebziger Jahre konservieren wollen.<br />
Draußen brütet eine schwüle, grelle<br />
Mittagssonne über der Stadt, drinnen im<br />
dunklen Saal ist sehr viel weißes Haupthaar<br />
zu sehen. An einem Stand in der Halle<br />
ist sinnigerweise ein roter Sonnenschirm<br />
aufgebaut, auf dem in weißen Buchstaben<br />
SPD steht.<br />
Ahlen, Westfalen. Abgeschieden, aber<br />
politisch bedeutsamer Boden. Hier hat sich<br />
die CDU 1947 ihr erstes Grundsatzprogramm<br />
gegeben, und in dieser Stadthalle<br />
hat Johannes Rau am 16. Dezember 1985<br />
für die SPD eine Grundsatzrede gehalten.<br />
Genau deswegen ist jetzt auch Sigmar Gabriel<br />
hier.<br />
Es ist wie bei einer Predigt. Pastor Gabriel<br />
verliest andächtig Passagen von Raus<br />
Rede und erklärt der Gemeinde, was dessen<br />
Worte uns heute noch sagen. Dass man<br />
Freunden wie den USA nicht nach dem<br />
Mund reden muss. Wie Merkel das macht.<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 17
T i t e l<br />
Dass man keine „verlogene Politik“ betreiben<br />
darf. Wie Merkel das tut. Dass man<br />
nicht einerseits den arabischen Frühling besingen<br />
kann und andererseits so viele Panzer<br />
wie noch nie an die Saudis verkaufen.<br />
Wie Merkel. Das alles hat Johannes Rau<br />
schon kommen sehen. Die „Anarchie in<br />
der Energiewende“, den „Verlustsozialismus“<br />
in der Bankenrettung.<br />
Kurzum: Sigmar Gabriel ist in Fahrt.<br />
Die SPD döst in diesen Wochen ein<br />
bisschen in der Sommersonne, im Willy-<br />
Brandt-Haus kann man anrufen, wo man<br />
will: Urlaub. Die Kampa, die einst legendäre<br />
Wahlkampfzentrale der Partei, besetzt<br />
zwar im Nordflügel lila leuchtend zwei<br />
Stockwerke, entfaltet aber keine Wirkung.<br />
Der Kandidat taumelt durch seine Kandidatur<br />
und versucht das Straucheln und<br />
Stolpern bei den ersten Hürden wenigstens<br />
auf den letzten Metern noch in einen<br />
Lauf zu verwandeln. Und dann ist da Sigmar<br />
Gabriel. Vorsitzender der Partei und<br />
freies Radikal. Beides in einem. Von nichts<br />
und niemandem zu bändigen, nicht einmal<br />
von sich selbst. Er kämpft und kämpft und<br />
kämpft. Um seine Chance, seine Option.<br />
Es ist ihm nichts nachzuweisen bei seinen<br />
Wahlkampfauftritten. Nicht in Ahlen,<br />
nirgendwo. Er preist den Kandidaten. Gabriels<br />
Kampf gebührt Peer Steinbrück. Aber<br />
es ist sein letzter Kampf für einen anderen.<br />
Ein bisschen ist es schon ein Kampf für sich<br />
selbst. Ein Kampf, dessen heiße Phase am<br />
22. September um 18 Uhr beginnt, wenn<br />
sich das Wahlergebnis in bunten Säulen auf<br />
den Bildschirmen der Republik abzeichnet.<br />
Dann wird Gabriel nur noch von der Frage<br />
geleitet sein, die ihn schon jetzt steuert, die<br />
ihn schon immer steuert, die ihn spätestens<br />
leitet, seit er vor fast vier Jahren in Dresden<br />
mit schwerer Erkältung und einer starken<br />
Rede zum SPD-Vorsitzenden gewählt<br />
wurde. Heide Simonis, seine Parteifreundin<br />
in Schleswig-Holstein, hat diese Frage<br />
nach einer verlorenen Wahl einmal so formuliert:<br />
„Und was wird aus mir?“<br />
Sigmar Gabriel will Kanzler werden.<br />
Nicht gleich. Deshalb hat er Steinbrück<br />
den Vortritt gelassen wie einst Angela<br />
Merkel Edmund Stoiber beim Frühstück<br />
in Wolfratshausen. Denn bis zum 22. September<br />
um 17.59 Uhr ist die Zeit noch<br />
nicht reif für ihn. Für seine Machtoption.<br />
Für <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>.<br />
Von da an läuft Gabriels Uhr für diese<br />
Option. Spätestens 2017, vielleicht auch<br />
früher, muss er zugreifen, wenn er ganz<br />
nach oben will. Er muss das Schisma beenden.<br />
Franz Müntefering hat schon zu Bonner<br />
Zeiten in ruhigen Momenten über den<br />
Urfehler der SPD geredet, die PDS nicht<br />
aufgenommen zu haben wie die CDU ihr<br />
DDR-Blockflötenpendant. An diesem strategischen<br />
Wettbewerbsnachteil knabbert die<br />
SPD seither bei jeder Wahl: Es gibt eine<br />
linke Mehrheit, aber wegen des Tabus nur<br />
auf dem Papier. Diese Mehrheit zu nutzen,<br />
diesen Schatz endlich heben zu dürfen, das<br />
ist Gabriels Strategie, das ist sein Plan, der<br />
sich lange abzeichnet, wenn man genau hinschaut.<br />
Er muss natürlich noch die Balkendiagramme<br />
vom 22. September überleben.<br />
Das ist das Nadelöhr. Da kann er hängen<br />
Illustrationen: Wieslaw Smetek (Seiten 16 bis 18)<br />
18 <strong>Cicero</strong> 9.2013
leiben. Danach ist er durch. Dann darf er<br />
das Bündnis vorbereiten, das ihn ganz nach<br />
oben bringen kann.<br />
Die Szenarien für 2013 sind überschaubar.<br />
Eine Große Koalition wird ihn stabilisieren,<br />
denn dann muss die SPD einigermaßen<br />
geschlossen in die Verhandlungen<br />
gehen. Es gäbe genügend Ämter in Regierung<br />
und Fraktion, Gabriel könnte Vizekanzler<br />
werden oder Fraktionschef. Er wartet<br />
ab, bis Merkel ihren Zenit überschritten<br />
hat und die Leere in der Union zutage tritt.<br />
Dann treibt er die SPD zur Opposition in<br />
der Koalition – um sie für 2017 zu profilieren:<br />
Das wäre eh nach seinem Geschmack.<br />
Oder er lässt Schwarz-<strong>Rot</strong> zum geeigneten<br />
Zeitpunkt platzen und sich – je nach Mehrheitsverhältnissen<br />
– in der laufenden Legislatur<br />
zum rot-rot-grünen Kanzler wählen.<br />
Schafft es Schwarz-Gelb am 22. September<br />
noch einmal, kann Gabriel eine Brachialopposition<br />
aufbauen: kein staatsmännischer<br />
Steinmeier-Stil mehr, sondern kantige Konfrontation.<br />
Im Bundestag, im rot-rot-grünen<br />
Bundesrat, im Dauerwahlkampf gegen<br />
eine Angela Merkel in ihrer Spätphase.<br />
Schwarz-<strong>Grün</strong> würde die Dinge bei den<br />
<strong>Grün</strong>en etwas unübersichtlich machen, es<br />
gäbe Konflikte. Aber der grüne Streit würde<br />
die SPD päppeln und ihren Vorsitzenden<br />
stark machen.<br />
Das sind Gabriels Varianten. Aber jetzt,<br />
im Wahlkampf, muss er alles kaschieren.<br />
Muss sagen, er halte „nichts davon, die<br />
Stabilität Deutschlands aufs Spiel zu setzen,<br />
nur um mit einer absolut unkalkulierbaren<br />
Partei ins Kanzleramt zu kommen“.<br />
Mit den Ostlern ginge es ja noch,<br />
aber nicht mit den „Spinnern“ und Sektierern<br />
der Westlinken. Die meisten in<br />
der SPD beten seine Gebete nach, damit<br />
die Union im Wahlkampf nicht <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<br />
<strong>Grün</strong> als Mobilisierungsthema hat. Kaum<br />
jemand traut sich zu sagen, was die SPD-<br />
Parteilinke Hilde Mattheis vor ein paar<br />
Wochen in der taz auf die Frage „Wie stehen<br />
Sie eigentlich zu <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>?“ gesagt<br />
hat: „Ich glaube, dass uns da eine Offenheit<br />
guttäte.“<br />
In Wahrheit glauben dies viele Sozialdemokraten.<br />
Der „Transformationsprozess“<br />
müsse weitergehen, heißt es da.<br />
Transformation heißt: Weg mit dem Erbe<br />
Schröder-Clement-Müntefering. Gabriel<br />
selbst hat aufseiten der SPD die Blockaden<br />
abgebaut, wo und wie es nur ging. Er<br />
hat die Agenda 2010, Gerhard Schröders<br />
Gabriel<br />
definiert mit<br />
dem Begriff<br />
„Mitte“ eine<br />
Bewegung<br />
nach links<br />
Hinterlassenschaft, das „geht gar nicht“ der<br />
Linken, scheinbar gelobt und faktisch geschleift.<br />
Er hat die Aufbauten von damals<br />
zum Abriss freigegeben: die Niedriglöhne,<br />
die billige Leiharbeit? Waren „falsch“, sagt<br />
Gabriel. Die Rente mit 67, noch so ein<br />
Klotz im Weg, als faktische Rentenkürzung<br />
weggeräumt: „Niemand, der sein Leben<br />
lang rentenversichert war und über viele<br />
Jahrzehnte gearbeitet hat, darf im Rentenalter<br />
auf Sozialniveau kommen, nur weil<br />
er unverschuldet arbeitslos war oder in den<br />
Niedriglohnsektor gedrückt wurde.“ Beim<br />
Mindestlohn hätte die SPD mit 8,50 Euro<br />
zur Linken aufgeschlossen, wenn die nicht<br />
noch mal auf zehn Euro erhöht hätte.<br />
Und sogar im Kompetenzteam eines<br />
Peer Steinbrück sind Sozialdemokraten vertreten,<br />
die zu der Transformation passen,<br />
Karl Lauterbach zum Beispiel oder Florian<br />
Pronold oder Klaus Wiesehügel. Links, linker,<br />
superlinks.<br />
Eine Zusammenarbeit zwischen SPD<br />
und Linkspartei erleichtert auch die Tatsache,<br />
dass Oskar Lafontaine abtritt, das<br />
personifizierte Zerwürfnis.<br />
Manchmal fügt sich ein Bild erst in der<br />
Rückschau. Wie bei einem Puzzle. Die ersten<br />
Teile passen zwar, aber man kann noch<br />
nicht alles erkennen. Heute zum Beispiel<br />
wird es noch deutlicher als vor knapp zwei<br />
Jahren, am 13. Oktober 2011, als Sigmar<br />
Gabriel eine Erkältung plagte. Er hatte sich<br />
fit geschluckt mit Aspirin für diese Tage in<br />
Dresden und hat eine Rede als angehender<br />
Parteivorsitzender gehalten, die im Kern alles<br />
enthielt, was sich seither entfaltet.<br />
Sie steht noch heute auf seiner Homepage<br />
zum Nachlesen. Die SPD müsse das<br />
Wahlergebnis „annehmen“, ihre Politik<br />
habe „manchmal aseptisch und durchgestylt<br />
gewirkt“. Nun müsse die Partei da hin,<br />
„wo das Leben ist, das anstrengende Leben,<br />
da hin, wo es riecht und gelegentlich auch<br />
stinkt“. Das war die Kampfansage an die<br />
Brioni-Cohiba-SPD, deren arroganter Duft<br />
den nach Gabriels Einschätzung wichtigen<br />
Truppen der SPD gestunken hatte. Wieder<br />
und wieder hat er auf dem Parteitag und in<br />
Interviews von den zehn Millionen geredet,<br />
die der SPD als Wähler seit dem Sieg von<br />
1998 den Rücken gekehrt hätten. Alles war<br />
seiner Meinung nach weg: die Glaubwürdigkeit,<br />
das Profil und damit auch diese<br />
zehn Millionen Wähler.<br />
Die Mitte, mit der Schröder eine Verschiebung<br />
der SPD nach rechts begründet<br />
hatte, definierte Gabriel wieder in die<br />
andere Richtung. Er berief sich auf Willy<br />
Brandt: Dessen Mitte sei links gewesen.<br />
<strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> ist keine leichte Übung in<br />
Deutschland. In das Verhältnis zwischen<br />
<strong>Rot</strong> und Dunkelrot spielen alte Konflikte<br />
hinein, die Zwangsvereinigung von SPD<br />
und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei,<br />
die Identität ostdeutscher Bürgerrechtler<br />
unter den Sozialdemokraten. Dass Oskar<br />
Lafontaine und etliche Abtrünnige der<br />
SPD gemeinsam mit der PDS die Linke<br />
aufgebaut haben, hat Aggressionen erzeugt,<br />
die sich nur langsam abbauen.<br />
Auch zwischen roten SED-Nachfolgern<br />
und grünen Ost-Bürgerrechtlern steht die<br />
DDR-Geschichte. Kein Wunder, dass es<br />
eine ordentliche rot-rot-grüne Regierung<br />
mit Ministern aus allen drei Parteien bisher<br />
nicht einmal auf Landesebene gegeben<br />
hat. Wenn die drei zusammenarbeiteten,<br />
wurden Sonderkonstruktionen ausgetüftelt.<br />
Die erste war das „Magdeburger Modell“,<br />
1994 erfunden von Reinhard Höppner:<br />
Seine SPD und die <strong>Grün</strong>en stellten<br />
die Regierung. Die PDS stimmte für den<br />
Haushalt und wichtige Gesetze. Ihr Vorteil:<br />
Sie konnte sich nach außen in Oppositionsmanier<br />
entrüsten, zugleich aber über<br />
den Landtag Macht ausüben.<br />
Höppner hoffte, der CDU weniger<br />
Angriffsfläche zu bieten, wenn die PDS<br />
nicht richtig mitregierte. Doch die Union<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 19
T i t e l<br />
schlachtete sein Modell gekonnt aus. Im<br />
selben Jahr mobilisierte sie im Bundestagswahlkampf.<br />
Die SPD hat bis heute Angst<br />
vor dem Mobilisierungseffekt. <strong>Rot</strong>e Socken!<br />
Kommunisten! Linksfront!<br />
Klaus Wowereit kratzte die CDU nicht,<br />
als er 2001 die Große Koalition in Berlin<br />
aufkündigte und sich mit einer rot-rotgrünen<br />
Mehrheit zum Bürgermeister der<br />
Hauptstadt wählen ließ. Er amtierte erst<br />
mit <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>, die PDS tolerierte seine Regierung.<br />
Nach der nächsten Wahl schaltete<br />
Wowereit auf <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong> um, fast neun Jahre<br />
lang regierte er so. In Mecklenburg-Vorpommern<br />
gab es acht rot-rote Jahre. Der<br />
Mobilisierungseffekt für die Union nutzte<br />
sich ab – zumal im Osten. Dass <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong> in<br />
Brandenburg regiert, bringt keinen CDU-<br />
Ortsverein mehr in Wallung.<br />
Im Westen war das 2008 noch einmal<br />
anders, als Andrea Ypsilanti nach der<br />
Macht in Hessen griff. Sie wollte <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong><br />
wie einst Höppner von den Linken tolerieren<br />
lassen. Hybris, Wortbruch, Koch-Kampagne<br />
und Intrigen – Ypsilantis Projekt der<br />
„solidarischen Moderne“ detonierte.<br />
An Hessen kann man sehen, wie eine<br />
Zusammenarbeit mit der Linken die Sozialdemokraten<br />
spalten kann. Verfügt ein Sigmar<br />
Gabriel über die Überzeugungskraft,<br />
sie an den Gedanken zu gewöhnen? Wäre<br />
er stark genug, sie zusammenzuhalten?<br />
Die Antwort auf die Hessen-Frage lautet<br />
in der SPD oft: Nordrhein-Westfalen. 2010<br />
schickten dort die Sozialdemokratin Hannelore<br />
Kraft und die <strong>Grün</strong>e Sylvia Löhrmann<br />
den CDU-Mann Jürgen Rüttgers in Pension<br />
– ohne eigene Mehrheit im Parlament.<br />
<strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>? Sylvia Löhrmann,<br />
heute stellvertretende Ministerpräsidentin<br />
und Schulministerin, antwortet gleich<br />
mit einem Understatement, und das ist<br />
typisch. „Dass es in Düsseldorf <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<br />
<strong>Grün</strong> gegeben hätte, ist eine Mär“, sagt sie.<br />
Die Regierung habe sich jeweils Mehrheiten<br />
gesucht. Schulkonsens – mit der CDU.<br />
Abschaffung der Studiengebühren – mit<br />
der Linken. Stärkung der Stadtfinanzen –<br />
mit der FDP. Man sieht an der Antwort:<br />
In NRW lief es auf eine geduldige, stille<br />
Weise. Und die Wahl der Regierungs chefin?<br />
Wegen der Landesverfassung konnten sich<br />
Kraft und Löhrmann um die Frage herummogeln.<br />
Für die Wahl der Ministerpräsidentin<br />
reicht in Düsseldorf ab dem zweiten<br />
Wahlgang eine einfache Mehrheit, die<br />
Linke enthielt sich vornehm.<br />
„So, Jungs, ich<br />
geh euch mal<br />
ein bisschen<br />
beschimpfen“,<br />
sagt Gabriel<br />
am Stand der<br />
Jungen Union<br />
Seit der Landtagswahl von 2012 regieren<br />
SPD und <strong>Grün</strong>e in Nordrhein-Westfalen<br />
ohne Sperenzchen. Mehrheit satt. Dieses<br />
Ziel erreichten Kraft und Löhrmann<br />
zwar auch auf rot-rot-grünen Pfaden. Aber<br />
sie haben sich nicht von der Linken abhängig<br />
gemacht. Ihren Weg zur Macht gingen<br />
sie leise und behutsam. Keine Ausschlusserklärungen,<br />
kein Gerede von rot-grünen<br />
Projekten. „Nie die Dinge überhöhen“,<br />
sagt Löhrmann auch jetzt über <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>.<br />
„Politik muss leidenschaftlich sein, aber sie<br />
muss nüchtern agieren.“<br />
Wie passt so ein Rezept zu Sigmar Gabriel?<br />
Wenn er es einmal mit <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong><br />
probieren sollte, sähe es anders aus. Ihm<br />
liegt das Spektakel mehr als die Behutsamkeit.<br />
<strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>? Ein Coup würde das<br />
wohl, mit lautstarker Begründung, epochal<br />
aufgeladen. Aber wenn jemand in der SPD<br />
sich nicht vor einer Konfrontation mit der<br />
Union fürchtet, dann ist das Gabriel.<br />
Die Junge Union in Altenberge, einem kleinen<br />
Ort unweit von Münster, hat ihr Büro<br />
direkt am Marktplatz – was ganz praktisch<br />
ist, wo doch die Altenberger SPD an diesem<br />
frühen Abend ihren Wahlkreiskandidaten<br />
Ulrich Hampel von dort auf die<br />
Reise in seinem Wohnmobil schicken<br />
möchte. Es ist wieder heiß wie in Ahlen,<br />
auf dem Platz stehen viele bärtige Männer<br />
herum, die einen an frühere Deutschlehrer<br />
erinnern, wie Gabriel auch mal einer war.<br />
Eine nach SPD aussehende Band älterer<br />
Herren covert Songs von Chuck Berry, den<br />
Beatles und den Rolling Stones. Der Leadgitarrist<br />
wagt sich sogar an „Hey Joe“ von<br />
Jimi Hendrix und „Mary had a little Lamb“<br />
von Stevie Ray Vaughan – das muss man<br />
sich als Gitarrist erst mal trauen, aber hier<br />
in Nordrhein-Westfalen traut sich die SPD<br />
auch wieder was. „Wir sind die Kraft“, haben<br />
manche auf dem Marktplatz auf ihrem<br />
T-Shirt-Bauch stehen.<br />
Aus einem dunklen Wagen steigt ein<br />
Mann und geht direkt auf die Jungs von<br />
der Jungen Union zu. Sigmar Gabriel. Er<br />
macht bei dem Spielchen mit, das die Jungs<br />
vorbereitet haben an ihrem Stand und lässt<br />
sich mit dem schwarzen T-Shirt fotografieren,<br />
das sie ihm in die Hand gedrückt<br />
haben. „Cool bleiben und Kanzlerin wählen“,<br />
steht auf dem Shirt. „So, Jungs, war<br />
nett“, sagt er dann. „Jetzt geh ich euch mal<br />
ein bisschen beschimpfen, wenn’s recht ist.“<br />
Gabriel freut sich, dass zwei Gewerkschaften<br />
da sind, darunter die IGBCE, der<br />
der angehende Camper Ulrich Hampel angehört.<br />
Er wolle Ulli beim Kofferpacken<br />
helfen, sagt Gabriel, und dann geht es los<br />
mit dem Kofferpacken: Gleiches Geld für<br />
gleiche Arbeit, ein Lob für die SPD-Regierung<br />
in NRW, eine liebevolle Spitze in<br />
Richtung Junge Union. Politik von oben?<br />
„Das sollen die da drüben machen“, sagt er<br />
mit Blick zu den Jungs von der JU. „Politik<br />
von unten, für die Menschen, die machen<br />
wir.“ Sogar eine Prise Ressentiment<br />
gegen Ausländer wird beigemischt wie seinerzeit<br />
von Oskar Lafontaine: Man müsse<br />
sich „erst mal um die kümmern, die hier<br />
sind, und nicht zuallererst gucken, wen wir<br />
noch alles zu uns holen“.<br />
Die zehn Millionen verlorenen SPD-<br />
Wähler tauchen wieder auf in der Rede. Sie<br />
tauchen immer auf. Das Trauma der SPD.<br />
Angela Merkel? Nicht unsympathisch,<br />
nein, nein, aber „eine sympathische<br />
Anscheinerweckerin“.<br />
Steuererhöhungen? „Nie sexy!“ Aber<br />
hierzulande sei bei manchen der „Steuerspartrieb<br />
ausgeprägter als der Sexualtrieb!“<br />
Die Jungs von der Union können das<br />
eine oder andere Bierchen gebrauchen, als<br />
Gabriel abgerauscht ist. Cool sei der schon.<br />
So einen wie den, das merkt man, hätten<br />
sie auch gerne in NRW, so vom Typ her.<br />
Aber sie haben Armin Laschet. So ist das<br />
Leben.<br />
20 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Illustration: Wieslaw Smetek<br />
Am anderen Ende der Republik, ein<br />
paar Tage später, hat es Gregor Gysi wie<br />
Sigmar Gabriel auch mit der Gleichheit.<br />
Der Hunger in der Welt muss doch abzuschaffen<br />
sein, sagt der Chef der Linken<br />
im Bundestag. „Mindestens mal das muss<br />
doch Politik hinkriegen!“, ruft Gysi von<br />
der Bühne des Platzes am Seepark in Sellin<br />
auf Rügen. Die Sonne knallt ihm auf<br />
die Glatze.<br />
Dietmar Bartsch, Vize der Linksfraktion,<br />
ist nicht ganz zufrieden mit der Örtlichkeit<br />
dieser Station der Ostsee-Tour mit<br />
Gysi: Zu weit weg von der Laufkundschaft,<br />
von der Seebrücke sowieso – zweite Reihe,<br />
ein Asphaltplatz, auf den gut ein abgehalfterter<br />
Zirkus passen würde. Aber die Leute<br />
sind gekommen, trotz Ostsee, trotz sengender<br />
Sonne.<br />
Gysi ist ein fantastischer Angleicher.<br />
Wenn nötig, tänzelt er auch über die Gegensätze<br />
zwischen den Parteien hinweg.<br />
Gerade gleicht er einige grundlegende<br />
Unterschiede der Menschheit an: Ost und<br />
West, Männer und Frauen, Alte und Junge.<br />
Dietmar Bartsch, der Stratege der Linken,<br />
murmelt mit. Das Skript ist von ihm. Er<br />
sagt Gysi, welche Schlager er singen soll.<br />
„Das ist noch das alte Manuskript mit den<br />
alten Zahlen, das sind nicht mehr acht,<br />
sondern neun“, raunt er rüber, als Gysi<br />
zu Details von Branchenregelungen beim<br />
Mindestlohn redet. Bartsch sagt: „Jetzt<br />
kommt gleich der Beifall.“ Gysi beendet<br />
seinen Satz: „Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung.“<br />
Der Beifall breitet sich auf<br />
dem Platz aus. Bartsch guckt wie ein zufriedener<br />
Zirkusdirektor. Geht doch.<br />
Dietmar Bartsch ist einerseits einer der<br />
Strategen der Linken und andererseits in<br />
der Politik über alle Parteigrenzen beliebt.<br />
Der Lieblingslinke. Er hat beste Drähte<br />
zu Sigmar Gabriel. Die beiden schätzen<br />
einander. Bei gebratenem Dorsch in einem<br />
Lokal neben dem Festplatz also die<br />
Frage: Warum hat die SPD bei <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<br />
<strong>Grün</strong> für 2013 die Schotten dichtgemacht,<br />
Herr Bartsch? „Weil die Union erfolgreich<br />
war“, sagt Bartsch trocken, es schwingt sogar<br />
ein gewisser Respekt mit, mindestens<br />
Verständnis für die Vorgehensweise. Die<br />
SPD sei über den Stock gesprungen, den<br />
die Union hingehalten habe, und jetzt sei<br />
der Zug „für dieses Mal“ abgefahren. Er<br />
sehe allenfalls „kreative Lösungen“, aber<br />
die will er nicht mal im Ansatz verraten.<br />
Freimütig redet er dagegen von Veranstaltungen,<br />
die er mit den Kandidaten der<br />
anderen Parteien hier in seiner Heimat absolviert.<br />
Immer wieder ergebe sich ein klarer<br />
thematischer Graben zwischen Union<br />
und FDP auf der einen und den Linken,<br />
der SPD und den <strong>Grün</strong>en auf der anderen<br />
Seite. Und „immer wieder fragen uns die<br />
Leute: Wenn ihr auf dieser Seite so einig<br />
seid, warum macht ihr es nicht zusammen?“<br />
Angela Marquardt fragt sich das<br />
auch. Regelmäßig, systematisch, hauptberuflich.<br />
Ungefähr alle drei Monate versammelt<br />
sie Bundestagsabgeordnete von SPD,<br />
<strong>Grün</strong>en und Linkspartei. Die Runde heißt<br />
r2g. Zweimal <strong>Rot</strong>, einmal <strong>Grün</strong>. Sie treffen<br />
sich gern im „Walden“, einer Kneipe im<br />
Berliner Prenzlauer Berg. Die Fassade des<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 21
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seinem Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist<br />
dann in der Regel am Folgetag erhältlich.<br />
Walden ist komplett mit Efeu zugewachsen,<br />
36 Grad, Marquardt sitzt draußen, ein Bier<br />
dazu. Sie sagt: „Wir waren von Anfang an<br />
ehrlich und offen miteinander.“<br />
Marquardt wurde früher „Gysis Kleene“<br />
genannt. Anfang der Neunziger brauchte<br />
Gysi für seine Partei der alten Säcke jemanden,<br />
der Lebendigkeit verkörperte.<br />
Schwarze Kleidung, gelb-grüne Haare.<br />
Lebendiger als mit einer jungen Frau aus<br />
der Punkszene ging es nicht. Marquardt<br />
tickt schnell, sie redete so frech wie eine<br />
Jugendausgabe von Gysi. Sie wurde stellvertretende<br />
Bundesvorsitzende, kam in den<br />
Bundestag. 2003 trat sie aus, nach einer<br />
Parteitagsniederlage der Reformer.<br />
Ein paar Jahre später – sie hatte inzwischen<br />
ihr Politikstudium abgeschlossen –<br />
wurde Marquardt Mitarbeiterin im Bundestagsbüro<br />
der Sozialdemokratin Andrea<br />
Nahles. Halbe Stelle. 2007 bekam sie eine<br />
weitere halbe Stelle. Linke SPD-Abgeordnete<br />
wie Florian Pronold, Dietmar Nietan<br />
und Nahles hatten eine „Denkfabrik“ gegründet.<br />
Sie suchten sich eine Geschäftsführerin,<br />
die Kontakte zur Linkspartei<br />
hatte. Angela Marquardt. Sie organisierte<br />
2008 das erste Treffen; es war das Jahr, als<br />
Ypsilanti und Koch die Schlacht um Hessen<br />
schlugen. <strong>Rot</strong>-roter Freundeskreis? Die<br />
alten SPD-Chefs tobten. Marquardt lud<br />
Leute aus ihrer früheren Partei ein, denen<br />
sie vertraute: Halina Wawzyniak, Jan Korte,<br />
Stefan Liebich. Von der SPD kamen die<br />
Leute aus der Denkfabrik.<br />
Sie saßen zusammen und tranken<br />
Wein, später kamen <strong>Grün</strong>e dazu. Es gibt<br />
Ähnlichkeiten mit der schwarz-grünen<br />
Pizza-Connection, jener Runde junger<br />
Christdemokraten und <strong>Grün</strong>er, die sich<br />
in den Neunzigern in Bonn bei einem Italiener<br />
trafen. Auch im „Walden“ half das<br />
Alter: Die meisten waren damals unter 40.<br />
„Wir mussten nicht mehr über die Mauer<br />
diskutieren“, sagt Marquardt.<br />
2010 luden sie sogar zum rot-rot-grünen<br />
Sommerfest in Berlin-Mitte. Am Eingang<br />
lag ein rot-rot-grüner Teppich bereit.<br />
Aber die Gäste kamen und kamen<br />
nicht. An jenem Abend tagte die Bundesversammlung,<br />
ein Abstimmungsmarathon:<br />
Schwarz-Gelb für Christian Wulff, <strong>Rot</strong>-<br />
<strong>Grün</strong> für Joachim Gauck und die Linke<br />
für Luc Jochimsen, ihre Außenseiterkandidatin<br />
zur Wahl des Staatsoberhaupts. Marquardt<br />
wartete mit den Gästen von Attac,<br />
22 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Illustration: Wieslaw Smetek<br />
von Greenpeace. Doch als endlich die ersten<br />
Politiker aus dem Reichstag kamen,<br />
war klar: <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> hat nichts zu feiern,<br />
wenn die Beteiligten sich nicht mal<br />
auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten<br />
einigen.<br />
Marquardt hat weitergearbeitet. Veranstaltungen,<br />
eine Wochenendklausur in<br />
Brandenburg mit Professoren und dem<br />
Journalisten Jakob Augstein. Zu einem<br />
Abend lud sie sogar den Stasi-Akten-Beauftragten<br />
Roland Jahn ein. Empfindlichkeiten,<br />
Gemeinsamkeiten. Die Idee: r2g<br />
soll der Nukleus sein für den Tag x, wenn<br />
es doch klappt mit dem Bündnis.<br />
2013? „Nein. Eine rechnerische Mehrheit<br />
bedeutet noch lange keinen Wählerauftrag.“<br />
Marquardt ist ja nicht doof, sie<br />
kennt die Sprachregelung ihrer neuen Partei.<br />
Was ist mit 2017? Sie überlegt kurz,<br />
dann legt sie los. „Wir sind nicht mehr im<br />
Kalten Krieg. Ich bin nicht die Generation<br />
von Lafontaine und Müntefering. Ich bin<br />
nicht 70. Ich will eine politische Perspektive,<br />
die Gesellschaft verändert.“<br />
Es ist tatsächlich so: Die Zeit läuft für<br />
ein Linksbündnis. Sigmar Gabriel wird diesen<br />
September erst 54 Jahre alt. Und Träger<br />
von <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> könnten vor allem<br />
Jungpolitiker sein.<br />
Der grüne Bundestagsabgeordnete<br />
Sven-Christian Kindler ist so einer. Er<br />
wirkt äußerlich wie das Gegenteil des<br />
klassischen Altlinken mit Sandalen und<br />
Ströbele-Pulli. Smarter Auftritt, blau-weiß<br />
gestreiftes Hemd. Vermutlich stellen sich<br />
viele CDU-Kreisvorsitzende so den perfekten<br />
Schwiegersohn vor. Gerade hat er<br />
mit seiner Freundin eine Küche für die<br />
Wohnung in Hannover ausgesucht. Hannover<br />
ist sein Wahlkreis, jetzt bestellt er<br />
eine Rhabarbersaftschorle im „Café Safran“<br />
in der Calenberger Neustadt. In diesem<br />
Viertel bekamen die <strong>Grün</strong>en bei der<br />
Landtagswahl im Januar 30 Prozent. In<br />
den rot-grünen Koalitionsgesprächen gehörte<br />
Kindler zu den Unterhändlern der<br />
<strong>Grün</strong>en, bis in die Nacht ging das, er hat<br />
die Dinge kalkuliert und durchgeprüft.<br />
Denn rechnen, das kann er: duales Studium<br />
zum Betriebswirt, Controlling bei<br />
Bosch. Im Haushaltsausschuss des Bundestags<br />
lässt er sich von den Staatssekretären<br />
und Ministern die Budgetposten<br />
vortragen. Excel, SAP – und sehr links.<br />
Kostprobe? „Primat des Öffentlichen über<br />
die Wirtschaft, Umverteilung des Reichtums,<br />
sozial-ökologischer Umbau: Ich bin<br />
bei den <strong>Grün</strong>en, weil sie eine emanzipatorische<br />
linke Partei sind.“ Auch Kindler gehört<br />
zur r2g-Connection. Schwarz-<strong>Grün</strong>?<br />
„Funktioniert nicht“ – er sagt das, als wäre<br />
es das Ergebnis einer Matheaufgabe.<br />
Den rot-rot-grünen Nachwuchs verbinden<br />
gemeinsame Erlebnisse. Sie haben<br />
in Heiligendamm gegen den G-8-Gipfel<br />
protestiert, in Dresden gegen Naziaufmärsche<br />
demonstriert und im Wendland<br />
den Castor blockiert. „Wir wollen eben<br />
die Welt verbessern“, sagt Kindler. „In<br />
den nächsten Wochen kämpfen wir für<br />
starke <strong>Grün</strong>e und den Regierungswechsel<br />
mit <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>. Ich bin zuversichtlich, dass<br />
wir das schaffen. Die Diskussionen über<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 23
T i t e l<br />
strategische Mitte-Links-Projekte – auch<br />
in einer Dreierkonstellation – werden aber<br />
weitergehen.“<br />
<strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> betreiben beim <strong>Grün</strong>en-Nachwuchs<br />
nicht nur Parteilinke, sondern<br />
auch Realos wie die Bundestagsabgeordnete<br />
Nicole Maisch oder Malte Spitz,<br />
Mitglied des Bundesvorstands. Kommt es<br />
zu einem Links-Bündnis, könnten junge<br />
<strong>Grün</strong>e dieses Typs entscheidend sein: als<br />
Detailarbeiter und Organisierer. Wenn eine<br />
Regierung nicht im Chaos landen soll, helfen<br />
Tabellenkalkulationen mehr als Talkshow-Stanzen<br />
und Ticker-Erfolge.<br />
Regieren, das ist ein täglich neu erarbeiteter<br />
Kompromiss. Die Linke aber ist durch<br />
Kompromisslosigkeit groß geworden. Vor<br />
allem in der Außen- und Sicherheitspolitik.<br />
„Die Hürde heißt Nato“, sagt Niels Annen.<br />
„Da geht im Moment nichts.“<br />
Eben hat er auf der Straße eine Frau<br />
begrüßt: seine Konkurrentin von der Linken<br />
im Wahlkreis Hamburg-Eimsbüttel.<br />
„Moin“, hat er nett gerufen und hinterher<br />
gesagt: „Die ist schon okay.“ Annen arbeitet<br />
an seinem Comeback für den Bundestag.<br />
2009 hat ihn die eigene Partei bei<br />
der Nominierung abgeschossen. Er blieb<br />
im Bundesvorstand, schloss sein Studium<br />
ab und machte in Washington noch einen<br />
Master in International Public Policy,<br />
die Außenpolitik war auch im Bundestag<br />
sein Feld. Damals im Parlament störte<br />
ihn, dass viele in der SPD auf die Linke<br />
aggressiver reagierten als auf CDU, CSU<br />
und FDP. Er fand das dumm. „Die Linken<br />
durften die Märtyrer spielen“, sagt er.<br />
„Die Ausgrenzung hat nicht uns gestärkt,<br />
sondern die.“ Er redete mit den Linken.<br />
Er habe – Arbeitersohn – die gemeinsamen<br />
Wurzeln in der Sozialpolitik gesehen.<br />
„Verliebt in <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> war ich nie“,<br />
schiebt er schnell hinterher, immerhin ist<br />
ja Wahlkampf. Aber „prinzipiell und langfristig<br />
gilt schon: Je mehr Optionen, desto<br />
stärker die Partei“.<br />
Das Parteiprogramm der Linken verlangt<br />
die Auflösung der Nato. Deutschland<br />
solle aus den militärischen Strukturen des<br />
Bündnisses austreten. Kampfeinsätze: nein.<br />
Mit UN-Mandat: auch nicht. Annen hat<br />
sich mit den Forderungen beschäftigt. Er<br />
denkt nicht, dass die Linke so leicht davon<br />
runterkommt. Bis zum Kosovo-Krieg<br />
mussten SPD und <strong>Grün</strong>e erst einen Weg<br />
zurücklegen. Die SPD führte damals eine<br />
Und die Nato?<br />
Die Linke<br />
will sie doch<br />
auflösen. „Wir<br />
sind auch<br />
Realisten“, sagt<br />
Gregor Gysi<br />
Debatte, Schritt für Schritt. Die <strong>Grün</strong>en<br />
hatten in Joschka Fischer einen starken<br />
Anführer, der seinen Kurs brachial durchzusetzen<br />
vermochte. Beides sieht Annen<br />
bei den Linken nicht. Im Gegenteil: Die<br />
harte Linie in der Außenpolitik sei Alleinstellungsmerkmal<br />
– und der Kitt, der die<br />
zerstrittene Partei zusammenhält.<br />
Oder geht da doch was mit der Nato?<br />
„Dass wir das nicht durchgesetzt bekommen,<br />
wissen wir“, hat Gysi neulich im ZDF<br />
über die von seiner Partei geforderte Auflösung<br />
des Verteidigungsbündnisses gesagt.<br />
„Wir sind doch auch Realisten.“ Im Zusammenhang<br />
mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr<br />
sprach er in diesem Interview nur<br />
noch von „Kampfeinsätzen“, die die Linke<br />
nicht mitmachen könne. Ein feiner Unterschied<br />
– und ein Schritt auf die SPD zu.<br />
Gysi wieder, der Meister des Angleichens.<br />
Ob die Linkspartei in außen- und sicherheitspolitischen<br />
Fragen hart bleibt,<br />
wird stark davon abhängen, wie ihre<br />
nächste Bundestagsfraktion aussieht. Wegen<br />
des neuen Wahlrechts kann man kaum<br />
vorhersagen, wie viele ostdeutsche Reformer<br />
und wie viele Hardcore-Linke aus dem<br />
Westen ins Parlament einziehen werden.<br />
Doch erst einmal steht der 22. September<br />
bevor, der Abend der Balkendiagramme.<br />
Der rote Balken der Sozialdemokraten<br />
könnte mickrig werden. Andrea<br />
Nahles leitet offiziell als Generalsekretärin<br />
die Wahlkampagne. Sie ist Sigmar Gabriels<br />
große Hoffnung. Steinbrück wird sich<br />
nach einer Niederlage ins Private verabschieden.<br />
Irgendjemand muss den Parteivorsitzenden<br />
Gabriel vor der Wucht des<br />
Scheiterns schützen. Nahles ist als Prellbock<br />
vorgesehen. Das ist die Voraussetzung<br />
für den Plan des Sigmar Gabriel. Er<br />
braucht Schuldige, um bleiben zu können.<br />
Obwohl er selbst den Kandidaten gekürt<br />
hat. Steinbrück ist sein Kandidat. Das ist<br />
das Lindenblatt auf Gabriels Schulter, da<br />
ist er verwundbar.<br />
Nahles hat in der Partei mehr Freunde<br />
und Verbündete als Gabriel. Zu viele sind<br />
Opfer oder jedenfalls persönlich Leidtragende<br />
seiner notorischen Unzuverlässigkeit<br />
geworden. Jeder hat so sein eigenes aussagekräftiges<br />
und bitteres Sigmar-Erlebnis.<br />
Bleiben noch die beiden Landeschefs<br />
Olaf Scholz in Hamburg und vor allem<br />
Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen.<br />
Die könnte ihre Landtagswahl im Mai<br />
2017 zu einer Vorwahl machen. Gerhard<br />
Schröder hat 1997 bekanntlich die Landtagswahl<br />
in Niedersachsen genutzt, um<br />
sich als Kanzlerkandidat gegen Oskar Lafontaine<br />
durchzusetzen.<br />
Die kitzligen Wochen und Monate für<br />
Gabriel rücken näher. Hopp oder topp.<br />
Kraft darf nicht angreifen, Scholz auch<br />
nicht, Nahles darf nicht putschen. Dann<br />
wäre der Weg frei für Gabriel. Für seinen<br />
Weg zu <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>. Für seine Option.<br />
Es wäre die Vollendung des Weges, den<br />
er seit seiner Wahl zum Parteichef vor vier<br />
Jahren geht. In das Gabriel-Puzzle passt das<br />
gültige Grundsatzprogramm von 2007, in<br />
dem immer noch dieser Satz steht: „Der<br />
demokratische Sozialismus bleibt für uns<br />
die Vision einer freien, gerechten und solidarischen<br />
Gesellschaft, deren Verwirklichung<br />
für uns eine dauernde Aufgabe ist.“<br />
So würde das heute wohl nicht mal<br />
mehr Dietmar Bartsch beim Bratdorsch<br />
formulieren.<br />
Georg Löwisch<br />
ist Textchef von <strong>Cicero</strong><br />
Christoph Schwennicke<br />
ist Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />
Fotos: Andrej Dallmann (2)<br />
24 <strong>Cicero</strong> 9.2013
„Regieren ist immer besser“<br />
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig über<br />
Koalitionsfragen, Klingelknöpfe und Steinbrücks Korsett<br />
Illustration: Wieslaw Smetek<br />
H<br />
err Albig, Sie sind immer in der<br />
Regierung gewesen: Ministeriumssprecher<br />
von Oskar Lafontaine,<br />
Hans Eichel und Peer Steinbrück,<br />
Oberbürgermeister von Kiel und heute<br />
Ministerpräsident von Schleswig-Holstein.<br />
Was haben Sie gegen Opposition?<br />
Regieren ist immer besser. Da bist du auf<br />
der Welle und nicht hinter ihr. Ich will<br />
gestalten und nicht nur über das meckern,<br />
was andere machen. Das überlasse<br />
ich gern der CDU.<br />
Wie will es die SPD denn überhaupt in die<br />
Bundesregierung schaffen?<br />
Mit <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>. Das ist nicht leicht, aber<br />
es kann klappen. Wenn Schwarz-Gelb<br />
zusammen zum Beispiel 43 Prozent hat,<br />
brauchen wir halt 44. Dann wird’s spannend.<br />
Viel hängt davon ab, wer sonst<br />
noch im Parlament ist. Wir sind in<br />
Schleswig-Holstein knapp ins Ziel gerauscht,<br />
<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> in Niedersachsen<br />
ebenfalls. Wir können uns das im Wahlkampf<br />
erkämpfen, von Haus zu Haus.<br />
Soll Ihre Partei an der Haustür zurückholen,<br />
was in den Medien schiefläuft?<br />
Meine Erfahrungen machen mich sicher,<br />
dass man an der Haustür Wahlen gewinnen<br />
kann. Ganz altmodisch. Man muss<br />
so vielen Menschen wie möglich die Gelegenheit<br />
geben, uns noch einmal neu<br />
kennenzulernen. Ob das reicht, um die<br />
mediale Lage – die ist, wie sie ist – auszugleichen,<br />
werden wir sehen. Aber der Berliner<br />
Journalismus überschätzt seine Wirkung<br />
in Husum oder Trappenkamp. In<br />
Berlin werden Dinge heiß diskutiert, von<br />
denen hört man in Trappenkamp nie.<br />
Ist in Trappenkamp der Fernsehempfang<br />
gestört?<br />
Der Fernsehempfang in Trappenkamp<br />
ist ausgezeichnet. Aber die Menschen haben<br />
dort auch noch was anderes zu tun,<br />
als Berliner Pressemappen zu lesen. Die<br />
Leute arbeiten, denken über ihr eigenes<br />
Leben nach. Und über Leute, die real vor<br />
ihnen stehen. Vertrauen, Wertschätzung –<br />
das braucht Kontakt. Wir unterschätzen<br />
heute die Bedeutung der uralten 1.0-Welt.<br />
Was empfehlen Sie Ihrer Partei?<br />
Hintern hoch, Wahlkampf machen –<br />
und zwar wir alle. Klingelknopf, Tür auf,<br />
und die Geschichte erzählen, an die du<br />
glaubst. Warum wir es besser können.<br />
Was ist, wenn es völlig überraschend nicht<br />
reicht zur Mehrheit von SPD und <strong>Grün</strong>en?<br />
Ich finde: Wir sollten im Bund regieren.<br />
Wir haben ein sehr klares Ziel: <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>.<br />
Wenn wir es verpassen, suchen wir nach<br />
anderen Varianten. Das kann auch eine<br />
Große Koalition sein – auch wenn sie<br />
wahrlich keiner herbeisehnt und ich bis<br />
18 Uhr am 22. September für <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong><br />
kämpfe.<br />
Dann regiert Merkel die SPD wieder runter.<br />
Wir hätten eine andere Situation. Wenn<br />
es auf 2017 zuginge, wäre Merkel schon<br />
ziemlich lange da. Hinter ihr ist in der<br />
Union gar nichts. Ist sie weg, wird das<br />
überdeutlich. In dem Moment muss<br />
die SPD in einer guten Ausgangssituation<br />
sein. Sie hat in den sechziger Jahren<br />
schon einmal bewiesen, dass sie die<br />
Union dann überholen kann.<br />
Sigmar Gabriel in der Rolle des Willy<br />
Brandt? Sie machen Witze.<br />
Wer dann welche Rolle übernimmt, ist<br />
doch jetzt nicht die Frage. Wir haben<br />
genug gute Frauen und Männer. Das<br />
primäre Wahlziel ist <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>. Daran<br />
glaube ich – dafür kämpfe ich. Es<br />
würde uns aber nicht helfen, wenn wir<br />
sagen: Kommt <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> nicht, sind wir<br />
so beleidigt, dass wir in die Opposition<br />
gehen.<br />
Ist <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> auch eine Option?<br />
Nein. <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> ist momentan keine<br />
Alternative. Die Linkspartei hat kein Personal,<br />
mit dem man allen Ernstes auf<br />
Bundesebene regieren möchte.<br />
Vor einem Jahr haben Sie Peer Steinbrück<br />
von der Kanzlerkandidatur abgeraten.<br />
Fühlen Sie sich bestätigt?<br />
Darum geht es doch nicht. Ich habe damals<br />
gesagt: Peer, lad dir das doch nicht<br />
auf, du hast genug geleistet. Aber er<br />
wollte das. Und das war gut so. Er ist der<br />
bessere Kanzler für unser Land. Jetzt erbringt<br />
er für uns einen wahnsinnigen<br />
Kraftakt. Das Amt ist eines der härtesten<br />
der Welt. Es zwängt einen Politiker in ein<br />
Korsett. Wir alle in der SPD haben ihn<br />
jetzt verdammt noch mal jeden Augenblick<br />
zu unterstützen, damit wir endlich<br />
wieder einen guten Kanzler haben.<br />
Haben die Berliner Medien Steinbrück<br />
kleingeschrieben?<br />
Sie verhalten sich wie immer. Sie sind opportunistisch<br />
und laufen der Stärke hinterher.<br />
Zeigt Angela Merkel irgendwann<br />
Schwäche, wird über sie auch anders geschrieben<br />
werden. Das geht ganz schnell.<br />
Das sind halt die Medien in Berlin. Aber<br />
das darf einen nicht überraschen, dass<br />
man gleich in Tränen ausbricht. Wenn<br />
man stolpert, heißt es aufstehen, Mund<br />
abwischen, weitergehen. Das geht leichter,<br />
wenn man dabei von vielen gestützt<br />
wird. Das ist jetzt unsere Aufgabe.<br />
Das Gespräch führte Georg Löwisch<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 25
T i t e l<br />
Die Angstkultur<br />
Der autoritäre Wettbewerbsstaat gedeiht. Es sind Reformen nötig, denen sich SPD und<br />
<strong>Grün</strong>e nicht entziehen dürfen. Eine Gesellschaft ohne Angst braucht Parteien mit Mut<br />
von Katja Kipping<br />
F<br />
arbenspiele und Arithmetik bestimmen<br />
die Wahlberichterstattung.<br />
Die Fragen der Journalisten<br />
und Journalistinnen drehen<br />
sich um Mehrheiten und Konstellationen,<br />
aber selten um Programmatisches<br />
oder gar um die grundlegenden Vorstellungen<br />
darüber, wie wir leben wollen.<br />
Inhalte spielen allenfalls als Bedingung<br />
eine Rolle, unter denen die Linke einem<br />
sozialdemokratischen Kanzler ins Amt verhelfen<br />
könnte.<br />
Und diese Bedingungen sind schnell<br />
benannt: flächendeckender gesetzlicher<br />
Mindestlohn von zehn Euro, eine Rente,<br />
die sicher vor Armut schützt, die Abschaffung<br />
des repressiven Hartz-IV-Sanktionsregimes,<br />
eine couragierte Besteuerung<br />
der Millionäre und der Stopp von Rüstungsexporten<br />
sowie eine friedliche und<br />
gewaltfreie Außenpolitik. Diese Forderungen<br />
sind – seien wir ehrlich – noch nicht<br />
einmal besonders radikal. Sie formulieren<br />
die Selbstverständlichkeiten einer solidarischen<br />
Gesellschaft. Gerade weil das so<br />
ist, stellt sich aber umso drängender die<br />
Frage, warum SPD und <strong>Grün</strong>e sich offenbar<br />
einem solchen Politikwechsel hin zu<br />
einer solidarischen Gesellschaft 2013 entziehen<br />
wollen.<br />
Um diese Frage zu beantworten, muss<br />
ich etwas ausholen: Der finanzmarktgetriebene<br />
Kapitalismus greift soziale Rechte sowie<br />
die ökologischen Lebensgrundlagen<br />
an. Die zunehmende Prekarisierung der<br />
Lebens- und Arbeitswelt in diesem Land<br />
hat verschiedene Gesichter: Stress im Job,<br />
das Gefühl, in immer kürzerer Zeit immer<br />
mehr schaffen zu müssen, Angst vorm Verlust<br />
des Arbeitsplatzes – und sei er noch<br />
so schlecht bezahlt –, Angst vor Hartz-IV-<br />
Sanktionen, das Gefühl, als Erwerbslose<br />
auf dem Amt nicht als Bürgerin zu gelten.<br />
Wir erleben, wie verschiedene Gruppen<br />
gegeneinander ausgespielt werden: der<br />
Arbeiter der Stammbelegschaft gegen die<br />
Leiharbeiterin, die Verkäuferin mit Dumpinglohn<br />
gegen den Erwerbslosen oder der<br />
Migrant gegen die „Deutsche“. Eine Angstkultur<br />
breitet sich aus – in Jobcentern wie<br />
in Betrieben.<br />
Auch Kinder erleben den Druck bereits<br />
in der Schule. So beklagen Eltern, dass G 8<br />
ihren Kindern die Kindheit nimmt. Die<br />
Zunahme des Niedriglohnsektors führt<br />
bei unvorhergesehenen Ausgaben schnell<br />
in die private Verschuldungsfalle zum<br />
Beispiel durch steigende Energiekosten.<br />
Selbst für Menschen mit durchschnittlichem<br />
Einkommen wird ein Zahnimplantat<br />
Illustration: Wieslaw Smetek; Foto: Picture Alliance/DPA<br />
26 <strong>Cicero</strong> 9.2013
unerschwinglich, während Menschen, die<br />
Hartz IV beziehen, sich erst gar keine neue<br />
Brille mehr leisten können. Für junge Solo-<br />
Selbstständige wiederum kann eine fehlende<br />
Kindertagesstätte existenzbedrohend<br />
werden.<br />
Diese Entwicklungen sind nicht<br />
nur – aber eben auch – eine Folge der<br />
Logik der Austeritätspolitik. Sie hat zur<br />
Agenda-2010-Politik in Deutschland geführt,<br />
die zum letzten großen Exportschlager<br />
Deutschlands werden<br />
könnte. Dort, wo die Löhne<br />
und Renten am niedrigsten<br />
und die Sozialsysteme am<br />
durchlässigsten sind, würde<br />
die Wirtschaft am besten gedeihen,<br />
so lautet das längst<br />
widerlegte Mantra. In Griechenland,<br />
Spanien und Portugal<br />
bekommen wir eine Ahnung,<br />
wohin der verordnete<br />
Dumpingwettlauf führt. Diese Austeritätspolitik,<br />
die Merkel mit Unterstützung von<br />
SPD und <strong>Grün</strong>en Europa aufzwingt, droht<br />
sowohl die deutschen Absatzmärkte in Europa<br />
kollabieren zu lassen als auch die Europäische<br />
Union zu unterhöhlen. Diese Entwicklung<br />
ist gefährlich für die Demokratie:<br />
Wo sich eine Kultur der Angst entwickelt,<br />
kann sich der Citoyen nicht entfalten. Dort<br />
gedeiht der autoritäre Wettbewerbsstaat.<br />
Wenn wir eine solidarische Gesellschaft<br />
in Deutschland und in Europa wollen,<br />
müssen aber die drängendsten Fragen<br />
grundsätzlich neu verhandelt werden. Wollen<br />
wir die Austeritätspolitik, also letztlich<br />
den Kurs der Sozial- und Lohnkürzungen,<br />
fortsetzen oder wollen wir das Öffentliche<br />
stärken? Wie gehen wir mit den Folgen der<br />
Bankenkrise 2008 um? Bürden wir diese<br />
Last den Staaten und ihren Bürgerinnen<br />
SPD und<br />
<strong>Grün</strong>e ergehen<br />
sich in<br />
kindischen<br />
Abgrenzungsritualen<br />
und Bürgern auf oder sollen die Banken<br />
als Profiteure zur Verantwortung gezogen<br />
werden?<br />
Wollen wir Einkommensgerechtigkeit<br />
befördern, indem wir einen 1:20-Einkommenskorridor<br />
in Unternehmen mit Mindest-<br />
und Höchsteinkommen einführen?<br />
Wollen wir, dass Menschen ab 65 von ihrer<br />
Rente gut leben können oder dass sie noch<br />
im hohen Alter gezwungen sind, dazuzuverdienen<br />
oder sogar Flaschen zu sammeln?<br />
Wollen wir eine Zweiklassenmedizin<br />
oder eine solidarische<br />
Bürgerversicherung?<br />
Wollen wir unterschiedliche<br />
Lebensverhältnisse in Ostund<br />
West-, in Nord- und<br />
Süddeutschland oder halten<br />
wir am Grundsatz der<br />
gleichen Lebensverhältnisse<br />
fest? Wollen wir eine bezahlbare<br />
Energiewende oder<br />
überlassen wir sie den Profitinteressen von<br />
vier Energieunternehmen? Wollen wir mit<br />
dem Export von Kriegsgütern Geld verdienen<br />
oder verzichten wir auf den Handel<br />
mit dem Tod? Sehen wir der zunehmenden<br />
Angstkultur tatenlos zu oder engagieren wir<br />
uns für eine angstfreie Gesellschaft, indem<br />
wir zum Beispiel eine sanktionsfreie Mindestsicherung<br />
einführen und die Ausbeutung<br />
durch Leiharbeit abschaffen?<br />
Gefangen in den Paradigmen der Austeritätspolitik<br />
können weder SPD noch<br />
<strong>Grün</strong>e sich diesen Fragen unvoreingenommen<br />
zuwenden. Sie stehen sich selbst<br />
im Weg. Deshalb sind sie selbst und nicht<br />
die „Vermutung vieler Menschen, dass es<br />
egal ist, ob man wählen geht oder nicht“,<br />
der größte Gegner der SPD, wie Sigmar<br />
Gabriel auf seiner Facebook-Seite vermutet.<br />
Wer sein im Vergleich zu vergangenen<br />
Jahren sozialeres Programm vom Architekten<br />
der Agenda 2010 verkaufen lässt und<br />
keine glaubhafte machtpolitische Alternative<br />
anbietet, muss sich nicht wundern,<br />
dass die Menschen die Auseinandersetzung<br />
zwischen Schwarz-Gelb und <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> als<br />
Farce empfinden.<br />
Hätten SPD und <strong>Grün</strong>e aber Mut,<br />
könnten sie mit den Glaubenssätzen der<br />
Austeritätspolitik brechen und die Auseinandersetzung<br />
gegen mächtige Lobbyinteressen<br />
um eine Gesellschaft ohne Angst<br />
annehmen. Sie könnten gemeinsam mit<br />
uns, den Gewerkschaften und den sozialen<br />
Bewegungen die grundlegenden Sozialreformen<br />
anstreben, die dafür nötig sind.<br />
Stattdessen ergehen sie sich in kindischen<br />
Abgrenzungsritualen. Eine Regierungskoalition<br />
können sie sich eher mit der Union<br />
oder gar mit der FDP als mit uns vorstellen.<br />
Damit ist eigentlich alles gesagt.<br />
So verbleibt es der Linken, wirkliche<br />
Alternativen sichtbar zu machen. Einige<br />
davon wurden inzwischen von anderen<br />
Parteien übernommen, zum Beispiel der<br />
Mindestlohn, die Finanzmarkttransaktionssteuer<br />
oder die Abschaffung der Praxisgebühr.<br />
So wirkt die Linke nicht nur<br />
als soziale Ideenwerkstatt, die Druck für<br />
soziale Reformen macht, sondern auch<br />
als Garantin der Demokratie, indem sie<br />
der Entpolitisierung durch die Konstruktion<br />
vermeintlicher Sachzwänge entgegenwirkt.<br />
Denn nur wo Alternativen zur Auswahl<br />
stehen, wird die Wahl zur Wahl und<br />
verkommt nicht zum Ritual.<br />
Katja Kipping<br />
ist Vorsitzende der Linken<br />
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Die Geschichte eines scheinbar genügsamen Lebens,<br />
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T i t e l<br />
<strong>Grün</strong> muss sozial sein<br />
Nachhaltigkeit als Lifestyle reicht nicht. Die Gesellschaft muss nicht nur ökologischer<br />
werden, sondern zugleich gerechter. Wir sollten extrem viel verändern<br />
von Jürgen Trittin<br />
M<br />
anche sind überrascht, dass<br />
die <strong>Grün</strong>en den Kampf für<br />
mehr soziale Gerechtigkeit<br />
in diesem Wahlkampf so<br />
stark thematisieren, etwa bei<br />
Mindestlöhnen und Leiharbeit oder bei der<br />
stärkeren Beteiligung Vermögender und<br />
Gutverdienender an der Finanzierung unseres<br />
Gemeinwesens. Die vielen Klischees<br />
über die Partei der Besserverdienenden<br />
oder angebliche Lebensstilpolitik zur Gewissensberuhigung<br />
für Privilegierte haben<br />
eines vergessen lassen: Es gab von Anfang<br />
an einen engen Zusammenhang zwischen<br />
der sozialen und der ökologischen Dimension<br />
grüner Politik.<br />
Das betrifft zum einen die Auswirkungen<br />
ökologischer Schäden. Von den besonders<br />
gravierenden menschengemachten<br />
Veränderungen – wie dem Klimawandel,<br />
der schrumpfenden Biodiversität, der Zerstörung<br />
der Böden und der Übernutzung<br />
der Ressourcen – sind zwar alle Menschen<br />
betroffen, aber eben nicht gleich stark. Ärmere<br />
und Schwächere trifft es in der Regel<br />
härter als Reichere und Stärkere.<br />
Das gilt international: Der Klimawandel<br />
verursacht schon heute in vielen armen<br />
Ländern der Südhalbkugel Konflikte um<br />
Ressourcen und Schäden durch Extremwetter.<br />
Aber das gilt auch national, denn<br />
von Feinstaub und Verkehrslärm sind die<br />
Wohngebiete der Reichen seltener und weniger<br />
betroffen. Und viele Umweltschäden<br />
treffen Generationen, die nichts mit<br />
den Ursachen zu tun hatten. Es geht bei<br />
Illustration: Wieslaw Smetek; Foto: Picture Alliance/DPA<br />
28 <strong>Cicero</strong> 9.2013
ökologischen Fragen nicht um einen Lebensstil<br />
oder um Geschmacksfragen. Es<br />
geht um die materiellen Grundlagen unseres<br />
Lebens, um Atemluft, Nahrungsmittel,<br />
Bewegungsfreiheit, Gesundheit und<br />
um die gerechte Verteilung lebenswichtiger<br />
Ressourcen. In dieser Betrachtungsweise,<br />
einer Art ökologischem Materialismus,<br />
sind gerechte und nachhaltige Politik<br />
nicht voneinander zu trennen.<br />
Ein weiterer Zusammenhang ist eher<br />
instrumentell. Um eine nachhaltige Wirtschaftsweise<br />
zu erreichen, müssen wir extrem<br />
viel verändern. Wir müssen als Gesellschaft<br />
unsere Energieerzeugung, unseren<br />
Verkehr, unsere Chemieindustrie und den<br />
Maschinenbau, unsere Ressourcenverwendung<br />
und -verschwendung drastisch umgestalten.<br />
Dieser Umbau hat in Deutschland<br />
und vielen anderen Ländern der Welt gerade<br />
erst begonnen, der Weg<br />
ist noch weit.<br />
Der grüne Wandel ist ein<br />
wichtiges und historisches<br />
Menschheitsprojekt, das begeistern<br />
kann. Er bringt viele<br />
soziale Vorteile mit sich: Gerade<br />
Menschen mit geringen<br />
Einkommen profitieren davon,<br />
wenn wir unseren Strom<br />
oder unsere Wärme unabhängig<br />
machen von immer<br />
teurer werdenden fossilen<br />
Brennstoffen. Und der ökologische<br />
Wandel schafft neue<br />
Arbeitsplätze und sichert damit<br />
auch Wohlstand und sozialen<br />
Zusammenhalt. Aber: Der Wandel<br />
verlangt den Menschen auch einiges ab.<br />
Umbau heißt Aufbau und Abbau. Viele<br />
müssen sich umstellen, auf neue Technologien<br />
und Verhaltensweisen einstellen.<br />
Dieser Wandel kann nur gelingen, wenn<br />
er breiten Rückhalt in der Bevölkerung hat.<br />
Und den hat er nur, wenn es dabei gerecht<br />
zugeht. Kosten, Lasten und Chancen müssen<br />
gerecht verteilt und verhandelt werden.<br />
Sonst findet der ökologische Umbau keine<br />
Akzeptanz.<br />
Schließlich ergibt sich ein Zusammenhang<br />
aus sozialer Gerechtigkeit und Ökologie<br />
aus der Entwicklungstendenz sehr ungleicher<br />
Gesellschaften. Der Kapitalismus<br />
kann als Wohlstandsmaschine wirken, tendiert<br />
aber zu einer sehr ungleichen Verteilung<br />
des Wohlstands. Seine Vermählung<br />
Weil grüne<br />
Politik sozial<br />
orientiert<br />
ist, passt sie<br />
schlecht zu<br />
konservativmarktliberalen<br />
Parteien<br />
mit der Demokratie und ihren Teilhabeansprüchen<br />
aller Bürgerinnen und Bürger<br />
ist immer spannungsvoll gewesen, wie<br />
der Wirtschaftssoziologe Wolfgang Streeck<br />
in seinem aktuellen Buch „Gekaufte Zeit“<br />
treffend analysiert hat.<br />
Der Kapitalismus steuert Gesellschaften<br />
über Markt, Preissignale und Gewinnmotiv,<br />
die Demokratie über Debatte, Institutionen<br />
und Gesetzgebung. Markt<br />
erzeugt Wohlstand, aber auch Gewinner<br />
und Verlierer, Macht und Ungleichheit.<br />
Demokratie verspricht dagegen die<br />
universale Teilhabe aller und stärkt egalitäre<br />
Tendenzen. Über mehrere Jahrzehnte<br />
konnte die Spannung nur durch Hilfsmittel<br />
aufgelöst werden, die das Problem in<br />
die Zukunft verschoben: Inflation, Schulden,<br />
Wachstum. Der Staat konnte gegenüber<br />
dem Markt universale Teilhabe nicht<br />
ausreichend über Steuern und öffentliche<br />
Güter durchsetzen, half sich<br />
also gelegentlich über Inflation<br />
und regelmäßig über<br />
Verschuldung. Diese beiden<br />
Wege sind nicht nachhaltig,<br />
und ihre langfristigen Auswirkungen<br />
sind ebenfalls<br />
ungerecht.<br />
Umstritten ist heute die<br />
Wachstumsperspektive. Sie<br />
erzeugt Akzeptanz für hohe<br />
Ungleichheit durch das Versprechen<br />
auf zukünftige Teilhabe.<br />
Dieses Versprechen<br />
wird noch geglaubt – ist<br />
aber immer hohler geworden.<br />
Die ungleiche Verteilung<br />
von Wohlstand und Chancen durch<br />
ein Marktergebnis, das auf Gerechtigkeit<br />
nicht achtet und nicht achten kann, wurde<br />
jahrzehntelang akzeptiert, da es in Zukunft<br />
für alle aufwärtsgehen sollte. Diese Perspektive<br />
aber wird heute durch ökologische<br />
Grenzen und das hohe Entwicklungsniveau<br />
vieler westlicher Gesellschaften eingeschränkt.<br />
Seit Jahrzehnten sinken die<br />
Wachstumsraten in den entwickelten kapitalistischen<br />
Staaten – ganz ohne Eingriffe<br />
grüner Wachstumskritiker.<br />
Aufgrund der strukturellen Wachstumsabhängigkeit<br />
unserer Gesellschaften<br />
ist Politik immer wieder in der Versuchung,<br />
Wachstum künstlich zu erzeugen, obwohl<br />
die Instrumente ökologisch schädlich sind<br />
und die Effekte keinen echten Gewinn an<br />
Wohlstand und Lebensqualität bieten. Ein<br />
schlechtes Beispiel: die Abwrackprämie<br />
für Altautos ohne jede ökologische Steuerungskomponente.<br />
Eine gleichmäßigere<br />
Verteilung des gesellschaftlich produzierten<br />
Wohlstands ist nicht nur in sich gerechter,<br />
sie mindert auch den Wachstumsdruck<br />
durch extreme Statusdifferenzen<br />
und weckt weniger Ansprüche durch die<br />
materielle Kluft zum Nachbarn. Balanciertere,<br />
weniger ungleiche Gesellschaften<br />
können umsichtiger mit ihren Ressourcen<br />
umgehen, müssen weniger neurotisch auf<br />
Wachstumsraten starren und müssen nicht<br />
unökologische Wachstumsmaßnahmen ergreifen,<br />
um ihren Bevölkerungen Teilhabeperspektiven<br />
zu geben.<br />
Wegen dieses dreifachen inneren Zusammenhangs<br />
muss jede ökologische<br />
Transformation eine soziale Transformation<br />
einschließen. Das ist der Hintergrund<br />
auch für die ambitionierten grünen Vorschläge<br />
in der Haushalts- und Steuerpolitik.<br />
Sie ist aber nur ein Baustein der sozialen<br />
und ökologischen Transformation, die wir<br />
in diesem Wahlkampf den grünen Wandel<br />
nennen. Dazu gehört auch Politik für gerechte<br />
Löhne, für eine gerechte Verteilung<br />
der Kosten der Energiewende, gegen Monopoltendenzen<br />
in Energie- oder Finanzmärkten,<br />
für besser verteilte Chancen über<br />
eine gut finanzierte Bildungspolitik.<br />
Auch weil grüne Politik also in sich selbst<br />
schon sozial orientiert ist, ist unser Programm<br />
koalitionspolitisch eher anschlussfähig<br />
an sozialdemokratische Politik als<br />
an konservativ-marktliberale Parteien mit<br />
ihrem hierarchischen Gesellschafts- und<br />
Wirtschaftsverständnis. Spannungen mit<br />
der SPD gibt es industriepolitisch und in<br />
der Wachstumsfrage natürlich immer wieder,<br />
doch auch da ist die Nähe zu einer<br />
ökologisch lernfähigen SPD am größten,<br />
wie die Debatte in der Enquete-Kommission<br />
des Deutschen Bundestags zu „Wohlstand,<br />
Wachstum, Lebensqualität“ gezeigt<br />
hat. Unsere klare rot-grüne Koalitionsaussage<br />
leitet sich aus der grünen Programmatik<br />
ab.<br />
Jürgen Trittin<br />
ist Spitzenkandidat der <strong>Grün</strong>en<br />
und Fraktionschef im Bundestag<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 29
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Der Anachronist<br />
Geheimdienste wollen allwissend und allzuständig sein. Ulrich Birkenheiers MAD fällt da ein bisschen raus<br />
von Hartmut Palmer<br />
V<br />
on dem freundlichen Herrn geht<br />
keine Gefahr aus. Wie er da in<br />
seinem Büro steht, sieht er weder<br />
mächtig noch geheimnisvoll aus. Eher wie<br />
Loriot in der Rolle eines deutschen Beamten:<br />
Brille, graues Haar, akkurat gepflegter<br />
Oberlippenbart. Ulrich Birkenheiers Arbeitszimmer<br />
liegt in einer Kölner Kaserne.<br />
An den Wänden Ölbilder und Aquarelle,<br />
Landschaften und Stadtansichten, die Godesburg,<br />
der Kölner Dom, eine Fantasielandschaft.<br />
Im Regal einige sitzende Akte<br />
aus Ton. „Meine Frau hat die gemacht“,<br />
sagt der Präsident, „sie malt und töpfert.“<br />
Seit einem Jahr ist der 64 Jahre alte<br />
Jurist Chef des Militärischen Abschirmdiensts,<br />
kurz: MAD. Angesichts der Tatsache,<br />
dass sogar befreundete Staaten die<br />
Deutschen exzessiv ausspähen, kann man<br />
sich fragen, ob nicht das ganze Land einen<br />
Dienst gebrauchen könnte, der es ein wenig<br />
abschirmt. Aber das wäre wohl nicht<br />
nur in technischer Hinsicht zu viel verlangt<br />
vom MAD, denn seine Zuständigkeiten<br />
sind streng auf die Bundeswehr beschränkt.<br />
In der Affäre rund um das amerikanische<br />
Abhörprogramm blieb Birkenheiers Kölner<br />
Behörde bisher außen vor. Als Kanzleramtsminister<br />
Ronald Pofalla und die<br />
Chefs der Geheimdienste BND, Verfassungsschutz<br />
und MAD vor das Parlamentarische<br />
Kontrollgremium des Bundestags<br />
zitiert wurden, schaute Birkenheier nur zu.<br />
Hat er doch etwas von den Schnüffeleien<br />
der US-Geheimdienste gewusst?<br />
Steht in den Umlaufmappen, die auf seinem<br />
Schreibtisch liegen, irgendetwas über<br />
„Prism“ oder „Tempora“? War er überrascht?<br />
„Wir hatten und haben hierzu keine<br />
konkreten Erkenntnisse“, sagt Birkenheier,<br />
„aber wenn es in dem Umfang, wie es in den<br />
Medien steht, stattgefunden haben sollte,<br />
dann würde mich das sehr überraschen.“<br />
Das würde zum Ruf des MAD passen.<br />
Dessen Markenzeichen war schon immer<br />
die Ahnungslosigkeit – das wurde nicht<br />
erst bei der Aufklärung der NSU-Morde<br />
klar. FDP, Linkspartei und <strong>Grün</strong>e wollen<br />
die Behörde, die Verteidigungsminister<br />
Thomas de Maizière untersteht, abschaffen.<br />
Nur die Union und die Wehrexperten<br />
der SPD halten zu den etwa 1200 Beamten,<br />
die die Truppe vor Spionen, Terroristen<br />
und rechts- und linksradikalen Extremisten<br />
bewahren sollen – neuerdings auch vor gewaltbereiten<br />
Islamisten. Verfassungsschutz<br />
und – im Ausland – der Bundesnachrichtendienst<br />
könnten das genauso gut, sagen<br />
die Gegner. Der MAD-Präsident hält tapfer<br />
dagegen. „Wir sind in die Bundeswehr<br />
integriert. Und diese Nähe ermöglicht uns<br />
Einblicke, die eine andere Behörde, etwa<br />
der Verfassungsschutz, niemals bekäme.“<br />
Ulrich Birkenheier, im September 1949<br />
in Bad Kreuznach als Sohn eines Malermeisters<br />
geboren, wollte nach dem Abitur<br />
raus aus dem engen Nahetal. Er kam bis<br />
Bonn. Dort gehört er heute zu den Beamten<br />
der alten Bundeshauptstadt, die man<br />
bei Premieren im Theater oder in der Oper<br />
sieht. Er liebt Musik und Kunst und hat für<br />
die Bonner Bühnen ein Jahresabonnement.<br />
Die Beamtenlaufbahn des Juristen im<br />
Verteidigungsministerium verlief unauffällig.<br />
Personalabteilung, Rechtsabteilung,<br />
schließlich musste er als Vertreter des Ministeriums<br />
die Berliner Untersuchungsausschüsse<br />
beobachten, in denen es um den<br />
nach Guantánamo verschleppten Deutschen<br />
Murat Kurnaz und um den Luftangriff<br />
im afghanischen Kunduz ging. Seitdem<br />
kennt ihn die Spitze des Hauses als<br />
politisch zuverlässigen Juristen. Als der frühere<br />
MAD-Chef Karl-Heinz Brüsselbach<br />
2012 pensioniert wurde, brauchte de Maizière<br />
einen skandalfreien Nachfolger.<br />
Keiner seiner Vorgänger gab den Medien<br />
Interviews, geschweige denn Auskünfte<br />
über sich selbst. Birkenheier geht<br />
in die Offensive. „Nur wer weiß, was wir<br />
machen, kann unsere Arbeit verstehen.“<br />
Vor einem Jahr erschien im Bundeswehrmagazin<br />
Y eine mit Comics illustrierte Titelgeschichte<br />
über „Die Welt des MAD“.<br />
Soldatinnen und Soldaten werden auf die<br />
Gefahren hingewiesen. „Jeder hat irgendeine<br />
Schwäche: Geld, Sex, Drogen, Karriere“,<br />
heißt es da. Gezeigt wird im dazugehörigen<br />
Comic eine vollbusige russische<br />
Schönheit in hauchdünner Bluse, die einen<br />
Bundeswehrsoldaten verführen will,<br />
Geheimnisse zu verraten – das passt in jeden<br />
Soldatenspind.<br />
Nur nicht in die Zeit. In einer Welt, in<br />
der Datenströme systematisch abgegriffen<br />
und analysiert werden, klingen Warnungen<br />
vor verführerischen Agentinnen etwas<br />
anachronistisch. Allerdings hat ein so altmodischer<br />
Dienst auch das Beruhigende einer<br />
früheren Welt, etwa so, wie wenn man<br />
sich abends im Fernsehen noch mal einen<br />
James Bond mit Sean Connery anschaut.<br />
„Geld und Sex“, sagt Birkenheier, „das<br />
ist etwas, das immer noch zieht, nach wie<br />
vor.“ Allerdings hätten Agentenfilme, in<br />
denen es fast immer um Geld, Sex und<br />
Verrat geht und die er sich auch mal gerne<br />
anschaue, „mit der Realität nichts zu tun“.<br />
Der Alltag eines MAD-Agenten ist viel<br />
banaler. Das fängt schon mit der Frage an,<br />
ob der Verfassungsschutz zuständig ist oder<br />
der MAD. Wenn sich die vollbusige Comic-Spionin<br />
nicht dem Soldaten, sondern<br />
beispielsweise dem Ingenieur von Rheinmetall<br />
zuwenden würde, der gerade dabei<br />
ist, einer tolle neue Panzerkette zu erfinden,<br />
wäre der MAD aus dem Spiel. Für Zivilisten<br />
ist der Verfassungsschutz zuständig.<br />
Nicht zuständig zu sein, ist manchmal<br />
aber auch nicht das Schlechteste. Mit den<br />
Drohnen, die seinem Minister gerade Verdruss<br />
bereiten, hatte er zum Glück nichts<br />
zu tun. „Es gibt Dinge“, sagt der Geheimdienstchef<br />
und lacht, „die muss man nicht<br />
unbedingt an der Backe haben.“<br />
Hartmut Palmer<br />
ist politischer Chefkorrespondent<br />
von <strong>Cicero</strong><br />
Fotos: Frank Schoepgens für <strong>Cicero</strong>, Andrej Dallmann (Autor)<br />
30 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Prism? „Geld<br />
und Sex ist das,<br />
was zieht“, sagt<br />
Geheimdienstchef<br />
Birkenheier<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 31
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Ein EinsameR Putschist<br />
Dirk Niebels Aufstand in der FDP ging daneben. Bleibt er Minister? Er meldet schon mal Ansprüche an<br />
von Werner Sonne<br />
E<br />
inst war er mit einem klapprigen<br />
Auto in Israel angekommen,<br />
um in einem Kibbuz zu arbeiten;<br />
gleich nach Abschluss der Schule war das.<br />
Jetzt landet er in einem schicken Regierungsjet<br />
in Tel Aviv. Ein Moment der Nostalgie<br />
muss das für Dirk Niebel sein, denn<br />
es ist das letzte Mal, dass er als Minister den<br />
Nahen Osten im Airbus der Luftwaffe bereisen<br />
darf. Oder doch nicht?<br />
Beim Dreikönigstreffen im Januar hat<br />
der Entwicklungsminister zum Putsch gegen<br />
FDP-Parteichef Philipp Rösler aufgerufen.<br />
Ein neues Führungsteam müsse<br />
her. „Es zerreißt mich innerlich, wenn ich<br />
den Zustand meiner Partei sehe“, schleuderte<br />
er Rösler entgegen. Von da an ging’s<br />
bergab. Nicht mit Rösler, sondern mit Niebel.<br />
Denn Rainer Brüderle verweigerte sich<br />
dem Putschisten, und die Partei strafte Niebel<br />
ab. Beim Parteitag im März flog der<br />
ehemalige Fallschirmjäger aus der Führungsriege<br />
der FDP.<br />
Dem „Dirk“ als Minister werde dort<br />
„keiner eine Träne nachweinen“, meint einer<br />
aus der FDP-Spitze. Sein Nachfolger<br />
im FDP-Präsidium Wolfgang Kubicki<br />
sagt sarkastisch, er bewundere Niebels Geschichtskenntnisse,<br />
weil er doch mit seiner<br />
Fallschirmjägermütze auf Kreta und in Namibia<br />
aufgetreten sei – beides Orte blutiger<br />
deutscher Militäraktionen. „Auf die Idee<br />
muss man kommen“, ätzt Kubicki.<br />
Im Bus vom Flughafen nach Jerusalem<br />
gibt es sie wieder als Souvenir für die<br />
Mitreisenden: eben diese Fallschirmjägermütze,<br />
sein Markenzeichen, das Original<br />
hat er dem Haus der Geschichte in Bonn<br />
vermacht. Ein Abschiedsgeschenk?<br />
Nicht, wenn es nach Dirk Niebel geht,<br />
der auf dieser Reise auf einen breitkrempigen<br />
Sonnenhut ausgewichen ist. Bei politischen<br />
Gesprächen, einer Grundsteinlegung<br />
für eine Schule, der Eröffnung eines<br />
Klärwerks im Westjordanland und einem<br />
Frühstück mit israelischen Wirtschaftsbossen<br />
bringt er immer wieder eine Botschaft<br />
unter, die mindestens so an die Delegation<br />
der deutschen Mitreisenden wie an seine<br />
lokalen Gesprächspartner gerichtet ist: Mit<br />
mir ist noch zu rechnen, eine Kampfansage<br />
Richtung Berlin.<br />
Ganz so aussichtlos ist Niebels Lage<br />
nicht mehr. Er hat sich zum Spitzenkandidaten<br />
der Liberalen in Baden-Württemberg<br />
für die Bundestagswahl hochgekämpft.<br />
Die Südwest-FDP ist zwar tief zerstritten,<br />
hat aber als zweitgrößter Landesverband<br />
einigen Einfluss in der Partei. Auch Niebel<br />
glaubt freilich nicht an Wunder. Nein,<br />
ein Ergebnis von 18,8 Prozent wie 2009 in<br />
Baden-Württemberg werde es wohl nicht<br />
wieder. Aber: „Zweistellig muss es in jedem<br />
Fall werden.“ Er sei überzeugt, dass<br />
er im Ländle mit einem guten Ergebnis<br />
dazu beitragen werde, eine Mehrheit für<br />
Schwarz-Gelb zu erreichen. „Und ich sehe<br />
nicht, dass gute Leistung dann nicht auch<br />
entsprechend belohnt werden sollte.“<br />
Mit anderen Worten: Wer käme an<br />
Niebel als Minister vorbei? Rösler etwa?<br />
Da wird Niebel trotzig: „Ich bin überzeugt,<br />
dass Philipp Rösler genau weiß, wer gute<br />
Arbeit geleistet hat. Und welche Landesverbände<br />
er braucht, um eine vernünftige<br />
Regierungspolitik zu betreiben, die liberal<br />
unterlegt ist.“ Noch Fragen, Herr Rösler?<br />
Nun gibt es noch die Chefin im Ring.<br />
Warum sollte Angela Merkel den Liberalen<br />
– falls es erneut für Schwarz-Gelb<br />
reicht – noch einmal fünf Ministerien zubilligen,<br />
wenn die FDP um mehr als die<br />
Hälfte schrumpft? Selbst an der FDP-<br />
Spitze rechnet man fest mit nur drei Ressorts:<br />
Außenpolitik, Justiz und Wirtschaft,<br />
sprich Westerwelle, Leutheusser-Schnarrenberger<br />
und Rösler.<br />
Auch da gibt sich der Fallschirmjäger-Hauptmann<br />
der Reserve kämpferisch:<br />
„Wenn man die Alternativen der Union betrachtet,<br />
muss man zur Kenntnis nehmen,<br />
dass bei einer sogenannten Großen Koalition<br />
natürlich viel mehr Minister abgegeben<br />
werden müssten als bei der Fortsetzung<br />
dieser erfolgreichen Regierung. Es spricht<br />
also nichts gegen die Beibehaltung der bisherigen<br />
Aufteilung.“<br />
In seiner eigenen Partei sehen ihn dagegen<br />
manche nur noch in einer „gehobenen<br />
Funktion in der Fraktion“. Den Vorsitz<br />
der FDP im Bundestag dürfte Brüderle<br />
behalten. Ein Ausweg wird gesucht: Weg<br />
mit Niebel zu einer internationalen Organisation<br />
ist ein Modell. Ein anderer Ausweg<br />
wäre, so räsoniert einer in der FDP-Spitze,<br />
vielleicht doch die Zusammenlegung von<br />
Außen- und Entwicklungsministerium,<br />
mit einem Dirk Niebel als Staatsminister<br />
unter Westerwelle. Wäre das nicht genau<br />
das, was er früher gefordert hat – die Auflösung<br />
eben des Entwicklungsministeriums?<br />
Heute will Niebel daran nicht erinnert<br />
werden. Im Gegenteil. Warum möchte er<br />
ausgerechnet in diesem Amt weitermachen?<br />
„Weil ich noch nicht fertig bin.“<br />
Nach außen hat er in seiner Amtszeit<br />
Schlagzeilen gemacht, weil er einen Teppich<br />
im BND-Flugzeug von Afghanistan<br />
unverzollt nach Deutschland bringen ließ<br />
(für den dann gar kein Zoll fällig war) und<br />
weil er auch FDP-Parteifreunde in seinem<br />
zuvor tiefroten Ministerium unterbrachte.<br />
Seine Reformen, die Zusammenlegung<br />
der Entwicklungshilfegesellschaften, finden<br />
auch bei der Opposition Anerkennung.<br />
Nun will er endlich die Reformen im internationalen<br />
Bereich angehen.<br />
Niebel will’s noch mal wissen. Wenn sie<br />
ihn lassen würden. „Wenn ich nicht Optimist<br />
wäre, wäre ich nicht in der FDP.“<br />
Dass er sich für hohe Ämter berufen<br />
hält, wird klar, wenn man in seinem Noch-<br />
Ministerium anruft. Die Musik in der Warteschleife<br />
kommt von Tim Bendzko: „Muss<br />
nur noch kurz die Welt retten …“<br />
Werner Sonne<br />
ist Journalist und Buchautor.<br />
Er wurde als Auslands- und<br />
Hauptstadtkorrespondent der<br />
ARD bekannt<br />
Fotos: Maurice Weiss/ostkreuz für <strong>Cicero</strong>, Herby Sachs/WDR (Autor)<br />
32 <strong>Cicero</strong> 9.2013
„Wenn ich<br />
nicht Optimist<br />
wäre, wäre<br />
ich nicht in<br />
der FDP“<br />
Dirk Niebel zu seinen Chancen,<br />
Bundesminister zu bleiben<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 33
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Planet Röschen<br />
Ursula von der Leyen lebt in ihrer eigenen Welt, ihr Ego bringt Parteifreunde auf. Wie wurde sie so?<br />
von Constantin Magnis<br />
U<br />
rsula von der LeyeN ist vier<br />
Jahre alt, als sie ihrer Mutter von<br />
einem sonderbaren Traum erzählt.<br />
Darin sagt sie: „Vater im Himmel,<br />
ich breche die Wolken! Und ich brach die<br />
Wolken! Und da sagte ich: Vater im Himmel,<br />
ich breche die Tür! Und ich brach die<br />
Tür! Als die Tür gebrochen war, schwebte<br />
ich dem Himmel entgegen, und ich wurde<br />
ein Engel. Kleine braune Flügel hatte ich,<br />
und eine kleine, weiße Unterhose …“<br />
Was Heidi Adele Albrecht, Frau des<br />
späteren niedersächsischen Ministerpräsidenten<br />
Ernst Albrecht, da 1963 von ihrer<br />
Tochter notiert, liest sich wie ein Bild<br />
für deren spätere politische Reise. Wo andere<br />
sich Jahrzehnte nach oben arbeiteten,<br />
vollzieht Ursula von der Leyen in wenigen<br />
Jahren ihren himmelfahrtsähnlichen<br />
Aufstieg an die Spitze der CDU. Auf dem<br />
Weg nach oben, so schien es, brach jede<br />
Tür, die sie beschlossen hatte einzurennen,<br />
selbst wenn die eigene Partei von innen<br />
dagegendrückte.<br />
Aber jetzt, kurz vor der Wahl, hat sie<br />
einen entscheidenden Punkt erreicht. In<br />
einer inzwischen von Kronprinzen völlig<br />
bereinigten CDU wirkt die Arbeitsministerin<br />
auf einmal wie die Einzige, die Merkel<br />
im Notfall beerben könnte. Doch es<br />
ist auch kühl und einsam um sie geworden.<br />
Ihre Alleingänge zu Rente und Frauenquote<br />
haben sie Sympathien in der Partei<br />
gekostet. In Berlin würden ihr nach<br />
wiederholten Flügelstürmen nicht wenige<br />
Kollegen von Herzen einen Absturz gönnen.<br />
Was die Kanzlerin von all dem hält,<br />
dürfte sich nach der Wahl zeigen, wenn<br />
klar wird, ob die Ministerin Macht hinzugewinnt<br />
oder verliert. Stagnieren wäre<br />
schon auffällig für von der Leyen.<br />
Auch Merkel gilt als überrascht davon,<br />
wie rigoros von der Leyen der Partei<br />
ihre Linie aufdrücken will. Überraschungen<br />
mag die Kanzlerin nicht, die Neigung<br />
zu Alleingängen auch nicht gerade. Ausgerechnet<br />
Eigenschaften, die von der Leyens<br />
Aufstieg bisher angetrieben haben, könnten<br />
sie zu Fall bringen: das enorme Selbstbewusstsein<br />
der Ministerin, diese Überzeugung,<br />
eine Sonderrolle zu spielen, ja<br />
geradezu herausragen zu müssen. Wer verstehen<br />
will, wie sie so wurde, muss ganz<br />
von vorne anfangen.<br />
Schon die zitierten Tagebucheinträge<br />
ihrer inzwischen verstorbenen Mutter sind<br />
ein Indiz. Allein dass sie veröffentlicht wurden,<br />
zeugt von einer Familie, die auch ihr<br />
Privates als bereichernd für die Allgemeinheit<br />
empfindet und die Äußerungen ihrer<br />
Kinder für verewigungswürdig. Ursula<br />
Gertrud, Spitzname „Röschen“, ist<br />
die Dritte von sieben Geschwistern. Sie<br />
wird 1958 geboren, in Brüssel, wo ihr Vater<br />
Ernst Albrecht, Kosename „Percy“, für<br />
die EU-Vorgängerin EG arbeitet. Zu Ursulas<br />
Geburt notiert die Mutter: „Wie kann<br />
ich anders als Dich nun auch als liebe, zarte<br />
Rosenblume an mein Herz zu drücken! Du<br />
bist ein sensationelles Baby: Das erste Kind,<br />
das sich nicht ins Leben hineinschreit, sondern<br />
von einem friedlichen Schlummer in<br />
den anderen gleitet. (…) Dein bevorzugter<br />
Laut, den die Brüder ständig nachahmen:<br />
ereeh, ereeh!“<br />
Die Albrechts sind ein eleganter, großbürgerlicher<br />
Clan, tief gläubige Protestanten,<br />
es wird gemeinsam gebetet und<br />
gesungen, abends liest das Ehepaar sich gegenseitig<br />
Platon vor, am Wochenende jagt<br />
„Percy“ Fasanen beim belgischen Adel. Auf<br />
den jährlichen Familienfesten wird Charade<br />
gespielt und Quadrille getanzt, es<br />
werden Polonaisen durch Lampion-geschmückte<br />
Staudengärten veranstaltet und<br />
Bocciarunden auf dem Krokettrasen. Zu jedem<br />
Fest führen die Kinder Theaterstücke<br />
auf, die von ihrer Mutter geschrieben wurden.<br />
Es wird dem Auftreten der späteren<br />
Politikerin nicht geschadet haben.<br />
Ihre wohl erste Führungsrolle bekommt<br />
Ursula mit 13 Jahren. Da stirbt ihre kleine<br />
Schwester Benita an Krebs. „Röschen“ ist<br />
jetzt das einzige Mädchen im Haus und<br />
kümmert sich um ihre Brüder. Im selben<br />
Jahr zieht die Familie von Belgien nach<br />
Niedersachsen, wo Ernst Albrecht 1976<br />
überraschend zum Ministerpräsidenten gewählt<br />
wird. Die Albrechts werden die „First<br />
Family“ des Bundeslands, und Ursula ist<br />
die strahlende Prinzessin. Im Dorf Beinhorn<br />
hinter Hannover baut Albrecht eine<br />
Klinkervilla mit geziegeltem Obergeschoss.<br />
Sie nennen das Haus „Tundrinsheide“.<br />
Das weitläufige Anwesen zwischen Pferdekoppeln<br />
und uralten Eichen wird bald<br />
zum mythischen Sitz der Familie und zu ihrer<br />
Bühne: Regelmäßig erscheinen Homestorys<br />
der Albrechts, „Röschen“ muss mit<br />
den Geschwistern Jägerlieder im NDR-<br />
Fernsehen singen, 1978 nimmt die ganze<br />
Familie die Schlager-Platte „Wohlauf in<br />
Gottes schöne Welt“ auf. Kommen Parteifreunde<br />
zu Besuch, werden die Kinder<br />
aufgereiht, um unter der Regie ihrer Mutter<br />
Hauskonzerte zu geben, Ursula meist<br />
am Klavier. Mancher Besucher verkneift<br />
sich währenddessen ein Grinsen. „Albrechts<br />
haben das Familienleben von 1918<br />
kultiviert“, sagt ein CDU-Mann, der oft<br />
dort war. „Das war nicht von dieser Welt.<br />
Ein völlig eigenes Universum. Das macht<br />
es Röschen bis heute schwer, den Zugang<br />
zu ganz normalen Familien zu finden.“<br />
Selbst auf Tundrinsheide, diesem Heimatplaneten<br />
im Albrecht-Universum, bekommt<br />
Röschen eine Sonderrolle: Die verbliebene<br />
Tochter gilt als Augapfel ihres Vaters.<br />
Im kleinen Kreis spricht er oft von ihr, über<br />
die fünf Söhne weniger. „Röschen“ hockt<br />
nachmittags auf der Haustreppe und wartet,<br />
bis ihr Vater nach Hause kommt. Während<br />
die Brüder bei Besprechungen rausgeschickt<br />
werden, erleben Besucher, wie Ursula<br />
unterm Schreibtisch ihres Vaters sitzen bleiben<br />
darf. Trotzdem wird auch sie zu eiserner<br />
Disziplin erzogen. In der Schule wird<br />
maximaler Fleiß erwartet, ein Studium ist<br />
selbstverständlich, die Promotion erwünscht.<br />
Heidi Adele Albrecht erzählt der Bild, wie sie<br />
Foto: Anatol Kotte/Laif<br />
34 <strong>Cicero</strong> 9.2013
„Als die Tür<br />
gebrochen<br />
war, wurde<br />
ich ein<br />
Engel“<br />
Ursula von der Leyen<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 35
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
ihren Sohn Harald einmal zur Strafe ohne<br />
Handschuhe Brennnesseln pflücken schickt.<br />
Fernsehen, berichten Nachbarn, durften die<br />
Kinder kaum, Micky Maus lesen auch nicht.<br />
Spielkameraden erinnern sich, dass die Albrecht-Buben<br />
Kalender hatten, in die sie Termine<br />
zum Spielen notierten.<br />
Ungewöhnlich wird bald auch das Leben<br />
im Dorf um Tundrinsheide herum.<br />
Als Schutz vor der RAF wird in Beinhorn<br />
ein eigenes Polizeirevier installiert. Zwölf<br />
Beamte und zwei Autos patrouillieren die<br />
Straßen, die Kinder werden im Streifenwagen<br />
zur Schule gefahren, der Ort wird zur<br />
Burg der Albrechts.<br />
Ursula ist an der Schule eine Überfliegerin,<br />
überspringt eine Klasse, macht mit<br />
17 Jahren Abitur, Note 0,7. Ein normaler<br />
Studienalltag ist nicht möglich: Weil die<br />
Gefahr durch die RAF steigt, muss sie von<br />
Göttingen nach London wechseln, wo sie<br />
unter falschem Namen und bewacht von<br />
Scotland Yard studiert. Erst 1990, als Ernst<br />
Albrecht abgewählt wird, wird das Polizeirevier<br />
aufgelöst, das Wachhaus abgerissen,<br />
die Flutlichtanlage abmontiert. In Beinhorn<br />
kehrt Ruhe ein.<br />
Aber Ende der Neunziger wird „Röschen“,<br />
inzwischen verheiratet, Medizinerin<br />
und Mutter von sieben Kindern, von ihrer<br />
Herkunft eingeholt. In Hannover knirscht es<br />
zwischen Fraktionschef Christian Wulff, katholisch,<br />
und dem Lager seines Vorgängers<br />
Jürgen Gansäuer, evangelisch, zu dem auch<br />
Wilfried Hasselmann gehört, CDU-Ehrenvorsitzender<br />
in Niedersachsen und Ernst<br />
Albrechts rechte Hand. Albrechts Begeisterung<br />
für seine Tochter ist bekannt, in kleiner<br />
Runde schwärmt er davon, wie es Strauß gelungen<br />
sei, seine Tochter Monika in der Politik<br />
unterzubringen. Als Wulff „Röschen“ auf<br />
einmal in sein Kompetenzteam beruft, zieht<br />
er Albrecht – und damit Hasselmann – auf<br />
seine Seite und neutralisiert so schlagartig<br />
seine parteiinternen Gegner.<br />
Wulffs Wunderwaffe ist in ihrem damaligen<br />
Wohnort schon eine Attraktion,<br />
bevor sie 2001 zu den Kommunalwahlen<br />
antritt. Nahezu jeden Abend dreht das<br />
hochgewachsene, blonde Fräuleinwunder<br />
Jogging runden durch den Ort: Sie zu Fuß,<br />
die perfekt erzogenen Kinder auf Rädern<br />
oder Inlineskates, das Pony trabt nebenher.<br />
Ihr Wahlkampf kommt über die Region<br />
wie ein Naturereignis: Kinder, Ziege,<br />
Pony, alle werden eingebunden, sie hat<br />
dank Wulff und ihrem Vater den Parteiapparat<br />
im Rücken, Bild und NDR begleiten<br />
ihre Kampagne. Sie hätten so etwas noch<br />
nie erlebt, sagen Ortspolitiker, denen bald<br />
klar wird, dass hier jemand gezielt aufgebaut<br />
wird.<br />
Das bestätigt sich vor der Landtagswahl<br />
2003. Im Vorfeld einer Kampfabstimmung<br />
um „Röschens“ späteren Wahlkreis<br />
macht die Bild den bisherigen Inhaber<br />
Lutz von der Heide, einen altgedienten Abgeordneten,<br />
nieder. Der zuständige Redakteur<br />
bekommt nach der Wahl einen Posten<br />
im Niedersächsischen Wirtschaftsministerium.<br />
Mitbewerber beäugen neidisch von<br />
der Leyens Wahlkampfstände, die mit Musikkapellen<br />
ausgestattet und von Wulff persönlich<br />
besucht werden. Am Wahltag, kurz<br />
bevor sie nicht nur Abgeordnete, sondern<br />
gleich auch Sozialministerin wird, sieht<br />
man „Röschen“ mit ihrem Vater durch<br />
den Landtag schlendern, händchenhaltend.<br />
Für viele bleibt sie Außenseiterin, bestenfalls<br />
Exotin. Ob in Gemeinderat oder<br />
Landtag: Kollegen tun sich gelegentlich<br />
schwer mit „Röschen“, meist ohne ihr<br />
mehr vorwerfen zu können als ihre beherrschte<br />
Höflichkeit, die große, heile Familie,<br />
ihre Karriere, ihr sicheres Auftreten<br />
und die Tatsache, dass sie all das auch politisch<br />
einsetzt. Im Kern ist es die Verbitterung<br />
derer, die Jahrzehnte politische Kleinarbeit<br />
geleistet haben, um dann von der<br />
lächelnden Tochter Albrecht überholt zu<br />
werden.<br />
Der Albrecht-Clan. Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht 1976<br />
inszeniert seine Familie in der NDR-Sendung „Die Aktuelle Schaubude“. Rechts<br />
an seiner Seite: Tochter Ursula, die heutige Bundesarbeitsministerin<br />
Dass sie im Landtag und später in Berlin<br />
Empfänge meidet und nach Sitzungen<br />
oft fluchtartig die Heimreise antritt,<br />
statt noch einen mitzutrinken, macht es<br />
nicht besser. Die Ministerin leistet sich<br />
den Luxus, das Drumherum zu vernachlässigen,<br />
weil ihr Leben nie aufgehört hat,<br />
um die Familie zu kreisen. Nicht nur um<br />
ihre sieben Kinder, sondern inzwischen<br />
auch wieder um „Tundrinsheide“, wo sie<br />
2007 samt Familie eingezogen ist, um ihren<br />
demenzkranken Vater nicht allein zu<br />
lassen. In Beinhorn erlebt man die neue<br />
Hausfrau als nicht mehr ganz so volksnah<br />
wie die alte. Das Dorf wird kaum mehr,<br />
wie früher, zu Familienfesten eingeladen.<br />
Die Albrechts erschienen noch zu jeder<br />
Ortsfeier, von der Leyen schickt eher mal<br />
eine Kiste Bier vorbei. Sie plauscht auch<br />
selten mit den Dorfbewohnern, meist ruft<br />
Foto: Ullstein Bild<br />
36 <strong>Cicero</strong> 9.2013
F r a u F r i e d f r a g t s i c h …<br />
Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Privat (Autor)<br />
sie nur ein „Guten Tag“ vom Pferd herunter.<br />
Und dennoch: Sie ist jetzt dort Herrin,<br />
wo sie einst ihren Weg begonnen hat.<br />
Der Kreis hat sich geschlossen.<br />
Sechs Geschwister, sieben Kinder, wie<br />
soll das Leben als Objekt und Subjekt ehrgeiziger<br />
Kinderpädagogik nicht auch auf<br />
die Politikerin abfärben? Eine Szene im<br />
Sommer 2011. Ursula von der Leyen empfängt<br />
im Bundestag eine Schülergruppe.<br />
Aufmerksam sitzen die eben noch herumfeixenden<br />
Kinder vor der Ministerin, eines<br />
hat Fragen zur Frauenquote. „Da muss<br />
ich Druck machen“, sagt sie, rückt ganz<br />
nah und verschwörerisch an die Kinder<br />
heran und flüstert: „Und das gibt dann<br />
manchmal auch Krach.“ Sie strahlt und<br />
hebt die Augenbrauen, man möchte augenblicklich<br />
von ihr mit einer Tasse Kakao<br />
ins Bett gebracht und zugedeckt werden.<br />
Zum Abschied ein Gruppenfoto, dafür sollen<br />
die Kinder lächeln. „Und wie heißt das<br />
Wort mit der Ameise?“, ruft von der Leyen<br />
mit aufgerissenen Augen. „Aaa-mei-senscheiße!“,<br />
rufen die Kinder im Chor.<br />
Auch das gehört zu ihren Problemen in<br />
Berlin: Viele Parteifreunde fühlen sich von<br />
ihr behandelt, als wären sie Teil einer Kindergruppe.<br />
Tatsächlich gehörte es – speziell<br />
in der Familienpolitik – zu von der Leyens<br />
Erfahrungen, ihrer Partei in der Zeit voraus<br />
zu sein, ihr auf die Sprünge helfen zu<br />
müssen, es besser zu wissen. Das hat viele<br />
gegen sie aufgebracht, wie ihr jüngstes,<br />
schlechtes Ergebnis bei der Wahl zur Parteivize<br />
zeigt. In der CDU antwortet niemand<br />
„Ameisenscheiße“, wenn sie ruft.<br />
Nie war sie in der Bundestagsfraktion unbeliebter.<br />
Es gibt bessere Ausgangslagen für<br />
den Weiterflug.<br />
Trotzdem, viele Wähler lieben diese Ministerin.<br />
Schon deshalb wird Merkel gut<br />
daran tun, sich von der Leyen warmzuhalten.<br />
Solange sie ihr nicht gefährlich wird.<br />
Ihren Mentoren ist „Röschen“ inzwischen<br />
entwachsen. Wulff sowieso, und heute<br />
kümmert sie sich um Ernst Albrecht, nicht<br />
mehr umgekehrt. Im Laufe seiner Krankheit<br />
ging ihm auch ihr Spitzname verloren.<br />
Er hat ihn vergessen. „Röschen“, erklärte<br />
sie kürzlich, „gibt es nicht mehr.“<br />
Constantin Magnis<br />
ist Ressortleiter Reportagen<br />
bei <strong>Cicero</strong><br />
… wie ein Gemeinwesen mit<br />
Egoisten funktionieren soll<br />
M<br />
ein Roman „Eine windige<br />
Affäre“ handelt von einer<br />
Bauingenieurin, die einen<br />
Windpark in Litauen errichten<br />
soll. Sie kämpft dabei auch gegen militante<br />
Windkraftgegner, die kein Mittel<br />
scheuen, das Vorhaben zu torpedieren.<br />
Die Protestler behaupten eine angeblich<br />
gesundheitsschädliche Infraschall-<br />
Belastung, legen (von ihnen) getötete<br />
Fledermäuse unter bestehende Windräder<br />
und gehen bei Versammlungen<br />
verbal und mit Stühlen aufeinander los.<br />
Das alles habe ich mir ausgedacht<br />
und hatte Sorge, ob man es mir nicht<br />
als völlig übertrieben vorhalten würde.<br />
Inzwischen spielen sich ähnliche Szenen<br />
in meinem oberbayerischen Wohnort ab. Unterschriften werden gesammelt,<br />
Gutachten in Auftrag gegeben, an vielen Wohnhäusern hängen Protestbanner gegen<br />
die Errichtung von Windrädern, das Infraschall-Märchen wird auch erzählt,<br />
und nun hat sich – nach langem Suchen – sogar eine seltene Vogelart gefunden, die<br />
durch die Anlagen bedroht sein könnte: der Schwarzstorch. Natürlich sei auch der<br />
Tourismus in der Gegend gefährdet, sorgen sich die angeblichen Kämpfer fürs Gemeinwohl.<br />
Obgleich der Ort genau genommen etwas abseits der bedeutenden Touristenregionen<br />
Bayerns liegt und sich eher durch einen Mangel an touristischer Infrastruktur<br />
auszeichnet. Bei den Versammlungen der Windkraftgegner geht es hoch<br />
her, und wer es wagt, anderer Meinung zu sein, ist schnell als Verräter gebrandmarkt.<br />
Die Kritiker versäumen übrigens nicht, immer wieder zu betonen, dass sie<br />
die Energiewende ganz großartig finden – nur eben bitte nicht in ihrer Gegend.<br />
Ich frage mich, wie in diesem Land noch irgendein Vorhaben umgesetzt werden<br />
soll, wenn sich bei den Bürgern immer mehr der Egoismus durchsetzt. „Heiliger<br />
St. Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ andere an.“ Wo kommt ein Gemeinwesen<br />
hin, wenn jeder nur für die eigenen Belange streitet? Eine – von einer<br />
überwältigenden Mehrheit der Bürger gewünschte – Wende in der Energiepolitik<br />
muss auch von dieser überwältigenden Mehrheit mitgetragen werden. Das kann<br />
im Einzelfall Verzicht bedeuten. Aber wie soll es anders gehen?<br />
Die meisten der Erzürnten sehen untätig zu, wenn um sie her schlimmes Unrecht<br />
geschieht, das sie nicht persönlich betrifft. Da werden Menschen aufgrund<br />
ihrer Religion oder Hautfarbe diskriminiert, da werden Kinder vernachlässigt und<br />
misshandelt – kein Grund zur Aufregung. Kaum aber besteht die Gefahr, dass ein<br />
Windrad (wahlweise Solaranlage oder Biogasanlage) in der Nachbarschaft den Wert<br />
des Eigenheims mindern könnte, läuft der Wutbürger zu großer Form auf. Und<br />
gibt vor, sich um das Gemeinwohl zu sorgen. In Wahrheit geht’s um nicht mehr<br />
als seine private Idylle.<br />
Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />
Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 37
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5 6<br />
Wahljahr 2013<br />
Der Countdown<br />
7<br />
12<br />
8 9<br />
10 11<br />
13 14 15<br />
Man muss doch die Realitäten sehen? Bloß nicht. Um einen radikalen Außenblick auf die Politik<br />
zu ermöglichen, haben im Wahljahr neun Persönlichkeiten ihr Wunschkabinett zusammengestellt.<br />
Ministerien wurden verschmolzen, Christian Wulff feierte als Integrationsminister ein Comeback, und<br />
Friedrich der Große erstand als Bundeskanzler wieder auf. Die Autorinnen und Autoren der Serie:<br />
Anna Thalbach, Roger Willemsen, Frank-Markus Barwasser alias Erwin Pelzig, Thea Dorn, Monika Maron,<br />
Jörg Thadeusz, Katja Kraus, Christiane Paul und Else Buschheuer<br />
Illustration: Jan Rieckhoff; Grafik: <strong>Cicero</strong>; Fotos: Picture Alliance/DPA (13), Getty Images, Gelsenwasser Dresden GmbH<br />
38 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Anzeige<br />
Wen hätten Sie gern an der Macht? Im Jahr der<br />
Bundestagswahl hat <strong>Cicero</strong> Persönlichkeiten eingeladen, sich<br />
eine Regierung zu wünschen. Zum Abschluss der Serie besetzt<br />
die Schriftstellerin Else Buschheuer das Kabinett. Sie hätte gern<br />
ihre Kollegin Sibylle Berg als Kanzlerin. In die Kabinettsdisziplin<br />
einordnen müssen sich Alice Schwarzer, Thomas Gottschalk<br />
und Papst Franziskus<br />
(1) Bundeskanzlerin<br />
Sibylle Berg. Schwebt über allem.<br />
Freundin von mir (Vetternwirtschaft).<br />
(2) Auswärtiges<br />
Thomas Gottschalk. Angenehm undeutsch:<br />
Hat immer gute Laune. Mehrsprachig.<br />
(3) Innen<br />
Thomas de Maizière. Die Begründung<br />
liefert er selbst: „Ich habe so viel<br />
gesät, jetzt möchte ich mal ernten.“<br />
(4) Justiz und Wahrheit<br />
Josephine Witt (deutsche Femen-Aktivistin).<br />
Zieht blank für die Gerechtigkeit.<br />
(5) Finanzen<br />
Alice Schwarzer. Kann sparen<br />
(siehe Emma-Honorare).<br />
(6) Wirtschaft und Umwelt<br />
Gunda Röstel. Warum ist diese kluge<br />
und powervolle <strong>Grün</strong>en-Politikerin<br />
von der Bildfläche verschwunden?<br />
(7) Verteidigung<br />
Loriot (1923 – 2011). Weil der<br />
Walkürenritt die militärische Leistung<br />
ist, die ihn am meisten beeindruckt hat.<br />
(9) Kultur und Medien<br />
Frank Castorf. Köpft angestaubte<br />
Kulturdenkmäler und sorgt für<br />
Stimmung im Publikum.<br />
(10) Gesundheit<br />
Helmut Schmidt. Der lebende Beweis<br />
dafür, dass Rauchen gesund ist.<br />
(11) Frauen<br />
Ernie Reinhardt alias Lilo Wanders. Ein<br />
Mann, der weiß, was Frauen brauchen.<br />
(12) Arbeit und Soziales<br />
Sahra Wagenknecht. Kämpft für<br />
Mindestlohn und eiweißreiche<br />
Ernährung (Hummer).<br />
(13) Verkehr<br />
Papst Franziskus. Fährt der alte Lord<br />
fort, fährt er nur im Ford fort.<br />
(14) Wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
Dirk Niebel. Er findet, dass man<br />
dieses Ministerium abschaffen sollte.<br />
(15) Technologie<br />
Wolverine. Rettet die Welt mit<br />
ausfahrbaren Eisenkrallen.<br />
Gabriele Pauli<br />
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Jeanne d’Arc oder Hexe? Gabriele<br />
Pauli ließ die CSU erbeben. In ihrer<br />
Politbiografie zeigt sie, warum es<br />
keinen Platz für Paradiesvögel gibt<br />
und die Politik in Deutschland immer<br />
konformer wird. Spannende<br />
Visionen und Anstöße für eine<br />
Politik mit Rückgrat.<br />
*empf. Verkaufspr.<br />
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DEUTSCHLAND<br />
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... und wer regiert?<br />
Über Wählerwille, Machtkämpfe<br />
und Kompromisszwänge.<br />
(8) Landwirtschaft<br />
Gregor Gysi. Ist gelernter Melker.<br />
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Foto: Else Buschheuer<br />
Else Buschheuer, 47, ist Schriftstellerin. Sie arbeitete in der DDR<br />
unter anderem als Kartenabreißerin am Deutschen Theater und<br />
als Buchhändlerin. Nach der Wende wurde sie Zeitungs- und<br />
Fernsehjournalistin. Aus New York schrieb sie nach dem 11. September<br />
2001 ein Internettagebuch. Ihr fünfter Roman „Zungenküsse mit<br />
Hyänen“ ist soeben im Aufbau-Verlag erschienen<br />
„Der Wähler kann nur hoffen, dass<br />
irgendetwas von dem Wirklichkeit<br />
wird, was er sich von seiner<br />
Wahlbeteiligung erwartet.“<br />
(G.P. Hefty)<br />
192 Seiten, Broschur – EUR 19,90<br />
ISBN 978-3-7892-8349-9<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 39<br />
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Einfach göttlich<br />
Genießen: Die<br />
Franziskaner-<br />
Schwestern<br />
Gertrud und<br />
Erika während<br />
eines Ausflugs<br />
auf der<br />
Bodenseeinsel<br />
Mainau<br />
40 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Kloster heißt, seine bisherige Existenz aufzugeben. Wie ist das<br />
Leben dann? Der Fotograf Kiên Hoàng Lê hat einen Monat mit den<br />
Brüdern und Schwestern aus Stühlingen verbracht<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 41
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Wandern:<br />
Franziskanerinnen<br />
und Kapuziner<br />
aus Stühlingen im<br />
Schwarzwald<br />
Sich spiegeln: Die<br />
Franziskanerinnen<br />
an einem Teich<br />
auf der Mainau<br />
FOTOS: Kien Hoang Le / Agentur FOCUS (SEITEN 40 BIS 47)<br />
42 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Reinigen: Schwester<br />
Julia putzt in der<br />
Klosterkirche<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 43
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44 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Freuen: Schwester<br />
Clara springt nach<br />
der Gartenarbeit<br />
von einer Bank<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 45
| B e r l i n e r R e p u b l i k | I m K l o s t e r L e b e n<br />
Sich etwas gönnen: Schwester<br />
Julia mit einem Glas Likör<br />
Schmusen: Die<br />
Klosterkatze bringt<br />
Abwechslung in<br />
den Alltag<br />
46 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Baden: Bruder<br />
Jürgen bei der<br />
Zeitungslektüre<br />
im Waschraum<br />
S<br />
chwestern und Brüder, das schreibt sich jetzt locker<br />
flockig. Doch am Anfang waren die traditionellen<br />
Begriffe gewöhnungsbedürftig. Später wurde ich<br />
selbst Bruder Kiên gerufen. Die Schwestern und Brüder<br />
im Kloster hatten Vertrauen zu mir gefasst, zu dem<br />
30 Jahre alten Fremden, der nicht christlich, sondern eher buddhistisch<br />
ist und versucht, die Welt durch seine Kamera zu verstehen.<br />
Einen Monat lebte ich im Kloster Stühlingen an der Schweizer<br />
Grenze mit den vier Schwestern und vier Brüdern – eine einmalige<br />
Erfahrung.<br />
Bruder Kiên – mein neuer Rufname fiel mir bald nicht mehr<br />
auf. Ein Assimilierungsprozess, der ganz unbewusst geschah. Das<br />
Leben im Kloster ist das Leben in einer Gemeinschaft mit ihren<br />
verschiedenen Individuen und einer ganz eigenen Gruppendynamik.<br />
Die gleiche Kleidung in Tracht – für die Franziskanerinnen –<br />
und Habit – für die Kapuziner – gibt den Klosterbewohnern eine<br />
Basis. Sie spiegelt den gemeinsamen inneren Ruf wider, ein Leben<br />
in Armut, Demut und für Jesus zu führen. Sie unterliegen aber<br />
keinem Trachten- beziehungsweise Habitzwang.<br />
Die Schwestern und Brüder besitzen kein privates Geld. Besitztümer<br />
beschränken sich auf das Hab und Gut in ihren Zimmern.<br />
Für ihr leibliches Wohl ist im Kloster gesorgt, teils durch<br />
die Ernten aus dem Garten und teils aus Spenden der Supermärkte<br />
im Dorf, die ihre abgelaufenen Produkte dem Kloster schenken.<br />
Die Besitzlosigkeit gibt den Menschen eine ungeheure Freiheit,<br />
sich auf etwas zu konzentrieren, ohne den Fokus auf die<br />
Grundbedürfnisse legen zu müssen. Man könnte fast sagen: ein<br />
bedingungsloses Grundeinkommen. Das Ideal ist, dass die Gemeinschaft<br />
den Einzelnen versorgt. Der ist in der Lage, sich auf<br />
das zu konzentrieren, was er am besten kann. Diese Freiheit war<br />
früher größer, weil der Zustrom und Zuspruch zu den Orden zahlreich<br />
und die Belastung des Einzelnen geringer war.<br />
Heute spüren die Orden die Säkularisierung. Es kommen vielleicht<br />
ein, zwei Novizen pro Jahr hinzu, und dann ist nicht sicher,<br />
ob sie sich für ein Leben im Kloster entscheiden. Was bleibt, ist<br />
eine ökonomische Rechnung. Wie erhalte ich Klöster, wenn die<br />
Kräfte schwinden? In der ersten Phase muss der Einzelne mehr<br />
Verantwortung und mehr Zeit für die weltlichen Aufgaben aufwenden.<br />
Die wachsenden Aufgaben sind eine große Belastung für<br />
die Schwestern und Brüder. Es braucht Zeit, Ruhe und Besinnung,<br />
um in sich zu gehen und den spirituellen Dialog zu führen.<br />
Wenn auch das Bündeln der Kräfte nicht mehr ausreicht, müssen<br />
entweder Klöster geschlossen oder Mitglieder anderer Orden<br />
sowie Laien aufgenommen werden. Im Kloster Stühlingen<br />
haben die Kapuziner Franziskanerinnen des Klosters Reute in<br />
Oberschwaben eingeladen, mit ihnen gemeinsam ein Kloster zum<br />
Mitleben zu gestalten. Die Franziskanerinnen sind quasi bei den<br />
Kapuzinern angestellt und dennoch gleichgestellt.<br />
Es ist eine radikale Entscheidung, ins Kloster zu gehen, alles<br />
aufzugeben und in eine neue Familie einzutreten. Die Kirche<br />
und die Orden haben allerdings die Regeln gelockert. Schwestern<br />
und Brüder besuchen ihre Familien und fahren sogar mit ihnen<br />
in den Urlaub.<br />
<br />
Kiên Hoàng Lê<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 47
| B e r l i n e r R e p u b l i k | L i b e r a l e i m N e t z<br />
„mehr aufrichtigkeit“<br />
Wirtschaftsminister und FDP-Chef Philipp Rösler über Mobbing und Shitstorms<br />
im Internet, den NSA-Abhörskandal – und über seine eigenen dunklen Seiten<br />
H<br />
err Minister, von Angela Merkel<br />
ist bekannt, dass sie permanent<br />
online ist und Nachrichtenportale<br />
verfolgt. Ist das bei Ihnen ähnlich?<br />
Ja, allein schon dank der modernen<br />
Smartphones. Aber ich nutze sie eher<br />
zur direkten Kommunikation. Zum Beispiel<br />
Chatprogramme, um mit Kollegen,<br />
Familie oder Freunden in Kontakt<br />
zu bleiben.<br />
Das Internet ist also kein „Neuland“ für<br />
Sie, wie die Bundeskanzlerin das formuliert<br />
hat?<br />
Diesen Satz hat sie sicher anders gemeint,<br />
als er wahrgenommen wurde. Aber was<br />
mich angeht: In der digitalen Welt war<br />
ich schon früh mit dabei, schon seit den<br />
achtziger Jahren. Damals gab es statt Internet<br />
noch Akustikkoppler zur Datenübertragung<br />
per Telefon.<br />
Wie sehen Sie als Liberaler eigentlich die<br />
Freiheit im Netz? Das Internet ist ja auch<br />
ein Forum für wüsteste Beschimpfungen<br />
aller Art, gerade auch unter dem Schutz<br />
der Anonymität.<br />
Wie bei jeder technischen Innovation<br />
gibt es Chancen und Risiken. Der Arabische<br />
Frühling zum Beispiel wäre ohne Internet<br />
kaum möglich gewesen. Da waren<br />
es ja gerade junge Leute, die sich vernetzt<br />
haben, um ihren Willen zur gesellschaftlichen<br />
Umgestaltung zu artikulieren und<br />
zu organisieren. Die dunkle Seite des Internets<br />
ist die Anonymität, die es vorher<br />
in dieser Form nicht gab. Da werden<br />
manchmal Sätze geschrieben, die im normalen<br />
zwischenmenschlichen Umgang<br />
niemals gesagt würden.<br />
Als Politiker werden Sie wahrscheinlich oft<br />
angefeindet.<br />
„Es gibt Politiker, die manche Sachen aus Angst vor Häme im Internet nicht mehr<br />
auszusprechen wagen“: Philipp Rösler zählt sich selbst offenbar nicht zu dieser Spezies<br />
Als Politiker muss man damit leben.<br />
Aber normale Bürger, die nicht ständig<br />
in der Zeitung stehen, trifft es besonders<br />
hart, wenn sie plötzlich am Onlinepranger<br />
stehen. Das ist dann wirklich<br />
schlimm: Wenn man sieht, dass man<br />
mir nichts, dir nichts mit Shitstorms<br />
überzogen und mit Hasstiraden verfolgt<br />
wird und sich am Ende nicht dagegen<br />
wehren kann.<br />
Ihnen selbst wurde von einem Mitglied<br />
der <strong>Grün</strong>en via Facebook der NSU an den<br />
Hals gewünscht: „Schade, dass die NSU-<br />
Gruppe sich nicht solche wie sie vorgenommen<br />
hat, denn das wäre nicht so schlimm.“<br />
Foto: Marko Priske/Laif<br />
48 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Wie dickfellig muss man eigentlich sein, um<br />
öffentliche Mordfantasien zu ertragen? So<br />
etwas steckt man doch auch als Spitzenpolitiker<br />
nicht einfach weg.<br />
Mit Dickfelligkeit hat das nichts zu tun.<br />
Als Politiker weiß ich einfach, dass solche<br />
Entgleisungen leider dazugehören. Der<br />
Mann, von dem Sie sprechen, hat sich ja<br />
auch entschuldigt und ist bei den <strong>Grün</strong>en<br />
ausgetreten.<br />
Haben Sie die Entschuldigung<br />
angenommen?<br />
Wir haben die Sache einfach nicht<br />
weiterverfolgt.<br />
Was sagt denn diese Bereitschaft zur<br />
totalen Enthemmung über den Zustand<br />
unserer Gesellschaft aus?<br />
Ganz nüchtern gesagt: Dass innerhalb<br />
unserer Gesellschaft offenbar Gesprächsbedarf<br />
herrscht. Bundespräsident Joachim<br />
Gauck hat zu Recht gesagt, dass<br />
wir eine Debatte brauchen über Kultur,<br />
Werte, Anstand und den Umgang miteinander<br />
im Netz. Wir brauchen diese<br />
Diskussion – so schwierig es auch sein<br />
mag, sie aus der Realität ins Internet zu<br />
übertragen.<br />
Hat die Shitstorm-Kultur einen Einfluss<br />
auf den politischen Diskurs im<br />
Allgemeinen?<br />
Ich beobachte eine zunehmende Distanzlosigkeit<br />
der Menschen gegenüber Politikern.<br />
Es gibt keine Filter mehr dafür,<br />
was man alles gegen Politiker an Anfeindungen<br />
vorbringen kann. Deshalb gibt<br />
es auch Politiker, die bestimmte Dinge<br />
einfach nicht mehr aussprechen, weil sie<br />
Angst davor haben, mit ihren Argumenten<br />
einen Shitstorm auszulösen. Das ist<br />
dann natürlich ein Rückschritt in der politischen<br />
Debattenkultur, den wir nicht<br />
einfach akzeptieren sollten.<br />
Weil es dazu führt, dass Politiker nur noch<br />
Worthülsen verwenden, um möglichst<br />
wenig Angriffsfläche zu bieten?<br />
Auch das. Auf der einen Seite wollen Politiker<br />
ja nicht reden wie „typische Politiker“.<br />
Wenn sie es nicht tun, riskieren<br />
sie aber einen Shitstorm. Tun sie es<br />
doch, lautet der Vorwurf, man würde nur<br />
Sprechblasen von sich geben. Ich glaube,<br />
in einer Gesellschaft sollten alle Beteiligten<br />
versuchen, ein bisschen aufrichtiger<br />
zu sein, und Argumente zumindest<br />
nicht absichtlich falsch verstehen. Gerade<br />
deshalb brauchen wir ja eine Diskussion<br />
über unsere Debattenkultur, und da stehen<br />
wir erst am Anfang.<br />
In Ihrer eigenen Partei gibt es ja mitunter<br />
ebenfalls denkwürdige Beiträge zur<br />
Debattenkultur. Der hessische FDP-<br />
Landesvorsitzende Jörg-Uwe Hahn hat<br />
sich einst darüber Gedanken gemacht,<br />
ob „unsere Gesellschaft schon so weit ist,<br />
einen asiatisch aussehenden Vizekanzler<br />
auch noch länger zu akzeptieren“. Hat Sie<br />
das nicht irritiert?<br />
Jörg-Uwe Hahn ist einer von wenigen<br />
aus der Partei, mit denen ich wirklich befreundet<br />
bin. Und wenn ich eines weiß,<br />
dann, dass er alles andere als rassistisch<br />
ist, und so war dieser Satz auch nicht gemeint.<br />
Jörg-Uwe Hahn genießt nicht<br />
ohne Grund einen hervorragenden Ruf<br />
als Integrationsminister. Gerade dieses<br />
Beispiel zeigt sehr gut, wie schnell eine<br />
Aussage verdreht werden kann, wenn sie<br />
völlig verkürzt als Nachrichtenmeldung<br />
in Umlauf gebracht wird. Zumal in einer<br />
Zeit, in der ich ohnehin stark in der<br />
Kritik stand. Außerdem hat Jörg-Uwe<br />
Hahn seinen Satz ja nicht anonym ins Internet<br />
gestellt, und das macht für mich<br />
auch einen großen Unterschied. Die<br />
Anonymität ist ja das Gefährliche, weil<br />
Handeln und Haften dann nicht mehr<br />
zusammenpassen.<br />
Wie würden Sie denn Hahns verkürzt wiedergegebene<br />
Frage heute beantworten?<br />
Ist Deutschland weit genug, um einen<br />
asiatisch aussehenden Vizekanzler zu<br />
akzeptieren?<br />
„Ich beobachte eine zunehmende<br />
Distanzlosigkeit der Menschen<br />
gegenüber Politikern“<br />
Nach all den vielen Begegnungen mit<br />
den unterschiedlichsten Menschen, die<br />
ich bisher hatte, kann ich klar sagen: Ja.<br />
Wir erleben mit dem NSA-Skandal<br />
derzeit eine der wohl umfangreichsten<br />
Ausspähaktionen seit der Existenz des<br />
Internets. Wie verhält sich der Vorsitzende<br />
einer liberalen Partei angesichts dieses<br />
Vorgangs?<br />
Erst einmal erlaube ich mir den Hinweis,<br />
dass jetzt, während wir miteinander<br />
sprechen, noch längst nicht eindeutig<br />
geklärt ist, was eigentlich wirklich<br />
geschehen ist oder geschieht. Mittlerweile<br />
stellt sich doch manches anders<br />
dar als zu Anfang dieser Geschichte. Gerade<br />
diese Debatte zeigt aber, wie richtig<br />
der Kampf der FDP gegen die Vorratsdatenspeicherung<br />
gewesen ist und<br />
bleibt. In den vergangenen vier Jahren<br />
haben wir die Vorratsdatenspeicherung<br />
verhindert und sind deshalb von vielen<br />
Kollegen und auch dem Koalitionspartner<br />
fast schon als Sicherheitsrisiko hingestellt<br />
worden. Die NSA-Geschichte<br />
hat aus meiner Sicht drei Dimensionen.<br />
Erstens zeigt sich noch mal, wie sensibel<br />
wir bei Datenschutz und Datensicherheit<br />
sein müssen – je mehr man das Internet<br />
nutzt und es ins tägliche Leben<br />
integriert, desto wichtiger werden diese<br />
Fragen. Zum Zweiten brauchen wir ein<br />
eigenes Rechtssystem auf europäischer<br />
Ebene; derzeit arbeitet unsere Justizministerin<br />
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger<br />
daran, die Debatte mit der Europäischen<br />
Kommission über gemeinsame<br />
Datenschutzrichtlinien wieder aufleben<br />
zu lassen. Außerdem versucht sie zusammen<br />
mit Außenminister Guido Westerwelle,<br />
Partner auf UN-Ebene zu finden,<br />
um den Schutz der Privatsphäre in den<br />
UN-Konventionen zu verankern.<br />
Und drittens?<br />
Drittens stellt sich die Frage, wie wir uns<br />
konkret vor der Abschöpfung von Daten<br />
schützen können. Was das angeht, muss<br />
ich leider sagen, dass wir in Europa technisch<br />
zu sehr abhängig sind von Internetstrukturen<br />
in anderen Regionen der Welt.<br />
Was meinen Sie damit?<br />
Zum Beispiel den gesamten Bereich der<br />
mobilen Kommunikation. Durch die<br />
Tatsache, dass wir in Deutschland keine<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 49
| B e r l i n e r R e p u b l i k | L i b e r a l e i m N e t z<br />
Handy-Produktion mehr haben, machen<br />
wir uns natürlich abhängig von ausländischer<br />
Technologie. Was alles mit solchen<br />
Geräten möglich ist, bestimmen nicht<br />
deutsche Unternehmer, sondern Konzerne<br />
in Asien und in Amerika. Da müssen<br />
wir den Anspruch haben aufzuholen,<br />
um wieder vorne mitspielen zu können.<br />
Und damit soll Datenklau verhindert<br />
werden?<br />
Wir können nicht alles selber machen,<br />
aber vieles können wir deutlich sicherer<br />
machen. Es geht um die Strukturen.<br />
Wenn ich hier in Berlin meinem Kollegen<br />
im Nebenraum via Handy eine Mail<br />
schicke, dann laufen die Daten vielleicht<br />
über Server-Punkte in den Vereinigten<br />
Staaten. Denn wir haben keine<br />
eigene Infrastruktur für das Internet, keinen<br />
Zentralserver. Es gibt weltweit nur<br />
noch zwei Anbieter im Bereich des digitalen<br />
Datentransfers – keiner von beiden<br />
mit Standort in Europa. Das ist am Ende<br />
natürlich auch eine Kostenfrage. Und ob<br />
die Verbraucher hierzulande bereit sind,<br />
mehr zu bezahlen, das muss sich erst mal<br />
herausstellen.<br />
Irritiert es Sie, dass die Datenklau-Affäre<br />
die Menschen hier nicht allzu sehr zu<br />
beeindrucken scheint?<br />
Als Partei der Bürgerrechte wissen wir,<br />
dass solche Themen die Menschen nicht<br />
übermäßig bewegen. Aber Recht ist keine<br />
Frage von Mehrheiten. Für uns Liberale<br />
geht es um die grundsätzliche Frage, ob<br />
etwas richtig oder falsch ist. Und ich bin<br />
überzeugt, es ist richtig, sich für Bürgerrechte,<br />
Datenschutz und Datensicherheit<br />
einzusetzen.<br />
Das heißt, das von Innenminister Friedrich<br />
ins Spiel gebrachte „Supergrundrecht auf<br />
Sicherheit“ existiert für Sie nicht?<br />
Dieses angebliche „Supergrundrecht“<br />
ist ja eine Erfindung des ehemaligen<br />
SPD-Innenministers Otto Schily. Bekanntlich<br />
gibt es in unserer Verfassung<br />
weder ein solches Grundrecht, noch haben<br />
die tatsächlichen Grundrechte eine<br />
unterschiedliche Wertigkeit. Grundrechte<br />
sind Abwehrrechte des Einzelnen,<br />
um einen übermächtigen Staat zu verhindern<br />
– aber keine Anspruchsrechte. Karl-<br />
Hermann Flach, der erste Generalsekretär<br />
unserer Partei, hat sehr zu Recht gesagt:<br />
Die Zunahme an Sicherheit bedeutet<br />
eine Abnahme an Freiheit – und umgekehrt.<br />
Da gilt es, die richtige Balance zu<br />
finden.<br />
Die FDP ist ja auch die Partei der transatlantischen<br />
Beziehungen. Hat Sie der<br />
Skandal um die Ausspähungen da nicht<br />
besonders gekränkt? Die NSA ist immerhin<br />
ein amerikanischer Geheimdienst.<br />
„Bei der mobilen Kommunikation<br />
muss Deutschland wieder vorne<br />
mitspielen wollen“<br />
Amerikaner und Briten haben inzwischen<br />
glaubhaft versichert, dass sie uns nicht<br />
ausspionieren. Unter Freunden hört man<br />
sich nicht ab. Unabhängig davon kann<br />
man sich unter Freunden sagen, was man<br />
für richtig und für falsch hält – und von<br />
deutscher Seite das Recht auf informationelle<br />
Selbstbestimmung immer wieder<br />
einfordern. Das Spielen mit antiamerikanischen<br />
Ressentiments, wie es derzeit<br />
teilweise zu beobachten ist, halte ich aber<br />
in jedem Fall für verheerend. Ich will die<br />
Amerikaner in dieser Sache nicht verteidigen.<br />
Trotzdem sollte man gelegentlich<br />
daran erinnern, was die Vereinigten Staaten<br />
am 11. September 2001 erlebt haben.<br />
Da muss man zumindest nachvollziehen,<br />
dass dort die Balance zwischen Freiheit<br />
und Sicherheit anders gesetzt wird<br />
als bei uns.<br />
Fürchten Sie, dass Ihre Telefonate oder<br />
E-Mails abgefischt wurden?<br />
Wenn Sie Regierungsmitglied sind, müssen<br />
Sie fast davon ausgehen, dass das passiert<br />
– und zwar von unterschiedlichster<br />
Seite.<br />
Sie haben einmal gesagt, mit 45 Jahren<br />
würden Sie mit der Politik aufhören. Gilt<br />
diese Ansage noch?<br />
Ja. Als ich mit 29 Fraktionsvorsitzender<br />
in Niedersachsen wurde, hatte ich<br />
mir zum Ziel gesetzt, 15 Jahre Politik im<br />
Hauptberuf zu machen.<br />
Sie sind jetzt 40. Und später arbeiten Sie<br />
in Ihrem erlernten Beruf als Arzt weiter?<br />
Mein erlernter Beruf ist Sanitätsoffizier,<br />
und den kann ich natürlich nicht mehr<br />
ausüben. Und Arzt? Ich glaube, dafür bin<br />
ich schon zu lange aus diesem Beruf raus.<br />
Im vergangenen Jahr waren Sie eine Zeit<br />
lang als Parteivorsitzender schon so gut<br />
wie abgeschrieben und konnten sich nach<br />
dem guten Abschneiden der FDP bei der<br />
Landtagswahl in Niedersachsen dann<br />
doch behaupten. Mit welchen Lehren<br />
sind Sie aus diesem Stahlbad wieder<br />
aufgetaucht?<br />
Dass sich jeder Kampf lohnt, wenn man<br />
ihn aus Überzeugung führt. Durch diese<br />
Erkenntnis kann mich so schnell nichts<br />
mehr erschüttern.<br />
Aber so etwas ist ja auch eine Erfahrung<br />
im Umgang mit Menschen. Wie gehen Sie<br />
mit Parteifreunden um, die Ihre Ablösung<br />
betrieben haben?<br />
Da bin ich ganz Arzt und sage mir: Die<br />
Menschen sind, wie sie sind. Außerdem<br />
ist doch klar: Wenn eine Partei in einer<br />
schlechten Lage ist, sieht man zuallererst<br />
auf den Vorsitzenden. Und wir standen<br />
als FDP in den Umfragen damals<br />
nicht gut da. Dass da Nervosität entstand,<br />
kann ich schon verstehen. Außerdem<br />
muss man eben immer auch die dunklen<br />
Seiten des Menschen in Betracht ziehen.<br />
Was ist denn Ihre dunkle Seite?<br />
Die Leidenschaft für tiefschwarzes Lakritz.<br />
Lakritz ist das Geheimnis meines<br />
Erfolgs.<br />
Gut zu wissen. Irgendeine bestimmte<br />
Marke?<br />
Skandinavischer Salzlakritz ist sehr zu<br />
empfehlen. Den bekomme ich in Berlin<br />
beim Händler meines Vertrauens. Ein<br />
kleiner Laden in Kreuzberg.<br />
Das Gespräch führten Alexander Marguier<br />
und Christoph Schwennicke<br />
50 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Redaktionsgespräch<br />
Besuchen Sie uns in Berlin und<br />
kommen Sie mit den Redakteuren<br />
von <strong>Cicero</strong> ins Gespräch. Wir<br />
laden Sie ein zu einem Blick hinter<br />
die Kulissen unseres Magazins und<br />
sind gespannt auf Ihre Meinung,<br />
Anregungen oder Kritik. Bitte vormerken:<br />
5.11. 2013, 16 Uhr. Jeweils<br />
mit anschließendem Abendessen.<br />
Foyergespräch<br />
Kommen Sie am Sonntag, den<br />
29. 9. 2013, zum <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />
mit Peter Sloterdijk und<br />
Martin Walser mit dem Thema<br />
„Mehr als schön ist nichts – Zwei<br />
Meinungen über den Zustand der<br />
Welt“, moderiert vom <strong>Cicero</strong>-<br />
Kolumnisten Frank A. Meyer im<br />
Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-<br />
Platz 1, 11 Uhr.<br />
Wir laden Sie ein!<br />
Als Leser kennen Sie uns schon – höchste Zeit, dass wir uns<br />
jetzt persönlich kennenlernen. Hier fünf Vorschläge für Sie.<br />
Arbeitsfrühstück<br />
Lassen Sie uns über Geld sprechen:<br />
Kommen die Staatsfinanzen endlich<br />
in Ordnung? Wer kontrolliert<br />
die Ausgaben des Bundes? Diskutieren<br />
Sie mit dem haushaltspolitischen<br />
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion,<br />
Carsten Schneider.<br />
Moderation im Einstein unter den<br />
Linden: Christoph Schwennicke.<br />
Bitte vormerken: 8. 11. 2013.<br />
Redaktionskonferenz<br />
Dienstags um 10 Uhr – einmal in<br />
der Woche trifft sich die <strong>Cicero</strong>-<br />
Redaktion zur großen Themenkonferenz.<br />
Nehmen Sie daran<br />
teil und schlagen Sie uns Ihre<br />
Themen und Geschichten für die<br />
kommenden Ausgaben vor. Bitte<br />
vormerken: 17. 10. 2013.<br />
Druckereibesuch<br />
Gutenberg würde aus dem Staunen<br />
nicht herauskommen: Erleben<br />
Sie, wie in atemberaubender<br />
Geschwindigkeit und mit der<br />
Präzision eines Uhrwerks die neue<br />
<strong>Cicero</strong>-Ausgabe im <strong>Rot</strong>ations-<br />
Offsetverfahren gedruckt wird.<br />
Druckereibesuch mit Blick hinter<br />
die Kulissen bei Neef+Stumme in<br />
Wittingen am 18. 10. 2013.<br />
Liebe Abonnenten, wir möchten Sie einladen!<br />
Für Ihre Treue möchten wir uns persönlich bei Ihnen bedanken. Wählen Sie aus,<br />
zu welcher <strong>Cicero</strong>-Veranstaltung Sie kommen möchten, und schreiben Sie uns<br />
eine E-Mail oder Postkarte:<br />
Mark Siegmann<br />
<strong>Cicero</strong>-Leserservice<br />
Friedrichstraße 140<br />
10117 Berlin<br />
E-Mail: einladung@cicero.de<br />
www.cicero.de/einladung
| B e r l i n e r R e p u b l i k | M e i n S c h ü l e r<br />
„Guido war ein Gentleman“<br />
Der Lehrer Helmut Lennartz erinnert sich noch gut an seinen<br />
Schüler Guido Westerwelle, der gerne Künstler werden wollte<br />
Bei uns in Bonn an der Schule gab es damals im<br />
Jahrgang weit über 100 Schüler, die meisten sind<br />
schnell vergessen. Und dann gibt es Leute wie Westerwelle.<br />
An ihn hätte ich mich auch erinnert, wenn<br />
er danach nie wieder aufgetaucht wäre.<br />
Guido hat 1980 bei uns am Ernst-Moritz-<br />
Arndt-Gymnasium in Bonn Abitur gemacht. Aber<br />
er ist erst in der Oberstufe von der Realschule zu<br />
uns gewechselt. Er hatte damals recht langes, blondes Haar und<br />
kam mit einer ganzen Truppe ehemaliger Realschüler. Unter denen<br />
fiel er auf, weil er den Ton angab. Von unseren Gymnasiasten<br />
wurden die ehemaligen Realschüler eher kritisch betrachtet, das<br />
hatte auch mit Arroganz zu tun. Bei Guido kam noch etwas anderes<br />
dazu, nämlich seine spezielle Art: Er hatte zu allem schnell<br />
eine Meinung, manchmal zu schnell, und verkündete die auch<br />
gerne. Es gab Gymnasiasten, die er damit provoziert hat, und die<br />
vieles von dem, was er so sagte, für Blödsinn hielten. In einem kleinen<br />
Kreis seiner Mitschüler kursierte damals sogar ein „Schwarzbuch<br />
Westerwelle“, in dem sie sich über ihn lustig gemacht haben.<br />
Wahljahr 2013<br />
Der Countdown<br />
Bei den Lehrern fiel er auch durch sein Mundwerk<br />
auf, obwohl er eher ein Gentleman war. Das<br />
unterschied ihn von vielen Mitschülern, die alles<br />
andere als höflich zu uns waren. Nicht, dass er ein<br />
Schleimscheißer gewesen wäre, aber er war bereit,<br />
den Lehrern Achtung zu erweisen.<br />
Nur eine Situation gab es, die hatte ich als Jahrgangsstufenleiter<br />
noch nicht erlebt. Es gab einen<br />
Deutschlehrer, der kam überhaupt nicht mit Guido klar. Der<br />
bat mich, ob ich den Westerwelle nicht aus seinem Kurs herausnehmen<br />
könne. Das habe ich gemacht, so wurde Guido mein<br />
Deutschschüler. Seine Noten waren unterschiedlich, die konnten<br />
von einer Fünf bis zu einer Zwei gehen. Dass er mal Politiker<br />
werden würde, auf den Gedanken wäre man damals nicht gekommen.<br />
Er hat überlegt, beruflich in Richtung Kunst zu gehen. Sein<br />
Kunstlehrer hat ihm aber abgeraten.<br />
In der <strong>Cicero</strong>-Serie „Mein Schüler“ zur Bundestagswahl spürt<br />
Constantin Magnis Lehrer unserer Spitzenpolitiker auf<br />
Guido Westerwelle<br />
als Schüler. Ein<br />
Deutschlehrer<br />
am Bonner<br />
Gymnasium<br />
wollte ihn<br />
unbedingt<br />
loswerden. Da<br />
nahm ihn Helmut<br />
Lennartz, heute<br />
76, in seinen Kurs<br />
Grafik: <strong>Cicero</strong>; Fotos: Privat, Markus C. Hurek<br />
52 <strong>Cicero</strong> 9.2013
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GEO. Die Welt mit anderen Augen sehen
| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />
Nein,<br />
lieber Otto<br />
Heute bedeutet Überwachung<br />
Allmacht. Ein Brief an den<br />
früheren Innenminister Schily<br />
Von Frank A. Meyer<br />
D<br />
arf man, soll man einem verehrten lieben Freund öffentlich<br />
widersprechen? Wenn er sich selber öffentlich<br />
äußert, muss man es sogar. Und selbstverständlich öffentlich.<br />
So gebietet es geradezu die Freundespflicht.<br />
Otto Schily hat dem Spiegel Anfang August ein Interview<br />
zur Snowden-NSA-Affäre gegeben. Anlässlich dieses Gesprächs<br />
beurteilte der Innenminister von Gerhard Schröders rot-grüner<br />
Regierung die Kritik an der allumfassenden Internet-Überwachung<br />
durch die amerikanische National Security Agency mit<br />
folgenden Worten: „Die Furcht vor dem Staat trägt teilweise<br />
wahnhafte Züge.“<br />
Lieber Otto Schily, ist es denn wirklich „Furcht vor dem<br />
Staat“, die der Kritik an der Spionage der USA gegen Bürger in<br />
aller Welt zugrunde liegt? Nein, das Gegenteil ist der Fall. Herausragendes<br />
Motiv der meisten Kritiker ist die Sorge um den<br />
Staat, genauer: um den demokratischen Rechtsstaat.<br />
Die amerikanische Gesellschaft ebenso wie die britische sehen<br />
ihren Staat unterwandert durch einen Staat im Staat, der<br />
sich als Sicherheitsapparat tarnt, in Wahrheit aber eine allmächtige<br />
Behörde ist.<br />
Diese Geheimstruktur erfasst und verarbeitet – jeder wirksamen<br />
Kontrolle durch Demokratie und Rechtsstaat enthoben –<br />
Abermillionen Daten von Bürgern und fügt sie bei Bedarf zu<br />
Persönlichkeitsprofilen zusammen. Anhand algorithmischer Formeln<br />
versucht das klandestine Behördengeflecht aus den Daten<br />
verdächtiges, künftig kriminelles Verhalten herauszufiltern und<br />
zu verhindern – alles unter dem Vorwand, optimale Sicherheit<br />
für ebenjene Bürger zu garantieren: ein Thriller wie der Science-<br />
Fiction-Film „Minority Report“ im Weltmaßstab.<br />
Das hochtechnologisch erschnüffelte Geheimwissen ist dem<br />
Verfassungsstaat nahezu komplett entzogen. Es wird sanktioniert<br />
durch geheime Richter, die geheime Verfahren führen und geheime<br />
Urteile fällen. Das Ergebnis ist Herrschaftswissen, Wissen,<br />
das der Staat im Staat zum eigenen Überleben benötigt.<br />
Ist dies noch das amerikanische Regierungssystem der<br />
Checks and Balances, ist dies noch der Staat, den wir für seine<br />
Erklärung der Menschenrechte bewundern, den Generationen<br />
unterdrückter und drangsalierter Europäer herbeigewünscht haben,<br />
um auch in der Alten Welt die Freiheit über die Diktatur<br />
triumphieren zu lassen?<br />
Nein, Otto Schily: Nicht die Kritik an der digitalen Geheimdienst-Maschinerie<br />
trägt „wahnhafte Züge“. Dem Wahn<br />
verfallen sind die Geheimagenturen, scheinbar legitimiert vom<br />
Schrecken des Attentats auf das World Trade Center am 11. September<br />
2001. Seit diesem Tag haben sich die USA gewandelt:<br />
Sie sind von der Freiheitsnation zur Sicherheitsnation geworden<br />
– von der Verheißung zum Moloch.<br />
Die Sicherheit des Staates begründet den Sicherheitsstaat –<br />
in der DDR die Stasi. In Washington stützt sich die Mammut-Behörde<br />
auf den pathetisch geschichtstümelnden Begriff<br />
„Homeland Security“ – Heimatschutz.<br />
Otto Schily sagte auch: „Man soll keinen falschen Gegensatz<br />
zwischen Freiheit und Sicherheit konstruieren.“ Ja, was wäre<br />
dann der richtige Gegensatz? Im vorliegenden Fall muss er gar<br />
nicht erst konstruiert werden. Bundespräsident Joachim Gauck<br />
hat ihn bereits benannt: „Die Angst, unsere Telefonate oder<br />
Mails würden von ausländischen Nachrichtendiensten erfasst<br />
und gespeichert, schränkt das Freiheitsgefühl ein.“<br />
Freiheitsgefühl ist nicht nur ein Gefühl. Es ist die Voraussetzung<br />
für gelebte Freiheit!<br />
Angst hingegen ist das Gegenteil von Freiheit. Angst haben<br />
die USA. Angst haben alle Bürger, die ihre elektronische Kommunikation<br />
durch die Angstverwalter der amerikanischen und<br />
britischen und anderer Geheimdienste erfasst sehen.<br />
Angst essen Seele auf. Die amerikanische. Und unsere. Die<br />
Seele der freien Welt.<br />
Noch eine Formulierung Otto Schilys gehört unter die Lupe<br />
genommen: „Law and Order sind sozialdemokratische Werte.“<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
54 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Foto: Privat<br />
Doch auf Recht und Ordnung bestanden die Genossen<br />
in ihrer 150-jährigen Geschichte nicht nur aufseiten des Staates,<br />
sondern stets auch gegenüber dem Staat, der sie, gerade in<br />
Deutschland, allzu lange und mit allen Mitteln bekämpfte, sie<br />
bis in die jüngste Vergangenheit als „vaterlandslose Gesellen“<br />
verdächtigte, überwachte und kujonierte.<br />
Recht und Ordnung, das ist die Grundformel des demokratischen<br />
Rechtsstaats, um den sich die Sozialdemokratie unter<br />
schweren Opfern immer wieder verdient gemacht hat.<br />
Otto Schily selbst erlebte als RAF-Anwalt den übergriffigen<br />
Staat, der in der bleiernen Zeit der Terroristenprozesse auch ihn<br />
als Verteidiger der Komplizenschaft mit Terroristen verdächtigte<br />
und überwachte. Heute würden die Geheimdienste der USA<br />
und Großbritanniens Schilys Anwaltspost ausspionieren und<br />
dem Verbündeten Deutschland zur Verfügung stellen. Sie würden<br />
die Post – zur Sicherheit – wohl bereits mitlesen und mithören,<br />
während er sie noch formuliert.<br />
Ja, lieber Otto Schily: So steht es um die demokratische<br />
Welt. Und jeden Tag steht es um unsere Bürgerfreiheit ein wenig<br />
schlimmer. Dies lehrt uns Enthüllung um Enthüllung.<br />
Nichts ist mehr, wie es war, als Du Dich gegen den deutschen<br />
Überwachungsstaat der RAF-Jahre zur Wehr setztest.<br />
Nichts ist mehr, wie es war, als Du im Amt des Innenministers<br />
über den Rechtsstaat wachtest!<br />
Deine sieben Jahre als Minister mögen Dich zu dem Satz<br />
inspiriert haben: „Ich empfehle ein gewisses Vertrauen in den<br />
Staat und seine Sicherheitsbehörden.“ Gerade Sicherheitsbehörden<br />
aber verdienen Misstrauen, nicht Vertrauen. Sie erfordern<br />
Kontrolle. Unerbittliche Nachprüfung jedes einzelnen<br />
Schrittes. Gerade in der Demokratie. Gerade durch die<br />
Demokratie.<br />
Denn es gehört zum Wesen der freiheitlichen Ordnung, dass<br />
sie ihre behördlichen Mächte an die Kandare nimmt, sie einhegt<br />
und begrenzt – sie transparent, durchschaubar macht, wenn<br />
nicht für die breite Öffentlichkeit, so doch für unbestechliche<br />
Gremien der demokratisch legitimierten Politik.<br />
Stasi, das war beileibe nicht nur die DDR. Bei uns in der<br />
Schweiz fichierte die Bundespolizei bis Ende des Kalten Krieges<br />
in den frühen neunziger Jahren 700 000 Bürgerinnen und Bürger<br />
– das heißt, sie verfasste Dossiers von einem Zehntel ihrer<br />
damals sieben Millionen Einwohner.<br />
System und Mentalität jener ominösen Bundesbehörde ähnelten<br />
damals auf verbüffende Weise den Machenschaften des<br />
DDR-Stasi-Ministers Erich Mielke: Telefonüberwachen, Brieföffnen,<br />
Aushorchen von Privaträumen mittels Richtmikrofonen,<br />
Beschattung, Denunziation, Einsatz von V-Leuten, Empfehlung<br />
an Arbeitgeber, Verdächtigte zu entlassen.<br />
Überwachung total – in der Schweiz, diesem Berg-Urgestein<br />
der Demokratie? Ja, auch die Schweiz unterhielt einen Staat im<br />
Staat, getarnt als Staatsschutz.<br />
Ein Satz aus Deinem Spiegel-Interview, lieber Otto Schily,<br />
eignet sich dazu trefflich als Kommentar: „In einem demokratischen<br />
Rechtsstaat spionieren Geheimdienste keine Bürger aus,<br />
sondern dienen der Gefahrenabwehr.“<br />
Die Eidgenossen räumten ihren Augiasstall schließlich aus.<br />
Wie aber steht es mit dem deutschen Schweinekoben aus Zeiten<br />
der Ost-West-Konfrontation?<br />
Allzu bekannt, allzu gewohnt wirkt die Überwachungsmentalität,<br />
die dank des Ex-Agenten Edward Snowden ans Licht<br />
kommt. Die Geheimen der Ära John Le Carrés spielten zwar im<br />
Vergleich zu den NSA-Methoden noch im Sandkasten. Auch die<br />
Agentenwerkzeuge aus den Zeiten James Bonds wirken nachgerade<br />
putzig, wenn man sie mit der Cyber-Spionage des Programms<br />
„Prism“ vergleicht.<br />
Überwachungsmacht bedeutet heute Allmacht: Keine E-<br />
Mail, kein Twitter-Tweet, kein „I like“ auf Facebook, keine<br />
Buchbestellung bei Amazon bleibt unerfasst – und alles wird automatisch<br />
auf verdächtige Stichworte oder Verhaltensweisen gecheckt.<br />
Der Regisseur Andres Veiel, mit Recherchen über die<br />
NSA befasst, schildert die schöne neue Geheimdienstwelt: „Die<br />
Möglichkeit, das Denken eines Menschen nachrichtendienstlich<br />
zu erfassen, seine Intuition berechenbar zu machen, die gab es<br />
bisher nicht.“<br />
Jetzt gibt es sie. Und diese Fähigkeit haben nicht nur Geheimdienste.<br />
Auch die Computer-Nerds der Silicon-Valley-<br />
Industrie arbeiten ihnen eilfertig zu. Internet-Giganten wie<br />
Google, Microsoft oder Facebook, mit deren bedienerfreundlichen<br />
Programmen wir international kommunizieren, unterstehen<br />
keiner demokratischen Aufsicht.<br />
Sie inszenieren sich zwar gern als Anarchos des Internet-Zeitalters<br />
– Kapuzenpullover statt Krawatte, Turn- statt Lederschuhen,<br />
Fahrrad statt Sportwagen –, in Wirklichkeit aber sind sie<br />
spießige US-Puritaner, die weder ruhen noch rasten, bis sie alle<br />
Bewegungen dieser Welt unter Kontrolle haben – gern auch als<br />
Helfer totalitär gestimmter Geheimdienstler.<br />
Es ist eine Internet-Theokratie, die da heraufdämmert, ausgestattet<br />
mit allen Mitteln und der Macht, den demokratischen<br />
Rechtsstaat geräuschlos zur Implosion zu bringen. Der Ökonom<br />
Max Höfer fand den treffenden historischen Vergleich: „In<br />
den Niederlanden bauten die Calvinisten seit dem 18. Jahrhundert<br />
das Wohnzimmer zur Straßenseite und verboten Gardinen<br />
vor den Fenstern, denn der rechtschaffene Protestant hat nichts<br />
zu verbergen.“<br />
Eric Schmidt, Executive Chairman von Google, formuliert<br />
das Dogma seiner Religion so: „Wenn es etwas gibt, von dem<br />
Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten sie es vielleicht<br />
gar nicht erst tun.“ Man muss, nach den neuesten Erkenntnissen,<br />
hinzufügen: Sie sollten es am besten gar nicht erst<br />
denken!<br />
Wie hätte Stasi-General Mielke das Schmidt-Diktum zu seiner<br />
Zeit formuliert? Wohl so: „Brave Parteisoldaten haben von<br />
mir nichts zu befürchten.“<br />
Doch, lieber Otto Schily, man darf, man muss die Vulgarität<br />
von Eric Schmidt und Seinesgleichen zur Vulgarität der Stasi<br />
in Bezug setzen, damit klar wird: Sie sind die Putschisten unserer<br />
Tage.<br />
Frank A. Meyer<br />
ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />
Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 55
| W e l t b ü h n e<br />
Des Volkes General<br />
Abdel Fattah al Sisi gibt sich moderat. Im Umgang mit dem politischen Gegner agiert er wie seine Vorgänger<br />
von Julia Gerlach<br />
S<br />
eine Stimme klingt weich und<br />
warm. Wie ein Vater spricht er,<br />
ein Vater, der seine Kinder liebt,<br />
aber auch streng mit ihnen sein kann. Seit<br />
vielen Jahren ist in Ägypten die Rede davon,<br />
dass nur ein neuer starker Mann die<br />
Probleme des Landes in den Griff bekommen<br />
kann. Abdel Fattah al Sisi, Ägyptens<br />
Armeechef und Verteidigungsminister,<br />
scheint der Mann zu sein, der diese Rolle<br />
übernehmen könnte. Er ist resolut und zugleich<br />
volksnah, berühmt für seine bewegenden<br />
Reden.<br />
Seinen wohl eindrücklichsten Auftritt<br />
hatte al Sisi Ende Juni. Für den 30. Juni waren<br />
Massenproteste gegen den damaligen<br />
Präsidenten Mohammed Mursi geplant.<br />
Klar war, es würden Millionen Menschen<br />
auf die Straße gehen. Klar war auch, dass<br />
Mursi nicht nachgeben würde. Die Angst<br />
vor einem Bürgerkrieg wuchs. Das war al<br />
Sisis Stunde.<br />
„Die Armee sollte sich aus den Alltagsgeschäften<br />
der Politik raushalten“, sagte er<br />
und warnte gleichzeitig: „Ich glaube nach<br />
wie vor an dieses Prinzip, doch habe ich<br />
zugleich eine Verantwortung. Ich werde es<br />
nicht dulden, dass Ägypten in einem dunklen<br />
Tunnel verschwindet. Krieg zwischen<br />
seinen Bürgern darf es nicht geben.“ Seine<br />
Augen glänzten, er war gerührt. Mit der<br />
Sorge um den Frieden im Land begründete<br />
al Sisi dann auch, weshalb er vier Tage nach<br />
den ersten großen Demonstrationen Mursi<br />
absetzte: „Ich musste eingreifen, die Gefahr<br />
eines Bürgerkriegs war zu groß.“<br />
Wenn man al Sisi fragt, ob es ihm nicht<br />
vielleicht doch um das Präsidentenamt geht,<br />
reagiert er gereizt. „Sie können sich wohl<br />
nicht vorstellen, dass jemand nicht nach<br />
Macht strebt, was?“, blafft er. Als Mursi<br />
zum Präsidenten gewählt wurde und er al<br />
Sisi kurz darauf zu seinem Verteidigungsminister<br />
machte, da habe die Armee hinter<br />
ihm gestanden: „Wir waren sehr am<br />
Erfolg des Präsidenten interessiert. Überhaupt,<br />
wenn wir nicht gewollt hätten, dass<br />
er regiert, dann hätten wir ja auch etwas an<br />
den Wahlen drehen können. Das haben die<br />
Regierungen vor uns ja auch getan“, sagt<br />
der General. Er sei der treue Wächter über<br />
Ägyptens Sicherheit und werde dafür sorgen,<br />
dass der Neuanfang gelingt. Das versicherte<br />
al Sisi dann auch, als er am 3. Juli<br />
vor die Kameras trat und die Absetzung<br />
Mursis bekannt gab.<br />
Allerdings ist es eine Sache, was al Sisi<br />
sagt, und eine andere, was getan wird.<br />
Bereits Stunden nach Mursis Absetzung<br />
wurde Kairo mit riesigen Porträts des Generals<br />
geschmückt. „Er ist wie Gamal Abdel<br />
Nasser, ein starker Mann, einer, der<br />
Ägypten wieder zu Ansehen verhelfen<br />
wird“, sagt ein junger Mann und salutiert<br />
vor dem Konterfei des Armeechefs.<br />
Er wünscht sich, wie so viele andere auch,<br />
dass al Sisi sich zum Präsidenten wählen<br />
lässt: „Wenn er nicht von sich aus antritt,<br />
dann werden wir ihn mit großen Demonstrationen<br />
oder einer Unterschriftenaktion<br />
dazu bringen, unser Kandidat zu werden!“,<br />
erklärt der junge Mann.<br />
Tatsächlich spielt al Sisi mit dem Populismus.<br />
So rief er zu Massenprotesten<br />
gegen die Muslimbruderschaft auf. Millionenfach<br />
sollten die Menschen auf die<br />
Straßen strömen und der Armee den Rücken<br />
stärken im Kampf gegen Gewalt und<br />
Terrorismus. Seit dieser Machtdemonstration<br />
– die Größe der Proteste war überwältigend<br />
– gilt es noch mehr als ausgemachte<br />
Sache, dass al Sisi bereitsteht.<br />
Was aber ist von ihm zu erwarten? Zunächst<br />
ist der 1954 in Kairo Geborene Teil<br />
des Systems Armee. Das ägyptische Militär<br />
ist ein Staat im Staate, die Generäle betreiben<br />
ein riesiges Wirtschafts imperium und<br />
spielen auch in der Verwaltung des Landes<br />
eine entscheidende Rolle.<br />
Al Sisi gehört zu einer neuen Generation<br />
von Generälen: Er hat im Gegensatz<br />
zu seinen Vorgängern keine Kriegserfahrung,<br />
dafür aber im Ausland studiert. Am<br />
United States Army War College in Carlisle,<br />
Pennsylvania schrieb er 2006 ein Thesenpapier<br />
zum Thema „Demokratie in der<br />
arabischen Welt“. Er kritisierte darin die<br />
Diktatoren in der Region und ihren Hang,<br />
Wahlen zu fälschen. Gleichzeitig gilt er als<br />
praktizierender, gläubiger Moslem. Wäre<br />
al Sisi also womöglich ein Militärherrscher<br />
neuen Typs, religiös, zugleich demokratisch<br />
und den Menschenrechten verpflichtet?<br />
Zweifel sind erlaubt.<br />
International bekannt wurde er im<br />
Frühjahr 2011. Demonstrantinnen hatten<br />
berichtet, sie seien in Militärgewahrsam<br />
dem erniedrigenden Jungfräulichkeitstest<br />
unterzogen worden. Die Armee<br />
schwieg. Allein al Sisi wandte sich an die<br />
Presse und verteidigte die Praxis. Erst auf<br />
internationalen Druck ließ er kurz darauf<br />
die Tests verbieten. Ganz offensichtlich<br />
ging es ihm vor allem darum, den Ruf der<br />
Armee wiederherzustellen.<br />
Am Umgang mit dem politischen Gegner<br />
hat sich indes nichts geändert: So wurden<br />
Mursi und viele Muslimbrüder direkt<br />
nach al Sisis Putsch verhaftet, Fernsehsender<br />
wurden geschlossen, und wo immer<br />
sich Mursi-Anhänger zu Demonstrationen<br />
versammelten, gab es Tote und Verletzte.<br />
Statt die Lage zu beruhigen, setzt al<br />
Sisi auf Konfrontation. Er drohte mehrfach,<br />
die Proteste gewaltsam aufzulösen. Agiert<br />
jemand so, der es ernst meint mit Demokratie<br />
und Menschenrechten?<br />
Julia Gerlach berichtet seit<br />
2008 aus Kairo. Sie hat mehrere<br />
Massenproteste erlebt, aber so<br />
aufregend wie in diesem Sommer<br />
war es seit langem nicht<br />
Fotos: Reuters, Claudia Wiens (Autorin)<br />
56 <strong>Cicero</strong> 9.2013
„Ich musste<br />
eingreifen, die<br />
Gefahr eines<br />
Bürgerkriegs<br />
war zu groß“,<br />
rechtfertigt<br />
General Abdel<br />
Fattah al Sisi<br />
die Absetzung<br />
von Präsident<br />
Mohammed Mursi<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 57
| W e l t b ü h n e<br />
bUSH RELOADED?<br />
Barack Obama gleiche immer mehr seinem geschmähten Amtsvorgänger, sagen seine Kritiker. Stimmt das?<br />
von rOGER cOHEN<br />
E<br />
R bleibt Rätselhaft, dieser Barack<br />
Obama. Es gibt einen fundamentalen<br />
Widerspruch – so als<br />
wären der Politiker, den sich die Welt vorgestellt<br />
hat, und der Bewohner des Weißen<br />
Hauses zwei unterschiedliche Personen.<br />
Da war die überschäumende Rhetorik<br />
dieses Mannes, der vorschnell den Friedensnobelpreis<br />
erhalten hat. Er sprach davon,<br />
das Weltgeschehen wieder in gerechtere<br />
Bahnen zu lenken. Nüchterner ausgedrückt,<br />
kündigte der Präsident an: das Gefangenenlager<br />
in Guantánamo zu schließen,<br />
den Rechtsstaat wiederherzustellen, die sicherheitsbedingte<br />
Überwachung wieder<br />
mit dem Schutz der persönlichen Freiheiten<br />
in Einklang zu bringen, den Drohnenkrieg<br />
einzudämmen und die ausufernden<br />
Befugnisse der Regierung zu begrenzen, die<br />
nach 9/11 ständig erweitert worden waren.<br />
Doch diese Befugnisse, die Obamas<br />
Amtsvorgänger George W. Bush in den<br />
Händen des Präsidenten gebündelt hat,<br />
bestehen fort. Die Zahl der Drohnenangriffe<br />
ist gestiegen. Laut dem in London<br />
ansässigen Bureau of Investigative Journalism<br />
waren es allein in Pakistan mindestens<br />
315, verglichen mit 52 unter Bush. Immer<br />
mehr Soldaten sind – mit zweifelhaftem<br />
Erfolg – nach Afghanistan geschickt worden.<br />
Mithilfe von Überwachungsprogrammen<br />
werden Telefonate und Aktivitäten in<br />
sozialen Medien in großem Stil kontrolliert<br />
und wahllos Daten gesammelt. Was<br />
die Europäer, vor allem die Deutschen, aufgebracht<br />
hat. Das Gefangenenlager in Guantánamo<br />
Bay existiert noch immer.<br />
Obama hat davon gesprochen, den<br />
Krieg gegen den Terror beenden zu wollen,<br />
und er hat das Wesen dieses Krieges<br />
auch verändert. Aber der Präsident agiert<br />
eher so, als wolle er dieses gefräßige Biest<br />
weiter füttern, statt es zu zähmen. Die Ausgaben<br />
für Sicherheit hat er jedenfalls – auf<br />
Kosten der doch unveräußerlichen Rechte<br />
der amerikanischen Bürger – verdoppelt.<br />
Woher kommt dieser dramatische Widerspruch<br />
zwischen Wort und Tat? Haben<br />
wir uns verführen lassen, einen Mann zu<br />
sehen, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt,<br />
weil die Erleichterung über das Ende der<br />
Bush-Jahre uns trunken gemacht hat? Weil<br />
das Bild, das Obama auf keinen Fall abgeben<br />
durfte, das des wütenden schwarzen<br />
Mannes war, der sich im Namen seiner liberalen<br />
Ideen mit dem Militär- und Sicherheitsapparat<br />
anlegt? Weil der Kampf gegen<br />
den Terror und Al Qaida eben doch so<br />
verzwickt ist, dass schmerzhafte Kompromisse<br />
zwingend notwendig waren? Oder<br />
ist Obamas Liberalismus doch nichts weiter<br />
als eine dünne Fassade? Vielleicht ist er<br />
im tiefsten Herzen ein knallharter Pragmatiker,<br />
ein Jurist, der immer Zugeständnisse<br />
macht; ein Mann, in den zu viele Ideale hineinprojiziert<br />
wurden?<br />
Kein Zweifel: Barack Obama ist auf einer<br />
Welle der Illusionen ins Weiße Haus gespült<br />
worden. Die Welt hätte ihn von Anfang an<br />
als den erkennen können, der er ist: ein halb<br />
weißes Kind der Eliteuniversitäten Columbia<br />
und Harvard, das den größten Teil seiner<br />
Kindheit als Barry Soetoro in einem<br />
komfortablen Mittelschichten-Leben auf<br />
Hawaii verbracht hat, bevor es sich durch<br />
einen Willensakt in Barack Obama verwandelte.<br />
Einer, der dazugehört und der aufgrund<br />
seiner Ausbildung und seines Temperaments<br />
mit einem Hang zum Kompromiss<br />
ausgestattet ist. Ein Christ, den eher eine<br />
tiefe Neugierde auf die Lebensbedingungen<br />
der Schwarzen in Amerika umtreibt als eine<br />
Prägung, die nur jemand erfährt, der diese<br />
Lebensumstände selbst kennengelernt hat.<br />
Kurz: Wir hätten begreifen können,<br />
dass Obama weniger Empathie für die<br />
Benachteiligten mitbringt als Bill Clinton,<br />
der in Armut aufgewachsen ist, und dass<br />
Obama allen Grund hat, vorsichtig zu agieren,<br />
wenn seine zusammengesetzte Identität<br />
nicht auseinader fallen soll.<br />
Aber die meisten Menschen (mich eingeschlossen)<br />
haben sich 2008 dafür entschieden,<br />
einen anderen Obama zu sehen.<br />
Einen schwarzen Politiker, mit dem<br />
der amerikanische Sündenfall der Sklaverei<br />
endgültig abgeschlossen sein würde. Einen<br />
Kosmopoliten, der in Indonesien gelebt<br />
hat und als geborener Friedensstifter<br />
mit muslimischen Vorfahren die Spaltung<br />
zwischen dem Westen und dem Islam nach<br />
9/11 überwinden könnte. Einen Außenseiter,<br />
der die immer noch existierenden<br />
Rassenbarrieren einreißen würde. Einen<br />
in jeder Hinsicht revolutionären Politiker.<br />
Eine weltgewandte Persönlichkeit, die den<br />
Schaden der Bush-Jahre ungeschehen machen<br />
und jene falsche Politik mit dem ersten<br />
Tag seiner Präsidentschaft wieder zurechtrücken<br />
würde. Wir wollten in Obama<br />
die Inkarnation des amerikanischen Traumes<br />
sehen, just in dem Moment, als er zu<br />
verblassen schien.<br />
In unserer Enttäuschung über Obama<br />
schwingt also auch die Enttäuschung mit,<br />
dass wir uns in die Irre haben führen lassen.<br />
Wir wollten den schwarzen und nicht auch<br />
den weißen Mann sehen. Doch wer hätte<br />
das laut gesagt? Aber das ist es nicht allein.<br />
Auch der Präsident hat nach allen denkbaren<br />
Maßstäben sein Wort und seine Versprechen<br />
gebrochen. Politisches Kalkül hat sich<br />
gegen alle innere Überzeugung durchgesetzt.<br />
Ich vermute, dass die Entwicklung etwa<br />
so vonstatten ging: Obama musste seinen<br />
Liberalismus und seine „schwarze Wut“ unter<br />
Kontrolle halten, um gewählt zu werden<br />
– bis ihm das zur Gewohnheit wurde.<br />
Als er den Rückzug aus dem Irak wollte,<br />
musste er den Afghanistankrieg ausweiten,<br />
denn er musste ja beweisen, dass er kein demokratischer<br />
Feigling ist. Später wollte er<br />
sich aus beiden Kriegen zurückziehen, die<br />
nicht mehr zu gewinnen waren und die<br />
den amerikanischen Steuerzahler schon<br />
mehr als eine Billion Dollar gekostet haben.<br />
Um das auszugleichen, erwies sich der<br />
Drohnenkrieg als probates Mittel. Wie bei<br />
dem außer Kontrolle geratenen Überwachungsprogramm<br />
wurde auch hier aus einer<br />
sauberen Technologie – fliegenden Robotern<br />
– eine Art Allzweckwaffe, deren Gebrauch<br />
weder hinreichend überprüft noch<br />
Foto: Pedro Santana/AFP/Getty Images<br />
58 <strong>Cicero</strong> 9.2013
„Ich denke, wir haben in<br />
einigen Fällen unsere<br />
Werte aufs Spiel gesetzt“<br />
Barack Obama<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 59
| W e l t b ü h n e<br />
eingeschränkt wurde. Der Präsident, der so<br />
überzeugend davon gesprochen hatte, die<br />
amerikanischen Werte wiederherzustellen,<br />
autorisierte Drohnenangriffe, die viele unbeteiligte<br />
Zivilisten das Leben kosteten, darunter<br />
auch vier US-Bürger.<br />
Natürlich hat dieser hart arbeitende und<br />
disziplinierte Präsident auch Erfolge vorzuweisen:<br />
die Tötung Osama bin Ladens 2011<br />
in Pakistan, die Verhinderung weiterer großer<br />
Terroranschläge auf die USA, die weitgehende<br />
Ausschaltung der Kernorganisation<br />
von Al Qaida. Der Krieg im Irak ist vorbei,<br />
der Krieg in Afghanistan neigt sich seinem<br />
Ende zu. Wenn Obama hinter unseren Erwartungen<br />
zurückgeblieben ist, dann auch,<br />
weil er mit einer gnadenlosen Feindseligkeit<br />
des Kongresses zurechtkommen muss.<br />
Dennoch ist es so, wie Obama in seiner<br />
Grundsatzrede zur Sicherheit an der<br />
National Defense University im Mai eingestand:<br />
„Ich denke, wir haben in einigen<br />
Fällen unsere Werte aufs Spiel gesetzt.“ Wir<br />
befinden uns an einem Wendepunkt. Der<br />
Präsident hat, schenkt man ihm Glauben,<br />
sein Scheitern eingesehen. Denn Ähnliches<br />
sagte er im August, als er ankündigte, dass<br />
die Überwachungsprogramme künftig besser<br />
kontrolliert würden.<br />
Anders ausgedrückt: Nach der großen<br />
Orientierungslosigkeit in der Zeit nach 9/11,<br />
die auch Obamas erste Amtszeit noch prägte,<br />
brauchen wir dringend eine Kurskorrektur.<br />
Der Staat muss aufhören, in die Privatsphäre<br />
der Bürger einzudringen, wahllos den weltweiten<br />
digitalen Datenausstoß zu sammeln,<br />
um ihn dann in einer eine Million Quadratmeter<br />
großen Festung in Utah zu speichern.<br />
Das Geheimgericht, das befugt ist, internationale<br />
Lauschangriffe und das massenhafte<br />
Abfangen von E-Mails zu autorisieren, darf<br />
nicht, wie bisher, die gehorsame Marionette<br />
der Regierung sein, sondern muss ein Ort<br />
echter Auseinandersetzung werden.<br />
Edward Snowden, der Whistleblower,<br />
hat eine wichtige Rolle gespielt. Ohne<br />
Obama ist weit besser, als seine<br />
Kritiker behaupten – auch wenn<br />
er nicht ganz der ist, den wir uns<br />
einmal vorgestellt haben<br />
ihn wüssten wir nicht, wie es der NSA gelang,<br />
auf die E-Mail- und Facebook-Konten<br />
und Videos von Bürgern auf der ganzen<br />
Welt zuzugreifen. Wir wüssten nicht,<br />
wie die Behörde heimlich an die Telefondaten<br />
von Millionen von Amerikanern gelangen<br />
konnte; und auch nicht, wie sie durch<br />
Anträge bei dem sogenannten Foreign Intelligence<br />
Surveillance Court (Fisa) neun<br />
amerikanische Internetunternehmen dazu<br />
zwingen konnte, die digitalen Informationen<br />
ihrer Kunden preiszugeben.<br />
Die längst überfällige Debatte, was die<br />
US-Regierung im Namen der Sicherheit<br />
nach 9/11 tut oder lässt, wäre ausgeblieben.<br />
Wir sprächen nicht über die Standards,<br />
die das Fisa-Gericht anwendet, über die<br />
Kontrolle dieses Gerichts und des Prism-<br />
Programms, über die Verteidigung der bürgerlichen<br />
Freiheiten gegen den alles verschlingenden<br />
Appetit der Geheimdienste;<br />
nichts davon würde diskutiert.<br />
Es ist, als sei nach über zehn Jahren eine<br />
Mehrheit der Amerikaner endlich zu einer<br />
ernsthaften Aufarbeitung der großen Orientierungslosigkeit<br />
bereit. Die Institutionen<br />
im Herzen des Systems der Checks and Balances,<br />
welche die amerikanische Demokratie<br />
und ihre zivilen Freiheiten erst ausmachen,<br />
haben versagt. Der Kongress hat dem<br />
Präsidenten einen Blankoscheck ausgestellt,<br />
mit dem er Krieg führen darf, wann und wo<br />
es ihm beliebt. Die Presse hat den Krieg im<br />
Irak, der unter Vorspiegelung falscher Tatsachen<br />
begonnen wurde, kaum hinterfragt.<br />
Guantánamo hat aus dem Rechtsstaat eine<br />
Farce gemacht. Die Vereinigten Staaten haben,<br />
um es mit Obamas eigenen Worten zu<br />
sagen, zugelassen, dass der Präsident „unbegrenzte<br />
Befugnisse“ erlangt.<br />
Barack Obama hat zu all dem lange<br />
geschwiegen. Die Doktrin des Drohnenkriegs<br />
wurde in seiner ersten Amtszeit nicht<br />
erklärt. Sein Scheitern in Guantánamo<br />
wurde totgeschwiegen. Dann kam seine<br />
Rede im Mai, in der er James Madison, einen<br />
der <strong>Grün</strong>derväter der USA, zitierte:<br />
„Kein Land kann inmitten eines fortdauernden<br />
Krieges seine Freiheit bewahren.“<br />
Die Vereinigten Staaten sind da keine<br />
Ausnahme, wie auch Obama zuletzt zugeben<br />
musste: „Wenn wir unser Denken, unsere<br />
Definitionen, unser Handeln nicht disziplinierten,<br />
würden wir Gefahr laufen, in<br />
weitere Kriege hineingezogen zu werden,<br />
die wir nicht zu führen brauchen, oder weiter<br />
Präsidenten mit unbegrenzten Befugnissen<br />
auszustatten, die eher für den traditionellen<br />
bewaffneten Konflikt zwischen<br />
Staaten geeignet sind.“<br />
Diese „unbegrenzten Befugnisse“ basieren<br />
auf der sogenannten Authorization to<br />
Use Military Force (AUMF, Befugnis zur<br />
Anwendung militärischer Gewalt), verabschiedet<br />
in der Woche nach dem 11. September<br />
2001. Im Kern wurde damit der<br />
Präsident befugt, ohne oder mit nur sehr<br />
wenig öffentlicher Kontrolle überall auf<br />
der Welt Al Qaida, die Taliban oder andere<br />
Kräfte, die unter diesen losen Bezeichnungen<br />
kämpfen, in einer breiten Antiterrorkampagne<br />
anzugreifen. Das Ergebnis<br />
waren ein katastrophaler Bodenkrieg im<br />
Irak – ungerechtfertigt und in Sachen Antiterrorkampf<br />
völlig kontraproduktiv – und<br />
Drohnenangriffe von Pakistan bis Somalia.<br />
Wenigstens fallen die Euphemismen<br />
nun weg. Wir haben Obama von „Folter“<br />
sprechen hören, nicht von „verschärften<br />
Befragungstechniken“, und wir haben<br />
gehört, dass Menschen gefangen gehalten<br />
werden „in einer Weise, die der Rechtsstaatlichkeit<br />
widerspricht“. Doch die bedeutendste<br />
Klarstellung war eher allgemeiner<br />
Natur: das Eingeständnis des Präsidenten,<br />
dass ein endloser Krieg unweigerlich jene<br />
Institutionen beschädigen würde, die für<br />
den Schutz von Freiheit, Demokratie und<br />
Rechtsstaatlichkeit stehen.<br />
Obama muss noch viel konkreter und<br />
offener mit seinen Absichten werden. Nirgendwo<br />
ist der Bedarf größer als in der<br />
Drohnenpolitik. Obwohl Obama deren<br />
Rechtmäßigkeit im Rahmen der AUMF<br />
verteidigt hat, gab er auch zu erkennen,<br />
dass es zu wenig öffentliche Diskussionen<br />
gegeben habe und dass die Gefahr bestünde,<br />
Drohnen zu einer Allzweckwaffe<br />
im Antiterrorkampf zu machen. Er sprach<br />
von strengerer Überwachung und Kontrolle.<br />
Aber Obama blieb zu vage. Die Zahl<br />
der Drohnenangriffe ist verstörend. Allein<br />
in Pakistans Stammesgebieten wurden<br />
60 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Foto: Picture Alliance/DPA<br />
mindestens 3586 Menschen getötet, unter<br />
denen sich mindestens 884 Zivilisten<br />
befanden, darunter bis zu 197 Kinder.<br />
Selten haben wir die selbstkorrigierenden<br />
Mechanismen, die in der Gewaltenteilung<br />
in der amerikanischen Verfassung<br />
eingebaut sind, dringender gebraucht. Der<br />
Kampf gegen den Terror ist ein schmutziges<br />
Geschäft. Es gibt keine einfachen oder endgültigen<br />
Lösungen. Am Ende wird Obama<br />
an seiner Fähigkeit gemessen werden, Wort<br />
und Tat in Einklang zu bringen und ein gesünderes<br />
Gleichgewicht zwischen Sicherheit<br />
und Freiheit herzustellen. Ein „lame duck“<br />
zu sein, ist, zumindest theoretisch, ein befreiender<br />
Zustand. Obama ist viel liberaler,<br />
als es bisher den Anschein hatte; er kann immer<br />
noch seine Mittel und Ziele – effektiv<br />
und prinzipientreu – in Einklang bringen.<br />
Es ist eine mühsame Aufgabe, in der<br />
globalen Kakofonie den Ton zu bestimmen.<br />
Für ein Land wie die USA, das den Zenit<br />
seiner Dominanz überschritten hat und vor<br />
immensen innenpolitischen Herausforderungen<br />
steht, ist es noch mühsamer.<br />
Doch ich bin nach wie vor überzeugt<br />
von der amerikanischen Macht als einer<br />
Kraft für das Gute, und ich glaube, dass wir<br />
künftig vier Dinge von Obama brauchen:<br />
Führungsstärke, Diplomatie (dieses altmodische<br />
Wort), Beständigkeit und Mut.<br />
Wir brauchen diese vier Dinge, um<br />
einen Krieg mit dem Iran zu verhindern,<br />
denn ein dritter Krieg der USA mit einem<br />
muslimischen Land wäre ein Desaster. Wir<br />
brauchen sie, um einen Frieden zwischen Israel<br />
und Palästina herbeizuführen, um den<br />
Einsatz von Drohnen zu kontrollieren, um<br />
die uneingeschränkte Überwachung zu zügeln<br />
und um die USA vor der tödlichen innenpolitischen<br />
Gefahr eines endlosen Krieges<br />
gegen den Terror zu schützen.<br />
Jetzt, da sich unsere Illusionen verflüchtigt<br />
haben, sollte der echte Obama hervortreten,<br />
gestärkt durch die Erfahrungen<br />
seiner ersten Amtszeit und seinen zweiten<br />
Wahlsieg, und sich seinen Nobelpreis verdienen.<br />
Er ist weit besser, als seine Kritiker<br />
behaupten – auch wenn er nicht ganz der<br />
ist, den wir uns einmal vorgestellt haben.<br />
Übersetzung: Luisa Seeling<br />
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dem Vulkan<br />
Beirut boomt, tanzt – und protestiert.<br />
Gleichzeitig wächst die Angst, der Bürgerkrieg<br />
in Syrien könnte sich wie ein Flächenbrand<br />
auch im eigenen Land ausbreiten<br />
von Jan Rübel<br />
62 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Party bis zum Abwinken:<br />
Beim Feiern vergisst Beiruts<br />
wohlhabende Jugend im B 018,<br />
was um sie herum geschieht<br />
M<br />
anchmal, wenn der Südwind<br />
Fetzen sorglosen Plauderns<br />
vom Café gegenüber<br />
herweht, frage sie sich schon,<br />
was das ist: Heimat. Wenn es<br />
dunkelt, der Juwelier Mawla seine Jalousien<br />
herunterlässt und sie den Treppenabsatz<br />
davor bezieht. Wenn sie Hanans und<br />
Ranas Köpfe auf ihrem Schoß bettet, die<br />
rechte Hand mit der kleinen Kaugummischachtel<br />
zum Verkauf ausstreckt und den<br />
Blick im Pflasterstein der Hamra-Straße<br />
versenkt. „Ich schalte den Verstand meist<br />
aus, das ist das Beste“, sagt sie.<br />
Vor drei Monaten ist Najma, 28, die<br />
ihren vollständigen Namen nicht verraten<br />
will, aus Damaskus geflohen. Der Krieg<br />
hatte schon längst ihr Südstadtviertel erreicht,<br />
doch die Familie harrte aus, nur kam<br />
eines Abends Najmas Ehemann nicht zurück.<br />
Die Ersparnisse waren nahezu aufgebraucht,<br />
seit Monaten hatte er als Schreiner<br />
kaum mehr gearbeitet. Da packte sie zwei<br />
Taschen und schloss sich einem Treck an,<br />
fuhr mit Hana, 4, und Rana, 2, über die<br />
grüne Grenze zwischen Syrien und dem Libanon.<br />
Ein Lastwagen spuckte sie in Dahiya,<br />
einem Vorort Beiruts, aus und irgendwann<br />
erreichte sie den Einkaufsboulevard Hamra.<br />
Inmitten von Neonreklamen für Armani<br />
und Gucci atmet sie den Duft der<br />
Bars von Wasserpfeife und Whiskey ein,<br />
hört das Rauschen der SUV von BMW<br />
und Porsche – auf Mawlas Treppenstufen<br />
mit Glasvitrinen voller Schmuck im<br />
Rücken. „Diesen Platz habe ich gesehen<br />
und gedacht, das ist jetzt meine ‚Heimat‘“,<br />
sagt Najma und lacht heiser über dieses<br />
Wort. Nun wachen die Taxifahrer von ihrem<br />
Stand neben dem Bürgersteig über ihr<br />
Wohl, stecken ihr Brot und Cola zu, immer<br />
wieder beugen sich Passanten, kaufen<br />
Kaugummi, reichen aus mitgebrachten<br />
Kochtöpfen Essen. Es ist 22 Uhr, Hana<br />
und Rana schlafen. Erst wenn die Vergnügungsmeile<br />
gegen zwei Uhr schließt, wird<br />
sich die Familie aufmachen nach Dahiya.<br />
„Dort habe ich ein Zimmer gemietet, für<br />
300 Dollar im Monat“, sagt sie. „Die kriege<br />
ich schon zusammen, die Leute helfen.“<br />
Beirut ist eine Stadt voller Schatten.<br />
Sie drücken sich an Häuserwände, stromern<br />
bettelnd durch die City und schlafen<br />
auf der Straße. Sie leben in Beirut, aber<br />
sie nehmen am Leben nicht teil. Der Krieg<br />
im Nachbarland hat sie in den vergangenen<br />
Monaten in den Libanon vertrieben,<br />
Foto: Frank Schultze/Zeitenspiegel<br />
bisher sind es über eine Million Syrer, die<br />
in den vier Millionen Einwohner zählenden<br />
Zedernstaat kamen. Keine Zeltlager<br />
nehmen sie auf, keine Barackensiedlungen.<br />
Sie tauchen ab. Werden von libanesischen<br />
Familien privat aufgenommen oder<br />
sie schlagen sich allein durch, irgendwie.<br />
„Natürlich will ich wieder zurück“, sagt<br />
Najma. „Sobald ich wüsste, dass ich dort<br />
leben könnte.“<br />
Die Flüchtlinge kommen in ein Land,<br />
das mit sich selbst nicht im Reinen ist.<br />
Auch 23 Jahre nach dem verheerenden Bürgerkrieg<br />
leisten sich die Libanesen ein politisches<br />
System, das genau zu jenen Waffengängen<br />
zwischen 1975 und 1990 geführt<br />
hat: Klientelismus und Korruption haben<br />
die Oberhand gewonnen, mit dem „Staat“<br />
oder einer „Nation“ identifiziert sich kaum<br />
jemand. Stattdessen setzt jeder auf seine<br />
Konfession als Staat im Staate; Politik reduziert<br />
sich aufs Dirigieren von Geldströmen.<br />
In diesem Land erscheinen die neuen<br />
Flüchtlinge wie Gäste, die, so unscheinbar<br />
sie auch sind, am Zaun dieses schwachen<br />
Systems rütteln. Der Krieg um Syrien greift<br />
auf den Libanon über.<br />
Riad Issa, 44, steuert seinen Nissan Sonic<br />
durch die verschlafenen Straßen von<br />
Tripoli, es ist 8.30 Uhr am Samstagmorgen.<br />
Nur langsam reckt sich die Stadt im Nordlibanon<br />
aus dem Schlaf, in der vergangenen<br />
Nacht gab es hier wieder Kämpfe zwischen<br />
Befürwortern und Gegnern des syrischen<br />
Regimes von Baschar al Assad. Der Nissan<br />
passiert einen Panzer der libanesischen Armee,<br />
vom Heck bis zum Bug mit einem<br />
Graffito besprüht: „Es gibt keinen Gott außer<br />
Gott.“ Riad Issa schaut auf die Uhr.<br />
„Heute werden kaum Schüler kommen. Die<br />
Eltern lassen sie nicht auf die Straße.“<br />
Issa ist Handlungsreisender in Sachen<br />
Frieden. Eigentlich arbeitet er als Elektrotechniker<br />
in einer staatlichen Telekommunikationsfirma.<br />
Die meiste Zeit aber verbringt<br />
er in Nichtregierungsorganisationen,<br />
für die Gruppe „Permanent Peace Movement“<br />
will er gleich einen Workshop abhalten,<br />
es geht um Gewaltprävention. Zwei<br />
Schulklassen haben ihr Kommen zugesagt.<br />
An den Tischen im Saal eines Kulturzentrums<br />
nehmen schließlich 20 Schüler<br />
Platz. „Ab 18 Uhr darf ich nicht mehr auf<br />
die Straße“, sagt Omar, 13. „Jede Nacht<br />
gibt es Schießereien.“ Najib, 14, pflichtet<br />
ihm bei. „Da braucht man selbst eine Waffe.<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 63
| W e l t b ü h n e | L i b a n o n<br />
Ich mag sie nicht, aber eine Pistole macht<br />
mich stark, und verteidigen muss ich mich<br />
doch.“ Issa, ein ehemaliger Milizenkämpfer<br />
der Kommunistischen Partei, sagt: „Kugeln<br />
lösen kein Problem, sie vergrößern es<br />
nur“. Es klingt weise und hilflos zugleich.<br />
Dann spricht er eine Stunde lang, über<br />
Grundlagen von Kommunikation und wie<br />
schnell man sich missversteht. „Hört nie<br />
auf Dritte“, appelliert er an die Jugendlichen.<br />
„Hört nur darauf, was der Nächste<br />
sagt. Haltet Ausschau nach gemeinsamen<br />
Interessen.“ Er schaut die Jugendlichen an,<br />
als wollte er sie hypnotisieren.<br />
Sein Job ist hart. Tief sitzen Angst<br />
und Stolz, die alten Bindungen an Familie,<br />
Clan und Konfession. Keine der 17 Religionsgemeinschaften<br />
im Libanon ist stark<br />
genug, alle anderen vollends zu dominieren.<br />
Das schafft Druck. Charles Harb, Professor<br />
für Psychologie an der Amerikanischen<br />
Universität von Beirut, machte 2010<br />
erschreckende Entdeckungen über die libanesische<br />
Jugend: Ein Drittel bekennt sich<br />
offen zu feindlichen Vorurteilen gegenüber<br />
anderen Konfessionen, zwei Drittel würden<br />
niemals interkonfessionell heiraten.<br />
Diese Tendenzen haben sich in den vergangenen<br />
Jahren sogar verstärkt. Die zumeist<br />
sunnitischen Flüchtlinge aus Syrien<br />
wirbeln nun die konfessionellen Größenverhältnisse<br />
durcheinander. Zu den vielen<br />
Schismen im Libanon gesellt sich ein weiterer<br />
Riss: Er verläuft zwischen Gegnern und<br />
Unterstützern des Assad-Regimes.<br />
Auf der Rückfahrt nach Beirut hält Issa<br />
für einen Snack. Bei „Halab & Sons“ löffelt<br />
er eine Halawiya bi Jibin, Mozzarella<br />
mit Teig, Pistazien und Rosensirup. Er ertränkt<br />
den Käse im Zuckersaft. „Die Lage<br />
heute ist noch schlimmer als 1975“, sagt er.<br />
„Früher ging es auch um Politik, um Ideologie.<br />
Heute denkt jeder nur konfessionell.“<br />
Und die Hisbollah, jene von Iran mit Waffen<br />
und Geld gepäppelte Partei der Schiiten,<br />
der größten Bevölkerungsgruppe? Ihre<br />
Waffenarsenale übersteigen die aller anderen<br />
Gruppen, der Staatsstreitkräfte eingeschlossen.<br />
Würde sie, wenn ein Krieg ausbricht,<br />
nicht kurzen Prozess machen?<br />
„Gewiss“, sagt Riad Issa. „Und was<br />
dann? Dann hätten wir syrische Verhältnisse.<br />
Was derzeit dort geschieht, ist eine<br />
Blaupause für den Libanon.“<br />
Zurück in Beirut füllen sich am Samstagabend<br />
die Straßen, Restaurants und Bars<br />
Wut und Angst: Junge Demonstranten protestieren gegen die Verlängerung der<br />
Legislaturperiode durch das libanesische Parlament und warnen vor einem Bürgerkrieg<br />
stellen ihre Stühle auf den Bürgersteig. Wie<br />
verloren steht ein Dutzend Demonstranten<br />
vor dem Nationalmuseum. Sie halten<br />
Schilder hoch mit Slogans wie „Nein zum<br />
Krieg“ oder „Ich bin Sunnit, Schiit und<br />
Christ“. „Wir haben uns spontan über<br />
Facebook verabredet“, sagt Chris, 19. Er<br />
spüre, dass sich da etwas rege, etwas, das<br />
ihm Angst macht. „Der Hass zwischen den<br />
Konfessionen nimmt zu – nur redet niemand<br />
drüber. Ich habe es satt.“<br />
Die „grüne Linie“ entlang, jene Straße,<br />
die einst im Bürgerkrieg den muslimischen<br />
Westen vom christlichen Osten trennte,<br />
laufen Jugendliche mit Transparenten<br />
und Fahnen ins Stadtzentrum. Längst ist<br />
die grüne Linie nicht mehr Wahrzeichen<br />
der zerschossenen Metropole, die durchlöcherten<br />
Häusergerippe wichen Glaspalästen.<br />
Beirut erlebt einen beispiellosen Immobilienboom.<br />
Geld aus aller Welt, vor<br />
allem aus dem Arabischen Golf, fließt in<br />
die Stadt, die nicht zur Ruhe kommt. Abrissbirnen<br />
räumen nicht nur mit Kriegstrümmern<br />
auf, sondern auch mit heruntergekommenen,<br />
aber morbid charmanten<br />
europäisch-osmanischen Villen der <strong>Grün</strong>derzeit.<br />
Alte Kinos und Hinterhofkneipen<br />
machen Platz für Starbucks und H & M.<br />
Beirut verliert sein Gesicht. Zum Nukleus<br />
dieser Stadtstraffung streben jetzt die jungen<br />
Demonstranten. Aus dem Häuflein<br />
vorm Museum ist eine wütende Menge<br />
am Sternplatz im Stadtzentrum geworden.<br />
Die Menschen kommen aus allen Richtungen,<br />
vorbei an den sandsteinfarbenen<br />
Prachtbauten, neoklassisch soll die Shoppingmeile<br />
sein, sie wurde erst vor wenigen<br />
Jahren aus dem Boden gestampft. Früher<br />
stand hier einmal der Basar – nach dem<br />
Bürgerkrieg schoben Bagger dessen Reste<br />
ins Meer und errichteten ein Disneyland<br />
für Reiche.<br />
Die oberen Stockwerke stehen zumeist<br />
leer. Unten versammeln sich nun<br />
rund 400 Demonstranten; Krach machen<br />
sie für 4000. „Politiker raus“, skandieren<br />
sie, und „Ziad und Fuad, ist noch nicht<br />
Schluss mit eurem Gelderfluss?“, rufen sie<br />
zum Parlament hinüber, das sich zwischen<br />
Stacheldraht, einer Riege Polizisten, einem<br />
Zaun und noch einer Riege Uniformierter<br />
verbirgt. Weil sich die Abgeordneten nicht<br />
auf eine Wahlrechtsreform einigen konnten,<br />
verlängerten sie kurzerhand ihre Legislaturperiode<br />
um 17 Monate. Eine Studie<br />
von Transparency International von Mitte<br />
Juni kommt zum Ergebnis, dass die Korruption,<br />
ohnehin auf hohem Niveau, zugenommen<br />
hat: 61 Prozent der Befragten<br />
Foto: Frank Schultze/Zeitenspiegel<br />
64 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Foto: Kathrin Harms/Zeitenspiegel (Autor)<br />
„Hisbollah<br />
schützt nur<br />
Libanesen,<br />
die in Syrien<br />
wohnen.<br />
Wer hat uns<br />
denn immer<br />
geholfen? Das<br />
war Assad.<br />
Jetzt helfen wir<br />
ihm“<br />
Ahmad Nasr, Hisbollah-Aktivist<br />
gaben an, für den Erhalt von Dokumenten<br />
Schmiergeld gezahlt zu haben.<br />
Die Demonstranten reißen Wahlplakate<br />
der Abgeordneten von Häuserwänden<br />
und zertrampeln sie. „Wir sind die<br />
Herrschaft und das Volk“, rufen sie. Ganz<br />
stimmt das wohl nicht: Es sind die Gutverdienenden,<br />
die hier protestieren, die Hammer<br />
und Sichel am Silberkettchen tragen<br />
und eine Zeitungsausgabe der Alternativen<br />
Studentenbewegung auf Englisch verteilen,<br />
aber nicht auf Arabisch. „Die Arbeiter haben<br />
wir noch nicht erreicht“, murmelt Nizar<br />
Ghanem, einer der Organisatoren.<br />
Die Arbeiter wohnen im Viertel Basta<br />
Tahta, rund einen Kilometer vom Parlament<br />
entfernt. Seine Mauern zieren frisch<br />
gekleisterte Plakate mit traurigen Männergesichtern,<br />
im Hintergrund weiße Tauben,<br />
bunte Tulpen. Eine aufgehende Sonne. Die<br />
Konterfeis zeigen die aktuellen Märtyrer,<br />
die Hisbollah in den Krieg nach Syrien geschickt<br />
hat und vor wenigen Tagen in Leinen<br />
gehüllt zurückbrachte. Seit die Partei<br />
offen aufseiten des Assad-Regimes kämpft,<br />
zieht sie den Hass vieler Sunniten auf sich.<br />
Sehnen doch die meisten von ihnen nicht<br />
nur den Sturz Assads herbei, einige kämpfen<br />
auch mit den Rebellen in Syrien. Viele<br />
Schiiten dagegen stellen sich hinter den<br />
derzeitigen Parteikurs. Verlagert sich die<br />
Frontlinie bald westwärts, kämpfen dann<br />
Libanesen gegen Libanesen auch im Libanon?<br />
Preise für Waffen ziehen jedenfalls an<br />
im Libanon. Die Nachfrage steigt.<br />
„Die Sunniten haben nicht verstanden,<br />
worum es uns geht“, sagt Ahmad Nasr, ein<br />
Parteikader. Das Hemd zugeknöpft, den<br />
Bart sorgsam gestutzt, lehnt der 21-Jährige<br />
an einem Wagen. „Hisbollah schützt nur<br />
Libanesen, die in Syrien wohnen, und die<br />
schiitischen Schreine.“ Stirnrunzeln. „Außerdem<br />
verteidigen wir uns gegen die Salafisten,<br />
diese Fundamentalisten wollen Libanon<br />
zu einer Bastion für Al Qaida machen.“<br />
Er stockt. „Okay, wer hat uns immer geholfen?<br />
Das war Assad. Jetzt helfen wir ihm.<br />
Wir sind Partner.“<br />
Offiziell hat sich die libanesische Regierung<br />
eine Nichteinmischung in die syrischen<br />
Wirren verordnet. Die radikalschiitsche<br />
Hisbollah aber dominiert das<br />
Kabinett – und schickt ihre Kämpfer nach<br />
Syrien. Sie offenbart damit ihre Schwäche,<br />
im Libanon Zivilpolitik zu betreiben. Hisbollah<br />
bleibt eine militärische Kadertruppe,<br />
die ihre Ziele abarbeitet; auch auf Kosten<br />
des Landes.<br />
Keine drei Kilometer südlich der Basta<br />
scheint der Druck im libanesischen Kessel<br />
doch zu groß. Die Vorurteile, das Misstrauen,<br />
die Waffen: Vor der Imam-Ali-<br />
Moschee im Viertel Tariq al Jadideh wartet<br />
alles auf den großen Knall. Dutzende<br />
Jungs auf Mopeds, mit Schlagstöcken und<br />
schwarzen Fahnen der sunnitischen Islamisten,<br />
umkreisen das Gotteshaus. Die ersten<br />
Händler schließen ihre Geschäfte. Polizeitrupps<br />
sammeln sich in der Nebenstraße.<br />
Während ein Prediger über Lautsprecher<br />
zur Einheit aller Sunniten aufruft, durchzuckt<br />
eine erste Welle der Erregung die<br />
Menschen vor der Moschee. Keiner weiß<br />
Genaues, plötzlich laufen alle nach vorn,<br />
Polizisten über die Straße, Jugendliche über<br />
die Dächer parkender Autos. Vor einem<br />
Geschäft für Hochzeitsmoden entsteht ein<br />
Knäuel. Die Aufregung legt sich schnell,<br />
als sich herausstellt, dass lediglich zwei Syrerinnen<br />
beim Diebstahl erwischt wurden.<br />
Ein Geländewagen bringt die Frauen mit<br />
Blaulicht fort.<br />
Die Imam-Ali-Moschee ist ein Zentrum<br />
sunnitischer Extremisten. Noch vor<br />
vier Monaten hatte hier Ahmad Assir gepredigt,<br />
einer ihrer Wortführer. Nun hält er<br />
sich irgendwo im Land versteckt, nachdem<br />
die Armee sein mit Waffen gefülltes Hauptquartier<br />
in Saida gestürmt hatte. Die Hisbollah<br />
hatte heimlich Kämpfer entsandt, es<br />
gab Tote auf beiden Seiten. In Tariq al Jadideh<br />
gärt es. „Heute wird abgerechnet“,<br />
sagt ein junger Mann. Er hat sich frei genommen<br />
vom Hühnergrill, jetzt fuchtelt<br />
er mit einem Zettel. „Da stehen die Adressen<br />
von schiitischen Familien des Viertels<br />
drauf. Die sollten besser verschwinden.“<br />
Lange genug hätten die Sunniten unter der<br />
Hisbollah gelitten. „Unser Stolz ist verletzt.“<br />
Als sich nach dem Gebet die Moschee<br />
von Hunderten leert, warten sie auf das Signal.<br />
Die Mopeds heulen, die Hauptstraße<br />
ist schnell besetzt. „Nieder mit Hisbollah“,<br />
rufen ein par Dutzend junge Männer und<br />
haken sich unter. Die Menge marschiert los,<br />
kommt aber abrupt zum Halt. Und dann<br />
sieht man den Grund.<br />
Stumm bewegen sie sich schweren<br />
Schrittes, die Demonstranten weichen<br />
sofort: Rund 30 junge Männer, ihre Tattoos<br />
glänzen auf den breiten Unterarmen.<br />
Sie schauen gefährlich, finster. „Qabadayyat!“,<br />
flüstert ein Protestierer – Anführer<br />
von Gangs, welche die Straßen kontrollieren,<br />
im Viertel bekannt und gefürchtet,<br />
oft im Sold mächtiger Patrone. Eine weitere,<br />
starke Machtstruktur in dieser Stadt<br />
am Rande des Krieges. Die schweren Jungs<br />
umzingeln das letzte Dutzend, das mit dem<br />
Tanz nicht aufhört, die Fäuste reckt und<br />
Scheich Assir lobpreist. Die tätowierten<br />
Männer reden kein einziges Wort. Doch<br />
nach zehn Minuten endet der Spuk, die<br />
Menge zerstreut sich. Heute ist kein Tag für<br />
einen Krieg. Jemand will ihn nicht.<br />
Am Straßenrand lehnt ein Mittfünfziger<br />
an seinem SUV, die langen Beine in einem<br />
zu kurzen Anzug. Altmodisch wirkt er,<br />
winkt die Qabadayyat zu sich und klopft<br />
ihnen auf die Schultern. Auch der Polizeikommandant<br />
eilt herbei, erstattet Bericht.<br />
Der Patron, der seinen Namen nicht nennen<br />
will, nimmt Jobgesuche und Bittschreiben<br />
entgegen. Das System hat heute<br />
gewankt, gefallen aber ist es nicht. Vorerst.<br />
Der Mann steigt hinten in den SUV und<br />
braust davon.<br />
Jan Rübel<br />
studierte Islamwissenschaft in<br />
Hamburg, Beirut und Tel Aviv.<br />
Er ist Partner bei Zeitenspiegel<br />
Reportagen<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 65
| W e l t b ü h n e | V a t i k a n<br />
Liebe auf den<br />
ersten Blick<br />
66 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Papst Franziskus hat eine neue Begeisterung für die katholische Kirche<br />
ausgelöst. Gläubige aller Religionen wie auch Atheisten fühlen sich von ihm<br />
angesprochen. Wie erklärt sich die Strahlkraft dieses Kirchenoberhaupts?<br />
von Julius Müller-Meiningen<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 67
| W e l t b ü h n e | V a t i k a n<br />
S<br />
ie ist schwarz, abgegriffen und<br />
unscheinbar. Aber die lederne<br />
Aktentasche ist wieder einer<br />
dieser kleinen Gegenstände, mit<br />
denen er Großes sagen möchte,<br />
mit denen er Wirkung erzeugen will: Papst<br />
Franziskus, Meister des Details.<br />
Natürlich trägt er die Tasche selbst,<br />
auch auf seiner ersten Auslandsreise zum<br />
Weltjugendtag nach Rio de Janerio. Den<br />
Berichterstattern, die ihn begleiten, entgeht<br />
sie nicht. Als er auf dem Rückflug spontan<br />
eine Pressekonferenz gibt, ist deshalb auch<br />
sein Handgepäck Thema. Die Schlüssel für<br />
die Atombombe seien nicht drin, scherzt<br />
Franziskus. Stattdessen: „Ein Rasierer, das<br />
Brevier (ein Buch mit Stundengebeten),<br />
mein Kalender, ein Buch zum Lesen, ich<br />
habe eines über die Heilige Thérèse mitgenommen,<br />
die ich verehre. Ich habe diese<br />
Tasche immer auf Reisen dabeigehabt, das<br />
ist normal.“ Der Papst macht eine kurze<br />
Pause. „Wir müssen normal sein.“<br />
Damit meint Franziskus vor allem den<br />
Klerus und die Kurie, den Verwaltungsapparat<br />
des Vatikans. Normalität sucht man<br />
hier seit einiger Zeit vergeblich. Erstmals<br />
in der Neuzeit ist ein Papst zurückgetreten,<br />
Benedikt XVI. war schon lange nicht mehr<br />
Herr im eigenen Haus. Er ließ sich auf einen<br />
Streit mit den Traditionalisten der Piusbruderschaft<br />
ein. Nicht nur Pädophilie-<br />
Skandale erschütterten die Kirche, sondern<br />
auch die Vatileaks-Affäre um gestohlene<br />
Geheimdokumente und den untreu gewordenen<br />
Papst-Butler Paolo Gabriele, Gerüchte<br />
um eine Homosexuellen-Lobby im<br />
Vatikan, Geldwäsche in der Vatikanbank.<br />
Von ihrer Aufgabe, der Verkündigung des<br />
Evangeliums, wirkte die Kirche Lichtjahre<br />
entfernt. Zeitweise glich der Vatikan einem<br />
zwielichtigen Unternehmen, in dem jeder<br />
machte, was er wollte.<br />
Seit Franziskus im Amt ist, sind die<br />
meisten dieser Probleme nicht verschwunden.<br />
Aber sie erscheinen jetzt in einem anderen<br />
Licht. Wer spricht noch von Vatileaks?<br />
Wohin haben sich die von der<br />
italienischen Presse „Raben“ getauften, anonymen<br />
Informanten verkrochen, die der<br />
Presse Geheimakten zusteckten?<br />
Franziskus ist der erste Jesuit auf dem<br />
Stuhl Petri, der erste Papst aus Lateinamerika,<br />
er kommt „vom Ende der Welt“, wie<br />
er selbst am Abend seiner Wahl sagte. Er<br />
hat das Kunststück fertiggebracht, Oberhaupt<br />
von 1,2 Milliarden Katholiken zu<br />
„Von den ersten<br />
Tagen an<br />
bemüht sich<br />
Franziskus zu<br />
zeigen, dass<br />
er einer aus<br />
unserer Mitte<br />
ist, einer aus<br />
der Herde“<br />
Kardinal Óscar Rodríguez Maradiaga<br />
sein und doch wie ein Außenstehender<br />
aufzutreten. Die schwarze Aktentasche,<br />
die Franziskus wie ein Rechnungsprüfer<br />
im Namen Gottes mit sich herumträgt, ist<br />
Symbol für diesen neuen Pragmatismus.<br />
Seit die Kardinäle am 13. März Jorge Mario<br />
Bergoglio zum Papst wählten, verspüren<br />
immer mehr Menschen „Frühlingsgefühle“,<br />
wenn sie an den Papst und die Kirche denken.<br />
So formuliert es ein einflussreicher katholischer<br />
Funktionär in Rom. Enttäuschte<br />
Gläubige beschreiben ein Gefühl von Aufbruch.<br />
Sie hoffen auf einen Wandel und<br />
dass die Kirche nicht mehr wegen ihrer<br />
Skandale wahrgenommen wird. Sie soll das<br />
befördern, was sie am Christentum schätzen:<br />
den Glauben an eine höhere Macht,<br />
Werte, Gnade und Vergebung, Hilfe für<br />
Schwächere, Nächstenliebe.<br />
Kurienmitarbeiter, die sich bis vor kurzem<br />
für die Verhältnisse in Rom rechtfertigen<br />
mussten, bekommen in ihrer Heimat<br />
nun Komplimente für ihren sympathischen<br />
Chef, weil der jugendlichen Straftätern<br />
die Füße wäscht und als Erstes<br />
die Müllmänner und das Toilettenpersonal<br />
zu seinen Frühmessen im Gästehaus<br />
Santa Marta einlädt. „Ich bin richtig stolz<br />
auf den Papst“, sagt ein Monsignore im<br />
Vatikan.<br />
Viele, die sich für erklärte Gegner eines<br />
als reaktionär und weltfremd empfundenen<br />
Katholizismus hielten, ertappen sich<br />
beim Sympathisieren mit dem Stellvertreter<br />
Christi. Franziskus hat der Kirche ein<br />
menschliches Antlitz verpasst.<br />
Fest steht: Mit keiner Imagekampagne<br />
hätte die katholische Kirche mehr Zuspruch<br />
gewinnen können als mit der Wahl<br />
68 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Fotos: DDP Images (Seiten 66 bis 67), Gregorio Borgia/Picture Alliance/DPA<br />
Papst Franziskus begeistert nicht nur Katholiken. Auch die Protestantin Angela<br />
Merkel war bei ihrem Besuch im Vatikan angetan vom neuen Kirchenoberhaupt<br />
des 76 Jahre alten Argentiniers Jorge Mario<br />
Bergoglio zum Papst. Einer Umfrage<br />
des Meinungsforschungsinstituts Demopolis<br />
zufolge haben 85 Prozent der Italiener<br />
Vertrauen zu Franziskus, unter Katholiken<br />
sind es sogar 96 Prozent. Aber auch<br />
65 Prozent der Nichtkatholiken und Bekenntnislosen<br />
fühlen sich zu Franziskus<br />
hingezogen.<br />
Auf seiner ersten Fahrt innerhalb Italiens<br />
besuchte der Papst die süditalienische<br />
Insel Lampedusa. Hier warnte er vor der<br />
„Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Wer<br />
habe um die Frauen und Kinder geweint,<br />
die in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft<br />
im Meer ertranken?, fragte der Papst<br />
und löste damit auch außerhalb der katholischen<br />
Welt Nachdenklichkeit aus. Die<br />
Flüchtlingstragödie im Mittelmeer hatten<br />
die meisten vergessen.<br />
Und er sagt Sätze wie: „Wenn jemand<br />
schwul ist und den Herrn sucht und dabei<br />
guten Willen beweist, wer bin ich, dass ich<br />
über ihn richte?“ Das war auf dem Rückflug<br />
aus Rio, seiner ersten Auslandsreise. Man<br />
hatte ihn nach der Homosexuellen-Lobby<br />
im Vatikan und Monsignore Battista Ricca<br />
gefragt. Nachdem Franziskus den Priester<br />
zum Prälaten der Vatikanbank ernannt<br />
hatte, wurden Vorwürfe laut, der Geistliche<br />
habe während seiner Zeit als päpstlicher<br />
Diplomat in Uruguay seine Homosexualität<br />
ausgelebt. Franziskus hätte Ricca wieder absetzen<br />
können, aber er sagte: Nicht die homosexuelle<br />
Tendenz sei das Problem, sondern<br />
Lobbyismus. „Der Katechismus sagt,<br />
diese Personen sollen nicht diskriminiert,<br />
sondern akzeptiert werden.“<br />
Franziskus verkörpert eine aus Rom<br />
bislang unbekannte Milde. Er setzt auf<br />
Integration, nicht auf Konfrontation. Das<br />
macht ihn für Katholiken liebenswert und<br />
für Skeptiker akzeptabel. Klug umschifft<br />
er bislang umstrittene Themen wie Zölibat,<br />
Frauenweihe oder Abtreibung, in denen<br />
die katholische Doktrin wenig Spielraum<br />
lässt.<br />
Am Ende der Pressekonferenz im Flugzeug<br />
brandet Applaus unter den Journalisten<br />
auf. Es gelingt ihnen nicht, Franziskus<br />
emotional auf Distanz zu halten. Berichterstatter,<br />
die auf der ersten Auslandsreise des<br />
Papstes in Brasilien dabei waren, berichten<br />
über Kollegen, die schon auf dem Hinflug<br />
zu Tränen gerührt waren, als Franziskus jeden<br />
einzelnen persönlich begrüßte. Er hat<br />
Witz, Charme, wirkt milde. Er wickelt sie<br />
alle um den Finger.<br />
Einmal pro Woche, jeden Mittwoch bei<br />
der Generalaudienz, geht der Fischer Franziskus<br />
ganz gezielt auf Menschenfang. „Er<br />
scharrt beim Frühstück schon mit den<br />
Füßen, wann er endlich in dem Papamobil<br />
über den Petersplatz fahren darf.“ So<br />
scherzt man in der Kurie über die Lust<br />
dieses Papstes am Bad in der Menge. Bei<br />
seinem schüchternen, oft unbeholfen wirkenden<br />
Vorgänger Benedikt wirkten die<br />
Audienzen wie eine Pflichtübung. Inzwischen<br />
ist der Petersplatz regelmäßig mit<br />
100 000 Menschen überfüllt, manchmal<br />
reicht die Schlange der Pilger und Neugierigen<br />
hinunter bis zum Tiber. So viel<br />
prompten Zuspruch hatte nicht einmal Johannes<br />
Paul II.<br />
Überpünktlich fährt Franziskus auf<br />
dem Platz vor. Ein Jubelsturm bricht los.<br />
Die meisten sehen den Papst zunächst nur<br />
auf den Videoleinwänden. Nach ein paar<br />
Minuten ist seine weiße Silhouette auch<br />
in der Ferne zu erkennen. Erhaben gleitet<br />
der Oberhirte durch eine Gischt von<br />
gezückten Smartphones. Er wirkt glücklich.<br />
Franziskus strahlt die vielen ekstatischen<br />
Gesichter an. Manchmal bleibt sein<br />
Blick länger an einem Augenpaar haften.<br />
Es wirkt, als wollte der Papst ein Zwiegespräch<br />
beginnen. Dann lässt Franziskus anhalten,<br />
er steigt aus, küsst Kinder und Behinderte.<br />
Erwachsene Frauen kreischen wie<br />
Teenager, Männer wischen sich Tränen aus<br />
den Augen. Die Masse himmelt ihn an wie<br />
einen Messias.<br />
In Rio de Janeiro blieb sein Kleinwagen<br />
in der begeisterten Menschenmenge<br />
stecken, sein Fahrer war falsch abgebogen,<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 69
| W e l t b ü h n e | v a t i k a n<br />
es war ein Albtraum für die Sicherheitsleute.<br />
„Sicherheit ist, den Menschen zu<br />
vertrauen“, sagte Franziskus später. Einen<br />
Sicherheitskordon zwischen Bischof und<br />
Volk zu ziehen, sei verrückt. „Ich bevorzuge<br />
diesen anderen Wahnsinn, die Nähe,<br />
die allen guttut.“<br />
Es ist, als würde dieser Mann ein lange<br />
Zeit unbefriedigtes Bedürfnis stillen, das irgendwo<br />
zwischen Spiritualität und Personenkult<br />
liegt. Einer seiner engsten Vertrauten,<br />
der ebenfalls charismatische Kardinal<br />
Óscar Rodríguez Maradiaga aus Tegucigalpa,<br />
Honduras, sagt es so: „Von den ersten<br />
Tagen an bemüht sich Franziskus zu<br />
zeigen, dass er einer aus unserer Mitte ist,<br />
einer aus der Herde.“ Franziskus selbst ermahnt<br />
Priester und Bischöfe, sie sollten<br />
den „Geruch ihrer Herde“ verströmen und<br />
nicht wie Funktionäre auftreten.<br />
Maradiaga, Präsident der Caritas und<br />
ein Gegenspieler des lange Zeit mächtigen<br />
und umstrittenen Kardinalstaatssekretärs<br />
Tarcisio Bertone, ist mit der Wahl Bergoglios<br />
zu einem der einflussreichsten Männer<br />
in der Kurie aufgestiegen. Ihn betraute<br />
der Papst mit der Koordinierung der acht<br />
Kardinäle, die ihn bei der Reform der Kurie<br />
beraten sollen. „Viele von uns waren<br />
sich einig, dass Papst Benedikt nicht gut<br />
über die Wirklichkeit informiert war, dass<br />
einige Dokumente ihn nicht erreichten“,<br />
berichtet Maradiaga über die Beratungen<br />
der Kardinäle vor dem Konklave.<br />
Franziskus beobachtet, informiert sich,<br />
führt Gespräche. Er hat drei Kommissionen<br />
eingesetzt. Die von Maradiaga geleitete<br />
Gruppe zur Reform der Kurie, eine<br />
Ermittlungskommission zur Vatikanbank<br />
und eine für mehr Transparenz in der<br />
Güterverwaltung.<br />
Der Papst traut den Verhältnissen in der<br />
Kurie nicht. Das hat er mit der Öffentlichkeit<br />
gemeinsam. Anstatt das standesgemäße<br />
päpstliche Appartamento im Apostolischen<br />
Palast zu bewohnen, residiert er<br />
weiter im einfachen vatikanischen Gästehaus<br />
Santa Marta. Hier kann er selbst über<br />
seine Begegnungen entscheiden, ist nicht<br />
wie Benedikt dem Risiko der Isolation ausgesetzt<br />
und seinen Beratern ausgeliefert. Im<br />
Vatikan gebe es viele „Herrscher über den<br />
Papst“, soll Bergoglio seinem Freund und<br />
Ex-Schüler Jorge Milia gestanden haben.<br />
„Das Schwierigste sei gewesen zu verhindern,<br />
dass sie über seinen Terminkalender<br />
Bescheiden: Mit schwarzen Gesundheitsschuhen, einem Kreuz aus Blech und dem Fischerring<br />
zeigt sich Franziskus in der Öffentlichkeit. Seine schwarze Ledertasche trägt der Papst selbst<br />
bestimmten.“ Der ruht nun sicher vor<br />
jeglicher Fernsteuerung in der schwarzen<br />
Aktentasche.<br />
Doch hinter der Sympathie, die Franziskus<br />
für seinen erfrischenden Stil entgegenschlägt,<br />
verbergen sich auch Rätsel. Vor<br />
allem in den ersten Tagen seines Pontifikats<br />
kam der Papst auffällig häufig auf den<br />
Teufel zu sprechen. Benedikt hätte Kopfschütteln<br />
ausgelöst, wenn er wie Franziskus<br />
mit Léon Bloy behauptet hätte: „Wer<br />
nicht zum Herrn betet, betet zum Teufel.“<br />
Später war die Rede davon, Franziskus<br />
habe nach einer Audienz einem Behinderten<br />
im Rollstuhl den Teufel ausgetrieben.<br />
Der Fernsehkanal der italienischen<br />
Bischofskonferenz hatte arglos die Nachricht<br />
verbreitet. Der Vatikan dementierte.<br />
Aber bei aller Begeisterung für Franziskus<br />
hat auch das gestrige Bild von Luzifer seinen<br />
festen Platz in diesem Pontifikat.<br />
Manche Ansichten Bergoglios sorgten<br />
schon früher für Empörung. Als Erzbischof<br />
von Buenos Aires charakterisierte er die Befürworter<br />
von Homosexuellenrechten als<br />
eine „Bewegung, die vom Vater der Lüge<br />
ausgeht“. Die Homoehe bezeichnete er als<br />
einen „destruktiven Anspruch gegenüber<br />
dem Plan Gottes“.<br />
Niemand spricht mehr über Bergoglios<br />
zwiespältige Rolle als Generaloberst der<br />
Jesuiten zur Zeit der Militärdiktatur in Argentinien.<br />
Bergoglio sei für die Glaubensgemeinschaft<br />
lange ein „schwarzes Schaf“<br />
gewesen, weil er zwei Brüder, die später<br />
verschleppt wurden, nicht genügend vor<br />
der Verfolgung durch die Junta geschützt<br />
hätte. Das erzählen nicht linke Kirchenkritiker,<br />
sondern gut informierte und jeglicher<br />
Sabotage unverdächtige Jesuiten in<br />
Rom.<br />
Fotos: FILIPPO MONTEFORTE/AFP/Getty Images, Franco Origlia/Getty Images<br />
70 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Fotos: LUCA ZENNARO/AFP/Getty Images, GIAMPIERO SPOSITO/ullstein bild/Reuters, Privat (Autor)<br />
Vielleicht ist der bedingungslose Zuspruch<br />
auch einem oberflächlichen Blick<br />
geschuldet. In der Kurie reiben sich einige<br />
überrascht die Augen über den Franziskus-<br />
Hype. Es gibt traditionalistische Kritiker,<br />
die sich vor allem an der burschikosen Liturgie<br />
und am unkonventionellen Stil des<br />
Papstes stören. Ratzinger-Verehrer erheben<br />
den Vorwurf, Franziskus falle stark<br />
vom intellektuellen Niveau seines Vorgängers<br />
ab und lasse keine theologische Leitidee<br />
erkennen. Die Mehrheit der Kurialen<br />
blickt gespannt auf die kommenden Monate,<br />
wenn die ersten wegweisenden Entscheidungen<br />
von Franziskus zu erwarten<br />
sind. „Manche vermissen den intellektuellen<br />
Kick“, sagt ein Prälat. „Aber die normalen<br />
Leute wollen im Herzen angesprochen<br />
werden, und das kann er.“<br />
Über seinen Vorgänger, den unverstandenen<br />
Denker Benedikt, der nun im<br />
Bergoglio<br />
akzeptiert nur<br />
die nötigsten<br />
Insignien<br />
päpstlicher<br />
Macht, sie sind<br />
ihm fremd.<br />
Die Mozetta,<br />
den roten<br />
Samtmantel,<br />
lehnt er ab<br />
Kloster Mater Ecclesiae in den vatikanischen<br />
Gärten lebt, sagt Franziskus: „Er ist<br />
für mich wie der weise Großvater im eigenen<br />
Haus, wie ein Papa. Ich habe ihn lieb.“<br />
Benedikt klagte in scharfen Gedanken den<br />
Relativismus an, den Verlust der Werte. Es<br />
waren Worte, bei denen auch ihr holpriger,<br />
manchmal schriller Ton auffiel. Franziskus<br />
wünscht in einem weichen, spanisch gefärbten<br />
Italienisch nach dem Angelusgebet<br />
am Sonntag: „Guten Appetit!“ Mit banalen<br />
Worten und einem sanften Ton hat er sich<br />
in weniger als sechs Monaten mehr Gehör<br />
verschafft als Benedikt in acht Jahren.<br />
Bergoglio ist stark beeinflusst von der<br />
lateinamerikanischen „Theologie des Volkes“,<br />
die 1968 in den Beschlüssen von Medellín<br />
Eingang fand. Die Kirche muss auf<br />
die Armen zugehen und kohärent sein,<br />
lautet eine ihrer Kernideen. Also setzte<br />
sich Bergoglio in Argentinien für sozial<br />
benachteiligte Menschen ein, verzichtete<br />
auf die großzügige erzbischöfliche Wohnung<br />
in Buenos Aires und nahm die U-<br />
Bahn statt den Wagen mit Chauffeur.<br />
In Rom, auf Lampedusa oder in Rio<br />
de Janeiro lässt sich Franziskus in unauffälligen<br />
Autos kutschieren und nicht wie<br />
eine Ikone in einer schwarzen Limousine.<br />
So rauschte Benedikt XVI. durch<br />
Rom. Bergoglio akzeptiert nur die nötigsten<br />
Insignien päpstlicher Macht, sie<br />
sind ihm fremd. Die Mozetta, den roten<br />
Samtmantel, lehnt er ab. Statt roter Slipper<br />
trägt er schwarze Orthopädieschuhe.<br />
Unter der weißen Soutane scheint seine<br />
schwarze Hose durch. Auf der Brust trägt<br />
er ein einfaches Kreuz aus Blech.<br />
Gerade zum Papst gewählt, bestand<br />
Franziskus darauf, eigenhändig die Rechnung<br />
im römischen Gästehaus zu bezahlen,<br />
das ihn während des Konklaves beherbergte.<br />
Für einen auf Glaubwürdigkeit<br />
und Gerechtigkeit bedachten lateinamerikanischen<br />
Bischof sind diese Gesten<br />
selbstverständlich. Für die an katholischen<br />
Prunk und Statussymbole gewöhnten<br />
Augen der Europäer wirken sie wie<br />
eine Revolution.<br />
„Er ist wirklich so“, sagt der Kurienmitarbeiter<br />
José Ignacio Tola, der Bergoglio<br />
noch aus der päpstlichen Kommission<br />
für Lateinamerika kennt. Weihbischof<br />
Eduardo García, ein früherer Kollege von<br />
Bergoglio aus Buenos Aires, sagt: „Was<br />
wir als ehemalige Mitarbeiter jetzt erleben,<br />
sind nicht einfach Wiederholungen, sondern<br />
Kohärenz, und das ist wichtig. Bergoglio<br />
ist sich treu geblieben.“<br />
Ob er als Bischof glücklich gewesen sei,<br />
wird der Papst auf der Pressekonferenz im<br />
Flugzeug gefragt. „Ja, sehr“, sagt Bergoglio.<br />
Und als Papst? Seine Begeisterung stockt<br />
ein wenig. „Ja“, sagt er. Franziskus macht<br />
bislang nicht den Eindruck, den Aufgaben<br />
nicht gewachsen zu sein. Aber man<br />
merkt, dass das Amt auch auf ihm lastet,<br />
dass er sich eingeengt fühlt wie in einem<br />
Käfig. Er sagt: „Sie wissen ja gar nicht, wie<br />
gerne ich durch die Straßen von Rom laufen<br />
würde!“<br />
Julius Müller-Meiningen<br />
berichtet seit 2008 über den<br />
Vatikan. Eine ähnliche Begeisterung<br />
für die Kirche hat er noch<br />
nicht erlebt<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 71
| W e l t b ü h n e | P a p s t<br />
Franziskus? find ich gut!<br />
Pomp ist nicht seine Sache. Über Homosexuelle mag er nicht richten. Die<br />
Unregelmäßigkeiten im Vatikan nicht länger dulden. Damit gewinnt der oberste Hirte der<br />
katholischen Kirche die Herzen der Menschen – über alle Glaubensgrenzen hinweg<br />
Franziskus braucht die Liebe der Gläubigen<br />
Die Bewegungen dieses Papstes sind überraschend, sein Handeln<br />
scheint unvorhersehbar, er bricht mit Gewohntem. Dafür<br />
vor allem wird er geschätzt. Es entsteht der Eindruck eines aktiven<br />
Kirchenmannes, der sich nicht instrumentalisieren lässt, sondern<br />
eigene Entscheidungen trifft, die sich ganz unmittelbar an<br />
der Nachfolge Christi orientieren. Er tritt in einen sehr offenen<br />
Dialog mit den Gläubigen und spricht sie direkt an, herzlich und<br />
unverstellt. Sollte Franziskus eine Veränderung der autokratischen<br />
Strukturen innerhalb des Vatikans umsetzen wollen, braucht er<br />
die Liebe und das Vertrauen der Weltgemeinschaft der Gläubigen.<br />
Zunächst aber scheint er seinem Herzen und seinem Gewissen<br />
zu folgen und da anzufangen, wo es nottut: sich den Armen<br />
und Ausgeschlossenen zuzuwenden, dort hinzugehen, wo keiner<br />
hin will, mit denen zu sprechen, die keiner sehen will, und Mitmenschlichkeit<br />
und Verantwortung einzufordern. Abgesehen von<br />
den kleinen großen Zeichen (einfaches Habit, offenes Auto, bescheidenes<br />
Wohnen) gibt es erste strukturelle Reformen: Er unterzeichnet<br />
ein Dekret zur verschärften Verfolgung von Kindsmissbrauch<br />
und passt die teilweise veraltete Justiz im Kirchenstaat<br />
internationalen Standards an. Das lässt hoffen.<br />
Martina Gedeck<br />
zählt zu den profiliertesten<br />
Charakterdarstellerinnen<br />
im<br />
deutschen Film. „Die<br />
Gottesfrage hat mich<br />
immer begleitet“, sagt<br />
die Protestantin<br />
Bodo Kirchhoff<br />
ist Schriftsteller. Von ihm stammen<br />
unter anderem die Romane<br />
„Die Liebe in groben Zügen“,<br />
„Schundroman“ und „Infanta“<br />
Das vollkommene Gegenbild<br />
Italien, wo wir den Sommer mit unseren Schreibseminaren verbringen, steht noch im Banne Silvio<br />
Berlusconis. Auf gespenstische Weise imponiert er vielen Italienern, trotz seiner Plastikhaare<br />
und dem Hang zum Operettenhaften, der Lügen, der Rechtsverdrehereien und im Grunde nicht<br />
besonders männlichen Affären.<br />
Vor diesem Hintergrund stellt Franziskus das vollkommene Gegenbild dar. Der neue Papst<br />
ist in jeder Hinsicht die menschliche Opposition zu Berlusconi, vor allem zu dessen lächerlichem<br />
Prunkbedürfnis. Franziskus’ bewusster Verzicht auf alles Pomphafte zeigt, dass es zumindest<br />
an der Spitze eines geistlichen Staates einen Menschen geben kann, der durch Einfachheit<br />
beeindruckt. Meine Hoffnung ist, dass er etwas dazu beiträgt, die Italiener mit ihrem<br />
Staat und den Amtsinhabern zu versöhnen, sie aus ihrer kindischen Rolle zu holen, den Staat<br />
um jeden Preis „bescheißen“ zu müssen. Dieser Papst wendet sich dem Übel, ja dem Unrat<br />
zu, statt ihn mit erhobenem Zeigefinger für moralische Appelle zu nutzen. Er macht sich notfalls<br />
diesen Zeigefinger schmutzig, und nur dann hat ein solcher Finger Gewicht. Franziskus<br />
ist wieder ein Mächtiger, dem man sich anschließen kann, weil seine Macht auch aus gezeigter<br />
Ohnmacht besteht.<br />
Die Frage ist, ob er mit den komplizierten Verhältnissen im Vatikan allein fertig wird, welche<br />
Berater er sich holt und ob er auch mit dieser Aufgabe ein Modell für Italien schafft.<br />
Fotos: Michael Tinnefeld/Agency People Image, Peter Peitsch/peitschphoto.com<br />
72 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Fotos: Bernd WeiSSbrod/Picture Alliance/DPA, Action Press, A. Hornischer, Action Press [M]<br />
Eine Freude für alle<br />
Der neue Papst erfreut alle Christenmenschen und nicht nur<br />
die. Einfache und einnehmende Botschaften und ein Verhalten,<br />
das sie zu belegen scheint, strahlen aus – weit über die<br />
katholische Kirche hinaus. Für<br />
das Verständnis der Weltreligionen<br />
untereinander ist es ein<br />
Segen, wenn das Christentum<br />
von einem Botschafter vertreten<br />
wird, der auch bei Muslimen,<br />
Juden, Hindus und Buddhisten<br />
ankommt. Es ist ihm gelungen,<br />
Sebastian Turner<br />
ist Werbefachmann.<br />
Als Parteiloser hat er 2012<br />
für das Amt des Stuttgarter<br />
Oberbürgermeisters<br />
kandidiert<br />
Ein Glücksfall für die Religion an sich<br />
Päpste kommen und gehen, der Katholizismus bleibt. Die Religion<br />
an sich bleibt, gleichgültig in welcher Form. Wir erleben<br />
die Krise der Institution(en) der Religion(en), nicht die<br />
Krise der Religion an sich. Zeitlos sind ihre Grundfragen: Wer<br />
oder was ist der Mensch? Woher kommen, wohin gehen wir?<br />
Wie, für wen, wofür leben wir? Das sind die ewigen Fragen des<br />
Seins, der Religion.<br />
Ohne Institution keine Tradition, verstanden als Weitergabe<br />
und Beschäftigung mit diesen Fragen. Dafür bestehen<br />
die Institutionen der Religionen,<br />
die Kirche zum Beispiel. Auch<br />
die Institutionen der Religionen<br />
bestehen aus Personen, charismatischen<br />
und glaubwürdigen, belanglosen<br />
oder unglaubwürdigen.<br />
Das bedeutet: Die Krise der Institution<br />
katholische Kirche und<br />
Michael Wolffsohn<br />
ist deutsch-jüdischer<br />
Historiker. Er schrieb unter<br />
anderem die Bücher „Wem<br />
gehört das Heilige Land?“<br />
und „Juden und Christen“<br />
große Sympathien und Erwartungen<br />
zu wecken. Das ist nicht<br />
einfach. Wirklich schwer wird es,<br />
sie zu erfüllen, wenn eine der ältesten<br />
Organisationen der Erde<br />
dafür verändert werden muss.<br />
anderer religiöser Institutionen<br />
ist eine Krise ihrer Personen.<br />
Nun hat der Katholizismus<br />
wieder mit Papst Franziskus<br />
eine charismatische Person,<br />
die – wie in der zunehmend personalisierten<br />
Politik – die Hoffnungen<br />
und Wünsche der Gläubigen<br />
glaubwürdig durch seine Person fokussiert. Das ist ein<br />
Glücksfall für den Katholizismus und „die“ Religion an sich.<br />
Die Gefahr: Charisma wird zur Gewohnheit und veralltäglicht<br />
sich meistens. Die Chance: Die Zeit des Charismas ist<br />
für die Substanz zu nutzen. Lang lebe Papst Franziskus – und<br />
sein Charisma.<br />
Zeichen und Wunder<br />
Ich sehe in der Kirche eher ein politisches als ein spirituelles<br />
Unternehmen und ans Spitzenpersonal habe ich ähnliche<br />
Erwartungen wie an Staatschefs oder Konzernlenker –<br />
Vorbildfunktion, Führungsqualitäten, Kompetenz und<br />
Menschlichkeit.<br />
In den vergangenen Jahren hätte ich keinen Euro in eine<br />
katholische Konzernaktie investiert, zu rückständig und<br />
moralisch fragwürdig erschien mir die Führung. Der Gipfel<br />
waren die systematische Vertuschung von Missbrauchsfällen<br />
und die Umarmung der Holocaust-Leugner von den<br />
Piusbrüdern.<br />
Und nun Franziskus. Nach anfänglicher Skepsis wegen zu<br />
großer Nähe zur argentinischen Militärherrschaft (die ihm<br />
nicht nachgewiesen werden konnte) überrascht der neue<br />
Chef fast täglich seine Kunden und Mitarbeiter. Er trägt<br />
keinen Hermelin und keine Prada-Schuhe, wohnt im Gästehaus<br />
statt im<br />
Palast, umarmt<br />
die Ausgestoßenen<br />
der Gesellschaft<br />
und wirbt<br />
für eine „Kirche<br />
der Armen“. Er<br />
will die Kurie re-<br />
Amelie Fried<br />
ist Schriftstellerin und Fernsehmoderatorin.<br />
Sie ist evangelisch getauft, aber<br />
mit Anfang zwanzig aus der Kirche<br />
ausgetreten<br />
formieren, bei<br />
der Vatikanbank<br />
aufräumen, und<br />
auf das Thema<br />
Schwulenlobby<br />
im Vatikan angesprochen,<br />
sagt er,<br />
wenn es eine solche<br />
geben sollte,<br />
sei das ein Problem,<br />
weil Lobbys<br />
ein Problem<br />
seien. Und weiter:<br />
„Wenn ein<br />
Priester homosexuell<br />
ist, Gott<br />
sucht und ein<br />
Mensch guten<br />
Willens ist, wer bin ich, über ihn zu richten?“ Es gibt Homosexuelle<br />
in der katholischen Kirche? Und die können gute<br />
Priester sein? Womöglich sogar gute Menschen? Das hat uns<br />
bisher keiner von denen da oben gesagt, schön, dass es jetzt<br />
mal einer getan hat. Leider bleibt für den Papst der homosexuelle<br />
Akt eine Sünde. Aber bei der katholischen Kirche ist<br />
man ja schon dankbar für kleine Signale in Richtung mehr<br />
Menschlichkeit, Empathie und Gleichberechtigung – was<br />
nur zeigt, wie groß der Mangel ist. Aber vielleicht geschehen<br />
ja noch Zeichen und Wunder. Für den Fall, dass Franziskus<br />
den Zölibat aufhebt und Frauen ins Priesteramt lässt,<br />
kündige ich hiermit meinen Eintritt in die katholische Kirche<br />
an. Zum Glück ist die Gefahr gering.<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 73
| W e l t b ü h n e | K o m m e n t a r<br />
Die Mittelschicht<br />
begehrt auf<br />
Türken und Russen, Brasilianer und Bulgaren – sie<br />
alle gehen zu Tausenden auf die Straße. Warum<br />
ausgerechnet jetzt? Und was eint diese Proteste?<br />
Von Ulrich speck<br />
I<br />
n den groSSen Städten des Landes versammeln sich<br />
Menschen, erst Hunderte, dann Tausende, Zehntausende,<br />
Hunderttausende. Spontan, ungeplant. Die<br />
Stimmung ist ausgelassen, friedlich. Eher ein Happening, nicht<br />
ein nach vorgeplantem Muster ablaufender Protest. Niemand<br />
organisiert die Demonstration, keine Partei, keine Gewerkschaft<br />
führt und dirigiert. Facebook und Twitter sind die Plattformen,<br />
auf denen man sich austauscht und koordiniert; das Handy ist<br />
das unentbehrliche Utensil. Die Leute sind jung, chic, urban;<br />
viele haben Jahre an der Universität verbracht, sind herumgekommen,<br />
haben internationale Kontakte, nicht nur übers Internet.<br />
Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und Mobilität sind<br />
Merkmale dieser neuen kosmopolitischen Mittelschichten, die<br />
jetzt auch politische Präsenz zeigen, in Russland, in der Türkei,<br />
in Brasilien, in Bulgarien und anderswo.<br />
Mit traditioneller Politik haben diese Kreise nichts im Sinn,<br />
auch nichts mit der etablierten Opposition. Hauptmotiv für den<br />
Protest ist der lang angestaute Ärger über die Willkür, Selbstgerechtigkeit<br />
und Korruption der Herrschenden. Über Jahre<br />
hat man die Anmaßungen der politischen Führung hingenommen<br />
und sich vor allem um das private Fortkommen gekümmert,<br />
jetzt aber ist das Maß voll. Und man entdeckt, dass man<br />
nicht allein ist mit dem Wunsch nach einem freieren Leben und<br />
einem anständigen, fairen Staat, der den Bürgern dienen und<br />
nicht ein Instrument zur Bereicherung der Herrschenden sein<br />
soll. Man entdeckt die Macht der Masse.<br />
Die Wucht des unerwarteten Protests bringt die Regierungen<br />
in die Defensive. Mit der klassischen Opposition haben<br />
die Herrschenden gelernt umzugehen. Der neue Protest aber<br />
ist anarchisch, herrschaftsfrei, ohne Zentrum und damit kaum<br />
zu kontrollieren. Wo keine Rädelsführer sind, kann man auch<br />
keine Rädelsführer einschüchtern oder kooptieren. Wo es keine<br />
eindeutigen, klar abgegrenzten politischen Ziele gibt, kann man<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
74 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Foto: Privat<br />
nicht mit schnellen Zugeständnissen dem Protest den Wind aus<br />
den Segeln nehmen. Die Regierungen lassen Polizei aufmarschieren<br />
und Wasserwerfer auffahren, und sind doch bei aller<br />
Machtdemonstration erst einmal irritiert, entwaffnet, machtlos.<br />
Nach ein paar Wochen allerdings verliert der Protest seine Dynamik.<br />
Die Protestierenden sind erschöpft, Arbeit und Karriere<br />
rücken wieder in den Mittelpunkt. Die Party ist vorbei. Die Regierung<br />
geht wieder in die Offensive, meist mit einem Mix aus<br />
Zuckerbrot und Peitsche. Das übrig gebliebene Häufchen radikaler<br />
Demonstranten wird abgeräumt.<br />
Die Länder, in denen der neue Mittelschicht-Protest stattfindet,<br />
ähneln sich. Russland, die Türkei, Brasilien und Bulgarien<br />
sind Boomländer, deren Wirtschaft in den vergangenen<br />
Jahren erheblich gewachsen ist. Viele Menschen sind dabei<br />
wohlhabend geworden, vielen geht es besser als der Generation<br />
davor. Zugleich liegen diese Länder in der Peripherie des Westens.<br />
Die jungen Frauen und Männer, die in Istanbul und Moskau<br />
demonstriert haben, sind aufgewachsen im Einflussbereich<br />
der westlichen Kultur und Politik, ohne daran jedoch vollständig<br />
teilzuhaben. Fernsehen, Fernreisen, Studienaufenthalte und<br />
Internet haben die neuen Mittelschichten geprägt, ihre Mentalität<br />
ist globalisiert.<br />
Die neue Mobilität, online und offline, macht die Lebensverhältnisse<br />
vergleichbar. Autokratischen und halbautokratischen<br />
Regimes fällt es immer schwerer, ihre Bevölkerungen abzuschirmen<br />
und die Medien unter Kontrolle zu halten. Und der<br />
Vergleich zwischen den kulturell-politischen Standards des Westens<br />
und den Verhältnissen zu Hause fällt oft ungünstig aus. Der<br />
Ärger über eine die Bürger drangsalierende Polizei, über korrupte<br />
Amtsträger und über ein arrogantes politisches System<br />
wächst. Patriarchalisch-autokratische Herrschaftsformen geraten<br />
unter Druck.<br />
Die Stärke des Protests, seine Spontaneität und seine inhaltliche<br />
Breite, sind allerdings auch seine Schwäche. Ohne Organisation,<br />
ohne Professionalisierung geht es nicht, wenn man direktdemokratische<br />
Impulse in die Sprache der Macht übersetzen will.<br />
Man braucht Geld, man braucht einen Vorsitzenden, ein professionelles<br />
Team und ein Programm. Man muss sich auf Organisation<br />
und Dauerhaftigkeit einlassen. Von alledem ist eher wenig<br />
zu sehen: Der Protest schwillt an und ebbt wieder ab, ohne dass<br />
daraus eine veritable politische Bewegung entsteht.<br />
Die andere groSSe Schwäche ist die Beschränkung auf die<br />
großen Städte. Auch in der Landbevölkerung gibt es große Unzufriedenheit,<br />
etwa über korrupte Beamte. Doch dieser Ärger<br />
transformiert sich nicht in Protest. Der Funke zwischen Stadt<br />
und Land springt nicht über, zur Erleichterung der Herrschenden.<br />
Die städtische Mittelschicht-Bewegung bleibt auf sich<br />
selbst bezogen. Zwischen der kosmopolitischen, westlich orientierten<br />
Stadtbevölkerung und einer eher konservativen Landbevölkerung<br />
gibt es wenig Verbindendes.<br />
Trotz aller strukturellen Schwäche sind aber doch mit den<br />
Protesten in Russland, in der Türkei, in Brasilien und Bulgarien<br />
verkrustete politische Strukturen aufgebrochen worden. Die Regierenden<br />
sind verwarnt worden. Die von einem neuen Bürgersinn<br />
beflügelten Mittelschichten haben ihnen die Grenzen dessen<br />
gezeigt, was sie zu akzeptieren bereit sind. Der Protest ist<br />
zwar wieder abgeebbt, er kann aber jederzeit wiederkommen.<br />
Und wenn er anschwillt, kann er die Macht der herrschenden<br />
Kreise brechen. Die neuen Mittelschichten haben demonstriert,<br />
dass sie ein politischer Faktor sind und sich nicht nur als Konsumenten<br />
definieren. Sie haben deutlich gemacht, dass Machtmissbrauch<br />
ein riskantes Spiel ist. Diejenigen, die heute oben<br />
sind, können jederzeit abstürzen.<br />
Autokratische Herrscher macht das besonders nervös. Bei<br />
ihnen ist der Widerspruch zwischen der Fassade liberaler Demokratie<br />
und der Realität einer Willkürherrschaft besonders<br />
scharf. In Russland hat Putin auf die Proteste mit einer Verschärfung<br />
der Repression reagiert. Auch in der Türkei zieht Erdogan<br />
die Schrauben an, sein Fokus ist vor allem die Kontrolle<br />
der Medien. Doch anders als Russland ist die Türkei, bei allen<br />
Einschränkungen, eine lebendige Demokratie mit einer Vielzahl<br />
von Machtzentren. Erdogans Möglichkeiten, die türkische Gesellschaft<br />
und Politik zu steuern, sind weitaus begrenzter als die<br />
Möglichkeiten Putins, der tatsächlich ein System der zentralen<br />
Kontrolle etabliert hat.<br />
Was beide aber nicht zurückdrehen können, ist der Prozess<br />
einer Fundamentalpolitisierung von Kreisen, die bislang unpolitisch<br />
waren oder zumindest schienen. Die neuen Mittelschichten<br />
in Russland galten bislang als gleichsam stille Teilhaber des<br />
Putin-Systems, weil sie von den sprudelnden Einnahmen aus<br />
der Energieproduktion, die der Kreml kontrolliert, profitiert haben,<br />
direkt oder indirekt. In der Türkei war Erdogans Herrschaft<br />
auch in den Mittelschichten akzeptiert, weil seine Regierung<br />
gleichbedeutend war mit Stabilität und anhaltendem Wachstum.<br />
Doch nun ist das Tischtuch zerschnitten. Die ökonomisch<br />
aufsteigenden Schichten lassen sich nicht mehr dauerhaft von<br />
der Politik fernhalten, sie wollen Bürger im vollen Wortsinne<br />
sein: nicht nur bourgeois, sondern auch citoyen, Teilhaber am<br />
Politischen.<br />
Der Aufstand der Mittelschichten in der Peripherie des<br />
Westens hält auch eine Lehre für den Westen bereit. Das Argument,<br />
Rechtsstaat und Demokratie seien der Kultur nichtwestlicher<br />
Länder fremd, wird von den Protestbewegungen ad<br />
absurdum geführt. Auch viele Russen wollen eine anständige<br />
Regierung, die im Interesse der Bürger regiert statt im Interesse<br />
einer kleinen Clique. Auch viele Bulgaren lehnen es ab, von<br />
Oligarchen regiert zu werden. Auch viele Brasilianer sind allergisch<br />
gegen Korruption. Auch für viele Türken sind fundamentale<br />
Rechte wie Demonstrations- und Pressefreiheit von größter<br />
Bedeutung.<br />
Anders gesagt: Die liberale Demokratie mit ihren Mechanismen<br />
der Herrschaftskontrolle und ihrer Garantie von Grundund<br />
Freiheitsrechten bleibt das Ziel all derer, die sich von autokratisch-patriarchalischer<br />
Herrschaft befreien wollen.<br />
Ulrich Speck<br />
ist außenpolitischer Analyst und Autor<br />
in Brüssel und Heidelberg<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 75
| K a p i t a l<br />
Der ach so nette Thomas<br />
Thomas Bach will IOC-Präsident werden, aber die deutsche Dopingdiskussion gefährdet seine Wahl<br />
von Jens Weinreich<br />
I<br />
n seiner 119 Jahre währenden<br />
Geschichte hatte das Internationale<br />
Olympische Komitee nur<br />
acht Präsidenten. Im selben Zeitraum gab<br />
es immerhin elf Päpste.<br />
Acht IOC-Präsidenten – elf Päpste.<br />
Schon der Vergleich zeigt, dass die Wahl<br />
des neunten IOC-Präsidenten am 10. September<br />
2013 in Buenos Aires eine historische<br />
Angelegenheit ist, besonders aus<br />
deutscher Sicht. Denn Thomas Bach, 59,<br />
Rechtsanwalt aus Tauberbischofsheim, ist<br />
unter sechs Kandidaten der Favorit für den<br />
IOC-Thron. Bei einem Sieg wäre er Chef<br />
des milliardenschweren Konzerns, der ein<br />
Kulturgut der Menschheit vermarktet: die<br />
Olympischen Spiele.<br />
Thomas Bach kann eine lupenreine<br />
olympische Karriere vorweisen. Er war<br />
1976 Fecht-Olympiasieger, später Athletensprecher,<br />
ist seit 1991 IOC-Mitglied.<br />
Seit 2006 amtiert Bach als Präsident des<br />
Deutschen Olympischen Sportbunds.<br />
Doch im IOC wird Thomas Bach nicht<br />
als ehemaliger Sportler wahrgenommen,<br />
sondern als Mann der Wirtschaft. Insofern<br />
darf man seinen härtesten Konkurrenten,<br />
den die ganze Welt als Sportikone<br />
kennt, nicht abschreiben: Sergej Bubka,<br />
49, aus der Ukraine, Olympiasieger und<br />
noch immer Weltrekordler im Stabhochsprung.<br />
Als sich die sechs IOC-Kandidaten<br />
Anfang August in Moskau zur Eröffnung<br />
der Leichtathletik-Weltmeisterschaft<br />
trafen, wurde nur einer zur Privataudienz<br />
beim russischen Präsidenten Wladimir Putin<br />
gebeten: Bubka.<br />
Putins Einfluss im Sportbusiness ist<br />
enorm. Er hat die Olympischen Winterspiele<br />
2014, die Fußball-WM 2018,<br />
die Formel 1 und etliche andere Weltmeisterschaften<br />
nach Russland geholt.<br />
Sollte der russische Präsident ein Interesse<br />
am Ausgang der IOC-Wahlen haben,<br />
wäre er wohl in der Lage, Stimmen<br />
für seinen Kandidaten zu generieren. Der<br />
stünde auch 2014 bei der Eröffnung der<br />
Winterspiele in Putins Residenzstadt Sotschi<br />
an seiner Seite.<br />
Neben Bubka muss Bach noch den<br />
Singapur-Chinesen Ser Miang Ng, 64, im<br />
Auge behalten. Im derzeit 104 Mitglieder<br />
umfassenden IOC ist Ng vielleicht der beliebteste<br />
Präsidentschaftskandidat – doch<br />
das reicht nicht aus, um den Thron zu erklimmen.<br />
Es sei denn, der einflussreiche kuwaitische<br />
IOC-Funktionär Scheich Ahmad<br />
al Sabah schwenkt von seinem bisherigen<br />
Favoriten Bach auf Ser Miang Ng um.<br />
Putin, Oligarchen, Ölscheichs – IOC-<br />
Wahlen sind keine Sportveranstaltung,<br />
sondern globales Monopoly. Bach ist mittendrin.<br />
Mit Kuwait verbinden ihn wirtschaftliche<br />
Interessen. So gehört die Tauberbischofsheimer<br />
Weinig AG, bei der er<br />
seit Jahren dem Aufsichtsrat vorsteht, kuwaitischen<br />
Investoren. Bach ist zudem<br />
Präsident einer sogenannten deutsch-arabischen<br />
Wirtschaftskammer (Ghorfa), weshalb<br />
ihm vor allem im arabischen Raum<br />
IOC-Stimmen zufallen sollten.<br />
Aber bei IOC-Wahlkämpfen kann das<br />
Momentum der letzten Wochen entscheiden.<br />
Wer hat negative Schlagzeilen, wer<br />
verkörpert welche Botschaften? Die in<br />
Deutschland derzeit heftig geführte Diskussion<br />
über das Dopingsystem des westdeutschen<br />
Sports kann Bach Stimmen<br />
kosten. Zumal er damit wenig souverän<br />
umgeht und einen Berliner Anwalt in die<br />
Spur geschickt hat, der Journalisten, die<br />
Fragen nach der Vergangenheit stellen, mit<br />
„Strafanzeige wegen übler Nachrede“ droht.<br />
Wird Bach auf der Zielgeraden nervös?<br />
Derlei Schreiben erinnern an etwas ältere<br />
Briefe seiner Kanzleikollegen, die auf Erkundigungen<br />
nach seinen wirtschaftlichen<br />
Tätigkeiten mit bösen Briefen antworteten<br />
und sich „Ausforschungsfragen“ verbaten.<br />
Dabei klangen Mandate und Verträge,<br />
die im Rahmen der Insolvenz der<br />
Philipp Holzmann AG oder dem Korruptionsverfahren<br />
bei Siemens publik wurden,<br />
durchaus delikat. Denn das Interesse dieser<br />
Konzerne an fürstlich dotierten Kontrakten<br />
mit Bach bestand offenbar weniger in<br />
dessen juristischer Expertise als vielmehr<br />
aufgrund seiner weitverzweigten Kontakte.<br />
Thomas Bach hat stets erklärt, zwischen<br />
privaten, geschäftlichen und sportlichen<br />
Interessen zu trennen. Er prägte dafür<br />
den Begriff der „vielfältigen Lebenssachverhalte“.<br />
Interessenkonflikte gibt es bei Bach<br />
nicht, bei Zweifeln daran verweist er gerne<br />
auf Stellungnahmen seiner Vertragspartner.<br />
Aber jetzt, da die Machtfrage gestellt ist,<br />
interessieren sich immer mehr IOC-Mitglieder<br />
für derartige Vorgänge. Auch Bachs Intermezzo<br />
beim Sportartikelkonzern Adidas<br />
wird wieder hinterfragt. Denn als Bach von<br />
1985 bis 1987 dem damaligen Adidas-Boss<br />
Horst Dassler als Adlatus diente, hat Dassler<br />
den Weltsport mit einem einzigartigen Korruptionssystem<br />
überzogen. Thomas Bach<br />
aber hat davon nichts mitbekommen und<br />
war nie an unsauberen Geschäften beteiligt.<br />
20 Jahre lang hat Bach im IOC selten<br />
verloren. Die gescheiterte Olympiabewerbung<br />
Münchens für die Winterspiele<br />
2018 war ein schwerer Rückschlag für ihn.<br />
Erstmals sah man den Fechter mit hochgeklapptem<br />
Visier, Bach vergoss nach der<br />
verheerenden Abstimmungsniederlage im<br />
Juli 2011 Tränen vor laufenden Kameras.<br />
Es brachte ihm Sympathiepunkte im<br />
IOC, die er aber sofort wieder verspielte.<br />
Denn verschiedene IOC-Mitglieder berichten,<br />
Bach habe schon ab Sommer 2011<br />
jene Abweichler gesucht, die München die<br />
versprochenen Stimmen verwehrt hatten.<br />
In Vieraugengesprächen soll sich Bach eisenhart<br />
gezeigt haben. Auch deswegen sind<br />
einige IOC-Mitglieder verstimmt über den<br />
energischen Deutschen, den sie bisher als<br />
den netten Thomas kannten.<br />
Jens Weinreich<br />
schreibt seit 20 Jahren über die<br />
Korruption im Sport. In Kürze<br />
erscheint sein Buch „Macht,<br />
Moneten, Marionetten“<br />
Fotos: Action Press, Privat (Autor)<br />
76 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Putin, Oligarchen, Ölscheichs –<br />
IOC‐Wahlen sind globales Monopoly<br />
und Thomas Bach ist mittendrin<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 77
| K a p i t a l<br />
immer gut verpackt<br />
In Berlin kämpft Lencke Wischhusen für die Interessen junger Unternehmer – und zu Hause eigentlich auch<br />
von Til KNipper<br />
L<br />
encke Wischhusen hat zurzeit<br />
ein Problem, das viele Deutsche<br />
quält: Sie weiß nicht, wen sie bei<br />
der Bundestagswahl am 22. September<br />
wählen soll. Bei der 27-jährigen Unternehmerin<br />
aus Bremen ist das insofern bemerkenswert,<br />
als sie viele der zur Wahl stehenden<br />
Kandidaten inzwischen persönlich<br />
kennt. Sie ist nämlich nicht nur die Geschäftsführerin<br />
der von ihrem Vater Dieter<br />
Wischhusen aufgebauten Unternehmensgruppe<br />
W-Pack Kunststoffe, sondern seit<br />
Ende des vergangenen Jahres auch Bundesvorsitzende<br />
des Verbands der Jungen Unternehmer<br />
(BJU).<br />
Gehen Sie dann also gar nicht wählen,<br />
Frau Wischhusen? „Nein, das ist das<br />
Schlimmste, was man machen kann, weil<br />
davon nur die Parteien profitieren, die<br />
Sie gar nicht wollen.“ SPD und <strong>Grün</strong>e?<br />
„Nein, die sind für mich als Unternehmerin<br />
schon wegen ihrer Vermögenssteuerpläne<br />
unwählbar.“ Nach den Linken muss<br />
man dann wohl gar nicht fragen? „Nein.“<br />
CDU? „Das Betreuungsgeld ist unsinnig.<br />
Das Geld sollte man lieber in Kindergärten<br />
und die Bildung investieren.“ FDP?<br />
„Haben die Eurorettungspolitik mitgetragen<br />
und auch nicht viel gegen die ständig<br />
steigende Staatsverschuldung getan.“ Was<br />
Wischhusen in diesem Wahlkampf „besonders<br />
beängstigend“ findet: Wie die einzelnen<br />
Parteien ihren jeweiligen Markenkern<br />
vernachlässigen. „Es geht nur noch um die<br />
Frage: Wer hat welches Thema als Erstes<br />
besetzt?“<br />
Als BJU-Vorsitzende versteht Wischhusen<br />
zwar inzwischen besser, wie der Berliner<br />
Politikbetrieb funktioniert. Trotzdem<br />
ist sie regelmäßig verzweifelt, wenn<br />
sie meint, dass die Interessen der jungen<br />
Familienunternehmer in der Hauptstadt<br />
nicht genügend Gehör finden. Ihre großen<br />
BJU-Themen sind Generationengerechtigkeit<br />
und unternehmerische Freiheit.<br />
Darüber kann sie stundenlang referieren.<br />
Gerne sagt sie dabei Sätze wie: „Als Familienunternehmerin<br />
denke ich in Generationen<br />
und nicht in Quartalen.“ Oder: „Wenn<br />
wir nicht sofort mit dem staatlichen Schuldenabbau<br />
beginnen, werden unsere Kinder<br />
und Kindeskinder kaum noch Handlungsspielräume<br />
haben.“ Das klingt gestelzt<br />
aus dem Mund der jungen<br />
Unternehmerin, aber man<br />
nimmt es ihr trotzdem ab.<br />
Wischhusen, die äußerlich<br />
ein bisschen an Paris<br />
Hilton in gesund erinnert,<br />
hat sich sehr früh entschieden,<br />
ins väterliche Unternehmen<br />
einzusteigen: „Ich habe<br />
schon als Sechsjährige jedem<br />
erzählt: Ich möchte so wie<br />
Papa werden“, sagt sie. Kein<br />
Wunder, sei die Firma doch<br />
schon zu Hause am Abendbrottisch<br />
ständig Thema<br />
gewesen.<br />
W-Pack Kunststoffe handelt<br />
mit Verpackungsmaterialien<br />
aller Art: Stretch folien,<br />
Pappkartons, Menüschalen,<br />
Feinkostbecher. Mit 50 Mitarbeitern<br />
setzt die Unternehmensgruppe<br />
15 Millionen<br />
Euro im Jahr um.<br />
Da es keine Mindestbestellmengen gibt,<br />
reicht der Kundenstamm von Imbissbesitzern<br />
über Supermarktketten bis hin zu<br />
Industriekonzernen.<br />
Leicht hat ihr der Vater den Einstieg<br />
nicht gemacht. Mit 18 hat Tochter Lencke<br />
als Azubi bei ihm angefangen, nebenher<br />
erst an einer Wirtschaftsakademie und anschließend<br />
an einer Fachhochschule Betriebswirtschaft<br />
studiert. Sie musste sich<br />
hocharbeiten, den Respekt der Mitarbeiter<br />
hart erkämpfen, die zuerst dachten, jetzt<br />
komme hier „die Kronprinzessin, die sich<br />
alles erlauben kann“. Aber schnell merkten<br />
sie, dass der Chef seine Tochter genauso<br />
MYTHOS<br />
MITTELSTAND<br />
„Was hat Deutschland,<br />
was andere nicht<br />
haben? Den<br />
Mittelstand!“, sagt jetzt<br />
auch der Deutsche-<br />
Bank-Chef Anshu<br />
Jain. <strong>Cicero</strong> weiß das<br />
schon länger und stellt<br />
den Mittelstand in<br />
einer Serie vor. Die<br />
bisherigen Porträts aus<br />
der Serie unter:<br />
www.cicero.de/mittelstand<br />
hart in die Pflicht nimmt wie alle anderen.<br />
Per Kaltakquise musste sie sich ihren<br />
eigenen Kundenstamm aufbauen und den<br />
Verpackungshandel von der Pike auf lernen.<br />
Feedback für ihre Arbeit vom Vater<br />
gab es selten. Wischhusen senior pflegte<br />
einen eher hanseatisch-patriarchalischen<br />
Führungsstil.<br />
Irgendwas muss sie aber<br />
doch richtig gemacht haben.<br />
Denn Ende 2009 sagte der<br />
Vater zu ihr: „Komm mal in<br />
mein Büro – wir müssen reden.“<br />
Dort eröffnete er ihr,<br />
dass er sie zur Geschäftsführerin<br />
ernennen wolle und<br />
bereits einen Notartermin<br />
vereinbart habe.<br />
Dieter Wischhusen, 70,<br />
kommt noch regelmäßig<br />
in die Firma, betreut seine<br />
alten Kunden und diskutiert<br />
strategische Fragen<br />
mit Tochter und Sohn, der<br />
inzwischen auch im Unternehmen<br />
arbeitet. Seine<br />
Tochter provoziert er dabei<br />
gerne mit alten Pfeffersack-<br />
Sprüchen: „Weib, halt die<br />
Klappe, vom Geschäft verstehst<br />
du nichts.“ Sie weiß<br />
aber, wie stolz der Vater ist, dass die nächste<br />
Generation sein Lebenswerk fortsetzt.<br />
Als Chefin bevorzugt Lencke Wischhusen<br />
aber einen kommunikativeren Führungsstil<br />
als der Vater: „Ich delegiere viel<br />
mehr.“ Muss sie auch, um Zeit für ihr BJU-<br />
Amt zu haben, damit die neue Bundesregierung<br />
weiß, was die jungen Unternehmer<br />
wollen.<br />
Til Knipper<br />
leitet das Ressort<br />
Kapital bei <strong>Cicero</strong><br />
Fotos: Jens Umbach für <strong>Cicero</strong>, Andrej Dallmann (Autor)<br />
78 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Mit Stretchfolie<br />
zum Verpacken<br />
von Paletten<br />
macht Lencke<br />
Wischhusen den<br />
meisten Umsatz<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 79
| K a p i t a l<br />
Berlins Banker<br />
Ulrich Schröder verwaltet mehr Steuergeld als das ganze Bundeskabinett, aber hat er die KfW noch im Griff?<br />
von Heinz-Roger Dohms<br />
U<br />
lrich Schröder kommt gerade<br />
aus Athen – und sieht ein bisschen<br />
fertig aus. Das Gesicht fahl,<br />
die Haare unsortiert. Normalerweise legt<br />
der 62-Jährige Wert auf makelloses Auftreten.<br />
Heute fragt er, ob es okay sei, wenn er<br />
aufs Jackett verzichte.<br />
Es ist ein schwüler Freitag Mitte Juli.<br />
Schröder, Chef der Staatsbank KfW, empfängt<br />
in der Hauptstadt-Niederlassung seines<br />
Instituts am Gendarmenmarkt, dritter<br />
Stock, ein großer, aber schlichter Raum,<br />
vier Ledersessel um zwei runde Sitztische.<br />
Die Sekretärin hat ihm einen Kaffee gebracht.<br />
Der soll helfen gegen die Müdigkeit<br />
am Ende einer strapaziösen Woche.<br />
Schröder fängt an, von Athen zu erzählen.<br />
Mit Schäuble war er da, es ging um<br />
einen Hunderte Millionen Euro schweren<br />
Kredittopf für griechische Mittelständler.<br />
Wie selbstverständlich mischt die KfW in<br />
der Sache mit – so wie sie gefühlt immer<br />
und überall mitmischt seit Ausbruch der<br />
Finanzkrise. „Die Sicherheitsvorkehrungen<br />
für den Schäuble-Besuch haben mich<br />
sehr beeindruckt, die halbe Stadt war abgesperrt“,<br />
berichtet Schröder. Viele Banker<br />
haben in den vergangenen Jahren einen<br />
dramatischen Bedeutungsverlust erfahren.<br />
Bei ihm war es andersrum. Er ist jetzt mittendrin<br />
in der großen Politik.<br />
Über Karrieren entscheiden manchmal<br />
Kleinigkeiten, auch auf Schröder trifft das<br />
zu. Anfang 2008, so hieß es, wäre er gern<br />
Chef der WestLB geworden – kam aber<br />
nicht zum Zuge. Wie man heute weiß, war<br />
die WestLB zu der Zeit schon nicht mehr<br />
zu retten. Bald danach ging sie unter.<br />
Stattdessen heuerte Schröder kurz darauf<br />
bei der KfW an, doch als er dort zwei<br />
Wochen im Amt war, erlebte die Bank den<br />
schwärzesten Moment ihrer Geschichte.<br />
Am 15. September 2008, dem Tag der<br />
Lehman-Pleite, überwiesen die Frankfurter<br />
dem US-Haus noch rund 300 Millionen<br />
Euro. „Deutschlands dümmste Bank“,<br />
titelte die Bild. Viel fehlte nicht, und<br />
Schröder wäre den Posten, den er gerade<br />
erst bekleidete, schon wieder los gewesen.<br />
Und nun, fünf Jahre später? Ist die KfW<br />
neben der Deutschen Bank das unbestritten<br />
mächtigste Geldhaus des Landes. Und<br />
Schröder neben deren Chefs Anshu Jain<br />
und Jürgen Fitschen der wichtigste Banker<br />
der Republik. Was für ein Aufstieg.<br />
Die Dimensionen, in die die einst biedere<br />
Kreditanstalt für Wiederaufbau hineingewachsen<br />
ist, sind in der Tat gewaltig –<br />
und furchteinflößend, wie Kritiker meinen.<br />
Schließlich haftet der Steuerzahler uneingeschränkt<br />
für den staatlichen Moloch. 70<br />
bis 80 Milliarden Euro nimmt die KfW inzwischen<br />
jährlich am Kapitalmarkt auf, um<br />
ihre Geschäfte zu finanzieren. Keine andere<br />
Bank weltweit erreicht diese Größenordnung.<br />
Während andere Institute ihre<br />
Bilanzsummen eindampfen, hat die KfW<br />
die ihre in den vergangenen fünf Jahren<br />
von 354 Millarden Euro auf 512 Milliarden<br />
Euro aufgebläht.<br />
Wer treibt diese Entwicklung voran?<br />
Sind es die Umstände, die Politik oder<br />
Schröder selbst? Und: Wer ist der Mann,<br />
der inzwischen – rechnet man Bilanzsumme<br />
versus Bundesetat – über fast doppelt<br />
so viel Staatsgeld gebietet wie alle Berliner<br />
Ministerien zusammen? Hat er den<br />
Moloch noch im Griff?<br />
Um Antworten auf diese Fragen zu<br />
finden, muss man zunächst fünf Jahre<br />
zurückblenden. Am 1. September 2008<br />
nimmt Schröder bei der KfW seine Arbeit<br />
auf. Lehman ist da noch nicht zusammengekracht.<br />
Aber die Welt steckt trotzdem<br />
schon mittendrin in der Finanzkrise.<br />
In Deutschland sind die ersten Banken<br />
bereits gefallen. Bei einer handelt es sich<br />
um die börsennotierte Düsseldorfer IKB,<br />
deren Hauptaktionär die KfW ist. Mit einem<br />
hohen einstelligen Milliardenbetrag<br />
muss das Förderinstitut bei der Tochter einspringen.<br />
Es ist ein veritabler Skandal, der<br />
die SPD-Politikerin Ingrid Matthäus-Maier,<br />
Während andere<br />
Geldhäuser<br />
schrumpfen, hat<br />
die staatliche<br />
Förderbank KfW<br />
ihre Bilanzsumme<br />
in den<br />
vergangenen<br />
fünf Jahren von<br />
354 Milliarden<br />
Euro auf<br />
512 Milliarden<br />
Euro aufgebläht<br />
Foto: Gaby Gerster/Laif<br />
80 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Ulrich Schröder ist seit<br />
2008 Chef der staatlichen<br />
Förderbank KfW, dem<br />
inzwischen drittgrößten<br />
Geldhaus des Landes<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 81
| K a p i t a l<br />
Schröder selbst<br />
verbringt das<br />
Wochenende<br />
inmitten der<br />
aufziehenden<br />
Lehman-<br />
Katastrophe<br />
privat in Paris.<br />
Wer weiß, was<br />
mit ihm passiert<br />
wäre, wenn das<br />
damals bekannt<br />
geworden wäre.<br />
Wurde es aber<br />
nicht<br />
die man ein Jahr zuvor als KfW-Chefin installiert<br />
hat, den Kopf kostet.<br />
Dann kommt: das Lehman-Wochenende,<br />
der 13. und 14. September. Über<br />
Tage hat sich der Gau für die Finanzwelt<br />
angedeutet. Viele Banken haben Notfallteams<br />
installiert, um sich für das Unfassbare<br />
zu wappnen. Nur bei der KfW ist niemand<br />
im Haus. „Das war damals noch ein<br />
richtiger Beamtenladen. Freitagnachmittag<br />
sind alle ins Wochenende. Und Montagmorgen,<br />
als man die Überweisung an Lehman<br />
hätte stoppen können, war noch keiner<br />
da“, sagt lakonisch einer, der die Bank<br />
bestens kennt.<br />
Schröder selbst, der Chef, noch keine<br />
14 Tage im Amt, verbringt das Wochenende<br />
inmitten der aufziehenden Katastrophe<br />
privat in Paris, wie Eingeweihte erzählen.<br />
Wer weiß, was mit ihm passiert wäre,<br />
wenn das damals öffentlich geworden wäre.<br />
Wurde es aber nicht.<br />
Auch so ist Schröders damalige Ausgangsposition<br />
auf den ersten Blick verheerend:<br />
Wer braucht eine Staatsbank, die<br />
Millionen und Milliarden verbrennt? Und<br />
wer einen Bankchef, der die dümmliche<br />
Lehman-Überweisung nicht zu verhindern<br />
wusste? Die Antwort der Politik aber lautet:<br />
Beide werden gebraucht. Die KfW, um<br />
die Folgen des globalen Finanz-GAUs für<br />
die deutsche Wirtschaft abzufedern. Und<br />
Schröder, um diesen Prozess zu managen.<br />
„Nachdem sie Matthäus-Maier rausgeworfen<br />
hatte, konnte sie den neuen Chef<br />
nicht gleich wieder entlassen. Das hat ihn<br />
gerettet“, sagt ein hochrangiger Staatsbanker,<br />
der Schröder seit langem kennt, aber<br />
nicht sonderlich mag. Allerdings sagt dieser<br />
Banker auch: „Was man anerkennen muss:<br />
Er hat die Lage danach richtig eingeschätzt<br />
und ausgenutzt.“<br />
Zunächst einmal räumt Schröder auf.<br />
Die beiden für die Lehman-Überweisung<br />
zuständigen Manager müssen gehen. Manche<br />
sehen darin noch heute ein Bauernopfer,<br />
andere halten die Entscheidung für<br />
richtig und alternativlos. Wie immer es gewesen<br />
sein mag, jedenfalls zeigt sich damals<br />
ein für die KfW völlig neuer Managementstil:<br />
„Wenn Dinge schieflaufen, dann hat<br />
das unter Schröder Folgen – auch personelle“,<br />
sagt ein Insider. „Das war vor seiner<br />
Zeit anders.“<br />
Doch Schröder zeigt nicht nur Härte. Es<br />
gelingt ihm, die Bank wieder aufzurichten,<br />
auch emotional. Mitarbeiter erzählen von<br />
einer Rede, die er im Herbst 2008 kurz<br />
nach seinem Amtsantritt in der Wandelhalle<br />
der Bank vor der versammelten Belegschaft<br />
hält, kurz, prägnant, ein Ruck-Moment.<br />
„Die Leute waren wegen der Häme<br />
nach der Lehman-Sache tief verunsichert“,<br />
erinnert er sich beim Gespräch in seinem<br />
Berliner Büro. „Für mich war das ein Stück<br />
weit ein Geschenk. Denn dadurch wurde<br />
es einfacher, die notwendigen Veränderungen<br />
einzuleiten.“<br />
Tatsächlich sagen alle, die mit der KfW<br />
zu tun haben, dass die Bank heute eine völlig<br />
andere sei als vor fünf Jahren. Professioneller,<br />
moderner, effizienter. Keine Behörde<br />
mehr. Sondern ein Unternehmen. Schröder<br />
hat ein neues Risikomanagement implementiert,<br />
einen Bereich, den seine Vorgänger<br />
vernachlässigt hatten. Zudem stellte<br />
die KfW erfolgreich ihre komplette IT um.<br />
Das ist vor dem Hintergrund bemerkenswert,<br />
dass andere Institute mit ähnlichen<br />
Vorhaben grandios gescheitert sind. „Die<br />
Bank hat in den letzten Jahren eine außergewöhnliche<br />
Transformation durchlaufen –<br />
übrigens auch kulturell“, sagt Thomas Rederer<br />
von der Consultingfirma Capco – ein<br />
regelmäßiger Berater und darum intimer<br />
Kenner der KfW. „Natürlich holpern solche<br />
Prozesse immer an der einen oder anderen<br />
Stelle. Aber unterm Strich hat Herr<br />
Schröder diesen Prozess sehr gut im Griff.“<br />
Das ist vor allem deshalb erstaunlich,<br />
weil die interne Transformation parallel<br />
verläuft zu dem enormen externen<br />
Wachstum.<br />
Die Explosion der Bilanzsumme beginnt<br />
mit dem Wirtschaftseinbruch 2009.<br />
Deutschland legt ein milliardenschweres<br />
Konjunkturprogramm auf. Finanzieren<br />
soll es: die KfW. Damit ist es nicht getan.<br />
Deutsche Großkonzerne bekommen Probleme<br />
mit der Finanzierung langfristiger<br />
Auslandsengagements, weil sich die privaten<br />
Banken aus dem Geschäft zurückziehen.<br />
Wer springt ein? Die KfW. 2011<br />
folgt Fukushima, die Bundesregierung ruft<br />
die Energiewende aus. Bezahlen muss das<br />
Abenteuer: die KfW. Hinzu kommen die<br />
vielen, vielen KfW-Förderprogramme für<br />
Kleinunternehmer, Häuslebauer oder Studenten.<br />
Die Zahl dieser Einzelengagements<br />
geht in die Millionen.<br />
Kein Wunder, dass die KfW schon<br />
bald die zweitgrößte Bank in Deutschland<br />
sein wird. Vor ihr ist dann nur noch<br />
82 <strong>Cicero</strong> 9.2013
die Deutsche Bank, während die Commerzbank<br />
weiter versucht, sich gesundzuschrumpfen.<br />
Doch selbst der Abstand der<br />
KfW zur Deutschen Bak schmilzt, denn<br />
auch der Marktführer aus Frankfurt will<br />
seine Bilanzsumme kräftig verringern.<br />
Der Bedeutungszuwachs der Staatsbank<br />
ist überall sichtbar. Während fast alle Banken<br />
Personal abbauen, ist die Zahl der KfW-<br />
Mitarbeiter in der Ära Schröder um rund<br />
50 Prozent auf mehr als 5000 gestiegen.<br />
Rund 700 davon sitzen in den Westarkaden,<br />
einem 57 Meter hohen Bürokomplex,<br />
den das Geldinstitut jüngst gegenüber ihrer<br />
Zentrale am Frankfurter Palmengarten<br />
hochgezogen hat. Früher galten die KfW-<br />
Banker unter ihresgleichen als Langweiler,<br />
heute als die mit den sicheren und trotzdem<br />
attraktiven Jobs. Wer wie Ingrid Hengster,<br />
die bisherige Deutschland-Chefin der Royal<br />
Bank of Scotland, in den KfW-Vorstand<br />
berufen wird, der hat es geschafft.<br />
Schröder sieht sich als Manager dieses<br />
Wachstums. Als derjenige, der die Wünsche<br />
der Politik in vernünftige Bahnen lenkt. Allerdings<br />
funktioniert das nicht immer.<br />
Ein Beispiel: 2010 überrascht Schröder<br />
den KfW-Verwaltungsrat mit einer Idee. Er<br />
will das Kommunalfinanzierungsgeschäft<br />
an die Anforderungen des Risikomanagements<br />
anpassen. Anders gesagt: Hoch verschuldete<br />
Städte wie Oberhausen sollen<br />
weniger Geld kriegen. „Der hat das vorgestellt<br />
wie einen Fakt, wir sollten das nur<br />
noch abnicken“, erinnert sich ein Verwaltungsrat.<br />
Das 36-köpfige Kontrollgremium,<br />
durchsetzt mit Politikern, lässt Schröder<br />
auflaufen.<br />
Die Anekdote illustriert zweierlei. Erstens<br />
die Machtverhältnisse in der Staatsbank.<br />
Und zweitens, vor allem, dass die<br />
KfW-Kontrolleure ihre Kontrollfunktion<br />
eher eigenwillig interpretieren. Nämlich<br />
nicht mäßigend. Sondern pushend. Im<br />
Zweifel, so will es die Politik, soll die KfW<br />
das Geld großzügig ausgeben, nicht kleinkrämerisch<br />
beisammenhalten.<br />
„Die KfW ist nichts anderes als eine gigantische<br />
Zweckgesellschaft des Bundes“,<br />
sagt darum ein Analyst, der das Institut<br />
seit vielen Jahren beobachtet. Er benutzt<br />
das böse Wort Zweckgesellschaft ganz bewusst.<br />
So nannte man in der Finanzkrise<br />
jene außerbilanziellen, unkontrollierten<br />
Vehikel, die zahlreiche Banken zum Einsturz<br />
brachten.<br />
„Die KfW ist heute viel sichtbarer und<br />
leistungsfähiger als vor ein paar Jahren. Darum<br />
kommt jeder Politiker, der irgendein<br />
Problem hat, auf die Idee, nach der KfW zu<br />
rufen“, sagt Managementberater Rederer.<br />
Meinen ein paar Landespolitiker, die Bank<br />
solle Schlecker auffangen – dann kann der<br />
Vorstand das noch abwehren. Aber wenn<br />
die Bundesregierung meint, die Bank solle<br />
griechische Kleinunternehmer fördern –<br />
dann wird es schwierig.<br />
Öffentlich gefällt sich Schröder seit einiger<br />
Zeit in der Rolle dessen, der selber<br />
mahnt, die KfW nicht zu stark wachsen<br />
zu lassen. Der Chef als sein eigener Kontrolleur.<br />
Intern wird das allerdings anders<br />
wahrgenommen. „Die Forderungen aus der<br />
Politik kommen oft ungefiltert in der Organisation<br />
an, da müsste Schröder stärker als<br />
Puffer dienen. Das Management hört sehr<br />
viel mehr als früher auf das, was von ihm<br />
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Die Omnipräsenz<br />
der<br />
Bank stört<br />
Schröder nicht.<br />
„Dafür ist er<br />
zu eitel“, ätzt<br />
ein Aufseher.<br />
Die Politik hat<br />
die KfW lieb<br />
gewonnen<br />
in der Krise.<br />
Dass dabei<br />
ein riesiger<br />
Schattenhaushalt<br />
entsteht, stört<br />
niemanden<br />
erwartet wird“, sagt ein Insider. Die Omnipräsenz<br />
der KfW scheint Schröder nicht zu<br />
stören. „Dafür ist er zu eitel“, ätzt ein Verwaltungsrat.<br />
In Berlin sorgt zum Beispiel<br />
für Stirnrunzeln, dass die Bank inzwischen<br />
eine eigene Kulturstiftung unterhält. „Das<br />
hat mit dem Förderauftrag rein gar nichts<br />
zu tun“, sagt der SPD-Politiker und KfW-<br />
Kontrolleur Carsten Schneider. Auch sonst<br />
sorgt Schröder gewissenhaft dafür, „dass<br />
die Sonne auf sein Haus scheint“, wie ein<br />
Förderbankkollege spöttisch meint – seit<br />
neuestem etwa mit einer millionenteuren<br />
TV-Kampagne.<br />
Gegenüber der Politik verhält sich<br />
Schröder im Großen und Ganzen: geschmeidig.<br />
Ein einziges Mal hat er sich offen<br />
mit Berlin angelegt, vorigen Herbst war<br />
das, als die Koalition entschied, einen Teil<br />
des KfW-Gewinns in den Bundeshaushalt<br />
umzuleiten. In der Bank haben sie ihm<br />
das hoch angerechnet, zumal es Schröder<br />
gelang, den Beschluss zu entschärfen. Als<br />
kürzlich indes die Vertragsverlängerung<br />
seines Vorstandskollegen Axel Nawrath<br />
anstand, zeigte Schröder weniger Kampfesmut.<br />
Er schätzt dessen Arbeit, hätte ihn<br />
gern behalten. Aber Wirtschaftsminister<br />
Philipp Rösler (FDP), Vize-Chef des KfW-<br />
Verwaltungsrats, wollte den Sozialdemokraten<br />
Nawrath loswerden. „In solchen Fällen<br />
muss ich die Entscheidung des Eigentümers<br />
akzeptieren“, sagt Schröder dazu.<br />
Seine eigene politische Verortung: Er<br />
ist ein CDU-Mann, gebürtiger Westfale,<br />
sehr katholisch. In den siebziger Jahren<br />
war er Vorsitzender des Rings Christlich-<br />
Demonkratischer Studenten (RCDS). Aus<br />
dieser Zeit rührt eine enge Freundschaft zu<br />
Verteidigungsminister Thomas de Maizière,<br />
auch den Ex-Bundespräsidenten Christian<br />
Wulff kennt er von damals. Vom Berliner<br />
Betrieb hält er sich gleichwohl fern. Sein<br />
wichtigster Ansprechpartner in der Regierung<br />
ist Finanzminister Wolfgang Schäuble.<br />
Die Nummer von Bundeskanzlerin Angela<br />
Merkel habe er zwar, heißt es – aber eher<br />
für den Notfall, der bislang nicht eingetreten<br />
ist. Mit einem SPD-Kanzler Peer<br />
Steinbrück hätte der CDU-Mann Schröder<br />
übrigens kein Problem. Den kennt er<br />
aus gemeinsamen Düsseldorfer Zeiten, wo<br />
er bis 2008 Chef der staatlichen NRW-<br />
Bank war.<br />
Was hat Schröder vor mit der KfW? Er<br />
selbst sagt: „Ordnungspolitisch sehe ich<br />
den Bedeutungsgewinn meines Instituts<br />
durchaus skeptisch.“ Denn die Geschäftsbanken<br />
sollten die dominierenden Player<br />
sein, das Wachstum müsse vom Prinzip her<br />
revidierbar bleiben.<br />
Aber ist es das wirklich?<br />
Im Moment spricht nicht viel dafür.<br />
Die privaten Banken sind momentan<br />
mehr mit der Regulierung beschäftigt als<br />
mit neuen Geschäften – was in den nächsten<br />
Jahren auch so bleiben dürfte. Und die<br />
Politik?<br />
„Hat das Instrument KfW lieb gewonnen<br />
in der Krise“, wie ein mit Schröder<br />
gut bekannter Banker sagt. „Es gibt einen<br />
überparteilichen Konsens, die Rolle des<br />
Instituts weiter zu stärken. Dass dabei ein<br />
riesiger Schattenhaushalt entsteht, wird in<br />
Kauf genommen. Warum sollte sich Schröder<br />
dagegen wehren? Er reitet stattdessen<br />
die Welle.“<br />
Dazu passt, dass man in den vergangenen<br />
Monaten ohnehin den Eindruck<br />
gewinnen musste, dass es zwischen Politik<br />
und KfW wichtigere Sachen zu bereden<br />
gibt als das große Ganze – nämlich<br />
Schröders inzwischen besiegelte Vertragsverlängerung.<br />
„Das Thema hat in manchen<br />
Verwaltungsratssitzungen die ganze<br />
Tagesordnung überlagert“, erzählt ein<br />
Kontrolleur.<br />
Im Kern ging es um ein paar Annehmlichkeiten,<br />
die die Regierung ihrem Banker<br />
gern aus dem Vertrag herausverhandelt<br />
hätte. Doch Schröder, im Wissen um<br />
seine starke Position, blieb hart und gewann<br />
den kleinen Machtkampf. Dafür<br />
durfte er kurz darauf im Spiegel über sich<br />
lesen, er sei „raffgierig“ und „größenwahnsinnig“,<br />
was dann doch harter Tobak war.<br />
Als Quelle der Geschichte gilt das<br />
Wirtschaftsministerium, wo der Staatssekretär<br />
und frühere Kartellamtschef Bernhard<br />
Heitzer – ein Liberaler wie sein Chef<br />
Rösler – für die KfW zuständig ist. Schröder,<br />
unweit der Berliner Ministerien in seinem<br />
Büro am Gendarmenmarkt sitzend,<br />
verzieht bei diesem Thema beinahe keine<br />
Miene. „Als Staatsbanker muss ich mit so<br />
etwas leben“, sagt er zu dem Artikel, „die<br />
Schmerzzulage ist in meinem Gehalt inbegriffen.“<br />
Heinz-Roger Dohms<br />
berichtet seit Jahren aus der<br />
Frankfurter Bankenwelt und hat<br />
den Aufstieg der KfW vor Ort<br />
miterlebt<br />
Foto: Privat<br />
84 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Mit <strong>Cicero</strong> durch das<br />
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Strom<br />
Stromer. Ulrich Kranz zerlegte als<br />
junger Mann gern ölige Motoren. Heute<br />
arbeitet er bei BMW in München<br />
am sauberen Elektroantrieb des i3<br />
gegen<br />
Sprit<br />
86 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Fotos: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />
Bei BMW entwickelt<br />
Ulrich Kranz Elektroautos,<br />
Friedrich Nitschke baut<br />
die hochgezüchteten<br />
Sportwagen. Tradition<br />
und Zukunft. Zwei<br />
Ingenieure, zwei Welten<br />
von Lutz Meier<br />
N<br />
och gibt es diese jungen<br />
Männer. Noch laufen Kerle<br />
herum, wie Friedrich Nitschke<br />
und Ulrich Kranz in ihrer<br />
Jugend welche waren. Zwei<br />
dieser Jungs sind extra aus Amerika gekommen,<br />
um die schnellen Autos zu bewundern<br />
in der BMW-Welt, jener großen<br />
Ausstellungshalle des Autokonzerns<br />
in München, die aussieht, als sei sie ein<br />
metallisch glitzernder Tempel jener Mobilität,<br />
wie wir sie noch kennen. Oder ihr<br />
Mausoleum.<br />
Die beiden Fans aus Amerika in Shorts<br />
und Shirts sehen sich um. Hier stehen die<br />
Modelle, auf deren Heck ein großes M<br />
prangt. M wie Motorsport, das ist die Welt<br />
Benziner. Friedrich Nitschke machte<br />
schon in seiner Jugend Autos durch große<br />
Motoren schneller. Als Chef der M-Sparte<br />
von BMW ist er sich treu geblieben<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 87
| K a p i t a l | Z u k u n f t d e s A u t o s<br />
von Friedrich Nitschke. Er schaut gern mal<br />
hier vorbei, um Kontakt zur Kundschaft<br />
aufzunehmen und über Motoren zu fachsimpeln.<br />
Einen Spaziergang weiter im Innern<br />
der BMW-Welt hat Ulrich Kranz seinen<br />
Ausstellungsraum. Sein Buchstabe ist<br />
ein kleines i. Wofür es steht, ist nicht ganz<br />
so klar wie beim M. Für etwas Wegweisendes,<br />
Kreatives, Blitzsauberes, i wie innovativ,<br />
i wie iPhone. Kranz wollte ein Auto<br />
bauen, das so begehrenswert ist wie ein Appleprodukt<br />
und so pumperlgsund wie ein<br />
Müsli aus dem Bioladen.<br />
In seinem Ausstellungraum sitzt Kranz<br />
zwischen Büchern über nachhaltiges Gärtnern<br />
und Bildbänden über die Null-<br />
Emissions-Stadt von morgen. Kranz will<br />
und kann auf Fans nicht hoffen, wie sie<br />
Nitschke drüben erwarten. Aber der Elektroautopionier<br />
von BMW kann warten. Er<br />
ist sich sicher, dass die Zukunft ihm und<br />
seiner Sparte gehört.<br />
Das M und das i. Es sind zwei grundverschiedene<br />
Welten. Bei BMW leben sie<br />
nun nebeneinander. Im September zeigt der<br />
Konzern sein neues Elektroauto i3 zur offiziellen<br />
Premiere auf der Automobilmesse<br />
IAA in Frankfurt, ab November wird es<br />
richtig ernst, dann muss Ulrich Kranz<br />
sein Zukunftsauto an den Mann bringen.<br />
Gleichzeitig muss Friedrich Nitschke seinem<br />
Publikum beweisen, dass bei allen<br />
Öko-Kapriolen BMW weiter reinrassige<br />
Autos für PS-Begeisterte liefern kann. Solch<br />
eine Doppelstrategie hat noch kein Autokonzern<br />
gewagt, aber die BMW-Chefs haben<br />
keine Alternative gesehen: Das i brauchen<br />
sie, um strengere CO 2<br />
-Vorschriften<br />
einhalten zu können und neue Kunden zu<br />
gewinnen: Menschen, die in Bioläden einkaufen<br />
und Wert auf Nachhaltigkeit legen.<br />
Das M soll in der Zwischenzeit in der alten<br />
Autowelt weiter Geld verdienen.<br />
In der Ausstellungshalle ist diese<br />
alte Autowelt noch intakt, halbwegs jedenfalls.<br />
Friedrich Nitschke kommt die Treppe<br />
herunter. Die beiden jungen Männer aus<br />
Amerika stecken mit den Oberkörpern unter<br />
der meterlangen Motorhaube des M6<br />
Coupé. „Das heißeste Auto, das wir derzeit<br />
haben“, so nennt es Friedrich Nitschke.<br />
Die beiden Fans bestaunen die acht Zylindertöpfe<br />
wie eine Skulptur. Dann tauchen<br />
die Jungs auf aus dem Motorraum<br />
und erblicken Nitschke. Sie erfahren, dass<br />
dieser Mann der Chef der M-Sparte von<br />
BMW ist. Hastig streifen sie Rennfahrertrikots<br />
mit dem großen M über. Handys<br />
werden gezückt, Nitschke stellt sich zwischen<br />
sie, er legt den Jungs die Arme auf<br />
die Schultern, öffnet den Mund zu einem<br />
väterlichen Lächeln, Klick, der unwiderbringliche<br />
Moment ist für die Ewigkeit<br />
festgehalten. „Solche Fans haben wir hier<br />
immer wieder“, sagt Nitschke. Sie sind<br />
seine Lebensversicherung.<br />
Nitschke steht seit zwei Jahren an der<br />
Spitze der M-Sparte. Die Konzerntochter<br />
für hochgezüchtete Motoren und sportliche<br />
Fahrzeuge bedient jene Autofahrer, denen<br />
ein normaler Sechs- oder Achtzylinder<br />
von BMW noch zu müde ist. Ein Traumjob<br />
„Jeder M muss durch die Hölle“ – Friedrich Nitschke arbeitet<br />
an den hochmotorisierten Benzinern von BMW<br />
für Nitschke: „Ich betrachte es als Privileg<br />
und Ehre, für M arbeiten zu dürfen.“ Er ist<br />
ein Typ mit den lässigen Bewegungen eines<br />
in die Jahre gekommenen Altrockers. Seine<br />
Männer machen all das, was Ingenieure anderswo<br />
in der Autowelt kaum mehr dürfen:<br />
Das Letzte an Power aus dem Motor kitzeln,<br />
das Fahrwerk auf Kurvengeschwindigkeit<br />
trimmen, koste es, was es wolle.<br />
Anderswo geht es nur noch darum, jedes<br />
Bauteil auf Gewichts- und Kostenersparnis<br />
abzuklopfen, im hintersten Winkel des Motorraums<br />
noch Potenzial aufzuspüren, um<br />
den CO 2<br />
-Wert um ein halbes Gramm pro<br />
Kilometer zu senken. Kompromisse, Kompromisse,<br />
Kompromisse.<br />
Das Letzte aus dem Motor<br />
kitzeln: Er betrachtet es als eine<br />
Ehre, in der M-Sparte zu arbeiten<br />
Foto: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />
88 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Hinter dem großen M dagegen verbirgt<br />
sich ein Rückzugsort der Kompromisslosigkeit.<br />
Zwar stehen auch neben den<br />
M-Fahrzeugen in der BMW-Welt Schilder,<br />
die CO 2<br />
-Ausstoß und Energieeffizienzklasse<br />
anzeigen: ein dunkelroter Balken bezeichnet<br />
die schlechteste aller Klassen, 325 Gramm<br />
CO 2<br />
-Ausstoß pro Kilometer. In den Augen<br />
der potenziellen M-Käufer ist das aber eher<br />
ein Beleg dafür, dass wenigstens hier die Autowelt<br />
noch in Ordnung ist. „Jeder M muss<br />
durch die Hölle“, sagt Nitschke, „die Nordschleife<br />
am Nürburgring.“ Wenn die Fahrzeuge<br />
da zu langsam sind, gehen sie nicht<br />
in Serie. Nitschke pest selbst regelmäßig<br />
über den Ring, Wochenenden verbringt er<br />
bei Tourenwagenrennen, und wenn er eine<br />
Rennstrecke beschreibt, hat er ein Lächeln<br />
im Gesicht.<br />
Ein GroSSkonzern wie BMW funktioniert<br />
ähnlich wie eine Volkspartei, die eine<br />
Strömung kann nicht ohne die andere: Es<br />
ist Friedrich Nitschkes Job, das viele Geld<br />
für Ulrich Kranz’ Zukunftsvision zu verdienen;<br />
das kleine i braucht noch das Geld vom<br />
großen M. So ungefähr jedenfalls beschreibt<br />
Nitschke die Arbeitsteilung. Die M-Sparte<br />
gibt es seit 40 Jahren. Jetzt ist das kleine i von<br />
Ulrich Kranz dazugekommen. Sie wurden<br />
nebeneinander gestellt, zwei technische Prinzipien,<br />
zwei Ideen der Fortbewegung, zwei<br />
Welten. Das breitschultrige M und das pfiffige<br />
i. Nitschke und Kranz.<br />
Kranz erklärt in seiner i-Lounge, warum<br />
auch seine Aufgabe ein Traumjob ist.<br />
Er hat Hände, die wie manikürt wirken, er<br />
zeichnet mit ihnen fein abgezirkelte Linien<br />
in die Luft, wie ein Dirigent. Er schlägt einen<br />
weiten Bogen und sagt, dass nicht nur<br />
das Auto von Grund auf ökologisch wird,<br />
sondern gleich auch noch die Autoindustrie<br />
und die mobile Welt insgesamt. Ganzheitlich,<br />
sagt Ulrich Kranz. Windturbinen<br />
liefern, zumindest wenn der Wind weht, die<br />
Energie für die Fabrik des neuen BMW i3<br />
in Leipzig. Sie sollen signalisieren, dass das<br />
ganze Auto möglichst nur mit Öko-Energie<br />
zusammengeschraubt, -gepresst und vernietet<br />
wird. Kranz erklärt weiter: das Recyclingkonzept,<br />
die Aufbereitung der Batterien.<br />
Null Emissionen das gesamte Autoleben<br />
lang, das sei vielleicht ein schöner Traum,<br />
sagt er, aber man wolle dem möglichst nahekommen.<br />
Beim i3 sind selbst die Sitze mit<br />
olivenblattgegerbtem Leder bezogen. Oder –<br />
wahlweise – mit Wolle von Öko-Schafen<br />
aus Schottland. Das Armaturenbrett ist mit<br />
unbehandeltem Holz belegt, die Türverkleidung<br />
aus Bastgeflecht.<br />
Der i3 wird das erste elektrische Serienfahrzeug<br />
aus deutscher Produktion sein,<br />
eine riskante Wette des Herstellers auf die<br />
Zukunft. Allein die Entwicklung hat schon<br />
Milliarden gekostet, wenn man die Investitionen<br />
in das im Automobilbau neuartige<br />
Karbonfaser-Material mit einrechnet, aus<br />
dem der i3 zu großen Teilen besteht. Es<br />
ist ein Auto, das mindestens 35 000 Euro<br />
kostet und mit einer Batterieladung gut<br />
150 Kilometer weit kommt, ein Auto für<br />
Überzeugungstäter.<br />
Im Konzern wächst die Anspannung.<br />
Der Preis für das Elektroauto wurde gegenüber<br />
den ursprünglichen Andeutungen nach<br />
unten korrigiert, gleichzeitig schalteten die<br />
Münchner ihre PR-Maschine in den höchsten<br />
Gang.<br />
In der Branche kühlen sich die Hoffnungen<br />
in die Elektromobilität ab. Pioniere<br />
wie Tesla und Fisker wanken, etablierte Hersteller<br />
wie General Motors oder Nissan, die<br />
schon viel früher mutig Stromgefährte auf<br />
den Markt brachten, mussten ihre Pläne zusammenstreichen.<br />
Die Kundschaft zögert,<br />
weil sie den Batterien ebenso wenig traut<br />
wie der unkoordinierten Förderpolitik der<br />
Regierungen. Die begrenzte Reichweite der<br />
Stromfahrzeuge scheint endgültig die alte Illusion<br />
der grenzenlosen Mobilität zu zerstören.<br />
„Reichweitenangst“ heißt das Wort, das<br />
BMW-Vertriebsvorstand Ian Robertson so<br />
ausspricht, als handele es sich um eine ansteckende<br />
Krankheit. Er muss die Revolution<br />
dennoch den Händlern und den Kunden<br />
schmackhaft machen.<br />
Widrigkeiten? Ulrich Kranz sagt, er sei<br />
überhaupt nicht aufgeregt, und fast möchte<br />
man ihm glauben. Er will die ökoangehauchten,<br />
vermögenden Großstadt-Akademiker<br />
zu BMW-Kunden machen. Eine<br />
Gruppe, der Marketingleute schon vor Jahren<br />
den Namen „Lohas“ verpasst haben.<br />
Das steht für „Lifestyle of Health and Sustainability“<br />
oder frei übersetzt: grün sein,<br />
zumindest auf dem Papier. Das Problem ist,<br />
dass BMW für die „Lohas“ bisher all das<br />
verkörpert, was sie ablehnen. Kranz ficht<br />
das nicht an: „Wir wollen mit dem i3 ja gerade<br />
neue Kunden ansprechen. Menschen,<br />
die vielleicht bisher gar kein Auto fahren<br />
und öffentliche Verkehrsmittel benutzen.“<br />
Kranz muss mit dem i3 also nicht nur beweisen,<br />
dass die Marke BMW eine Zukunft<br />
E-Mobilität<br />
Planung<br />
gegen<br />
Wirklichkeit<br />
Warum sich der Boom<br />
der E-Autos verzögert<br />
Eine Million Elektroautos in<br />
Deutschland bis 2020. An diesem<br />
Ziel hält die Bundesregierung öffentlich<br />
fest. Nur politisch hat<br />
Schwarz-Gelb wenig unternommen,<br />
um es zu erreichen, sagen sowohl<br />
Kritiker aus Umweltverbänden<br />
als auch Interessenvertreter der<br />
Autoindustrie.<br />
Stattdessen blockiert die Bundeskanzlerin<br />
in Brüssel eine EU-<br />
Regelung für schärfere CO 2<br />
‐Werte.<br />
Diese sieht vor, den Ausstoß<br />
von Kohlendioxid für Neuwagen<br />
bis 2020 auf durchschnittlich<br />
95 Gramm pro Kilometer zu senken.<br />
Derzeit liegt die Grenze bei<br />
130 Gramm. Über seine Wagenflotte<br />
verteilt muss jeder Hersteller<br />
den CO 2<br />
-Ausstoß deutlich senken.<br />
Für BMW und Daimler, die vor allem<br />
große, schwere Autos mit hohem<br />
Schadstoffausstoß im Angebot<br />
haben, ist die Herabsetzung der<br />
Grenzwerte schwierig zu erreichen<br />
und mit hohen Entwicklungsinvestitionen<br />
verbunden.<br />
Daher sind die Premiumhersteller<br />
für sogenannte Super credits:<br />
Emissionsarme Fahrzeuge wie Elektro-<br />
und Hybridfahrzeuge mit einem<br />
Ausstoß von weniger als 50 Gramm<br />
Kohlendioxid sollen bei der Berechnung<br />
des Kohlendioxidausstoßes<br />
der Flotte mindestens mit dem Faktor<br />
2,5 angerechnet werden. Mit nur<br />
wenigen E-Autos könnten sie viele<br />
CO 2<br />
-ungünstige Großfahrzeuge<br />
rechnerisch unter die Schwelle drücken.<br />
VW will auf Super credits verzichten,<br />
weil es in der Modellpalette<br />
des Konzerns genug Kleinwagen<br />
gibt, die die hohen CO 2<br />
-Werte der<br />
Porsches und Audis ausgleichen. til<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 89
| K a p i t a l | Z u k u n f t d e s A u t o s<br />
hat. Das i muss auch noch die Zukunftsfähigkeit<br />
des Autos an sich verkörpern.<br />
Kranz ist inzwischen selbst ein Überzeugungstäter,<br />
dabei hat er vorher eine<br />
Benzinerkarriere durchlaufen. Als junger<br />
Ingenieur war er beim Aufbau des ersten<br />
US-Werkes des Konzerns dabei, später<br />
bei der Entwicklung der geländegängigen<br />
X-Fahrzeuge. Bis 2007 verantwortete er<br />
schließlich die Produktlinie der erfolgreichen<br />
Tochtermarke Mini. Heute spricht<br />
Kranz so ergriffen von Handling und Dynamik<br />
des Elektrofahrzeugs, als hätte er<br />
nie einen Tropfen Benzin verbrannt. Er ist<br />
sicher, dass auch ein Elektrofahrzeug auf<br />
Touren kommt. Wenn der Konzern Journalisten<br />
im i3 über seine Teststrecke schickt,<br />
triezt Kranz die Fahrnovizen, auf die Tube<br />
zu drücken, bis die Reifen rauchen. Das ist<br />
nicht unbedingt nachhaltig, aber die Botschaft<br />
an die Lohas dieser Welt lautet: Hier<br />
gibt es Öko-Zukunft ohne Verzicht.<br />
Die Geburtsstunde des „Project i“<br />
liegt jetzt sechs Jahre zurück. Damals ruft<br />
BMW-Chef Norbert Reithofer seine Vorstandskollegen<br />
zusammen, um darüber<br />
nachzudenken, ob es in 20 oder 30 Jahren<br />
noch eine Automobilindustrie in der<br />
heutigen Form geben wird. Oder noch<br />
konkreter: Wie lange lässt sich noch mit<br />
Großlimousinen, Geländetrumms und<br />
Reihensechszylindern Geld verdienen?<br />
Reithofer ist alarmiert, von allen Seiten<br />
scheint das Geschäftsmodell der alten Autowelt<br />
bedroht zu sein: Die Klimaerwärmung<br />
lässt Politiker immer strengere CO 2<br />
-<br />
Grenzen beschließen; rasant wachsende<br />
Riesenmetropolen suchen nach neuen Mobilitätskonzepten<br />
im verzweifelten Kampf<br />
gegen den Verkehrsinfarkt; die Autobegeisterung<br />
der Jungen in den großen Industrienationen<br />
lässt nach; Führerschein und das<br />
erste eigene Auto sind längst nicht mehr<br />
das Ziel aller Träume.<br />
Die Antworten auf die drängenden<br />
Fragen soll Ulrich Kranz finden. Für den<br />
heute 55-Jährigen ist das die bisherige<br />
Krönung seiner Karriere. Er bekommt ein<br />
Büro, eine Sekretärin, ein Budget und die<br />
Aufgabe, einen Ausweg zu finden. Er muss<br />
nicht unbedingt ein neues Auto entwickeln,<br />
sondern eine tragfähige Überlebensidee für<br />
den Konzern. Mit sieben Leuten fängt er<br />
an, sie löchern Stadtplaner, treffen sich<br />
mit Soziologen, fragen Bürgermeister aus,<br />
Architekten, Umweltaktivisten in China,<br />
Nord- und Südamerika, in Japan und Europa.<br />
Sie leben tagelang mit Familien in<br />
Schanghai, Mexico City, Tokio und Los<br />
Angeles und begleiteten sie auf ihren Wegen<br />
zur Arbeit, zur Schule und ins Kino.<br />
Dass am Ende doch wieder ein Auto dabei<br />
herausgekommen ist, mag man konventionell<br />
finden. Wenn man den i3 aber sieht<br />
und fährt, ist das neue Modell eine Revolution.<br />
Zumindest für die Bayerischen Motorenwerke,<br />
gegründet 1916, sie tragen das<br />
Röhren und Knattern von Verbrennungsmaschinen<br />
ja quasi im Namen.<br />
Das neue Auto ist nicht mehr das<br />
blechgewordene Versprechen auf Beschleunigung,<br />
das die früheren BMWs waren. Es<br />
erinnert ein wenig an eine Bergbahngondel,<br />
die sich selbstständig gemacht hat. Das<br />
Forschungsprojekt hat auch Kranz’ eigene<br />
Haltung zum Auto verändert. Für rasante<br />
Beschleunigung kann er sich nach wie vor<br />
„Natürlich habe ich Benzin im Blut“ – Ulrich Kranz wurde<br />
Pionier der Elektromobilität und entwickelt den i3<br />
begeistern, aber nun träumt er davon, den<br />
Bewegungsdrang des Menschen in Einklang<br />
mit der Natur zu bringen.<br />
Das „Project i“ hat im ganzen Konzern<br />
für ein Umdenken gesorgt. Zwar waren<br />
anfangs nicht alle begeistert von der<br />
Elektro offensive, gepaart mit der Erforschung<br />
der Lebensgewohnheiten moderner<br />
Großstädter. Zwar referierte Einkaufschef<br />
Klaus Draeger im Vorstand unermüdlich<br />
über die unübertroffene Energiedichte von<br />
Benzin, die eine Batterie niemals erreichen<br />
würde. Zwar witzelten die Motorenbauer<br />
alter Schule über elektrische Trambahnen<br />
und Golfplatzkarren, wenn Kranz in einer<br />
abgeschirmten Fabrikhalle die Chefs<br />
zu Probefahrten mit ersten Prototypen<br />
einlud. Aber Kranz wusste den wichtigsten<br />
Mann auf seiner Seite: Norbert Reithofer.<br />
Der Vorstandschef überzeugte am<br />
Ende all die Zweifler mit einem Argument,<br />
Der Ingenieur bekam ein Büro,<br />
ein Budget und den Auftrag,<br />
die Zukunft zu entdecken<br />
Fotos: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />
90 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Foto: Uta Wagner (Autor)<br />
das auch die immensen Investitionen für<br />
das „Project i“ rechtfertigte: Ohne E-Auto<br />
werde es für den Konzern unmöglich, die<br />
Grenzwerte der EU einzuhalten. Ab 2020<br />
soll die gesamte Industrie eine Grenze von<br />
95 Gramm CO 2<br />
im Durchschnitt pro Fahrzeug<br />
nicht überschreiten dürfen. Jeder Hersteller<br />
muss die Durchschnittswerte seiner<br />
Fahrzeugflotte radikal absenken. Ohne i<br />
kein M. Und auch keine großmotorigen<br />
Limousinen mehr, oder SUVs.<br />
Längst haben die drohenden Emissionsgrenzen<br />
die gesamte Branche auf Trab<br />
gebracht und auch zur elektrischen Bewegung<br />
hingeführt, doch abgesehen von Renault-Nissan<br />
hat kein Autokonzern so viel<br />
Geld in das E-Wagnis gesteckt wie BMW.<br />
Nach auSSen hin gab Reithofer im Sommer<br />
vor vier Jahren ein wirkungsvolles Signal<br />
für die automobile Schubumkehr: Mit<br />
Aplomb kündigte er an, dass der Konzern<br />
die Formel 1 verlässt. Das eingesparte<br />
Geld – zwischen 150 und 250 Millionen<br />
Euro im Jahr – werde nicht mehr in die<br />
schnellsten, sondern stattdessen in die ökologischsten<br />
Autos der Welt gesteckt. Dabei<br />
profitierte Kranz sogar direkt vom Formel-<br />
1-Ausstieg, weil er 30 Techniker aus dem<br />
Motorsport-Team übernehmen konnte. Sie<br />
hatten vorher daran gearbeitet, die enorme<br />
Bremsenergie der Rennwagen in Batterien<br />
einzuspeisen, damit diese später mit noch<br />
mehr Wumms aus der Kurve kamen. Jetzt<br />
tüftelten sie am optimalen Energiemanagement<br />
des neuen Öko-Autos.<br />
Mit dem Formel-1-Ausstieg zeigte Reithofer,<br />
wie ernst es ihm war, mit BMW den<br />
Weg vom PS-Saulus zum Öko-Paulus zu<br />
gehen. Leute wie Friedrich Nitschke müssen<br />
sich fast zwangsläufig der Frage stellen,<br />
ob sie die letzte Entwicklergeneration bei<br />
BMW vertreten, für die der Sound eines<br />
Benzinmotors Musik ist, die in PS denken<br />
und Potenz in Zylindern messen.<br />
Nitschke und Kranz kennen sich. Während<br />
sie bei BMW aufstiegen, sind sie sich<br />
immer wieder begegnet. Nitschke folgte<br />
Kranz als Entwicklungschef bei Mini. Der<br />
Benziner würde dem Stromer nie absprechen,<br />
ein echter Motormann zu sein. Und<br />
Kranz achtet sorgsam darauf, Nitschke<br />
nicht als Mann der Vergangenheit zu<br />
charakterisieren. Auch PR-Strategen von<br />
BMW geben sich große Mühe, den Eindruck<br />
zu zerstreuen, dass sie Gegenspieler<br />
wären, M und i, Nitschke und Kranz.<br />
Tatsächlich hat sie ja beide der gleiche<br />
Traum zu BMW geführt.<br />
Kinderfotos von Nitschke, Jahrgang<br />
1954, zeigen ihn vor einem riesigen Tisch<br />
voller Modellautos. Auch Kranz, Jahrgang<br />
1958, kann schon im Kindergartenalter<br />
Automarken an kleinsten Details auseinanderhalten.<br />
Später versucht sich der Saarländer<br />
daran, Mopeds bis auf die allerletzte<br />
Schraube zu zerlegen. „Als Tuning würde<br />
ich das noch nicht bezeichnen“, erzählt<br />
Kranz. „Aber es ging schon darum, die<br />
Mopeds schneller zu machen.“.<br />
Nitschke probiert derweil in Oberfranken<br />
mit Freunden, in alte Autos stärkere<br />
Motoren zu verpflanzen. Der Traum von<br />
beiden heißt: BMW.<br />
Die Marke sei schon damals cool gewesen,<br />
erinnert sich Kranz. „In den Sechzigern<br />
und Siebzigern war BMW beim Motorsport<br />
immer auf der Überholspur.“<br />
Auch der junge Friedrich Nitschke<br />
treibt sich an Rennstrecken herum. „Mit<br />
dem M1 war BMW da meist vorne dran“,<br />
erzählt er. „Bei den Menschen, die BMW<br />
gefahren sind, habe ich einen Spirit gespürt,<br />
zu dem ich mich immer hingezogen gefühlt<br />
habe.“<br />
Nitschke spart sich vom ersten selbst<br />
verdienten Geld einen BMW 1602 zusammen.<br />
Bei Kranz reicht es nur zu einem<br />
Renault 4, aber er beginnt eine Mechanikerlehre<br />
bei einem Autohaus, das aus Straßen-BMWs<br />
Rennwagen baut. Die darf er<br />
ausgiebig testfahren. „Zu der Zeit war das<br />
nicht so schwierig, da waren die Straßen<br />
noch frei“, berichtet der Schöpfer des i3.<br />
Heute ist Ulrich Kranz ein bedächtiger<br />
Typ, auf den ersten Blick ein typischer<br />
Vertreter der eigenen Zielgruppe, der Lohas.<br />
Dennoch sagt er: „Natürlich habe ich<br />
Benzin im Blut.“ Aber die Welt und die<br />
Technik hätten Fortschritte gemacht.<br />
Ob Friedrich Nitschke Benzin im<br />
Blut hat, muss man ihn gar nicht fragen.<br />
Nitschke ist ein Mann, dem man die<br />
Freude am Fahren von Weitem ansieht und<br />
der gern über die Erotik des Verbrennungsmotors<br />
philosophiert. „Das kommt daher,<br />
dass wir von Kindesbeinen an mit der<br />
Faszination aufgewachsen sind, mit dem<br />
Sound, dem Gefühl beim Gasgeben, der<br />
Form von sechs Zylindertöpfen.“<br />
Bei der heutigen Jugend findet er<br />
das nicht mehr überall. Die Welt ändert<br />
sich, das gibt auch der M-Chef Friedrich<br />
Nitschke zu.<br />
Und Ulrich Kranz hebt die Bedeutung<br />
der starken Benzinmotoren hervor. Nicht i<br />
gegen M, sondern i und M als Traumpaar.<br />
Seit sich die Zweifel wieder mehren, ob<br />
und wie schnell die Elektroepoche wirklich<br />
anbricht, haben sich Kranz und die Leute<br />
bei BMW eine neue Argumentation zurechtgelegt.<br />
Die Elektropioniere müssten<br />
das klassische Automobil nicht ablösen, sie<br />
könnten es auch verbessern. So sucht der<br />
Konzern natürlich seine Investitionen in<br />
E-Antrieb und Leichtbautechnik mit Karbonfaser<br />
auch für den Fall zu rechtfertigen,<br />
dass der i3 kein Verkaufsschlager wird.<br />
Vielleicht bleibe das rein batteriebetriebene<br />
Fahrzeug auf lange Sicht noch<br />
für bestimmte Verwendungszwecke reserviert,<br />
aber die Technik brauche man in<br />
jedem Fall, sagt Kranz. „Auch bei Hochleistungsautomobilen<br />
wird der Anteil von<br />
unterstützenden E-Maschinen größer werden.<br />
So gesehen werden beide Seiten i und<br />
M konvergieren.“<br />
Gleichzeitig macht sich Friedrich<br />
Nitschke keine Illusionen über die Zukunft<br />
seiner hochmotorisierten Benziner. Einen<br />
M mit klassischen Motoren werde man mit<br />
den künftigen CO 2<br />
-Gesetzen nicht mehr<br />
bauen können, sagt er. Aber noch verdiene<br />
BMW mit seinen Autos halt gutes<br />
Geld. Und auf der Rennstrecke könne der<br />
i3 nicht mit einem seiner Fahrzeuge mithalten,<br />
auch wenn Nitschke das Kurventempo<br />
des Elektromodells beeindruckt hat.<br />
Vielleicht wird die i-Revolution zu einer<br />
Evolution, vielleicht setzt sich die Technik<br />
des Ulrich Kranz eher leise, allmählich<br />
und nach einigen Rückschlägen durch.<br />
Aber am Ende werden die letzten Ms von<br />
Friedrich Nitschke nur noch in den Garagen<br />
der Liebhaber stehen.<br />
Der Ingenieur der starken, schnellen<br />
Benziner hält sich noch bei seinen Autos in<br />
der Halle auf, das Geplänkel mit den beiden<br />
Fans aus Amerika hat etwas gedauert.<br />
Er schaut auf die Uhr. Schon Viertel nach<br />
sechs. Um halb hat er den nächsten Termin<br />
in seinem Büro im Vorort Garching,<br />
das ist normalerweise kaum mehr zu machen.<br />
Aber Nitschke grinst, er hat ja sein<br />
M6 Cabriolet dabei. 560 PS.<br />
Lutz Meier<br />
ist Wirtschaftsreporter. Als er den<br />
i3 voll austestete, freute er sich,<br />
wenn in der Kurve die Reifen<br />
quietschten<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 91
| K a p i t a l | M e d i e n<br />
Der Digitale Kiosk<br />
Seit der Amazon-<strong>Grün</strong>der die Washington Post gekauft hat, jammern Deutschlands Medien<br />
noch lauter. Sie sollten ihre Zukunft selber in die Hand nehmen. Das Vorbild? Amazon<br />
von Petra Sorge<br />
A<br />
ls die Rechnung seiner Kreditkartenfirma<br />
kam, war Amazon-<br />
<strong>Grün</strong>der Jeff Bezos außer sich.<br />
250 Millionen Dollar – ein „reiner<br />
Wahnsinn“. „Ich wollte die<br />
Washington Post auf gar keinen Fall kaufen.<br />
Ich lese sie nicht einmal!“ Bezos habe sich<br />
doch nur unachtsam durch die Post-Webseite<br />
geklickt. „Ich habe ihnen gesagt, dass<br />
ich nicht weiß, wie das in meinen Warenkorb<br />
gekommen ist.“<br />
Der bislang spektakulärste Deal im US-<br />
Zeitungsmarkt ist so unglaublich, dass man<br />
auch einmal auf eine frei erfundene Szene<br />
wie diese hereinfallen kann. So erging es<br />
einigen chinesischen Medien, darunter der<br />
Nachrichtenagentur Xinhua: Sie verbreiteten<br />
die Satire des Komikers Andy Borowitz<br />
im New Yorker, wonach der 49 Jahre<br />
alte Bezos die Washington Post ungewollt<br />
beim Onlineshopping erworben habe, als<br />
echte Meldung.<br />
In Deutschland konnte darüber aber<br />
niemand so richtig lachen.<br />
Die Branche reagierte entsetzt, dass<br />
die Post ausgerechnet an ein Internetunternehmen<br />
verkauft wurde. Die Frankfurter<br />
Allgemeine geißelte Bezos als Monopolisten,<br />
„der die Buchbranche vernichtet“,<br />
und fragte sich, ob Lenin nicht doch recht<br />
behalten habe: „Die Welt wird bestimmt<br />
von einer Finanz-Daten-Online-Oligarchie,<br />
mit besten Verbindungen zum Geheimdienst.“<br />
Der Springer-Vorstandsvorsitzende<br />
Mathias Döpfner nannte den<br />
Kaufpreis der Washington Post während einer<br />
Telefonkonferenz mit Analysten „schockierend“<br />
niedrig.<br />
Döpfner und seine Kollegen sehen das<br />
Ende einer Ära. Die Washington Post galt<br />
jahrzehntelang als Flaggschiff des investigativen<br />
Journalismus. Hier heuerte Joseph<br />
Pulitzer an, Namensgeber des wichtigsten<br />
Die alte Welt in<br />
Washington: 1973<br />
enthüllen Carl Bernstein<br />
(links) und Bob Woodward<br />
die Watergate-Affäre<br />
US-Journalistenpreises; hier deckten Carl<br />
Bernstein und Bob Woodward den Watergate-Skandal<br />
auf.<br />
Doch Eigentümer Donald Graham sah<br />
für sich und seine Zeitung keine Zukunft<br />
mehr. Der Verlegererbe mit Harvard-Abschluss<br />
wurde sich mit dem Selfmademilliardär<br />
von Amazon schnell handelseinig:<br />
Jeff Bezos schnappte sich den Markenartikel<br />
zum Tiefstpreis. „Bei 188 Millionen<br />
Euro – dafür hätte ich die Washington Post<br />
auch gerne genommen“, sagte Springer-<br />
Chef Döpfner noch während der Telefonkonferenz<br />
mit den Analysten.<br />
Eine überraschende Bemerkung.<br />
Schließlich hatte die Axel Springer AG<br />
erst zwei Wochen zuvor selbst zwei Qualitätszeitungen<br />
verkauft: die Berliner Morgenpost<br />
und das Hamburger Abendblatt,<br />
die erste von Verleger Axel Springer gegründete<br />
Zeitung. Dazu veräußerte der<br />
Konzern noch fünf Programm- und zwei<br />
Die alte Welt in<br />
Hamburg: 1948 feiert<br />
das „Hamburger<br />
Abendblatt“ Premiere<br />
Frauenzeitschriften. Kosten: 920 Millionen<br />
Euro. Ein Geschäft auf Pump. Denn das<br />
Geld hat die Käuferin, die Essener Funke<br />
Mediengruppe, eigentlich gar nicht.<br />
Der Milliardendeal nährte die Furcht<br />
vor einem Ausverkauf des Journalismus:<br />
Wenn Deutschlands größter Verlagskonzern<br />
nur noch an Bild und Welt festhält,<br />
heißt das dann nicht, dass er im Printgeschäft<br />
eigentlich keine Zukunft mehr sieht?<br />
Auch viele Journalisten der Funke-<br />
Gruppe fürchten um ihre Jobs: Springers<br />
Welt soll bald auch Inhalte für den Essener<br />
Verlag liefern. In den Funke-Redaktionen<br />
erinnert man sich noch mit Schrecken an<br />
den Sparkurs der hauseigenen Westdeutschen<br />
Allgemeinen Zeitung vor vier Jahren.<br />
Damals wurden in mehreren Sparrunden<br />
hunderte Stellen gestrichen.<br />
Der nordrhein-westfälische Verlag hatte<br />
damit auf Entwicklungen reagiert, die die<br />
gesamte Branche erfassen. Nicht nur die<br />
Fotos: ©axelspringer.de, Action Press, Andrej Dallmann (Autorin)<br />
92 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Kostenloskultur im Internet frisst Löcher<br />
in die Bilanz. Vor allem brechen Werbeerlöse<br />
weg. Denn Unternehmen erreichen<br />
ihre Kunden über das Internet mittlerweile<br />
zielgenauer als über Printmedien.<br />
Die Folge: Verlage investieren zunehmend<br />
selbst in Shopping- und Serviceportale.<br />
2012 erwirtschaftete Springer im Internet<br />
über eine Milliarde Euro – mehr als<br />
in jedem anderen Geschäftsbereich. Das<br />
Geld verdienten aber nicht bild.de oder<br />
Welt Online, sondern Rubrikenmärkte wie<br />
immonet.de oder stepstone.de. Wenn die<br />
Axel Springer AG verkündet, bald „das<br />
führende digitale Medienunternehmen“<br />
Deutschlands zu werden, hat<br />
das wenig mit Journalismus<br />
zu tun.<br />
Sind die Entwicklungen<br />
bei Springer und bei der<br />
Washington Post also wirklich<br />
schlechte Nachrichten<br />
für die Medienindustrie?<br />
Nicht unbedingt.<br />
Zum einen lässt sich in<br />
der Bemerkung Döpfners<br />
auch ein Bekenntnis zum –<br />
printbasierten – Recherchejournalismus<br />
lesen. Zum anderen begrüßt sogar ein alter<br />
„Watergate“-Haudegen den Amazon-<br />
Deal. Bob Woodward sagte, er hoffe, dass<br />
die Washington Post künftig journalistische<br />
Werte mit „dem gesamten Potenzial des digitalen<br />
Zeitalters“ verbinden könne.<br />
Jeff Bezos wäre das zuzutrauen: Sein Erfolg<br />
beruht auf der Vermarktung immaterieller<br />
Güter. Er begann als Buchhändler,<br />
baute ein Vertriebswesen auf, erfand<br />
das „Kindle“ und eine Plattform für Selbstautoren.<br />
Bezos ist längst ein Verleger. Der<br />
Schritt ins Nachrichtengeschäft ist da nicht<br />
nur logisch, sondern geradezu genial.<br />
Für die Washington Post bieten sich<br />
völlig neue Vertriebsmöglichkeiten. Über<br />
Koppelangebote könnten ihre Inhalte den<br />
Verkauf des Amazon-Lesegeräts ankurbeln.<br />
Es könnten Aboempfehlungen in der Kategorie<br />
„Kunden, die dies gekauft haben,<br />
kauften auch …“ auftauchen. Das ausgeklügelte<br />
analoge Vertriebsnetz von Amazon<br />
könnte sogar für das Printprodukt lebensverlängernd<br />
wirken – indem das Unternehmen<br />
seinen „Prime“-Kunden die Zeitung<br />
als Bonus frei Haus liefert. Von Amazon-<br />
Themen-Specials mit per Post versandten<br />
DVDs über den Aufbau einer eigenen<br />
Suchdatenbank wäre alles denkbar.<br />
Warum können<br />
sich die<br />
deutschen<br />
Verlage nicht<br />
beim Vertrieb<br />
zusammentun?<br />
Apple hat es mit iTunes in der Musikindustrie<br />
vorgemacht: Da war sie plötzlich,<br />
die leicht zu bedienende Bezahlplattform, auf<br />
die alle Plattenfirmen gewartet hatten und an<br />
die keiner mehr glauben wollte. Viele Nutzer,<br />
die zuvor ihre Songs raubkopiert hatten, zahlten<br />
dank Apple wieder für Musik.<br />
Deutsche Verlage sollten angesichts dieser<br />
Potenziale nicht länger über den Untergang<br />
ihres Geschäftsmodells jammern.<br />
Sie sollten selbst über den Aufbau eines<br />
eigenen großen Digitalkiosks nachdenken.<br />
Keine Chance gegen Amazon? Das<br />
Image des Unternehmens in Deutschland<br />
leidet doch gerade deswegen, weil es zu miserablen<br />
Bedingungen arbeiten<br />
lässt und die Preise für<br />
Bücher brutal drückt.<br />
Die Frage, wie die Washington<br />
Post künftig über<br />
solche Zustände im eigenen<br />
Haus berichten wird,<br />
ist noch nicht beantwortet.<br />
Auch nicht die, ob Jeff<br />
Bezos die Meinungsmacht<br />
seiner Zeitung zur Durchsetzung<br />
von Geschäftsinteressen<br />
nutzen wird.<br />
Wer bei Amazon shoppt, gibt Daten<br />
preis, für die sich die NSA interessiert –<br />
auch das könnte zum Wettbewerbsnachteil<br />
werden. Gerade haben T-Online, GMX<br />
und Web.de eine „E-Mail made in Germany“<br />
vorgestellt. Sie soll bald nur noch<br />
verschlüsselt verschickt werden. Auch wenn<br />
es bei der Umsetzung noch hapert: Es ist<br />
ein Anfang.<br />
Warum können sich deutsche Verlage<br />
nicht für ein ähnliches Projekt zusammentun?<br />
Für ein „Amazon-iTunes made in Germany“?<br />
Ein Vertriebskanal könnte das sein,<br />
den jeder deutschsprachige Nutzer zuerst<br />
ansteuert, auf dem er Zeitungen und Magazine<br />
einkaufen, spielen, in Büchern stöbern<br />
und sich die individuellen Nachrichten all<br />
seiner Lieblingsseiten selbst zusammenstellen<br />
kann – das wäre doch mal was. Diese<br />
Plattform würde damit werben, dass sie die<br />
Daten ihrer Nutzer schützt. Mit Blick auf<br />
Amazons vertikale Angebotspalette müssten<br />
die Verlage aber auch mit anderen Händlern<br />
zusammenarbeiten. Erfahrungen gibt<br />
es da, deutsche Verlage verkaufen längst<br />
auch <strong>Rot</strong>wein und DVDs.<br />
Um ein solches Portal zu entwickeln,<br />
müssten die beiden Interessenvertreter der<br />
Presse – der Bundesverband Deutscher<br />
Zeitungsverleger und der Verband Deutscher<br />
Zeitschriftenverleger – eine gemeinsame,<br />
innovative Spezialeinheit einrichten.<br />
Oder ist das zu viel verlangt? Vielleicht<br />
wäre eine gemeinsame Tochter der wichtigen<br />
Verlage der bessere Weg.<br />
Der Haken: Ein derartiges Kooperationsmodell<br />
hätte eine marktbeherrschende<br />
Stellung. Das Bundeskartellamt würde<br />
ziemlich sicher tätig, die Behörde in Bonn<br />
untersagte ja auch die Fusion von Tagesspiegel<br />
und Berliner Zeitung.<br />
Andererseits: Ist der Wunsch nach heimischer<br />
Pressevielfalt nicht naiv, wenn<br />
Amazon auch den hiesigen Medienmarkt<br />
erobert? Gegen iTunes, Facebook und<br />
Google rennen deutsche Datenschützer<br />
und deutsche Verlage bereits vergeblich an.<br />
Aus gutem Grund gibt es im Vertrieb<br />
schon seit der Nachkriegszeit staatlich geduldete<br />
Monopole: das Pressegrosso. Das<br />
sind Zwischenhändler, die in ihrem jeweiligen<br />
Vertriebsgebiet bestimmen, welche<br />
Zeitschriften in den Kiosks ausliegen.<br />
Sie unterliegen der Preisbindung der Verlage<br />
– und sichern so die Pressevielfalt in<br />
Deutschland. Ohne die Grossisten hätte<br />
es auch <strong>Cicero</strong> vor neun Jahren deutlich<br />
schwerer gehabt, seine Leser zu finden.<br />
Man müsste für einen Onlinekiosk der<br />
deutschen Verlage nicht einmal das Gesetz<br />
ändern. Denn im Kartellrecht existiert die<br />
Möglichkeit der sogenannten „Ministererlaubnis“.<br />
Philipp Rösler (oder ein Nachfolger)<br />
könnte mit diesem Instrument eine<br />
Kooperation zum Wohle der Meinungsvielfalt<br />
erlauben.<br />
Nicht umsonst hatte sich der Holtzbrinck-Verlag<br />
des Tagesspiegels damals an<br />
Wirtschaftsminister Wolfgang Clement gewandt.<br />
Doch der folgte im Wesentlichen<br />
dem Bundeskartellamt. Das war 2002.<br />
Damals waren Amazon und Google noch<br />
Winzlinge; iTunes war gerade ein Jahr alt.<br />
In der Zwischenzeit sind die Start-ups zu<br />
Webgiganten herangewachsen.<br />
Ein digitaler Kiosk der deutschen Verlage<br />
müsste auch erst wachsen. Er wäre<br />
mehr eine unternehmerische als eine juristische<br />
Herausforderung. Sie könnte sich<br />
lohnen.<br />
Petra Sorge<br />
ist Redakteurin bei <strong>Cicero</strong><br />
online. Den Strukturwandel<br />
der Medien begleitet sie in ihrer<br />
Internetkolumne<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 93
| K a p i t a l | S y s t e m k r i t i k<br />
Macht der Kapitalismus<br />
uns unglücklich?<br />
24 Stunden bei der Arbeit, zeitlos, ortlos: Unser<br />
Wirtschaftssystem überdreht. Das ewige Streben nach mehr<br />
kennt nur Verlierer – Erkenntnisse eines Geläuterten<br />
Von Max A. Höfer<br />
94 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Katja Zimmermann<br />
V<br />
ierzig bis 50 Stunden kannst du<br />
gut und gerne arbeiten“, riet der<br />
Arzt dem Brandenburger Ministerpräsidenten,<br />
„aber 80 – vergiss<br />
es.“ Ohne seinen Schlaganfall<br />
würde Matthias Platzeck also immer<br />
noch jenseits des Belastungslimits schuften.<br />
Wie beinahe alle Spitzenpolitiker, denn wer<br />
im Haifischbecken Schwächen zeigt, wird<br />
schnell gefressen.<br />
Okay, das ist die Politik, könnte man<br />
einwenden, die war immer schon unerbittlich.<br />
Aber der Arbeitsdruck hat auch<br />
in der Wirtschaft massiv zugenommen.<br />
Das demonstriert schon die Leistungsdisziplin<br />
der Spitzenmanager. Sie verströmen<br />
einen Korpsgeist, der alles dem Erfolg unterordnet,<br />
und sie signalisieren damit, dass<br />
sie das ohnehin schon immense Veränderungstempo<br />
noch steigern können: Wir<br />
erhöhen Rendite und Effizienz, wir optimieren<br />
alles – sogar uns selbst. Neuerdings<br />
unterzieht sich die Leistungselite einem<br />
stählenden Fitnesstraining. Den 14-Stunden-Arbeitstag<br />
eröffnen sie mit Joggen oder<br />
einem Workout.<br />
Es fällt auf, wie schlank die Dax-Konzernchefs<br />
mittlerweile sind. Zigarre und dicker<br />
Bauch, das war einmal. Der zeitgemäße<br />
Kapitalismus ist fit und gesund. Er<br />
trinkt stilles Mineralwasser. Perfekte Performance<br />
ist alles, auch bei der Figur. Die Unternehmenskennzahlen<br />
müssen stetig nach<br />
oben weisen, das ist ohnehin klar, aber<br />
auch im Privatleben muss alles stimmen.<br />
„Happy Workaholics“, nennt Managerberater<br />
Reinhard Sprenger diese Marathon-<br />
Männer, weil sie „fast erotisch angezogen<br />
werden von dem, was sie tun“, und den<br />
Preis, der dafür zu zahlen ist, „den zahlen<br />
sie gern“. Alles, was der Mensch normalerweise<br />
zum Glücklichsein braucht, Familie,<br />
Freunde, Muße, Hobbys, Gelassenheit,<br />
wird dem Beruf geopfert. Die atemlose Getriebenheit<br />
darf aber nicht asketisch rüberkommen,<br />
obwohl sie genau das ist. Es soll<br />
nicht so aussehen, als ob sich die Topmanager<br />
aufopfern. Das würde zu sehr an<br />
alte soldatische Tugenden erinnern, wie<br />
sie noch im Titel CEO anklingen: exekutierender<br />
Offizier. Der happy Workaholic<br />
muss so tun, als ob er seinen Job liebt und<br />
sich darin selbst verwirklicht, bei gleichzeitigem<br />
Schlafentzug, um noch mehr Sitzungen<br />
abhalten zu können.<br />
Der kalifornische hat den rheinischen<br />
Kapitalismus abgelöst: Glücklichsein wird<br />
zur Pflicht. Obwohl die Manager also länger<br />
arbeiten und verfügbarer sind als je<br />
zuvor, soll alles ganz easy aussehen. Der<br />
Zwang, als Workaholic auch noch Happiness<br />
vortäuschen zu müssen, ist vielleicht<br />
das Perfideste an dieser Entwicklung.<br />
Zumal in den Niederungen des Arbeitsalltags<br />
die Überforderung regiert. Ich<br />
will den Fall des Swisscom-Chefs Carsten<br />
Schloter, der sich vor kurzem das Leben<br />
nahm, gewiss nicht strapazieren, aber<br />
Schloter selbst klagte kurz vor seinem Tod<br />
über seine Totalverpflichtung, über sein<br />
vernachlässigtes Privatleben und dass er<br />
sein Smartphone nicht mehr abschalten<br />
könne. Ein eigenes Büro hatte er nicht<br />
mehr, er arbeitete von überall. Er war ortlos<br />
geworden, zeitlos im Dienst, 24 Stunden<br />
am Tag und sieben Tage die Woche.<br />
Max A. Höfer war von 2006 bis 2009 Geschäftsführer<br />
der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft<br />
(INSM). Davor arbeitete er unter anderem als leitender<br />
Redakteur beim Wirtschaftsmagazin Capital.<br />
Die INSM ist eine von den Arbeitgeberverbänden der<br />
Metall- und Elektroindustrie finanzierte Denkfabrik,<br />
die sich seit ihrer <strong>Grün</strong>dung im Jahr 2000 für<br />
Deregulierung und freie Marktwirtschaft starkmacht.<br />
Von der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 wurde<br />
die Lobbyorganisation etwas überrascht und konnte<br />
kaum schlüssige Ideen zu deren Lösung beisteuern.<br />
Höfer setzt sich in seinem vor kurzem bei Knaus<br />
erschienenen Buch „Vielleicht will der Kapitalismus<br />
gar nicht, dass wir glücklich sind? Erkenntnisse eines<br />
Geläuterten“ mit der Frage auseinander, warum wir<br />
es nicht schaffen, im größten Wohlstand aller Zeiten<br />
glücklich und zufrieden zu sein. Höfer denkt um: Ein<br />
ehemaliger Prediger des Systems lehnt den Kapitalismus<br />
in seiner heutigen Ausprägung ab. <br />
til<br />
Der flexible Mensch, jederzeit und<br />
überall einsetzbar, abrufbereit und projektbezogen,<br />
in wechselnden Räumen<br />
und Teams – das ist gerade bei Google,<br />
Microsoft und Apple Ziel der Unternehmensorganisation.<br />
Ein Menetekel ist<br />
France Télécom, die ihre Führungskräfte<br />
unter dem Slogan „Time to move“ alle drei<br />
Jahre zwangsversetzte. So sollten sie flexibel<br />
und kreativ bleiben und eine zu enge Verbindung<br />
mit Personal und Routinen vermeiden.<br />
Die Selbstmordrate im Unternehmen<br />
nahm derart zu, bis schließlich die<br />
französische Justiz ermittelte. Hier artete<br />
der Steigerungskapitalismus zweifellos aus,<br />
aber seine Logik ist intakt.<br />
Es wundert daher nicht, dass der Kapitalismus<br />
auch heute nur wenige Freunde<br />
hat. Bei den meisten überwiegt das Unbehagen,<br />
dass das System ungesund und unsicher<br />
ist, und die Erwartungen an ein gutes<br />
Leben nicht erfüllt. Die Menschen fürchten<br />
vielmehr, dass der Stress und die Arbeitsverdichtung<br />
im Job weiter zunehmen<br />
und dass es nichts bringt, wenn sie immer<br />
mehr in der gleichen Zeit leisten. Denn<br />
den wachsenden Anforderungen stehen<br />
nur marginale Reallohngewinne gegenüber.<br />
14 verschiedene Geruchsrichtungen<br />
für WC-Spüler oder 30 neue Joghurt sorten<br />
sind auch kein schlagkräftiges Argument<br />
für mehr Zufriedenheit.<br />
Unserem Wirtschaftssystem gelingt<br />
es immer weniger, die Vorteile von technischem<br />
Fortschritt und Produktivität in<br />
„glückbringenden“ Wohlstand umzusetzen.<br />
Wir laufen in einem Hamsterrad und<br />
wissen es auch. Für ein glückliches Leben<br />
dreht sich das Hamsterrad zu schnell, für<br />
Politik und Wirtschaft dreht es sich aber<br />
immer noch zu langsam. Jeder Gedanke an<br />
Entschleunigung oder an eine Verlangsamung<br />
der Tretmühle grenzt schon an Meuterei.<br />
Wirtschaftsminister Philipp Rösler<br />
sieht uns gegenüber China und den USA<br />
in einer „Aufholjagd, die in den Kitas und<br />
in der Grundschule beginnen muss“.<br />
Warum aber kann das System nicht<br />
innehalten? Wir verfügen heute über das<br />
sechsfache Bruttoinlandsprodukt von 1960,<br />
und die Welt soll zusammenbrechen, wenn<br />
wir das Tempo nicht weiter erhöhen? Vom<br />
IWF über die OECD bis zur Euro-Troika<br />
wird für die Entfesselung von Wachstumskräften<br />
getrommelt und sei es auf Pump.<br />
Offenbar haben wir das Ziel aus den<br />
Augen verloren. Dieses Gefühl beschlich<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 95
| K a p i t a l | S y s t e m k r i t i k<br />
mich, als ich als Geschäftsführer der Initiative<br />
Neue Soziale Marktwirtschaft, der<br />
INSM, für mehr Marktwirtschaft warb.<br />
Weder meine Hinweise auf ihre beispiellose<br />
Erfolgsgeschichte noch Appelle an<br />
die segensreiche Wirkung von Markt und<br />
Wettbewerb konnten unbefangene Zustimmung<br />
auslösen. Selbst junge Menschen mit<br />
guten Karrierechancen sagten mir, dass sie<br />
die Vorstellung, demnächst auch im Hamsterrad<br />
zu laufen, wenig motiviere. Mein<br />
Lob der Warenvielfalt rief bei ihnen eher<br />
ein Gähnen hervor und provozierte Fragen<br />
nach den ökologischen Grenzen.<br />
Die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft<br />
müssen sich eingestehen, dass unser<br />
Wirtschaftssystem in einer Akzeptanzkrise<br />
steckt, die vor allem darin besteht, dass sie<br />
dem dominanten Steigerungskapitalismus<br />
nur noch wenig entgegenzusetzen haben.<br />
Umfragen zeigen, dass die Menschen gern<br />
weniger arbeiten würden und mehr Zeit<br />
mit der Familie und mit Freunden verbringen<br />
möchten. Angesichts der erreichten<br />
Produktivität müsste das leicht möglich<br />
sein, es scheint aber immer unmöglicher<br />
zu werden. Wir produzieren immer mehr,<br />
aber offenbar nicht das, was uns zufrieden<br />
macht. Lohnt es sich, dafür länger und härter<br />
zu arbeiten? Auf diese Zielkonflikte hat<br />
die Wirtschaft keine Antwort.<br />
Wenn das Ziel fragwürdig ist, lohnt der<br />
Blick zu den Wurzeln. Max Weber hat vor<br />
100 Jahren die Entstehungsgeschichte des<br />
modernen Kapitalismus beschrieben. An<br />
seiner Wiege standen die Puritaner. Sie<br />
machten aus den Menschen, die „von Natur<br />
aus einfach leben wollen, wie sie zu<br />
leben gewohnt sind, und nur so viel erwerben,<br />
wie dazu erforderlich ist“, Berufsmenschen,<br />
die den Sinn ihres Lebens in der<br />
Optimierung ihrer Arbeitsleistung sehen.<br />
Der protestantische „Geist des Kapitalismus“<br />
hat die Mentalität der westlichen<br />
Industrienationen geformt, und er hat dabei,<br />
trotz einiger Metamorphosen, seinen<br />
Kerngedanken nie verändert, wie ihn<br />
Weber eindringlich beschrieb: „Erwerb von<br />
Geld und immer mehr Geld, unter strengster<br />
Vermeidung alles unbefangenen Genießens.“<br />
Von Glück war nie die Rede. Der<br />
Berufsmensch sollte nutzenorientiert, kalt,<br />
ordentlich, fleißig und produktiv sein. Der<br />
Mensch sollte leben um zu arbeiten, und<br />
nicht, wie in allen anderen Kulturen davor,<br />
arbeiten, um gut zu leben.<br />
Die neoklassische Ökonomie hat das<br />
puritanische Prinzip der Nutzenmaximierung<br />
übernommen und radikalisiert: Mehr<br />
ist besser als weniger, lautet die Grundregel.<br />
Sie ist die Formel zur unbegrenzten<br />
Steigerung. In der Ökonomie gibt es keinen<br />
„guten“ oder „schlechten“ Konsum, sie<br />
hat auch keinen Begriff vom „guten Leben“.<br />
Ob eine Gesellschaft geschlossen bei<br />
Glück? Die Puritaner strebten<br />
nach Geld, „unbefangenes<br />
Genießen“ war streng verboten<br />
McDonald’s isst oder Slow Food genießt,<br />
das eine ist ihr so richtig wie das andere.<br />
Ob die Schüler ihr Pausenbrot verzehren<br />
oder Crack rauchen – es ist ihre Entscheidung,<br />
und ökonomisch betrachtet gilt für<br />
beide: Mehr ist besser als weniger.<br />
Mit dieser Denkweise werden wir niemanden<br />
für die Marktwirtschaft begeistern,<br />
da bin ich mir sicher. Denn was die Menschen<br />
heute bewegt, das sind Fragen nach<br />
dem guten Leben, nach den qualitativen<br />
Bedingungen für Wohlbefinden und wie<br />
wir die natürlichen Ressourcen dafür erhalten<br />
können. Unsere „protestantische Arbeitsethik“<br />
hat uns weit gebracht, aber im<br />
Steigerungskapitalismus überdreht sie und<br />
wird gefährlich.<br />
Warum tun wir uns aber so schwer, damit<br />
aufzuhören? Wie konnte der Puritaner<br />
in uns so lange überleben? Warum rebellieren<br />
wir nicht gegen die Dauerbetriebsamkeit<br />
und konsumieren unablässig weiter,<br />
obwohl es uns nicht glücklicher macht?<br />
Geht man dem „puritanischen Geist<br />
des Kapitalismus“ bis in unsere Tage nach<br />
und sucht nach den <strong>Grün</strong>den für unsere<br />
Wehrlosigkeit, stößt man auf eine Auferstehungsgeschichte.<br />
Denn in den sechziger<br />
Jahren schienen Webers Puritaner am<br />
Ende, entmachtet von Konsum, Spaß und<br />
Rebellion. Daniel Bell sagte damals voraus,<br />
dass die protestantische Arbeitsmoral an<br />
der hedonistischen Freizeitkultur zugrunde<br />
gehen werde.<br />
Falscher hätte er nicht liegen können:<br />
Yuppies und Hippies passen mittlerweile<br />
wunderbar zueinander. Der kalifornische<br />
Kapitalismus, der unser Leben derzeit<br />
durchdigitalisiert und weiter beschleunigt,<br />
ist das Ergebnis dieser Verbindung.<br />
Die Gegenkultur hat die alten Arbeitstugenden<br />
der Pflicht und Leistung mit den<br />
Idealen der Autonomie, der Kreativität und<br />
Flexibilität angereichert. Die Konzerne suchen<br />
heute genau diesen Typus: intrinsisch<br />
motiviert, spontan, disponibel, unkonventionell,<br />
dabei kompetent und gut ausgebildet.<br />
Heutige Mitarbeiter leisten ohne Murren<br />
Überstunden, sie identifizieren sich mit<br />
ihren Projekten, für sie ist die Anerkennung<br />
im Job der größte Sinn ihres Lebens.<br />
Und gerade weil wir der Arbeit zu viel Bedeutung<br />
in unserem Leben geben, weil wir<br />
unseren Selbstwert zu stark daraus ableiten,<br />
kommen wir nicht von ihr los, sondern vernachlässigen<br />
die anderen Quellen des Glückes,<br />
also Familie, Freunde, Hobbys. Geld<br />
und Erfolg haben heute noch mehr Bedeutung<br />
als zu Webers Zeiten.<br />
Die Unternehmer wird diese Analyse<br />
nicht beunruhigen, sondern erfreuen. Aber<br />
wenn sie es ehrlich mit den Menschen und<br />
mit sich selber meinen, müssen sie sich eingestehen,<br />
dass das Steigerungsspiel nicht zu<br />
gewinnen ist: Längere Arbeitszeiten und<br />
höhere Arbeitsproduktivität erzeugen höhere<br />
Einkommen für noch mehr Konsum<br />
und Wachstum, damit die Umsatz- und Erlösziele<br />
erreicht werden und uns der ganze<br />
Laden nicht um die Ohren fliegt. Nein, wir<br />
können uns Sisyphos nicht als glücklichen<br />
Menschen vorstellen.<br />
Als der Casino-Kapitalismus 2008 zuerst<br />
in den USA explodierte, casteten wir<br />
bei der INSM einen US-Schauspieler,<br />
der wie Ludwig Erhard aussah. Mit Anzug,<br />
Krawatte und Zigarre stellten wir ihn<br />
an die Wall Street. Dort verteilte der „lebendige“<br />
Erhard an die vorübergehenden<br />
Börsianer sein Buch „Wohlstand für alle“.<br />
Die verdutzten Banker konnten darin lesen,<br />
dass Erhard für eine Gesellschaft plädiert,<br />
in der das Kapital im Dienste des<br />
Menschen steht. Vielleicht sollten wir ihn<br />
heute vor die Konzernzentralen und das<br />
Bundeswirtschaftsministerium stellen.<br />
96 <strong>Cicero</strong> 9.2013
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Weiße Rockmusik und schwarze Background-Sängerinnen: Lisa Fischer verkörpert Musikgeschichte<br />
von CLAUDIA STEINBERG<br />
B<br />
EI IHREM ERSTEN Soloauftritt verlor<br />
sich Lisa Fischer so tief in ihrem<br />
Gesang, dass man sie schließlich<br />
sanft um ein Ende der Darbietung<br />
bitten musste. Diese Episode, die sich vor<br />
rund 50 Jahren in einem Kindergarten in<br />
Brooklyn vor einem Publikum von Fünfjährigen<br />
ereignete, würde ein Psychologe<br />
vielleicht als Auslöser für Fischers Abneigung<br />
begreifen, allein im Scheinwerferlicht<br />
zu stehen. Denn anstatt die „monströse<br />
Begabung“, die ihr Musiker wie Bruce<br />
Springsteen und Sting bescheinigen, für einen<br />
Solo-Höhenflug zu nutzen, wählte Lisa<br />
Fischer eine Karriere, die sich nur mit einem<br />
Oxymoron benennen lässt: Sie wurde<br />
zum Background-Superstar.<br />
Genauer, sie verbrachte den größten Teil<br />
ihres Berufslebens „20 Feet From Stardom“,<br />
wie der Titel eines passionierten Dokumentarfilms<br />
von Morgan Neville die Position<br />
selbst der talentiertesten Background-Sänger<br />
definiert. Doch im Unterschied zu vielen<br />
ihrer Kolleginnen legte Lisa Fischer nie<br />
großen Wert darauf, im vollen Rampenlicht<br />
zu stehen: „Ich liebe es, andere Künstler zu<br />
unterstützen, und wehre mich gegen die<br />
Ansicht, dass man nach mehr greifen soll,<br />
wenn man bereits exzellente Arbeit leistet“,<br />
meint die klassisch ausgebildete Sängerin,<br />
deren melodische Sprechstimme jeden<br />
Satz mit Emotionen füllt – weiche Seufzer,<br />
kleine Lacher und gedehnte Ausrufe steigen<br />
und fallen über eine ganze Oktave hinweg.<br />
Mit ihrer mächtigen Stimme überzeugte<br />
sie auch Mick Jagger, als sie 1989<br />
zum Vorsingen im Studio erschien. Sie ließ<br />
sich auch nicht aus der Fassung bringen, als<br />
er um sie herumzutanzen begann, und hat<br />
die Rolling Stones seither auf jeder Tournee<br />
begleitet. Wenn sich bei „Gimme Shelter“<br />
das melancholische Heulen aus ihrer Kehle,<br />
mit dem der Song beginnt, zu einem Rockand-Roll-Sturm<br />
verdichtet, tritt sie dann<br />
auch als Micks Partnerin ins volle Rampenlicht,<br />
zugleich konfrontativ und unterstützend,<br />
sexy, aber unantastbar.<br />
Lange bevor sie mit den Rolling Stones<br />
tourte, mit Tina Turner oder Sting, sang<br />
Lisa Fischer zu den alten Motown-Platten<br />
ihrer Mutter. Erst an der Musik-Highschool<br />
stellte sie dann fest, dass sie auch ein ganzes<br />
Repertoire klassischer Musik im Kopf hatte:<br />
Dank der Soundtracks der beliebten „Looney<br />
Tunes“, Cartoons aus dem Hause Warner<br />
Brothers, hatte sie Beethoven, Tschaikowski,<br />
Wagner und Strauss gehört. Ihren<br />
Plan, Opernsängerin zu werden, gab sie wegen<br />
der hohen Unterrichtskosten auf. Wie<br />
die meisten Background-Sänger hatte sie<br />
ihre wichtigste Gesangsausbildung längst in<br />
der Kirche erhalten: „Ich bin in einer Baptistengemeinde<br />
in Brooklyn aufgewachsen,<br />
mein Großvater war Pastor.“ Ihr offenes<br />
Ohr machte sie empfänglich für die Verwandtschaft<br />
zwischen Motown und dem<br />
Call-and-Response-Wechsel schwarzer Kirchenmusik,<br />
der ihr aus ihrem Gospelchor<br />
von jeher vertraut war. Ray Charles war<br />
ein Meister dieser Tradition und der einzige<br />
Musiker, dessen Konzerte Lisas Idol,<br />
die legendäre Background-Sängerin Merry<br />
Clayton, mit elterlicher Erlaubnis besuchen<br />
durfte. So eindeutig basierte seine Musik<br />
auf dem für die afroamerikanische Messe<br />
typischen Dialog zwischen Priester und Gemeinde<br />
– auch wenn Charles in diesem Format<br />
in erster Linie über Sex sang.<br />
„Twenty Feet From Stardom“ eröffnet<br />
dann auch mit dem Refrain von Lou<br />
Reeds „Walk on the Wild Side“ – „… and<br />
the colored girls go Doo do doo do doo do<br />
doo …“, wobei das Wort „farbig“ 1972 in<br />
der Musikindustrie als provokativer Verweis<br />
auf die gängige Rollenverteilung zwischen<br />
weißem Star und schwarzem Chorus<br />
galt. Die ersten Background Girls der<br />
frühen sechziger Jahre waren manierliche,<br />
zugeknöpfte weiße Mädchen mit hölzernen<br />
Bewegungen. Bald wurden sie von<br />
schwarzen Sängerinnen mit unwiderstehlichen<br />
Hüftschwüngen ersetzt. Sie verstanden<br />
die Hintergrundharmonien als jenen<br />
hochflorigen Tonteppich, auf dem sich der<br />
Solist entfalten konnte: „Diese Melodien<br />
stiften den Zusammenhang.“ Und sie kreieren<br />
den Sound, was vor allem die britischen<br />
Musiker der Siebziger und Achtziger,<br />
angeführt von David Bowie, erkannten.<br />
Obwohl sich Lisa Fischer immer im<br />
Hintergrund heimisch fühlte, versuchte sie<br />
es einmal mit dem Alleingang. 1991 erschien<br />
ihr Debutalbum „So Intense“, sie<br />
wurde für die Single „How Can I Ease the<br />
Pain“ mit einem Grammy ausgezeichnet.<br />
Die Trophäe fristet seither ein Dasein zwischen<br />
anderen Souvenirs ihrer turbulenten<br />
Biografie in ihrer Wohnung mit Blick<br />
auf Manhattan, der man Fischers seltene<br />
Anwesenheit anmerkt. Sie ist kaum mehr<br />
als eine Zwischenstation auf ihrer ewigen<br />
Reise. „Meine Platte ist damals zum richtigen<br />
Zeitpunkt rausgekommen, sie markiert<br />
das Ende einer Epoche, in der es noch<br />
Harmonien und Melodien gab“, erklärt sie<br />
bescheiden.<br />
Heute ist das Genre des Background-<br />
Gesangs nahezu ausgestorben, da Studioproduktionen<br />
nicht mehr mit dem gleichen<br />
Aufwand entstehen: Anstelle zeitraubender<br />
und kostspieliger Proben gibt es bei Tonaufnahmen<br />
nun meist ein Budget für elektronisches<br />
„Tuning“. Bei einem Studio-Gig<br />
hat Fischer kürzlich alle fünf Backgroundpartien<br />
separat selbst eingesungen, bevor<br />
sie digital zu einem Klangkörper verschweißt<br />
wurden. Nichts konnte sie besser<br />
über einen solchen unfreiwillig narzisstischen<br />
Vorgang hinwegtrösten, als anlässlich<br />
der Dreharbeiten zum Dokumentarfilm<br />
ihre großen Vorbilder zu treffen. Noch<br />
diesen Herbst soll es zu einem Konzert in<br />
New York kommen, bei dem Lisa Fischer<br />
und ihre Soulsisters alle ganz vorn auf der<br />
Bühne stehen werden.<br />
CLAUDIA STEINBERG<br />
lebt als freie Autorin in New<br />
York. Lisa Fischers Stimme<br />
verpasst ihr auch während des<br />
Interviews eine Gänsehaut<br />
Fotos: Victoria Will/Invision/DDP Images, Sigrid <strong>Rot</strong>he (Autorin)<br />
98 <strong>Cicero</strong> 9.2013
„Unsere<br />
Stimmen<br />
waren<br />
überall“<br />
Lisa Fischer, eine der bekanntesten<br />
Background-Sängerinnen,<br />
ist heute 55 Jahre alt<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 99
| S t i l | K l e i d e r o r d n u n g<br />
Warum ich trage, was ich trage<br />
HéLèNE GRIMAUD, PIANISTIN<br />
W<br />
arum ich trage, was ich trage?<br />
Warum nicht, könnte ich antworten.<br />
Eigentlich mache ich mir<br />
über Kleidung keine Gedanken. Sie muss<br />
atmen, fließen. Am besten ist es, ich spüre<br />
sie gar nicht, wenn ich am Flügel sitze –<br />
ohnehin kein dankbarer Ort für besondere<br />
Kleidung. Außerdem hasse ich Shopping.<br />
Dieses Stück habe ich in China für<br />
ein Konzert gekauft. Ich bin viel in Asien,<br />
liebe die Atmosphäre, die Ästhetik, die Verliebtheit,<br />
mit der sie dort in jedes noch so<br />
kleine Detail eintauchen. Dort finde ich<br />
Frieden, den Zugang zu meinem Selbst. Ich<br />
kehre immer inspiriert zurück, weiß dann,<br />
was ich als Nächstes tun werde.<br />
Wenn du Musik machst, verschwindet<br />
alles andere, es rückt ins rechte Licht, Kleidung<br />
soll da nicht ablenken, sie begleitet<br />
nur das Erfahren der Klänge. Musik benötigt<br />
das volle Spektrum meiner Emotionen.<br />
Bis hin zur Wut. Vielleicht fasziniert<br />
mich deswegen die Wildnis so sehr, insbesondere<br />
die Wölfe. In meinem Wolf Conservation<br />
Center bringen wir sie dorthin<br />
zurück, wo sie hingehören. Zunächst ziehen<br />
wir sie auf, pflegen sie. Aber zu wissen,<br />
dass einer von ihnen in die Freiheit entlassen<br />
wird – das ist es, wofür wir dort arbeiten.<br />
Diese Natürlichkeit, das Nachfühlen<br />
von Freiheit findet sich wohl auch in der<br />
Wahl meiner Kleidung wieder.<br />
Wölfe heulen eigentlich nicht im Chor.<br />
Ganz selten aber kann es vorkommen,<br />
dass sich Harmonien ergeben, dass sich<br />
die Tiere angleichen, ihre Stimmen modulieren.<br />
Wir wissen nicht, ob das Zufall<br />
ist oder sie das bewusst tun. Es zeigt, dass<br />
der Sound eines Rudels mehr Individualität<br />
enthält, als wir dachten. Auf der Bühne<br />
harmoniere ich mit dem Orchester und<br />
stehe trotzdem im Mittelpunkt. Da muss<br />
ich nicht auch noch durch meine Kleidung<br />
hervorstechen. Diese Schuhe sind<br />
aus meiner Heimatstadt Aix-en-Provence.<br />
Sie kommen von einem Schuhmacher, der<br />
nur Unikate herstellt. Ich war 13 Jahre alt,<br />
als ich von dort wegging – nach Paris ans<br />
Konservatorium. In Stilfragen war ich damals<br />
wohl noch schlimmer als heute.<br />
Aufgezeichnet von Marie Amrhein<br />
HéLène Grimaud<br />
Die Pianistin,1969 in Aix-en-Provence<br />
geboren, lernte am Pariser Conservatoire<br />
und trat mit Dirigentengrößen wie Daniel<br />
Barenboim oder Kurt Masur auf. Ihr<br />
neuestes Album, „Brahms Concertos“,<br />
erscheint am 27. September 2013<br />
Foto: Thomas Rusch für <strong>Cicero</strong><br />
100 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Foto: Kai-Uwe Heinrich<br />
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| S t i l | T R A C H T<br />
Michael Brandner schießt den<br />
Handböller, der zu Festivitäten<br />
und an hohen Feiertagen zum<br />
Einsatz kommt. Zur Lederhose<br />
trägt er ein Lodenjanker, Loferl<br />
Stutzen und Haferlschuhe<br />
mit seitlicher Schnürung. Die<br />
Bilder machte der Fotograf<br />
Gregor Hohenberg während des<br />
Almabtriebs im Herbst 2012<br />
102 <strong>Cicero</strong> 9.2013
STOLZEs BEKENNTNIS<br />
Die Lederhose macht ihren Träger zum Gleichen unter Gleichen. Sie vermittelt das<br />
Gefühl einer Heimat, die nicht einmal die eigene sein muss. Eine Spurensuche<br />
von Sarah-Maria Deckert<br />
Foto: Gregor Hohenberg<br />
B<br />
AYRISCHZELL im Leitzachtal.<br />
Am Fuß des Wendelsteins liegt<br />
es da, idyllisch eingerahmt von<br />
den oberbayerischen Alpen auf<br />
der einen und dem Schliersee<br />
auf der anderen Seite. Hier kommen sie<br />
her, die glücklichen Kühe, doppelrahmstufiger<br />
Alpenmilchkäse und das Klischee<br />
vom jodelnden Bayern. Und es soll am<br />
Pfingstsonntag gewesen sein, als der Dorfschulmeister<br />
Vogl hier im Jahr 1883 der<br />
Lederhose das Leben rettete.<br />
Wie immer sitzt er mit seinen Stammtischfreunden<br />
im Wirtshaus gemütlich bei<br />
einem Krug Bier zusammen. Ein satter Geruch<br />
von Zigarrenrauch, Schweinebraten<br />
und Gerstensaft mag den Raum durchzogen<br />
haben. Es wird diskutiert, geschimpft<br />
und getrunken, als Joseph Vogl auf die<br />
hiesige Tracht zu sprechen kommt, die<br />
am Verschwinden sei. Nur noch ein Jäger<br />
trage sie – und selbst den sehe man höchst<br />
selten in seiner kurzen Hose durchs Gebirge<br />
laufen.<br />
Vogl will der Tracht wieder zu ihrem<br />
Recht verhelfen. Eine Lederhose will er<br />
sich kaufen, wenn er nur nicht der Einzige<br />
wäre. Dann sein Heureka-Erlebnis:<br />
„Wisst’s wos? <strong>Grün</strong>d ma an Verein!“, ruft<br />
er aus. Und weil ein Bayer tut, was er sagt,<br />
lassen sich die wild entschlossenen Bayrischzeller<br />
beim nächstgelegenen Säckler<br />
in Miesbach neue Lederhosen schneidern<br />
und gründen den „Verein für Erhaltung<br />
der Volkstracht im Leitzachthale/Bayrischzell“.<br />
Es ist der erste eingetragene Trachtenverein<br />
der Welt. Und der Tag, an dem der<br />
wackere Lehrer Vogl das bayerische Nationalkostüm<br />
bewahrte.<br />
Seither hat die Lederhose eine steile<br />
Karriere hingelegt. Sie ist fester Bestandteil<br />
des alpenländischen Lokalkolorits, und<br />
jedes gestandene Mannsbild schwört auf<br />
sie. Nicht nur, weil sie ihren Träger beinahe<br />
wie von selbst in einen kernigen Burschen<br />
verwandelt. Vielmehr geht es darum,<br />
was sie ihrem Träger vermittelt: den Traum<br />
bayerischer Ursprünglichkeit.<br />
Von Österreich über Tirol bis ins Allgäu<br />
gehört die Lederhose im Alpenvorland<br />
in jeden gut sortierten Kleiderschrank. Als<br />
Kluft der Bauern und Jäger entstammt sie<br />
der Gebirgstracht und erwies sich Anfang<br />
des 19. Jahrhunderts vor allem als kniefreie<br />
„Kurze“ als praktisches Beinkleid, neben<br />
der festlicheren Kniebundhose in Anlehnung<br />
an die höfische Culotte. Der bayerische<br />
Königshof machte sie schließlich mit<br />
seinem königlichen Erlass zur „Hebung<br />
des Nationalgefühls“ von 1853 salonfähig.<br />
Prinzregent Luitpold, König Ludwig II,<br />
der österreichische Kaiser Franz Joseph I –<br />
sie alle schritten in Tracht zur Jagd. Und<br />
auch die Wittelsbacher zeigten sich in Lederhose<br />
und Lodenjanker, um – aufgeschreckt<br />
durch die Ereignisse der Französischen<br />
Revolution – Volksnähe zumindest<br />
zu suggerieren.<br />
Heute treten die Spieler des FC Bayern<br />
nach gewonnenen Großturnieren einheitlich<br />
lederbehost auf den Balkon des Münchener<br />
Rathauses. SPD-Oberbürgermeister<br />
Christian Ude zapft das Münchener Oktoberfest<br />
gekonnt in Lederhose an, während<br />
die Lufthansa ihre Besatzung zur Wiesn-<br />
Zeit in voller Trachtenmontur in die Luft<br />
schickt. Und selbst ambitionierte Hersteller<br />
wie Hugo Boss, Strenesse oder Rena<br />
Lange gehen dann neben den Billiganbietern<br />
von C&A, Aldi oder Tschibo zur Saison<br />
mit Lederhosenentwürfen ins Rennen.<br />
Das Bekenntnis zur Tracht macht ihre<br />
Träger zu Gleichen unter Gleichen. Es ist<br />
das Gefühl von Zugehörigkeit, zu einer<br />
Gemeinschaft, einer Region, einer Philosophie<br />
– zu einer Heimat, die nicht einmal<br />
unbedingt die eigene sein muss.<br />
Die Lederhose aller Lederhosen<br />
„Nicht jeder hat das Glück, am Alpenrand<br />
geboren zu sein“, sagt Stefan Baumgartner.<br />
Auf seinem Kopf ein grüner, breitkrempiger<br />
Velourshut, die graue Strickjoppe leger<br />
über die breiten Schultern gelegt, zieht er<br />
einen seiner grauen Kniestrümpfe mit dem<br />
markanten grünen Umschlag zurecht. Er<br />
trägt die Tracht des Heimat- und Volkstrachten-Erhaltungsvereins<br />
Miesbach, dessen<br />
erster Vorstand er ist, und er begrüßt<br />
den aktuellen Trachtentrend. Vor 30 Jahren<br />
erstand Baumgartner seine erste Lederhose,<br />
seither ist er Vereinsmitglied und<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 103
| S t i l | t R A C H T<br />
nimmt die Pflege seiner bayerischen Tradition<br />
und damit der Lederhose als regionalem<br />
Kulturgut sehr ernst. Laut lachen muss<br />
er allerdings, wenn er von der Lederhosenlegende<br />
aus Bayrischzell hört. „Es ist doch<br />
völlig unerheblich, wer sie zuerst hatte“,<br />
meint Baumgartner. Natürlich wüsste jeder<br />
gerne die bayerische Urhose in seinem<br />
Schrank. Doch am Ende bliebe auch sie<br />
nur „ein Stück Kleidung“.<br />
Nun ja, nicht ganz.<br />
Derweil versucht nämlich Wolfgang<br />
Gensberger den heiligsten aller<br />
Hosenbeinen so nahe wie möglich zu<br />
kommen. In Holzhausen im Landkreis<br />
Landshut entsteht derzeit sein Trachtenkulturmuseum.<br />
Verteilt auf den 420 Quadratmetern<br />
eines alten Pfarrhofs, ein Depot<br />
und zwei separate Archivgebäude lagern<br />
mehr als 80 000 Exponate bayerischer<br />
Kulturgeschichte, die Gensberger in jahrelanger<br />
Kleinarbeit mühsam zusammengetragen<br />
hat. Neben altertümlichen Fahnen,<br />
Vereins- und Funktionsabzeichen, Chroniken<br />
und Liedblättern tummeln sich natürlich<br />
auch historische Trachten. Sein ältestes<br />
Stück, eine Hose mit gestandenen 175 Jahren<br />
auf dem brüchigen Leder. „Ob das die<br />
Urlederhose ist, kann ich aber wirklich<br />
nicht sagen“, sagt er.<br />
WUNSCH NACH IDENTITÄT<br />
In Zeiten globaler Vernetzung, wenn<br />
Flexibilität und Unsicherheit anwachsen,<br />
kommt gerade Werten wie Heimat<br />
und Tradition eine besondere Bedeutung<br />
zu. Das beobachtet auch Simone Egger<br />
vom Institut für Volkskunde und Europäische<br />
Ethnologie an der Münchener<br />
104 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Michael, Steffi,<br />
Anna, Johannes<br />
und Sophie<br />
Brandner auf dem<br />
Weg zu ihrem Hof<br />
in Berchtesgadener<br />
Tracht nach<br />
Miesbacher Art<br />
Zur Lederhose<br />
trägt man ein<br />
weißes Pfoad-<br />
Hemd mit<br />
Querriegel.<br />
Der Quersteg<br />
zwischen den<br />
Hosenträgern ist<br />
meist kunstvoll<br />
bestickt<br />
Fotos: Gregor Hohenberg<br />
Ludwig-Maximilians-Universität, die sich<br />
mit dem „Phänomen Wiesntracht“ beschäftigt<br />
hat. „Der aufkeimende Trend, der<br />
sich in der aktuellen Lederhosenbegeisterung<br />
spiegelt, ist der Wunsch der mobilen<br />
Gesellschaft nach Identität“, sagt die Kulturwissenschaftlerin.<br />
Nach dem Trachten-<br />
Boom bis zu den zwanziger Jahren und ihrer<br />
Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten<br />
als wirkmächtiges Sinnbild deutscher<br />
Folklore galt die Lederhose noch bis in die<br />
fünfziger Jahre als patent. Besonders von<br />
Müttern wurde sie aufgrund ihrer robusten<br />
Diese kniefreie<br />
„Kurze“<br />
wurde mit<br />
Reliefstepperei<br />
und<br />
Blattstickereien<br />
verziert. Eiche,<br />
Efeu und Reben<br />
sind typische<br />
Motive<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 105
| S t i l | T R A C H T<br />
Natur geschätzt. Als die Jeans dann Anfang<br />
der Siebziger in Mode kam, wurde die Lederhose<br />
plötzlich als rückständig abgestempelt.<br />
Franz Josef Strauß sah man im Wahlkampf<br />
1980 in den Zeitungen nur noch als<br />
Karikatur in Lederhose, während Kanzler<br />
Helmut Schmidt im dunklen Zweireiher<br />
auf die Wiesn marschierte.<br />
Den Grund für das Trachten-Comeback<br />
in den neunziger Jahren und ihre Popularität<br />
bis heute sieht Egger in einer Art<br />
frischem Provinzialismus. Bundespräsident<br />
Roman Herzog gab ihm mit seiner Idee<br />
von „Lederhose und Laptop“ eine klingende<br />
Formel, die die CSU seither nur<br />
mantrisch abnicken kann. Tradition und<br />
Vorwärtsgewandtheit schließen sich nicht<br />
mehr aus, soll das heißen. Entsprechend<br />
unvoreingenommen, geradezu spielerisch<br />
wagt man sich heute auch an die bayerische<br />
Tracht. Stefan Dettl, Frontmann der<br />
modernen (!) Blaskapelle La Brass Banda<br />
absolviert seine Auftritte vornehmlich in<br />
Lederhose, dafür aber barfuß und mit Kapuzenpullover<br />
anstelle von Haferlschuhen<br />
und Pfoad-Hemd. Immer häufiger sieht<br />
man auch abseits der Wiesn wagemutige<br />
Kombinationen mit Polohemd und Turnschuhen.<br />
Das lederne Beinkleid emanzipiert<br />
sich zusehends von seiner Wald- und<br />
Wiesenromantik und ist nach Eggers Meinung<br />
wieder im Begriff, das zu werden,<br />
was es einmal war: fester Bestandteil der<br />
Männergarderobe.<br />
Dokument aus SchweiSS und Blut<br />
Nicht jeder hat allerdings etwas übrig für<br />
diese Form des modischen Samplings.<br />
„Verfälschten Kitsch“ nennt Friederike Heil<br />
das. Kompromisse kennt sie bei der traditionellen<br />
Tracht kaum. „Zur Lederhose<br />
gehören Hosenträger, Haferlschuh’ und<br />
Kniestrümpfe oder Loferl-Stutzen“, sagt<br />
Heil. Und sie muss es wissen.<br />
Bedächtig zieht sie Garn aus reiner<br />
Säcklerseide an einer dicken Nadel über<br />
ein Stück Bienenwachs. Das Wachs lässt<br />
das Garn leichter durch das Leder gleiten,<br />
das auf ihrem Schoß liegt, und schützt es<br />
später vor dem Ausfransen. Seit 1972 leitet<br />
die gelernte Säcklermeisterin das Lederbekleidungsgeschäft<br />
Lichtenauer und<br />
Heil in Hausham am Schliersee. Hier gibt<br />
es die Lederhose noch in Reinform, von<br />
den Kunden vor allem wegen der charakteristischen<br />
Reliefstepperei und Blattstickerei<br />
geschätzt, die in ihrem kleinen<br />
Familienbetrieb in Perfektion auf das Leder<br />
gestochen wird. Die verschnörkelten Blumen-<br />
und Blattwerkmuster hat sie vorher<br />
freihändig und ohne Vorlage aufgezeichnet.<br />
Hunderte Male gleitet die Nadel dann zwischen<br />
ihren Fingern hin und her, bis sich<br />
die Eichenblätter, der Efeu oder das Rebenlaub<br />
reliefartig aus dem Leder erheben.<br />
Zwischen 900 und 1000 Euro kosten<br />
die handbestickten Maßanfertigungen,<br />
jede davon ein Unikat. 25 bis 60 Stunden<br />
kann es dauern, bis ein Stück fertig ist, je<br />
nachdem, wie aufwendig die Verzierungen<br />
Die Lederhose<br />
ist wertstabil.<br />
Keine Modeerscheinung,<br />
nicht dem<br />
Zeitgeist<br />
unterworfen<br />
an Hosenbeinen, Hosenträgern und dem<br />
„Hosentürl“, dem breiten Hosenlatz, gewünscht<br />
werden. Wie die meisten Traditionalisten<br />
verwendet auch Heil vor allem<br />
sämisch gegerbtes Hirschleder aus Neuseeland.<br />
Aber auch das heimische Leder von<br />
frei lebenden Hirschen wird aufgrund seines<br />
rustikalen Looks immer beliebter. „An<br />
den richtigen Stellen muss es glänzen, an<br />
anderen Stellen dunkler werden“, sagt Heil.<br />
Gelebt und verwegen soll die Lederhose<br />
aussehen, aber nicht speckig (auch wenn<br />
sie dann beim Schuhplattln besonders<br />
schön kracht).<br />
Eine neue Faszination für den Look<br />
mit Patina – das kennt auch Uwe Vogt.<br />
Er ist Verkaufsleiter beim Traditionshaus<br />
Meindl in Kirchanschöring, das seit 1683<br />
in der elften Generation erfolgreich in Leder<br />
und Loden macht. Ganz klar gehe der<br />
Trend zum Natürlichen, erklärt Vogt, bei<br />
dem auch Kratzer und Spuren auf dem Leder<br />
zu sehen sein dürfen. Immer häufiger<br />
brächten junge Leute auch die Hosen ihrer<br />
Väter oder Großväter, um sie anpassen<br />
zu lassen.<br />
Schätzungsweise 17 000 Lederhosen<br />
wird Meindl im Jahr 2013 verkaufen,<br />
10 Prozent mehr als im Vorjahr. Seit<br />
acht Jahren steigen die Verkaufszahlen stetig.<br />
Vielleicht auch deshalb, weil das Traditionsunternehmen<br />
am Waginger See nicht<br />
nur die bis zu 2500 Euro teure original<br />
Hirschlederne im Programm hat. Meindl<br />
reagiert auf die starke Nachfrage und bietet<br />
auch günstigere „Einsteigermodelle“ aus<br />
Ziege oder Rind an, ab 400 Euro. Die industrielle<br />
Massenfertigung mit Discount-<br />
Angeboten für 179 Euro aus Indien, Pakistan<br />
oder Sri Lanka kommt ihm dabei<br />
nur bedingt in die Quere. „Die echte Tracht<br />
wird dadurch sicher verfälscht“, meint Vogt,<br />
„doch andererseits hätte unsere Branche nie<br />
diesen Aufschwung erlebt, wenn wir nur<br />
traditionelle Lederhosen anbieten würden.“<br />
Und mittlerweile lassen sich überzeugte Träger<br />
ihr eine Hose auch gerne etwas kosten.<br />
Denn die Lederhose ist wertstabil.<br />
Auch wenn sie immer wieder zur Klischeebildung<br />
herhalten muss, sie ist keine Eintagsfliege,<br />
keine Modeerscheinung oder<br />
dem Zeitgeist unterworfen. Sie ist beliebt<br />
und gemeinhin akzeptiert, von archaischer<br />
Qualität, ein bisschen wie der schottische<br />
Kilt – nur eben langlebiger.<br />
Das mit der Langlebigkeit ist dann<br />
noch so eine Sache, denn die Lederhose lebt<br />
sprichwörtlich am Körper mit. Sie reinige<br />
sich beim Tragen, heißt es im Volksmund.<br />
Großmütter hingen sie früher in den kalten<br />
Schnee, damit der Frost das erledige,<br />
was durch das Ausklopfen nicht von alleine<br />
verschwinden wollte. Der Scherz, bei welchem<br />
anstatt der vom Doktor verlangten<br />
Blut-, Urin- und Stuhlprobe einfach eine<br />
Lederhose eingereicht wird, kommt ebenfalls<br />
nicht von ungefähr. Und dennoch verzichtet<br />
kein echter Trachtler auf die vielen<br />
Spuren, die sich als einzigartige Familienchronik<br />
über die Generationen ins Leder<br />
gezeichnet haben.<br />
Sie ist eben ein Original, die Lederhose.<br />
Den Bayern mag der Ruf nachhängen,<br />
konservativ zu sein. Wahr ist jedenfalls,<br />
dass sie ihre Errungenschaften nicht<br />
einfach über Bord werfen. Erst recht nicht,<br />
wenn sie in die Jahre gekommen sind.<br />
SARAH-MARIA DECKERT<br />
ist gebürtige Allgäuerin. Die<br />
freie Autorin will ihren Berliner<br />
Freund dazu überreden, sich endlich<br />
eine Lederhose anzuschaffen<br />
Fotos: Gregor Hohenberg, Andrej Dallmann (Autorin)<br />
Der Fotograf dankt den Trägern der Berchtesgadener Tracht, der Familie Brandner und Wolfgang Hasenknopf sowie Ursula Wischgoll von der<br />
Berchtesgadener Tourismus GmbH für die Teilnahme an dem Deutsche-Trachten-Buchprojekt für den TASCHEN-Verlag, aus dem diese Fotos vorabgedruckt werden<br />
106 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Sophie und Johannes Brandner<br />
auf dem Weg zum Hof der<br />
Eltern im Berchtesgadener Land.<br />
Johannes trägt eine Zitterrosl von<br />
einer Kuh, die aus Holzspänen<br />
und Tanne hergestellt wurde<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 107
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illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />
Die Schrot-Frage<br />
Handelt es sich um einen diätetischen<br />
Vorbehalt oder schwächt Getreide gar<br />
die Elite? Gedanken zum Verzicht auf<br />
Kohlenhydrate<br />
Von Julius Grützke und Thomas Platt<br />
D<br />
ie ausgewogene ernährung ist aus der Mode gekommen.<br />
Früher rieten Experten zu einer gesunden Mischung<br />
aus den Grundbausteinen des Lebens. Proteine,<br />
Fette und Kohlenhydrate sollten in einem harmonischen Verhältnis<br />
die Basis für die Speisen jedes Tages bilden. Doch diese Vision<br />
einer kompletten Idealmahlzeit hat sich überholt: Die einzelnen<br />
Bestandteile der Nahrung sind Gegenstand von Debatten geworden.<br />
Stärke, Eiweiß und Fett haben Fürsprecher und Gegner gefunden,<br />
die sich gegenseitig mit Argumenten auf den Leib rücken.<br />
Dabei gibt es stets einen Underdog. Eine lange währende Kampagne<br />
richtete sich seit den sechziger Jahren gegen das Fett. Zunächst<br />
wurde die Butter verdächtigt, das Herz zu schädigen. Mit<br />
der Zeit traf es auch die anderen Öle, die allesamt als schädliche<br />
Dickmacher galten. Fettreduzierte Lightprodukte fanden reißenden<br />
Absatz und boten der Industrie die Möglichkeit, bewussten<br />
Essern synthetische Zubereitungen schmackhaft zu machen. Allein<br />
die Wirksamkeit der auf dem Fettverzicht beruhenden Diäten<br />
ließ zu wünschen übrig. Das sorgte für Unmut, der sich schließlich<br />
in ein neues Feindbild kanalisierte.<br />
Zurzeit geben die Kohlenhydrate das schwarze Schaf. War es<br />
zunächst nur der raffinierte Schurke Zucker, der verteufelt wurde,<br />
trifft es inzwischen alle Produkte aus Mehl und Stärke. Man lässt<br />
nicht allein wegen der schlanken Linie die sogenannten Sättigungsbeilagen<br />
weg, sondern glaubt zugleich, das allgemeine Wohlbefinden<br />
zu steigern, indem man sich des Ballasts der Getreideerzeugnisse<br />
entledigt. Das beschränkt sich längst nicht mehr auf den<br />
Rahmen von Privathaushalten und Abnehmcamps, sondern hat<br />
auch in der Hochküche Einzug gehalten. Ein bekannter Sternekoch<br />
zum Beispiel brüstet sich damit, in seinem Restaurant auf<br />
Reis, Nudeln und Kartoffeln zu verzichten. Nicht einmal das übliche<br />
Brot wird dem Gast auf den Tisch gestellt. Dass eine solche<br />
radikale Maßgabe in einem vom Michelin mit Sternen dekorierten<br />
Lokal der obersten Preiskategorie den Gästen zugemutet werden<br />
kann, zeigt allerdings auch, was es mit solchen rigiden Speiseregeln<br />
auf sich hat.<br />
Für den größten Teil der Menschheit ist Ernährung keine Modeerscheinung,<br />
sondern überlebenswichtige Energiezufuhr. Dabei<br />
spielen die Kohlenhydrate eine ähnliche Rolle wie das Öl als<br />
Kraftquelle der globalen Ökonomie. Der Getreideanbau sichert<br />
das Überleben der Mehrheit der Erdbevölkerung – Fette und Proteine<br />
können nur mit erheblich größerem Aufwand produziert<br />
werden. Wer also demonstrativ die Stärke verschmäht, hat eine<br />
Schwäche für das Statussymbol einer Exklusivität, die sich nur wenige<br />
leisten können. Sollen doch die anderen das vulgäre Schrot<br />
verzehren, scheinen die Proponenten der Low-Carb-Bewegung zu<br />
sagen, wir halten uns an wertvollere Nahrungsbestandteile – wie<br />
einst der Adel, der den Bauern das Fleisch nahm und ihnen nur<br />
die Grütze ließ. Der Klassenaspekt dieser Ideologie kann auch daran<br />
ermessen werden, dass das Brot und seine Mitstreiter gar nicht<br />
aus geschmacklichen <strong>Grün</strong>den verfemt werden. Es ist vielmehr ein<br />
diätetischer Vorbehalt: Getreide schwächen die Elite. Solche Erwägungen<br />
sind nicht neu. Schon der Futurist und Protofaschist<br />
Marinetti verdammte einst die kohlenhydratreiche Pasta, weil sie<br />
die Italiener träge und kriegsscheu machte.<br />
Eine Mobilmachung haben wir allerdings nicht zu befürchten.<br />
Es ist eine grundlegende Eigenschaft von Essvorschriften, dass sie<br />
unterlaufen werden. Gegen die Reinheit der Lehre steht die Korruption<br />
des Körpers, die üblicherweise obsiegt. Die fettarm Lebenden<br />
schleichen nachts zum Kühlschrank, um sich hemmungslos<br />
am Sahneeis zu laben und der Low-Carb-Jünger feiert heimliche<br />
Nudelorgien. Das macht Diäten wirkungslos und diskreditiert<br />
die Experten. Neue Lehren treten auf den Plan und verteufeln<br />
andere Nahrungsbestandteile. Man kann vermuten, dass es als<br />
Nächstes den Eiweißen an den Kragen geht. Der Kampf gegen<br />
das Gluten, ein Protein im Weizen, mag da ein Vorzeichen eines<br />
neuen Trends sein.<br />
Julius Grützke und Thomas Platt<br />
sind Autoren und Gastronomiekritiker. Beide leben<br />
in Berlin und essen Kohlenhydrate<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 109
| S a l o n<br />
Jazz an der Wursttheke<br />
Helge Schneider verweigert sich mit neuem Album und neuem Film gekonnt aller Sinnzumutung<br />
von daniel Haas<br />
N<br />
atürlich ist auch der Diener<br />
wieder dabei. Kommt alle 20 Minuten<br />
auf die Bühne, Tablett,<br />
Kanne, stoisches Gesicht. „Ah, der Tee!“,<br />
sagt der Maestro und nippt am Tässchen.<br />
„Der Arzt hat gesagt, ich muss viel trinken.“<br />
Verschmitztes Lächeln. „Ist schon lange tot,<br />
der Arzt. Er hat zu wenig getrunken.“<br />
Helge Schneider 2013, die gefühlt tausendste<br />
Tour, aber es geht nicht anders. Er<br />
ist ein Live-Künstler, ein Performer, wie es<br />
auf Neudeutsch heißt. Irgendwann wird<br />
er sich auch diesen Begriff vorknöpfen,<br />
wird die Silben zerkauen oder das Wort<br />
so lange wiederholen, bis es sich semantisch<br />
selbst zersetzt. Denn das ist es, was<br />
Schneider tut: auftreten und einem verblüfften<br />
Publikum zeigen, was drinsteckt<br />
in unserer Sprache, wie viel Witz, Wahnsinn,<br />
absurde Energie.<br />
Sitzt also am Flügel und blättert in den<br />
Noten. „Die Seiten rosten schon“, sagt er,<br />
und man weiß nicht, sind die des Klaviers<br />
gemeint oder die aus Papier. Dann gibt es<br />
Mondscheinsonate mit Hustenbegleitung.<br />
So wird sich Thomas Mann das Tuberkulose-Keuchen<br />
seiner „Zauberberg“-Patienten<br />
vorgestellt haben. Deutscher Kanon<br />
in der röchelnden Dadaversion. Die<br />
Tournee muss sein, weil es ein neues Album<br />
gibt. „Sommer, Sonne, Kaktus“, der<br />
Titelsong, hat das Zeug zum Ohrwurm,<br />
genauer gesagt: zur Tinnitusfassung eines<br />
Ohrwurms. Schubidu-Heiterkeit im Fräswerk<br />
der Nervensägen.<br />
Touren muss Schneider aber auch, weil<br />
seine Kunst im Moment entsteht, ein Hin<br />
und Her ist zwischen Artist und Rezipient.<br />
„Call and response“ sagen die Jazzer<br />
dazu, einer gibt ein Motiv vor, ein anderer<br />
antwortet. Tatsächlich, der Mann, den sie<br />
von Sylt bis Stuttgart Helge nennen, als sei<br />
er der Tankwart von nebenan, macht Jazz.<br />
Wobei der Begriff strukturell zu nehmen<br />
ist. Ein spontaner Einfall beginnt, dann<br />
wird improvisiert. „Jazz bedeutet Freiheit<br />
innerhalb bestimmter Grenzen“, sagt er,<br />
oder zumindest glaubt man, dass er das<br />
gesagt hat, er hat den Mund voller Tapas.<br />
Seine Plattenfirma hat zum Gespräch<br />
in die Beletage gebeten, inklusive opulentem<br />
Brunchbuffet. „Die verrücktesten Typen<br />
sind jene, die sich Grenzen auferlegen“<br />
– das hat man jetzt verstanden. Aber<br />
dann schmuggelt sich ein Frischkäsetörtchen<br />
in die Aussprache, und schon klingt<br />
er wie im Song „Mr. Bojangles“. Auch ein<br />
Stück von der neuen Platte, ein amerikanischer<br />
Evergreen. Schneider singt ihn, als<br />
sei er Tom Waits, der gerade an Kehlkopfkrebs<br />
verendet. Zum Schluchzen traurig.<br />
Zum Schreien komisch.<br />
Dieser Verzweiflungshumor hebt ihn<br />
über die Kollegen hinaus, über die Cindys<br />
und Krömers, die Berufsfreaks, die es ohne<br />
Schneider nicht geben würde. Dass übergewichtige<br />
Proletendarsteller heute mit<br />
Hartz-IV-Witzen den Mainstream erobern,<br />
ist auch ihm zu verdanken. Seit 1993, als<br />
sein erstes Album erschien, erinnert uns<br />
Schneider daran, dass im Abseitigen, Dysfunktionalen<br />
zentrale Aspekte von Unterhaltung<br />
liegen. Entsetzen und Gelächter<br />
sind zwei Facetten derselben Stimulanz.<br />
Er selber sagt, „ich parodiere nicht, ich<br />
interpretiere“. Das klingt kokett in Anbetracht<br />
seiner Verballhornung etablierten<br />
Materials (das neue Album besteht fast<br />
ausschließlich aus Standards). Aber letztlich<br />
ist es wohl genau das: eine Auslegung<br />
bestimmter Formen gemäß der eigenen<br />
künstlerischen Haltung. Für den<br />
„Bojangles“-Song habe er sich in Imbissabteilungen<br />
von Supermärkten herumgetrieben<br />
und die Rentner belauscht. Was man<br />
da zu hören bekommt? „Die Frau ist gestorben.<br />
Koche jetzt Sachen aus der Tiefkühltruhe.<br />
Aber nee, danke, geht mir gut.“<br />
Griff zur Bagelplatte, die auf einmal etwas<br />
sehr Tröstliches hat. „In solchen Momenten“,<br />
sagt Schneider, „liegt Dramatik.“<br />
Aber die muss man heraushören wie<br />
ein sehr raffiniertes, im Hintergrund<br />
spielendes Motiv eines Jazzsongs, und dann<br />
übersetzt man sie in eine „Bojangles“-Version,<br />
durch deren schlürfende Nuscheligkeit<br />
das ganze Elend eines Außenseiterlebens<br />
schwappt.<br />
Auch sein neuer Film „00 Schneider<br />
– Im Wendekreis der Eidechse“, der<br />
am 10. Oktober startet, ist eine Interpretation.<br />
Ausgelegt wird das amerikanische<br />
Kriminalgenre der dreißiger und vierziger<br />
Jahre. Schneider hat ein Faible für die Helden<br />
der Hardboiled-Ära, Philip Marlowe,<br />
Mike Hammer, harte Typen im Kampf gegen<br />
das Verbrechen, aber vor allem gegen<br />
sich selbst, gegen die eigene Einsamkeit<br />
und Verzweiflung.<br />
Duisburg ist nicht New York und<br />
Schneider nicht Al Pacino, aber die Genreregeln<br />
werden exakt eingehalten. Es gibt<br />
korrupte Cops und zwielichtige Nachtclubs,<br />
Femmes fatales und sadistische<br />
Schurken. Die Produktionskosten dürften<br />
die des Buffets zum Interview nicht überschritten<br />
haben. Das Ganze erinnert an einen<br />
krass unterfinanzierten Fassbinder, der<br />
Ionesco verfilmt, der Chandler gelesen hat,<br />
oder umgekehrt.<br />
Die Grenze der Zumutbarkeit will er<br />
weiter in Richtung Groteske verschieben,<br />
das gilt für die Musik wie für den Film.<br />
„00 Schneider“ endet mit einer fünfminütigen<br />
Tanzsequenz: der Kommissar in der<br />
Tiefgarage, sich um sich selbst drehend und<br />
windend, als sei’s der Ausdruckstanz eines<br />
Epileptikers. Was soll das? Soll das überhaupt<br />
was? „Das Leben hat keine Pointen“,<br />
hatte Schneider im Gespräch gesagt. „Und<br />
auch in der Kunst ist das Abgeschlossene<br />
nicht erstrebenswert.“ Bleibt also wieder alles<br />
offen mit Helge Schneider. Und auch<br />
das ist nur ein vorläufiges Fazit.<br />
Daniel Haas<br />
liebt Jazz und Krimis. Kein<br />
Wunder, dass er Helge Schneider,<br />
je nach dessen Werkphase, verehrt<br />
oder fürchtet<br />
Fotos: Stephan Pick/Roba Press, Privat (Autor)<br />
110 <strong>Cicero</strong> 9.2013
Helge Schneiders<br />
Album „Sommer,<br />
Sonne, Kaktus“<br />
spricht aus, was<br />
er vermisst.<br />
Der neue Film<br />
hingegen ist ein<br />
grotesker Krimi<br />
aus Duisburg<br />
9.2013 <strong>Cicero</strong> 111
| S a l o n<br />
die Raumpflegerin<br />
Candida Höfer, Deutschlands bekannteste Fotokünstlerin, kämpft gegen das Verschwinden der Realität<br />
von Ralf Hanselle<br />
S<br />
eit tagen löst die Welt sich auf.<br />
Der Sommer schmiegt sich an die<br />
Stadt wie klebrige Firnis. Hinter<br />
dem Kölner Bayenthalgürtel, wo die Häuser<br />
kleiner werden und die Stadt sich wieder<br />
an den Fluss herantraut, verschwimmt<br />
diese Welt in einem Hitzefilm. Nur ein<br />
paar Kinder wagen sich noch in die Sonne,<br />
jauchzen und bespritzen sich mit Uferwasser.<br />
Der Rhein zeigt ein impressionistisches<br />
Flirren, wie man es von den Gemälden der<br />
Düsseldorfer Malerschule kennt: durchlässig<br />
und pointilliert, etwa bei Max Clarenbach<br />
oder Willy Lucas.<br />
Hier also wohnt die Fotokünstlerin<br />
Candida Höfer. Schon ihr Vater, der Fernsehjournalist<br />
Werner Höfer, war an diesem<br />
Ort zu Hause, zwischen Bootspontons, Ruderclubs<br />
und einer Uferpromenade, die<br />
sich hinzieht wie eine Romanlandschaft<br />
von Heinrich Böll.<br />
Köln, 16 Uhr nachmittags: Candida<br />
Höfer sieht aus wie auf den wenigen Fotos,<br />
die es von ihr gibt. Zierlich, klein, das<br />
Gesicht mädchenhaft. Über dem linken<br />
Auge hat sie eine Schwellung. „Ein Missgeschick“,<br />
sagt sie und erwähnt die Sache<br />
nicht wieder. Sie ist diszipliniert, aufgeräumt<br />
wie ihr großes Atriumhaus. An den<br />
Wänden hängen vereinzelt ein paar ihrer<br />
Bilder. Kleine Nuancen in einer sonst eher<br />
einsamen Wohnlandschaft. Als wären diese<br />
Räume nur für sich selber da. Als würden<br />
sie sich heimlich beobachten – dann, wenn<br />
Candida Höfer mal nicht hinschaut.<br />
Sie schließt die Tür und lässt den Sommer<br />
draußen, das Flirren, das Wabern, das<br />
Zittern der Hitze. Sie macht es so routiniert<br />
wie auf ihren Fotografien. Auf diesen<br />
großen Tableaus, auf denen alles kühl<br />
und nüchtern erscheint. Seit gut 30 Jahren<br />
fotografiert Candida Höfer Innenräume:<br />
Bibliotheken, Hörsäle, Museumsdepots.<br />
Die ganzen Speicherstätten der Hochkultur.<br />
„Ich habe mein Thema nie gewechselt.<br />
Darin war ich immer sehr konsequent. Ich<br />
habe die Räume entdeckt und festgehalten.“<br />
Sie spricht leise, aber bedacht. Den Blick<br />