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Cicero Operation Rot-Rot-Grün (Vorschau)

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September 2013<br />

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<strong>Operation</strong><br />

<strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong><br />

Der stille Plan des<br />

Sigmar Gabriel<br />

„Ich werd’ noch<br />

katholisch!“<br />

Fünf überraschende Kniefälle<br />

vor dem neuen Papst<br />

Macht der<br />

Kapitalismus krank?<br />

Ein Marktliberaler denkt um<br />

Der Held als Schurke<br />

Roger Cohen über Barack Obama<br />

Weil i di mog<br />

Eine Liebeserklärung an die Lederhose<br />

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Österreich: 8,50 EUR, Benelux: 9,50 EUR, Italien: 9,50 EUR,<br />

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Am 22. Juli 2009 hat das ganze Land<br />

Die erste Seite<br />

eine Sonnenfinsternis beobachtet; zwei<br />

Tage vor dieser Sonnenfinsternis lud<br />

mich meine kleine Schwes ter nach zwei Uhr nachts zu<br />

einem »Gespenster imbiss« ein, wie früher die kleinen,<br />

illegalen Buden, die nur in der Nacht öffneten, genannt<br />

wurden; sie wollte in das berühmte »Schweinefüße<br />

mit Sichuan-Pfeffer bei Muttern«. Dieser normale »Fliegen<br />

laden«, so heißen in Chengdu liebevoll diese kleinen,<br />

billigen Stände, war, wie es hieß, über zwanzig Jahre<br />

alt, zigmal umgezogen und immer noch der alte Sau stall;<br />

aber er zog die Nacht schwärmer in Massen an. (…) Es<br />

war ein wirklich ungewöhnlicher Trubel; (…) wer keinen<br />

Tisch und keine Bank ergatterte, stellte seine Schweinefüße<br />

und die Dipschale auf den Boden und aß in der<br />

Hocke, ein Bissen Schweine füße mit Sichuan-Pfeffer,<br />

ein Schluck Schnaps – wobei niemand vergaß, lobend<br />

mit der Zunge zu schnalzen: Die Knochen sind sehr<br />

knusprig! Sehr lecker!<br />

Meine kleine Schwester hob beim Essen und Trinken<br />

zufällig die Augen, entdeckte gegenüber ein bekanntes<br />

Gesicht und grüßte: He, Zhou, mein Alter, lange<br />

nicht gesehn! Du hast doch selbst einen Laden, wieso<br />

treibst dich hier draußen rum? (…)<br />

»Meinen Laden habe ich längst zugemacht. Es ging<br />

nicht vorwärts und nicht rückwärts, also habe ich aufgegeben,<br />

ich konnte mit den großen Läden rundrum<br />

nicht mithalten.«<br />

Sie könnten doch so einen Laden für Schweine füße<br />

aufmachen wie den hier, sagte ich.<br />

»Ganz am Anfang hat hier ein Schweinefuß einen Kuai<br />

gekostet, heute kostet er das Zehnfache. Die haben hier<br />

auch jede Menge Schwierigkeiten gehabt, durch deren<br />

Hände sind ein paar Millionen Schweinefüße gegangen,<br />

mindestens, dass sie es bis heute geschafft haben.<br />

Das mit dem Geldverdienen hört nie auf, ich kann nicht<br />

mehr, so esse ich halt eingelegtes Gemüse zu meinem<br />

Schnaps. Bei den paar hundert Millionen Chinesen fällt<br />

es niemandem auf, wenn ich<br />

alter Tagedieb fehle. Oder was<br />

meinen Sie?«<br />

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C i c e r o | A t t i c u s<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 22. August 2013<br />

Thema: <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>, Barack Obama, <strong>Cicero</strong> im Oktober<br />

Auf leisen Sohlen<br />

Titelbild: Jens Bonnke; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

V<br />

on Kindern kennt man das: dass sie sich einfach die Hände vors Gesicht halten,<br />

und dann ist diese Sache oder diese Situation nicht da, mit der sie gerade<br />

konfrontiert werden. Die SPD macht es im Moment genauso: Sie tut so, als<br />

gebe es das Thema nicht, als sei <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> nur eine böse Erfindung des politischen<br />

Gegners. Das ist aber nicht der Fall. Natürlich stellt sich völlig zu Recht die Frage,<br />

warum dieses Bündnis unter allen vorstellbaren Konstellationen nach der kommenden<br />

Bundestagswahl am 22. September ausgeblendet werden soll. Denn, ganz egal, wie man<br />

dazu steht: Natürlich ist <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> eine Machtoption, vielleicht die einzige, die die<br />

SPD künftig haben wird, wenn sie den Kanzler stellen will.<br />

Und da soll man glauben, dass sie diese Option kategorisch ausschlägt, weil es einmal<br />

einen Oskar Lafontaine gab, der mit der PDS-Nachfolgepartei seine Rachegelüste stillte<br />

und überhaupt die sogenannte Linke nur eine zweimal überlackierte SED ist? In der<br />

Titelgeschichte führen wir aus, wie weit die Annäherungen unterhalb des offiziellen Tabus<br />

schon fortgeschritten sind, und wie vor allem einer seit Jahren diesen Prozess vorantreibt:<br />

der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel. Dessen Augenmerk richtet sich schon jetzt auf die<br />

Zeit nach der Schließung der Wahllokale. Wenn das absehbare Schicksal Peer Steinbrücks<br />

feststeht und Gabriel zusehen muss, wie er seine Chance auf eine Kanzlerschaft sichert.<br />

Die hat viel mit dem Schleifen eines Tabus zu tun. Wenn man genau hinschaut, arbeitet er<br />

daran schon seit vier Jahren (ab Seite xx).<br />

Der Titel des aktuellen <strong>Cicero</strong> war schon in Arbeit, als uns ein unverlangt eingesandtes<br />

Manuskript eines freien Autors namens Jürgen Trittin erreichte, das wir in diesem<br />

Zusammenhang sehr interessant fanden: weil das Mastermind der <strong>Grün</strong>en in diesem<br />

Beitrag kurz vor der Wahl seine Partei in Richtung CDU abdichtet und in Richtung sozial<br />

schärfer konturiert (ab Seite xx). Also baten wir obendrein die Vorsitzende der Linkspartei,<br />

Katja Kipping, zu beantworten, ob sie <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> genauso entgegenfiebert wie ihr<br />

Parteiveteran Gregor Gysi, der sich schon als Außenminister sieht (ab Seite xx).<br />

Roger Cohen gehört in meinen Augen zu den besten Journalisten der westlichen Welt.<br />

Deshalb freue ich mich besonders, dass der renommierte US-Kollege für <strong>Cicero</strong> in die<br />

Tasten haut, um sein Bild eines Barack Obama zu zeichnen, den wir Europäer zunehmend<br />

als eine Fata Morgana unserer eigenen Wunschprojektionen in den US-Präsidenten nach<br />

Bush wahrnehmen (ab Seite xx).<br />

Wenn <strong>Cicero</strong> das nächste Mal erscheint, dann wird die Bundestagswahl vorüber sein.<br />

Wir haben das Erscheinen auf den 26. September verlegt, also um eine Woche nach hinten.<br />

Dann warten wir mit einer doppelten Überraschung auf. Wir freuen uns darauf.<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

das Herz ausgeschüttet<br />

Mit besten Grüßen<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 3


I n h a l t | C i c e r o<br />

Titelthema<br />

16<br />

Und was wird aus mir?<br />

Vom 22. September an kämpft Sigmar Gabriel nur noch für die eigene Zukunft. Seine einzige Kanzleroption: <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<br />

<strong>Grün</strong>, spätestens 2017. In allen drei Parteien existiert die Machtperspektive. Geschichte einer Annäherung<br />

von Georg Löwisch und Christoph Schwennicke<br />

25<br />

26<br />

28<br />

Illustration: Jens Bonnke<br />

„Regieren ist immer Besser“<br />

Schleswig-Holsteins<br />

Ministerpräsident über<br />

Koalitionen und Klinkenputzen<br />

Interview mit Torsten Albig<br />

Die Angstkultur<br />

Die Linken-Vorsitzende<br />

fordert die SPD auf, ihre<br />

Abgrenzungsrituale aufzugeben<br />

von Katja Kipping<br />

<strong>Grün</strong> Muss sozial sein<br />

Der <strong>Grün</strong>en-Spitzenkandidat<br />

erklärt, warum ihm das Soziale<br />

näher ist als das Marktliberale<br />

von Jürgen Trittin<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 5


C i c e r o | I n h a l t<br />

34 Großes Ego<br />

66 Starke Aura<br />

94<br />

Überdrehter Kapitalismus<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />

30 | Der Anachronist<br />

Prism? Nie gehört. Ulrich Birkenheier<br />

und der altmodische Geheimdienst MAD<br />

Von Hartmut Palmer<br />

56 | Des Volkes general<br />

Abdel Fattah al Sisi ist der neue, starke<br />

Mann Ägyptens<br />

Von Julia Gerlach<br />

76 | Der ach so nette Thomas<br />

Die Doping-Diskussion könnte Thomas<br />

Bachs Wahl zum IOC-Chef gefährden<br />

Von Jens Weinreich<br />

32 | Ein Einsamer Putschist<br />

Die FDP folgte ihm nicht. Nun kämpft<br />

Dirk Niebel um sein Ministeramt<br />

Von Werner Sonne<br />

58 | Bush reloaded?<br />

Ist Barack Obama ein Widergänger<br />

seines Amtsvorgängers?<br />

Von Roger Cohen<br />

78 | Immer gut verpackt<br />

In Berlin kämpft Lencke Wischhusen für<br />

die Interessen junger Unternehmer<br />

Von Til Knipper<br />

34 | Planet Röschen<br />

Wie es kommt, dass Ursula von der<br />

Leyen in ihrer ganz eigenen Welt lebt<br />

Von Constantin Magnis<br />

62 | Tanz auf dem Vulkan<br />

In Beirut lebt die Jugend zwischen Partys<br />

und einem drohenden Bürgerkrieg<br />

Von Jan Rübel<br />

80 | Berlins Banker<br />

KfW-Chef Ulrich Schröder verwaltet<br />

mehr Steuergelder als das Bundeskabinett<br />

Von Heinz-Roger Dohms<br />

37 | Frau fried Fragt sich ...<br />

... wie ein Gemeinwesen mit Egoisten<br />

funktionieren soll<br />

Von Amelie Fried<br />

38 | Mein Wunschkabinett<br />

Eine Kanzlerin schwebt über allem?<br />

Dann nehmen wir doch Sibylle Berg<br />

Von Else Buschheuer<br />

40 | Einfach Göttlich<br />

Leben im Kloster – eine Fotoreportage<br />

Von Kiên Hoàng Lê<br />

48 | „Mehr Aufrichtigkeit“<br />

Der FDP-Chef Philipp Rösler über<br />

Shitstorms und die Streitkultur im Netz<br />

Interview von Alexander Marguier und<br />

Christoph Schwennicke<br />

52 | Mein Schüler<br />

<strong>Cicero</strong>-Serie: Guido Westerwelles Lehrer<br />

über seinen einstigen Schützling<br />

Von Constantin Magnis<br />

54 | Nein, lieber Otto<br />

Überwachungsmacht ist heute: Allmacht<br />

Von Frank A. Meyer<br />

66 | Liebe auf den ersten Blick<br />

Papst Franziskus begeistert Menschen<br />

über alle Glaubensgrenzen hinweg<br />

Von Julius Müller-Meiningen<br />

72 | Franziskus? find ich gut!<br />

Warum fasziniert der Papst?<br />

Fünf Versuche einer Antwort<br />

Von Amelie Fried, Martina Gedeck,<br />

Bodo Kirchhoff, Sebastian Turner,<br />

Michael Wolffsohn<br />

74 | Die Mittelschicht begehrt auf<br />

In der Türkei, in Bulgarien, Russland<br />

und Brasilien vollzieht sich eine<br />

Revolution der Leistungsträger<br />

Von Ulrich Speck<br />

86 | Strom gegen Sprit<br />

Tradition und Zukunft von BMW:<br />

zwei Ingenieure, zwei Welten<br />

Von Lutz Meier<br />

92 | Der digitale Kiosk<br />

Wo bleibt das deutsche Amazon als<br />

Retter der jammernden Printmedien?<br />

Von Petra Sorge<br />

94 | Macht der Kapitalismus<br />

uns unglücklich?<br />

Der tägliche Wettbewerb kennt nur<br />

Verlierer – Erkenntnis eines Geläuterten<br />

Von Max A. Höfer<br />

Fotos: Victoria Bonn-Meuser/Picture Alliance/DPA, DDP Images; Illustrationen: Jan Rieckhoff, Christoph Abbrederis<br />

6 <strong>Cicero</strong> 9.2013


I n h a l t | C i c e r o<br />

102 Heimathose<br />

132<br />

18 000 Goethebücher<br />

Stil<br />

Salon<br />

98 | AM RAMPENLICHT<br />

Die legendäre Background-Sängerin<br />

Lisa Fischer erklärt ihren Beruf<br />

Von CLAUDIA STEINBERG<br />

110 | jazz an der wursttheke<br />

Helge Schneider treibt seine Kunst mit<br />

neuem Album und neuem Film voran<br />

Von daniel Haas<br />

132 | bibliotheksporträt<br />

Michael Engelhard lässt sich als<br />

Redenschreiber von Goethe inspirieren<br />

Von bertram weiss<br />

100 | Warum ich trage, was ich trage<br />

Auf der Bühne muss ich nicht auch noch<br />

durch meine Kleidung hervorstechen<br />

Von HÉLÈNE GRIMAUD<br />

112 | die raumpflegerin<br />

Candida Höfer kämpft gegen das<br />

Verschwinden der Realität<br />

Von ralf hanselle<br />

136 | die letzten 24 Stunden<br />

Wen es zum Sterben nach Finnland<br />

verschlägt, der braucht <strong>Rot</strong>wein<br />

Von aki kaurismäki<br />

Fotos: Gregor Hohenberg, Frank Schoepgens; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

102 | STOLZEs BEKENNTNIS<br />

Durch ihre uralte Ästhetik vermittelt die<br />

Lederhose das Gefühl von Heimat<br />

Von SARAH-MARIA DECKERT<br />

109 | KÜCHENKABINETT<br />

Die Schrot-Frage: Gedanken zum<br />

Verzicht auf Kohlenhydrate<br />

Von JULIUS GRÜTZKE UND THOMAS PLATT<br />

114 | überall ist Nossendorf<br />

Hans-Jürgen Syberberg wurde vom<br />

Regisseur zum Tagebuchschreiber<br />

Von ingo langner<br />

116 | Man sieht nur, was man sucht<br />

Hilma af Klint begründete die abstrakte<br />

Malerei aus dem Geist der Theosophie<br />

Von beat wyss<br />

118 | Zwitscher mir das Lied<br />

vom Widerstand<br />

Twitter könnte die Kommunikation<br />

grundlegend verändern<br />

Von alexander pschera<br />

122 | Es galt der Gunst,<br />

nicht der Kunst<br />

Durch die Reichskulturkammer wurden<br />

alle Künste gleichgeschaltet<br />

Von philipP blom<br />

124 | schluss mit der Willkür<br />

Die Universitäten haben den Kampf<br />

gegen Plagiate verschlafen<br />

Von heiner barz<br />

126 | BloSS nicht bequem sein<br />

Oskar Roehler und Thor Kunkel über<br />

Film, Literatur und den Sinn von Kunst<br />

Von alexander Kissler<br />

Standards<br />

Atticus —<br />

Von Christoph Schwennicke — seite 3<br />

Stadtgespräch — seite 8<br />

Forum — seite 12<br />

Impressum — seite 22<br />

Postscriptum —<br />

Von Alexander Marguier — seite 138<br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am 26. September 2013<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 7


C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

Einen Comedian der SPD spornt seine Chancenlosigkeit an, Fachleute für<br />

Gebärden deuten Merkels Raute, am Brandenburger Tor schwitzen die Pferde,<br />

ein CDU-Mann will Blut sehen – und Oskar Lafontaine ärgert die Saar-Linke<br />

Erkans Stefan:<br />

Brontalangriff<br />

A<br />

ls teil des Comedy-Duos „Erkan<br />

& Stefan“ hat Florian Simbeck<br />

alias „Stefan Lust“ einst den<br />

Gaumenkitzler „brontal“ erfunden – ein<br />

Kofferwort aus „brutal“ und „frontal“, Bedeutung:<br />

„sehr“, „total“. Brontal überraschend<br />

hat die SPD Simbeck als Bundestagsdirektkandidaten<br />

in München-Freising<br />

aufgestellt. Der Polit-Neuling ist nicht nur<br />

rhetorisch begabt, sondern hat auch ganz<br />

eigene Vorstellungen über mögliche Regierungskoalitionen:<br />

„Ich hätte mit einer rotrot-grünen<br />

Koalition auf Bundesebene kein<br />

Problem. Im Gegenteil: Ich finde, das ist<br />

eine bedenkenswerte Option.“ Brontal offen<br />

– bloß wie steht’s um seine Chancen,<br />

im Bundestag eine Karriere als Berufspolitiker<br />

zu begründen? Simbeck hat es in der<br />

Vergangenheit zwar schon mit den Mächten<br />

der Finsternis aufgenommen (in einem<br />

Kinofilm). Aber was sind die Mächte<br />

der Finsternis gegen die Christlich-Soziale<br />

Union? Simbeck über seinen CSU-Widersacher<br />

Erich Irlstorfer: „Der könnte im<br />

Bett bleiben und hätte immer noch gute<br />

Chancen, das Ding zu gewinnen.“ Davon<br />

lässt er sich aber nicht die Laune verderben:<br />

„Das allein spornt mich schon an, es zu versuchen.“<br />

Brontalissimo! cb<br />

Raute der MAcht:<br />

Künstlerische Vagina<br />

A<br />

m Ende von Angela Merkels zweiter<br />

Amtszeit lautet die entscheidende<br />

Frage: Was war zuerst da,<br />

die Kanzlerin oder die Raute – ihr gestisches<br />

Markenzeichen? Sie führt dabei<br />

die Fingerspitzen beider Hände zusammen,<br />

die Daumen zeigen nach oben, die<br />

Zeige- und anderen Finger nach unten.<br />

Die Frage folgt einer philosophischen<br />

Tradition: Schon Aristoteles wollte wissen,<br />

wie es sich mit Ursache und Wirkung<br />

verhalte, wo der Ursprung des Seins nun<br />

liege, im Ei oder in der Henne. Im Falle<br />

der Kanzlerin verhält es sich nicht minder<br />

existenziell: Gibt es für diese Körperhaltung<br />

einen Grund und demnach eine Botschaft?<br />

Angestoßen hat die Debatte der<br />

moderne Staatstheoretiker Benjamin von<br />

Stuckrad-Barre im Endspurt des Wahlkampfs<br />

vor vier Jahren. Er fragte Merkel<br />

als Erster nach der Bedeutung der Geste.<br />

Die CDU-Vorsitzende stellte sie damals<br />

großflächig auf einem Plakat aus. Ihre<br />

Antwort fiel schlicht aus: „Nichts.“ Sie<br />

garantiere mithilfe dieser Geste nur, dass<br />

sie aufrecht stehe. Die Deuter der Kanzlerin<br />

gaben sich damit nicht zufrieden.<br />

Das Rätsel wurde zur eigenen Disziplin<br />

der Merkologie, es beschäftigte auch die<br />

Verschwörungstheoretiker. Ist die Raute<br />

ein Landezeichen für Außerirdische? Ein<br />

Symbol der Freimaurer? Sendet sie dem<br />

Publikum Energie? Oder lenkt sie gar den<br />

Blick – Geborgenheit vermittelnd – auf<br />

den Bauch?<br />

Vier Jahre später hat Merkel ihre Raute<br />

noch einmal neu erklärt. Typisch. Je länger<br />

unbewussten Eigenschaften Bedeutungen<br />

zugeschrieben werden, desto eher macht<br />

sie bewusst etwas draus. Bei einer Veranstaltung<br />

der Zeitschrift Brigitte sagte sie, sie<br />

habe nicht gewusst, wohin mit den Armen,<br />

zudem zeige die Raute „eine gewisse Liebe<br />

zur Symmetrie“. Das können die einen ein<br />

wenig augenzwinkernd lesen, die anderen<br />

dagegen bedeutungsvoll (Ausgleich! Inneres<br />

Gleichgewicht!).<br />

Ungeklärt ist bisher jedoch eine weitere<br />

Vermutung geblieben: Dass Merkel<br />

die Gebärdensprache benutze, in der die<br />

Raute Vagina bedeute. Wenn das stimmt,<br />

könnte es sich sogar um ein feministisches<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

8 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Sie hat auf alles<br />

eine Frage.<br />

maybrit illner<br />

Do 22. August | 22:15 Uhr


C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

Statement handeln. Das wäre doch mal<br />

eine Kanzlerinnen-Inzenierung!<br />

Leider ist die Raute schon mal keine<br />

Gebärde, wie Wolfgang Schinmeyer, gehörloser<br />

Grafiker und Herausgeber des Buches<br />

„Gebärden auf St. Pauli“ auf Anfrage klarstellt.<br />

Wer Vagina in der Gehörlosensprache<br />

ausdrücken möchte, führt nur Daumen<br />

und Zeigefinger zusammen, hält sie<br />

kurz offen nach unten und schließt sie wieder.<br />

Bei der Merkel-Raute handelt es sich<br />

um eine Geste – ein Missverständnis, das<br />

häufig auftaucht. „Gebärdensprachen sind<br />

nicht nur die Gebärden an sich, sondern es<br />

ist immer wichtig, auch Mimik, Mundbild,<br />

Körperstellung, Bewegung zu beachten“,<br />

erklärt Cornelia von Pappenheim, Referentin<br />

des Deutschen Gehörlosen-Bundes.<br />

Sie hat jedoch eine andere Vermutung, wie<br />

es zu der Gleichsetzung von Merkels Raute<br />

mit Vagina kommen konnte: 2005 hat das<br />

internationale visuelle Theater aus Paris mit<br />

ausschließlich gehörlosen Schauspielern<br />

die „Vagina Monologe“ in Deutschland<br />

aufgeführt. „Dort kommt die Geste von<br />

Frau Merkel vor, denn es ist eine künstlerische<br />

Form, um Vagina darzustellen.“ sl<br />

Der Sommer in Berlin:<br />

Schwitzende Pferde<br />

E<br />

ine rote Ampel an der Ecke Unter<br />

den Linden/Wilhelmstraße<br />

Richtung Brandenburger Tor. Einem<br />

fülligen Rikschafahrer stehen kleine<br />

Schweißperlen auf der Stirn. „Over sär, se<br />

bilding wiss sse grien rroof“, erläutert er<br />

den beiden Asiatinnen mit den tiefen gefüllten<br />

Ausschnitten auf seiner Rückbank.<br />

„SSät is where Michael Jackson held out his<br />

baby out of sse window.“ Die beiden jungen<br />

Damen folgen seinem Fingerzeig, der<br />

schräg links in Richtung Hotel Adlon geht.<br />

„Good description!“, lobt ein Radfahrer, der<br />

auch an der Ampel wartet. „Ditt interessiert<br />

Se alle!“, sagt der Rikschafahrer. „Und<br />

wo die Aindschie wohnt!“ In beiden Sätzen<br />

schwingt jahrelange Erfahrung, gemischt<br />

mit Stolz. Die Ampel schaltet auf <strong>Grün</strong>.<br />

Der Rikschafahrer tritt schwer in seine<br />

Pedale, der andere Radler zieht flink an<br />

ihm vorbei. Der Pariser Platz riecht nach<br />

schwitzenden Pferden. Dit is Balin, Mitte<br />

Juli 2013. swn<br />

Provokation der <strong>Grün</strong>en:<br />

Bitte Blutig!<br />

M<br />

ichael Fuchs, Unionsvize im<br />

Bundestag, geht regelrecht blutrünstig<br />

gegen den politischen<br />

Gegner vor. Ziel seines Angriffs sind die<br />

<strong>Grün</strong>en, die einen fleischfreien Tag pro<br />

Woche fordern, als „Veggie-Day“ empfehlen<br />

sie den Donnerstag. <strong>Grün</strong>e Bundespolitiker<br />

speisen gern im italienischen Restaurant<br />

Il Punto. Genau wie Fuchs. Sichtet<br />

er einen grünen Volksvertreter, bestellt<br />

er sich – Donnerstag oder nicht – möglichst<br />

unüberhörbar „das größte und blutigste<br />

Steak“. Ob sein Konsumstil zu mehr<br />

CDU-Wählern beiträgt, ist allerdings offen.<br />

Die <strong>Grün</strong>en werben immerhin mit Zahlen<br />

aus dem rot-grün regierten Bremen für ihre<br />

Position: Als erste deutsche Großstadt hat<br />

Bremen die Initiative „Vegetarischer Donnerstag“<br />

unterstützt. Die Einwohner sparen,<br />

wenn sie sich einen Tag pro Woche<br />

fleischlos ernähren, ein CO 2<br />

-Abgasäquivalent<br />

von 40 000 Autos pro Jahr. Das<br />

beeindruckt Fuchs nicht: Zähle man alle<br />

Verbotswünsche der <strong>Grün</strong>en zusammen –<br />

Grillen im Park, Fahren alter Motorroller,<br />

Tempolimit et cetera – führe das zu<br />

einem Kaufkraftverlust von 40 Milliarden<br />

Euro. Wer zahlt? Natürlich der Mittelstand,<br />

schimpft Fuchs. Da schluckt er vorsorglich<br />

lieber ein paar Steaks. Weilt <strong>Grün</strong>en-Chefin<br />

Claudia <strong>Rot</strong>h im Il Punto, sagt Fuchs,<br />

schmecke es ihm besonders. tz<br />

Lafontaines Wahlkampf:<br />

Sahra statt saar<br />

W<br />

enn oskar lafontaine den Eindruck<br />

hat, ihm werde nicht genug<br />

gehuldigt, sucht er schon<br />

mal das Weite. Diese Erfahrung hat 1999<br />

seine einstige Partei, die SPD, machen<br />

dürfen: Als er sich als Bundesfinanzminister<br />

nicht gegen die Gefolgsleute Gerhard<br />

Schröders durchsetzen konnte, warf<br />

er von einem Tag auf den anderen hin<br />

und entschwand gen Saarbrücken – sein<br />

Ministeramt und das des Parteivorsitzenden<br />

in Bonn zurücklassend. Der Rest der<br />

Geschichte ist bekannt. Bekannt ist auch,<br />

dass Geschichte sich wiederholt. Diesmal<br />

im Saarland, wo die Linkspartei sich partout<br />

weigerte, die von Lafontaine favorisierte<br />

frühere Tennisspielerin Claudia<br />

Kohde-Kilsch zur Saar-Spitzenkandidatin<br />

für die Bundestagswahl zu küren. Anstatt<br />

der ehemaligen Weltranglisten-Vierten<br />

steht jetzt Thomas Lutze auf Platz eins<br />

der Liste für die Wahl, ausgerechnet ein<br />

Widersacher Lafontaines bei den Saar-Linken.<br />

Was Letzteren wiederum dazu veranlasste,<br />

sich auf Oskar-typische Weise vom<br />

Acker zu machen – zumindest im Wahlkampf.<br />

Anstatt im Saarland für seine Partei<br />

zu werben, wird Lafontaine sein rhetorisches<br />

Talent in der heißen Phase nun<br />

wohl der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen<br />

zur Verfügung stellen; dort sind im<br />

September acht Auftritte geplant. Immerhin<br />

bleibt es diesmal gewissermaßen in der<br />

Familie: In NRW kandidiert nämlich mit<br />

Sahra Wagenknecht Oskar Lafontaines Lebensgefährtin<br />

auf dem Spitzenplatz. mar<br />

illustration: Cornelia von Seidlein<br />

10 <strong>Cicero</strong> 9.2013


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C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

Forum<br />

Es geht um Bildung, Titelgestaltung, die Kanzlerin und das Auto<br />

Zur Preiserhöhung/August 2013<br />

kein weg<br />

Zu weit<br />

Die Augustausgabe des <strong>Cicero</strong> hat mir zu einer nicht geplanten, zusätzlichen sportlichen<br />

Aktivität verholfen. In der Annahme, dass die Ausgabe 8 Euro kostet, habe<br />

ich genau 8 Euro eingesteckt und bin mit dem Rad, bei der momentanen Hitzewelle,<br />

einige Kilometer zum nächstgelegenen Kiosk gefahren. Hier in Brandenburg<br />

gibt es nicht an jeder Ecke einen Kiosk, und nicht alle bieten den <strong>Cicero</strong> an. Ich<br />

hatte die Ausgabe schon in der Hand, und beim Verlassen kam die Verkäuferin<br />

hinterher und wollte die restlichen 50 Cent. War mir peinlich. Also bin ich wieder<br />

nach Hause und habe die 50 Cent geholt. Ärgerlich, aber ich werde den <strong>Cicero</strong><br />

auch weiterhin kaufen.<br />

R. Wonner, Birkenwerder<br />

zum beitrag „Klamme<br />

kaderschmieden“ von Benno<br />

stieber/August 2013<br />

Chance verpasst<br />

Schon die Wahl der Beispiele zeigt<br />

das. SIMT und EBS, International<br />

University Bruchsal, Witten-Herdecke<br />

und Jacobs University wurden seit über<br />

einem Jahrzehnt zig Mal als Beispiele<br />

für das vermeintliche Scheitern privater<br />

Initiative im Hochschulwesen in der<br />

Presse zitiert. Gerade diese sind jedoch<br />

nicht repräsentativ für die Privathochschulen,<br />

schon gar nicht in puncto<br />

Finanzierung. Sie haben nämlich den<br />

Webfehler, dass sie initial oder konsekutiv<br />

mit öffentlichen Geldern gefördert<br />

wurden, das heißt, sie sind tatsächlich<br />

Public-Private-Partnership-Modelle.<br />

PPP hat sich auch in anderen Bereichen<br />

als problematisch erwiesen, weil hier<br />

zusammengespannt wird, was nicht<br />

zusammengehört (unternehmerisches<br />

Handeln und öffentliche Haushalte).<br />

Die wirklich privaten Hochschulen,<br />

die im Verband der privaten Hochschulen<br />

organisiert sind, vertreten den<br />

Grundsatz „Wo privat draufsteht, muss<br />

auch privat drin sein“. Das gilt auch und<br />

gerade für die Finanzierung. Dass dieses<br />

Modell nachhaltig funktioniert, zeigen<br />

unsere 55 Mitgliedshochschulen, die seit<br />

Jahrzehnten nicht nur fachlich, sondern<br />

auch wirtschaftlich erfolgreich sind.<br />

Dass der Ruf der privaten Hochschulen<br />

seit der Jahrhundertwende<br />

gelitten hat, ist ein von den Befürwortern<br />

eines staatlichen Bildungsmonopols<br />

gern verbreitetes Vorurteil. Es wird von<br />

der Realität nicht gestützt, wie allein<br />

die seit 2000 zweistellig wachsenden<br />

Studierendenzahlen der Privaten zeigen.<br />

Auch das 2012 erschienene unabhängige<br />

Gutachten des Wissenschaftsrats kommt<br />

zu einer sehr positiven Einschätzung<br />

der privaten Hochschulen. In seiner<br />

wissenschaftlichen Kommission sitzen,<br />

nota bene, nur Vertreter von Staatshochschulen.<br />

Wenn einen sogar die Konkurrenz<br />

positiv bewertet, kann der Ruf so<br />

schlecht nicht sein.<br />

Prof. Klaus Hekking, Vorsitzender des Verbands<br />

der Privaten Hochschulen e. V., VPH<br />

zur Titelgestaltung<br />

„Christdemokratische<br />

Einheitspartei Deutschlands“,<br />

„Obamas Stasi“/August 2013<br />

Falsche Symbolik<br />

Den Vogel hat die Redaktion mit<br />

„Christdemokratische Einheitspartei<br />

Deutschlands“ abgeschossen. Man kann<br />

ja viel schreiben, aber mit Zeichnungen<br />

und Symbolen hat es schon eine andere<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

12 <strong>Cicero</strong> 9.2013


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C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />

Bewandtnis. Die Farben und Symbole<br />

der SED, einer kommunistischen und<br />

diktatorischen Partei, zu übertragen, ist<br />

mehr als geschmacklos, es ist politisch<br />

unkorrekt bis diffamierend. Auch das<br />

Dreieinigkeitsbanner der Titelseite<br />

spricht Bände über den Denkansatz.<br />

Ich kenne die CDU über 40 Jahre,<br />

habe viele Wahlkämpfe (mit Kurt Georg<br />

Kiesinger persönlich) mitgefochten,<br />

„Bürger für Brandt“ erlebt und nun<br />

Dr. Angela Merkel – eine kluge, unaufgeregte<br />

Kanzlerin. Das passt der Presse<br />

nicht, die lieber über Krawall berichtet.<br />

Der <strong>Cicero</strong>-Redaktion empfehle ich<br />

die Lektüre der Merkel-Biografie, vielleicht<br />

geht da manchem Redakteur noch<br />

ein Licht auf.<br />

Dieter Zauft, Waldshut-Tiengen<br />

zum Titel „Die neuen<br />

Statussymbole“, Jan Kuhlbrodt/<br />

Juli 2013<br />

DAs Auto lebt<br />

„Mein Auto ist kein Statussymbol, nur<br />

ein Transportmittel, um von A nach B<br />

zu kommen“, haben die Mitglieder Ihrer<br />

Redaktion wohl gesagt und fühlen sich<br />

als Avantgarde. Ich fürchte, so ganz<br />

stimmt das nicht. Denn zum ersten Mal<br />

habe ich diesen Satz um 1970 herum<br />

während meines Ingenieurstudiums<br />

gehört. Nicht von denen, die damals<br />

schon als Student Porsche oder Alfa Spider<br />

gefahren haben; aber diejenigen, die<br />

sich ihre 500-Mark-Schrottkiste vom<br />

Mund abgespart hatten und sich noch<br />

nicht einmal das Benzin leisten konnten,<br />

haben das gar oft von sich gegeben. Ich<br />

hatte übrigens damals weder Auto noch<br />

Führerschein, weil ich mir beides nicht<br />

leisten konnte. Die Diskussionen habe<br />

ich also still verfolgt.<br />

In den letzten 40 Jahren habe ich<br />

immer wieder diesen Satz gehört, in<br />

ganz wenigen Abwandlungen, und<br />

immer war die relative Position der Sprechenden<br />

gleich. Und dennoch ist und<br />

bleibt vorläufig das Auto das Statussymbol,<br />

denn Kirschholzlautsprecher, DVD-<br />

Sammlungen oder Bündel von Zwiebeln<br />

kann man erst dann zeigen, wenn man<br />

das zu manipulierende Opfer in die<br />

richtige Sichtposition gebracht hat, das<br />

Auto stellt man einfach vor die Tür und<br />

schaut aus dem Küchenfenster ganz<br />

befriedigt zu, wie die Vorbeigehenden<br />

hingucken.<br />

Porsche oder Bentley liegen wohl<br />

eher außerhalb der Gehaltsklasse Ihrer<br />

Redaktionsmitglieder, aber ob ein<br />

50 000-Euro-Auto, das passen könnte,<br />

am unteren Ende der Premiumskala<br />

zum Statussymbol taugen würde,<br />

könnte man ja mal überlegen.<br />

Nun wurde ich leider 65 und<br />

leider pensioniert, aber meinen letzten<br />

Geschäftswagen, ein 5er BMW, habe<br />

ich meinem Arbeitgeber abgekauft. Eine<br />

ökonomisch völlig falsche Entscheidung,<br />

meistens steht der Wagen in der Garage.<br />

Aber ab und zu bereitet es mir richtig<br />

Freude, mit meinem Zweieinhalbliter-<br />

Sechszylinder irgendwohin zu fahren,<br />

und was andere darüber denken, ist mir<br />

so was von egal.<br />

Kurt Reuter, Heusenstamm<br />

zum Titel „Christdemokratische<br />

Einheitspartei Deutschlands“,<br />

Alexander Marguier/August 2013<br />

wie Queen Elizabeth<br />

Angela Merkel ist in mehrfacher Hinsicht<br />

für Deutschland ein Glücksfall.<br />

Und man muss schon schmunzeln, wie<br />

immer wieder versucht wird, in diese<br />

eintönige politische Figur etwas an<br />

Größe oder Mystery hineinzuinterpretieren,<br />

anstatt es einfach bleiben zu<br />

lassen.<br />

Es ist bekannt, dass diese Frau<br />

bereits in ihrer Jugend eher unauffällig,<br />

brandenburgisch stoisch und von<br />

schlichtem Gemüt war, zu leichtem<br />

Phlegma neigend, aber stets von (typisch<br />

ostdeutsch) offener Freundlichkeit und<br />

einfältiger Gutgläubigkeit. Brillante<br />

Rhetorik der Berufsgruppe Journalisten,<br />

Pfarrer und Anwälte war bis heute<br />

nicht ihre Sache. Damit erfüllt sie<br />

die Vorstellung vieler Wähler und ist<br />

ein Abbild der bescheidenen Seele des<br />

einfachen, unbescholtenen Bürgers. Ihr<br />

sind Korruption und Amtsmissbrauch<br />

wirklich nicht zuzutrauen, ebenso wenig<br />

wie goldene Löffel zu stehlen. Sie ist<br />

nicht käuflich.<br />

Aber auch das stellt hier kein Problem<br />

dar. Wie das Volk, so finden die<br />

Reichen und Mächtigen, die Shareholder<br />

der deutschen Dax-Unternehmen,<br />

ihre Interessen gewahrt. Bisherige<br />

Bundeskanzler waren Alphatiere,<br />

eigensinnige Querulanten, die immer<br />

schwer zu steuern waren. Das ist bei<br />

der leichtgläubigen und etwas praxisfernen<br />

Angie nicht der Fall. Und auch<br />

die gehobenen und mittleren Schichten<br />

der Ministerialbürokratie freuen sich<br />

ob ihrer neu gewonnenen Freiheit, man<br />

kann schalten und walten und nicht mal<br />

immer zum Nachteil des Volkes.<br />

Hier ist nun tatsächlich kein<br />

Schaden durch das fehlende Charisma<br />

und die fehlende Streitsüchtigkeit und<br />

Konfliktinszenierung der Bundeskanzlerin<br />

für die Nation erkennbar.<br />

Noch nie ging es dem Land angesichts<br />

weltwirtschaftlich schwieriger Konstellation<br />

so gut wie jetzt. Und nur weil<br />

Medien so vor sich hin dümpeln und<br />

Auflagenschwund verzeichnen, sollte<br />

das Erfolgsmodell einer nicht charismatischen<br />

Kanzlerin nicht der banalen<br />

Strategie des Enthüllungsjournalismus<br />

geopfert werden und auch nicht dem<br />

Ansinnen, einem SPD-Kabarettisten<br />

aufs Pferd zu helfen.<br />

Man kann nur hoffen, dass diese Frau<br />

nicht nur für die nächste Legislatur<br />

Kanzlerin bleibt, sondern, beliebt wie<br />

eine deutsche Queen Elizabeth, diesem<br />

Land, so wie es ihre Gesundheit erlaubt,<br />

noch viele Jahre dient.<br />

Max Lehmann, Berlin<br />

(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />

illustrationen: cornelia von seidlein<br />

14 <strong>Cicero</strong> 9.2013


DIE ENTSCHEIDUNG DES JAHRES – BUNDESTAGSWAHL AM 22. SEPTEMBER<br />

Wer soll<br />

unser Land<br />

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Wie führen Merkel und Steinbrück ihre Kampagnen?<br />

Welche Strategien, welche Kniffe wirken? <strong>Cicero</strong> präsentiert<br />

die Akteure vor und hinter der Bühne, analysiert erstmals<br />

die Duelle in allen 299 Wahlkreisen und erklärt, vor welchen<br />

Maßnahmen sich keine Regierung in Zukunft drücken kann.<br />

Damit Sie im Wahlkampfsommer mitreden können und am<br />

22. September die richtige Entscheidung treffen.<br />

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T i t e l<br />

16 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Und was wird<br />

aus mir?<br />

Dieser Wahlkampf ist Sigmar Gabriels letzter Kampf<br />

für einen anderen. Nach dem 22. September geht<br />

es um seine Zukunft. Dafür muss er die absehbare<br />

Wahlniederlage der SPD überstehen – und ein Tabu<br />

brechen. <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>, spätestens 2017.<br />

Geschichte einer systematischen Annäherung<br />

Von Georg Löwisch und Christoph Schwennicke<br />

E<br />

s ist ein heißer Sommertag in<br />

Ahlen, an dem man gute <strong>Grün</strong>de<br />

und einen eisernen Willen haben<br />

muss, eine Stadthalle zu betreten,<br />

die aussieht, als hätte jemand aus<br />

Denkmalschutzgründen den Zweckbau der<br />

späten siebziger Jahre konservieren wollen.<br />

Draußen brütet eine schwüle, grelle<br />

Mittagssonne über der Stadt, drinnen im<br />

dunklen Saal ist sehr viel weißes Haupthaar<br />

zu sehen. An einem Stand in der Halle<br />

ist sinnigerweise ein roter Sonnenschirm<br />

aufgebaut, auf dem in weißen Buchstaben<br />

SPD steht.<br />

Ahlen, Westfalen. Abgeschieden, aber<br />

politisch bedeutsamer Boden. Hier hat sich<br />

die CDU 1947 ihr erstes Grundsatzprogramm<br />

gegeben, und in dieser Stadthalle<br />

hat Johannes Rau am 16. Dezember 1985<br />

für die SPD eine Grundsatzrede gehalten.<br />

Genau deswegen ist jetzt auch Sigmar Gabriel<br />

hier.<br />

Es ist wie bei einer Predigt. Pastor Gabriel<br />

verliest andächtig Passagen von Raus<br />

Rede und erklärt der Gemeinde, was dessen<br />

Worte uns heute noch sagen. Dass man<br />

Freunden wie den USA nicht nach dem<br />

Mund reden muss. Wie Merkel das macht.<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 17


T i t e l<br />

Dass man keine „verlogene Politik“ betreiben<br />

darf. Wie Merkel das tut. Dass man<br />

nicht einerseits den arabischen Frühling besingen<br />

kann und andererseits so viele Panzer<br />

wie noch nie an die Saudis verkaufen.<br />

Wie Merkel. Das alles hat Johannes Rau<br />

schon kommen sehen. Die „Anarchie in<br />

der Energiewende“, den „Verlustsozialismus“<br />

in der Bankenrettung.<br />

Kurzum: Sigmar Gabriel ist in Fahrt.<br />

Die SPD döst in diesen Wochen ein<br />

bisschen in der Sommersonne, im Willy-<br />

Brandt-Haus kann man anrufen, wo man<br />

will: Urlaub. Die Kampa, die einst legendäre<br />

Wahlkampfzentrale der Partei, besetzt<br />

zwar im Nordflügel lila leuchtend zwei<br />

Stockwerke, entfaltet aber keine Wirkung.<br />

Der Kandidat taumelt durch seine Kandidatur<br />

und versucht das Straucheln und<br />

Stolpern bei den ersten Hürden wenigstens<br />

auf den letzten Metern noch in einen<br />

Lauf zu verwandeln. Und dann ist da Sigmar<br />

Gabriel. Vorsitzender der Partei und<br />

freies Radikal. Beides in einem. Von nichts<br />

und niemandem zu bändigen, nicht einmal<br />

von sich selbst. Er kämpft und kämpft und<br />

kämpft. Um seine Chance, seine Option.<br />

Es ist ihm nichts nachzuweisen bei seinen<br />

Wahlkampfauftritten. Nicht in Ahlen,<br />

nirgendwo. Er preist den Kandidaten. Gabriels<br />

Kampf gebührt Peer Steinbrück. Aber<br />

es ist sein letzter Kampf für einen anderen.<br />

Ein bisschen ist es schon ein Kampf für sich<br />

selbst. Ein Kampf, dessen heiße Phase am<br />

22. September um 18 Uhr beginnt, wenn<br />

sich das Wahlergebnis in bunten Säulen auf<br />

den Bildschirmen der Republik abzeichnet.<br />

Dann wird Gabriel nur noch von der Frage<br />

geleitet sein, die ihn schon jetzt steuert, die<br />

ihn schon immer steuert, die ihn spätestens<br />

leitet, seit er vor fast vier Jahren in Dresden<br />

mit schwerer Erkältung und einer starken<br />

Rede zum SPD-Vorsitzenden gewählt<br />

wurde. Heide Simonis, seine Parteifreundin<br />

in Schleswig-Holstein, hat diese Frage<br />

nach einer verlorenen Wahl einmal so formuliert:<br />

„Und was wird aus mir?“<br />

Sigmar Gabriel will Kanzler werden.<br />

Nicht gleich. Deshalb hat er Steinbrück<br />

den Vortritt gelassen wie einst Angela<br />

Merkel Edmund Stoiber beim Frühstück<br />

in Wolfratshausen. Denn bis zum 22. September<br />

um 17.59 Uhr ist die Zeit noch<br />

nicht reif für ihn. Für seine Machtoption.<br />

Für <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>.<br />

Von da an läuft Gabriels Uhr für diese<br />

Option. Spätestens 2017, vielleicht auch<br />

früher, muss er zugreifen, wenn er ganz<br />

nach oben will. Er muss das Schisma beenden.<br />

Franz Müntefering hat schon zu Bonner<br />

Zeiten in ruhigen Momenten über den<br />

Urfehler der SPD geredet, die PDS nicht<br />

aufgenommen zu haben wie die CDU ihr<br />

DDR-Blockflötenpendant. An diesem strategischen<br />

Wettbewerbsnachteil knabbert die<br />

SPD seither bei jeder Wahl: Es gibt eine<br />

linke Mehrheit, aber wegen des Tabus nur<br />

auf dem Papier. Diese Mehrheit zu nutzen,<br />

diesen Schatz endlich heben zu dürfen, das<br />

ist Gabriels Strategie, das ist sein Plan, der<br />

sich lange abzeichnet, wenn man genau hinschaut.<br />

Er muss natürlich noch die Balkendiagramme<br />

vom 22. September überleben.<br />

Das ist das Nadelöhr. Da kann er hängen<br />

Illustrationen: Wieslaw Smetek (Seiten 16 bis 18)<br />

18 <strong>Cicero</strong> 9.2013


leiben. Danach ist er durch. Dann darf er<br />

das Bündnis vorbereiten, das ihn ganz nach<br />

oben bringen kann.<br />

Die Szenarien für 2013 sind überschaubar.<br />

Eine Große Koalition wird ihn stabilisieren,<br />

denn dann muss die SPD einigermaßen<br />

geschlossen in die Verhandlungen<br />

gehen. Es gäbe genügend Ämter in Regierung<br />

und Fraktion, Gabriel könnte Vizekanzler<br />

werden oder Fraktionschef. Er wartet<br />

ab, bis Merkel ihren Zenit überschritten<br />

hat und die Leere in der Union zutage tritt.<br />

Dann treibt er die SPD zur Opposition in<br />

der Koalition – um sie für 2017 zu profilieren:<br />

Das wäre eh nach seinem Geschmack.<br />

Oder er lässt Schwarz-<strong>Rot</strong> zum geeigneten<br />

Zeitpunkt platzen und sich – je nach Mehrheitsverhältnissen<br />

– in der laufenden Legislatur<br />

zum rot-rot-grünen Kanzler wählen.<br />

Schafft es Schwarz-Gelb am 22. September<br />

noch einmal, kann Gabriel eine Brachialopposition<br />

aufbauen: kein staatsmännischer<br />

Steinmeier-Stil mehr, sondern kantige Konfrontation.<br />

Im Bundestag, im rot-rot-grünen<br />

Bundesrat, im Dauerwahlkampf gegen<br />

eine Angela Merkel in ihrer Spätphase.<br />

Schwarz-<strong>Grün</strong> würde die Dinge bei den<br />

<strong>Grün</strong>en etwas unübersichtlich machen, es<br />

gäbe Konflikte. Aber der grüne Streit würde<br />

die SPD päppeln und ihren Vorsitzenden<br />

stark machen.<br />

Das sind Gabriels Varianten. Aber jetzt,<br />

im Wahlkampf, muss er alles kaschieren.<br />

Muss sagen, er halte „nichts davon, die<br />

Stabilität Deutschlands aufs Spiel zu setzen,<br />

nur um mit einer absolut unkalkulierbaren<br />

Partei ins Kanzleramt zu kommen“.<br />

Mit den Ostlern ginge es ja noch,<br />

aber nicht mit den „Spinnern“ und Sektierern<br />

der Westlinken. Die meisten in<br />

der SPD beten seine Gebete nach, damit<br />

die Union im Wahlkampf nicht <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<br />

<strong>Grün</strong> als Mobilisierungsthema hat. Kaum<br />

jemand traut sich zu sagen, was die SPD-<br />

Parteilinke Hilde Mattheis vor ein paar<br />

Wochen in der taz auf die Frage „Wie stehen<br />

Sie eigentlich zu <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>?“ gesagt<br />

hat: „Ich glaube, dass uns da eine Offenheit<br />

guttäte.“<br />

In Wahrheit glauben dies viele Sozialdemokraten.<br />

Der „Transformationsprozess“<br />

müsse weitergehen, heißt es da.<br />

Transformation heißt: Weg mit dem Erbe<br />

Schröder-Clement-Müntefering. Gabriel<br />

selbst hat aufseiten der SPD die Blockaden<br />

abgebaut, wo und wie es nur ging. Er<br />

hat die Agenda 2010, Gerhard Schröders<br />

Gabriel<br />

definiert mit<br />

dem Begriff<br />

„Mitte“ eine<br />

Bewegung<br />

nach links<br />

Hinterlassenschaft, das „geht gar nicht“ der<br />

Linken, scheinbar gelobt und faktisch geschleift.<br />

Er hat die Aufbauten von damals<br />

zum Abriss freigegeben: die Niedriglöhne,<br />

die billige Leiharbeit? Waren „falsch“, sagt<br />

Gabriel. Die Rente mit 67, noch so ein<br />

Klotz im Weg, als faktische Rentenkürzung<br />

weggeräumt: „Niemand, der sein Leben<br />

lang rentenversichert war und über viele<br />

Jahrzehnte gearbeitet hat, darf im Rentenalter<br />

auf Sozialniveau kommen, nur weil<br />

er unverschuldet arbeitslos war oder in den<br />

Niedriglohnsektor gedrückt wurde.“ Beim<br />

Mindestlohn hätte die SPD mit 8,50 Euro<br />

zur Linken aufgeschlossen, wenn die nicht<br />

noch mal auf zehn Euro erhöht hätte.<br />

Und sogar im Kompetenzteam eines<br />

Peer Steinbrück sind Sozialdemokraten vertreten,<br />

die zu der Transformation passen,<br />

Karl Lauterbach zum Beispiel oder Florian<br />

Pronold oder Klaus Wiesehügel. Links, linker,<br />

superlinks.<br />

Eine Zusammenarbeit zwischen SPD<br />

und Linkspartei erleichtert auch die Tatsache,<br />

dass Oskar Lafontaine abtritt, das<br />

personifizierte Zerwürfnis.<br />

Manchmal fügt sich ein Bild erst in der<br />

Rückschau. Wie bei einem Puzzle. Die ersten<br />

Teile passen zwar, aber man kann noch<br />

nicht alles erkennen. Heute zum Beispiel<br />

wird es noch deutlicher als vor knapp zwei<br />

Jahren, am 13. Oktober 2011, als Sigmar<br />

Gabriel eine Erkältung plagte. Er hatte sich<br />

fit geschluckt mit Aspirin für diese Tage in<br />

Dresden und hat eine Rede als angehender<br />

Parteivorsitzender gehalten, die im Kern alles<br />

enthielt, was sich seither entfaltet.<br />

Sie steht noch heute auf seiner Homepage<br />

zum Nachlesen. Die SPD müsse das<br />

Wahlergebnis „annehmen“, ihre Politik<br />

habe „manchmal aseptisch und durchgestylt<br />

gewirkt“. Nun müsse die Partei da hin,<br />

„wo das Leben ist, das anstrengende Leben,<br />

da hin, wo es riecht und gelegentlich auch<br />

stinkt“. Das war die Kampfansage an die<br />

Brioni-Cohiba-SPD, deren arroganter Duft<br />

den nach Gabriels Einschätzung wichtigen<br />

Truppen der SPD gestunken hatte. Wieder<br />

und wieder hat er auf dem Parteitag und in<br />

Interviews von den zehn Millionen geredet,<br />

die der SPD als Wähler seit dem Sieg von<br />

1998 den Rücken gekehrt hätten. Alles war<br />

seiner Meinung nach weg: die Glaubwürdigkeit,<br />

das Profil und damit auch diese<br />

zehn Millionen Wähler.<br />

Die Mitte, mit der Schröder eine Verschiebung<br />

der SPD nach rechts begründet<br />

hatte, definierte Gabriel wieder in die<br />

andere Richtung. Er berief sich auf Willy<br />

Brandt: Dessen Mitte sei links gewesen.<br />

<strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> ist keine leichte Übung in<br />

Deutschland. In das Verhältnis zwischen<br />

<strong>Rot</strong> und Dunkelrot spielen alte Konflikte<br />

hinein, die Zwangsvereinigung von SPD<br />

und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei,<br />

die Identität ostdeutscher Bürgerrechtler<br />

unter den Sozialdemokraten. Dass Oskar<br />

Lafontaine und etliche Abtrünnige der<br />

SPD gemeinsam mit der PDS die Linke<br />

aufgebaut haben, hat Aggressionen erzeugt,<br />

die sich nur langsam abbauen.<br />

Auch zwischen roten SED-Nachfolgern<br />

und grünen Ost-Bürgerrechtlern steht die<br />

DDR-Geschichte. Kein Wunder, dass es<br />

eine ordentliche rot-rot-grüne Regierung<br />

mit Ministern aus allen drei Parteien bisher<br />

nicht einmal auf Landesebene gegeben<br />

hat. Wenn die drei zusammenarbeiteten,<br />

wurden Sonderkonstruktionen ausgetüftelt.<br />

Die erste war das „Magdeburger Modell“,<br />

1994 erfunden von Reinhard Höppner:<br />

Seine SPD und die <strong>Grün</strong>en stellten<br />

die Regierung. Die PDS stimmte für den<br />

Haushalt und wichtige Gesetze. Ihr Vorteil:<br />

Sie konnte sich nach außen in Oppositionsmanier<br />

entrüsten, zugleich aber über<br />

den Landtag Macht ausüben.<br />

Höppner hoffte, der CDU weniger<br />

Angriffsfläche zu bieten, wenn die PDS<br />

nicht richtig mitregierte. Doch die Union<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 19


T i t e l<br />

schlachtete sein Modell gekonnt aus. Im<br />

selben Jahr mobilisierte sie im Bundestagswahlkampf.<br />

Die SPD hat bis heute Angst<br />

vor dem Mobilisierungseffekt. <strong>Rot</strong>e Socken!<br />

Kommunisten! Linksfront!<br />

Klaus Wowereit kratzte die CDU nicht,<br />

als er 2001 die Große Koalition in Berlin<br />

aufkündigte und sich mit einer rot-rotgrünen<br />

Mehrheit zum Bürgermeister der<br />

Hauptstadt wählen ließ. Er amtierte erst<br />

mit <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>, die PDS tolerierte seine Regierung.<br />

Nach der nächsten Wahl schaltete<br />

Wowereit auf <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong> um, fast neun Jahre<br />

lang regierte er so. In Mecklenburg-Vorpommern<br />

gab es acht rot-rote Jahre. Der<br />

Mobilisierungseffekt für die Union nutzte<br />

sich ab – zumal im Osten. Dass <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong> in<br />

Brandenburg regiert, bringt keinen CDU-<br />

Ortsverein mehr in Wallung.<br />

Im Westen war das 2008 noch einmal<br />

anders, als Andrea Ypsilanti nach der<br />

Macht in Hessen griff. Sie wollte <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong><br />

wie einst Höppner von den Linken tolerieren<br />

lassen. Hybris, Wortbruch, Koch-Kampagne<br />

und Intrigen – Ypsilantis Projekt der<br />

„solidarischen Moderne“ detonierte.<br />

An Hessen kann man sehen, wie eine<br />

Zusammenarbeit mit der Linken die Sozialdemokraten<br />

spalten kann. Verfügt ein Sigmar<br />

Gabriel über die Überzeugungskraft,<br />

sie an den Gedanken zu gewöhnen? Wäre<br />

er stark genug, sie zusammenzuhalten?<br />

Die Antwort auf die Hessen-Frage lautet<br />

in der SPD oft: Nordrhein-Westfalen. 2010<br />

schickten dort die Sozialdemokratin Hannelore<br />

Kraft und die <strong>Grün</strong>e Sylvia Löhrmann<br />

den CDU-Mann Jürgen Rüttgers in Pension<br />

– ohne eigene Mehrheit im Parlament.<br />

<strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>? Sylvia Löhrmann,<br />

heute stellvertretende Ministerpräsidentin<br />

und Schulministerin, antwortet gleich<br />

mit einem Understatement, und das ist<br />

typisch. „Dass es in Düsseldorf <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<br />

<strong>Grün</strong> gegeben hätte, ist eine Mär“, sagt sie.<br />

Die Regierung habe sich jeweils Mehrheiten<br />

gesucht. Schulkonsens – mit der CDU.<br />

Abschaffung der Studiengebühren – mit<br />

der Linken. Stärkung der Stadtfinanzen –<br />

mit der FDP. Man sieht an der Antwort:<br />

In NRW lief es auf eine geduldige, stille<br />

Weise. Und die Wahl der Regierungs chefin?<br />

Wegen der Landesverfassung konnten sich<br />

Kraft und Löhrmann um die Frage herummogeln.<br />

Für die Wahl der Ministerpräsidentin<br />

reicht in Düsseldorf ab dem zweiten<br />

Wahlgang eine einfache Mehrheit, die<br />

Linke enthielt sich vornehm.<br />

„So, Jungs, ich<br />

geh euch mal<br />

ein bisschen<br />

beschimpfen“,<br />

sagt Gabriel<br />

am Stand der<br />

Jungen Union<br />

Seit der Landtagswahl von 2012 regieren<br />

SPD und <strong>Grün</strong>e in Nordrhein-Westfalen<br />

ohne Sperenzchen. Mehrheit satt. Dieses<br />

Ziel erreichten Kraft und Löhrmann<br />

zwar auch auf rot-rot-grünen Pfaden. Aber<br />

sie haben sich nicht von der Linken abhängig<br />

gemacht. Ihren Weg zur Macht gingen<br />

sie leise und behutsam. Keine Ausschlusserklärungen,<br />

kein Gerede von rot-grünen<br />

Projekten. „Nie die Dinge überhöhen“,<br />

sagt Löhrmann auch jetzt über <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>.<br />

„Politik muss leidenschaftlich sein, aber sie<br />

muss nüchtern agieren.“<br />

Wie passt so ein Rezept zu Sigmar Gabriel?<br />

Wenn er es einmal mit <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong><br />

probieren sollte, sähe es anders aus. Ihm<br />

liegt das Spektakel mehr als die Behutsamkeit.<br />

<strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>? Ein Coup würde das<br />

wohl, mit lautstarker Begründung, epochal<br />

aufgeladen. Aber wenn jemand in der SPD<br />

sich nicht vor einer Konfrontation mit der<br />

Union fürchtet, dann ist das Gabriel.<br />

Die Junge Union in Altenberge, einem kleinen<br />

Ort unweit von Münster, hat ihr Büro<br />

direkt am Marktplatz – was ganz praktisch<br />

ist, wo doch die Altenberger SPD an diesem<br />

frühen Abend ihren Wahlkreiskandidaten<br />

Ulrich Hampel von dort auf die<br />

Reise in seinem Wohnmobil schicken<br />

möchte. Es ist wieder heiß wie in Ahlen,<br />

auf dem Platz stehen viele bärtige Männer<br />

herum, die einen an frühere Deutschlehrer<br />

erinnern, wie Gabriel auch mal einer war.<br />

Eine nach SPD aussehende Band älterer<br />

Herren covert Songs von Chuck Berry, den<br />

Beatles und den Rolling Stones. Der Leadgitarrist<br />

wagt sich sogar an „Hey Joe“ von<br />

Jimi Hendrix und „Mary had a little Lamb“<br />

von Stevie Ray Vaughan – das muss man<br />

sich als Gitarrist erst mal trauen, aber hier<br />

in Nordrhein-Westfalen traut sich die SPD<br />

auch wieder was. „Wir sind die Kraft“, haben<br />

manche auf dem Marktplatz auf ihrem<br />

T-Shirt-Bauch stehen.<br />

Aus einem dunklen Wagen steigt ein<br />

Mann und geht direkt auf die Jungs von<br />

der Jungen Union zu. Sigmar Gabriel. Er<br />

macht bei dem Spielchen mit, das die Jungs<br />

vorbereitet haben an ihrem Stand und lässt<br />

sich mit dem schwarzen T-Shirt fotografieren,<br />

das sie ihm in die Hand gedrückt<br />

haben. „Cool bleiben und Kanzlerin wählen“,<br />

steht auf dem Shirt. „So, Jungs, war<br />

nett“, sagt er dann. „Jetzt geh ich euch mal<br />

ein bisschen beschimpfen, wenn’s recht ist.“<br />

Gabriel freut sich, dass zwei Gewerkschaften<br />

da sind, darunter die IGBCE, der<br />

der angehende Camper Ulrich Hampel angehört.<br />

Er wolle Ulli beim Kofferpacken<br />

helfen, sagt Gabriel, und dann geht es los<br />

mit dem Kofferpacken: Gleiches Geld für<br />

gleiche Arbeit, ein Lob für die SPD-Regierung<br />

in NRW, eine liebevolle Spitze in<br />

Richtung Junge Union. Politik von oben?<br />

„Das sollen die da drüben machen“, sagt er<br />

mit Blick zu den Jungs von der JU. „Politik<br />

von unten, für die Menschen, die machen<br />

wir.“ Sogar eine Prise Ressentiment<br />

gegen Ausländer wird beigemischt wie seinerzeit<br />

von Oskar Lafontaine: Man müsse<br />

sich „erst mal um die kümmern, die hier<br />

sind, und nicht zuallererst gucken, wen wir<br />

noch alles zu uns holen“.<br />

Die zehn Millionen verlorenen SPD-<br />

Wähler tauchen wieder auf in der Rede. Sie<br />

tauchen immer auf. Das Trauma der SPD.<br />

Angela Merkel? Nicht unsympathisch,<br />

nein, nein, aber „eine sympathische<br />

Anscheinerweckerin“.<br />

Steuererhöhungen? „Nie sexy!“ Aber<br />

hierzulande sei bei manchen der „Steuerspartrieb<br />

ausgeprägter als der Sexualtrieb!“<br />

Die Jungs von der Union können das<br />

eine oder andere Bierchen gebrauchen, als<br />

Gabriel abgerauscht ist. Cool sei der schon.<br />

So einen wie den, das merkt man, hätten<br />

sie auch gerne in NRW, so vom Typ her.<br />

Aber sie haben Armin Laschet. So ist das<br />

Leben.<br />

20 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Illustration: Wieslaw Smetek<br />

Am anderen Ende der Republik, ein<br />

paar Tage später, hat es Gregor Gysi wie<br />

Sigmar Gabriel auch mit der Gleichheit.<br />

Der Hunger in der Welt muss doch abzuschaffen<br />

sein, sagt der Chef der Linken<br />

im Bundestag. „Mindestens mal das muss<br />

doch Politik hinkriegen!“, ruft Gysi von<br />

der Bühne des Platzes am Seepark in Sellin<br />

auf Rügen. Die Sonne knallt ihm auf<br />

die Glatze.<br />

Dietmar Bartsch, Vize der Linksfraktion,<br />

ist nicht ganz zufrieden mit der Örtlichkeit<br />

dieser Station der Ostsee-Tour mit<br />

Gysi: Zu weit weg von der Laufkundschaft,<br />

von der Seebrücke sowieso – zweite Reihe,<br />

ein Asphaltplatz, auf den gut ein abgehalfterter<br />

Zirkus passen würde. Aber die Leute<br />

sind gekommen, trotz Ostsee, trotz sengender<br />

Sonne.<br />

Gysi ist ein fantastischer Angleicher.<br />

Wenn nötig, tänzelt er auch über die Gegensätze<br />

zwischen den Parteien hinweg.<br />

Gerade gleicht er einige grundlegende<br />

Unterschiede der Menschheit an: Ost und<br />

West, Männer und Frauen, Alte und Junge.<br />

Dietmar Bartsch, der Stratege der Linken,<br />

murmelt mit. Das Skript ist von ihm. Er<br />

sagt Gysi, welche Schlager er singen soll.<br />

„Das ist noch das alte Manuskript mit den<br />

alten Zahlen, das sind nicht mehr acht,<br />

sondern neun“, raunt er rüber, als Gysi<br />

zu Details von Branchenregelungen beim<br />

Mindestlohn redet. Bartsch sagt: „Jetzt<br />

kommt gleich der Beifall.“ Gysi beendet<br />

seinen Satz: „Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung.“<br />

Der Beifall breitet sich auf<br />

dem Platz aus. Bartsch guckt wie ein zufriedener<br />

Zirkusdirektor. Geht doch.<br />

Dietmar Bartsch ist einerseits einer der<br />

Strategen der Linken und andererseits in<br />

der Politik über alle Parteigrenzen beliebt.<br />

Der Lieblingslinke. Er hat beste Drähte<br />

zu Sigmar Gabriel. Die beiden schätzen<br />

einander. Bei gebratenem Dorsch in einem<br />

Lokal neben dem Festplatz also die<br />

Frage: Warum hat die SPD bei <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<br />

<strong>Grün</strong> für 2013 die Schotten dichtgemacht,<br />

Herr Bartsch? „Weil die Union erfolgreich<br />

war“, sagt Bartsch trocken, es schwingt sogar<br />

ein gewisser Respekt mit, mindestens<br />

Verständnis für die Vorgehensweise. Die<br />

SPD sei über den Stock gesprungen, den<br />

die Union hingehalten habe, und jetzt sei<br />

der Zug „für dieses Mal“ abgefahren. Er<br />

sehe allenfalls „kreative Lösungen“, aber<br />

die will er nicht mal im Ansatz verraten.<br />

Freimütig redet er dagegen von Veranstaltungen,<br />

die er mit den Kandidaten der<br />

anderen Parteien hier in seiner Heimat absolviert.<br />

Immer wieder ergebe sich ein klarer<br />

thematischer Graben zwischen Union<br />

und FDP auf der einen und den Linken,<br />

der SPD und den <strong>Grün</strong>en auf der anderen<br />

Seite. Und „immer wieder fragen uns die<br />

Leute: Wenn ihr auf dieser Seite so einig<br />

seid, warum macht ihr es nicht zusammen?“<br />

Angela Marquardt fragt sich das<br />

auch. Regelmäßig, systematisch, hauptberuflich.<br />

Ungefähr alle drei Monate versammelt<br />

sie Bundestagsabgeordnete von SPD,<br />

<strong>Grün</strong>en und Linkspartei. Die Runde heißt<br />

r2g. Zweimal <strong>Rot</strong>, einmal <strong>Grün</strong>. Sie treffen<br />

sich gern im „Walden“, einer Kneipe im<br />

Berliner Prenzlauer Berg. Die Fassade des<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 21


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Walden ist komplett mit Efeu zugewachsen,<br />

36 Grad, Marquardt sitzt draußen, ein Bier<br />

dazu. Sie sagt: „Wir waren von Anfang an<br />

ehrlich und offen miteinander.“<br />

Marquardt wurde früher „Gysis Kleene“<br />

genannt. Anfang der Neunziger brauchte<br />

Gysi für seine Partei der alten Säcke jemanden,<br />

der Lebendigkeit verkörperte.<br />

Schwarze Kleidung, gelb-grüne Haare.<br />

Lebendiger als mit einer jungen Frau aus<br />

der Punkszene ging es nicht. Marquardt<br />

tickt schnell, sie redete so frech wie eine<br />

Jugendausgabe von Gysi. Sie wurde stellvertretende<br />

Bundesvorsitzende, kam in den<br />

Bundestag. 2003 trat sie aus, nach einer<br />

Parteitagsniederlage der Reformer.<br />

Ein paar Jahre später – sie hatte inzwischen<br />

ihr Politikstudium abgeschlossen –<br />

wurde Marquardt Mitarbeiterin im Bundestagsbüro<br />

der Sozialdemokratin Andrea<br />

Nahles. Halbe Stelle. 2007 bekam sie eine<br />

weitere halbe Stelle. Linke SPD-Abgeordnete<br />

wie Florian Pronold, Dietmar Nietan<br />

und Nahles hatten eine „Denkfabrik“ gegründet.<br />

Sie suchten sich eine Geschäftsführerin,<br />

die Kontakte zur Linkspartei<br />

hatte. Angela Marquardt. Sie organisierte<br />

2008 das erste Treffen; es war das Jahr, als<br />

Ypsilanti und Koch die Schlacht um Hessen<br />

schlugen. <strong>Rot</strong>-roter Freundeskreis? Die<br />

alten SPD-Chefs tobten. Marquardt lud<br />

Leute aus ihrer früheren Partei ein, denen<br />

sie vertraute: Halina Wawzyniak, Jan Korte,<br />

Stefan Liebich. Von der SPD kamen die<br />

Leute aus der Denkfabrik.<br />

Sie saßen zusammen und tranken<br />

Wein, später kamen <strong>Grün</strong>e dazu. Es gibt<br />

Ähnlichkeiten mit der schwarz-grünen<br />

Pizza-Connection, jener Runde junger<br />

Christdemokraten und <strong>Grün</strong>er, die sich<br />

in den Neunzigern in Bonn bei einem Italiener<br />

trafen. Auch im „Walden“ half das<br />

Alter: Die meisten waren damals unter 40.<br />

„Wir mussten nicht mehr über die Mauer<br />

diskutieren“, sagt Marquardt.<br />

2010 luden sie sogar zum rot-rot-grünen<br />

Sommerfest in Berlin-Mitte. Am Eingang<br />

lag ein rot-rot-grüner Teppich bereit.<br />

Aber die Gäste kamen und kamen<br />

nicht. An jenem Abend tagte die Bundesversammlung,<br />

ein Abstimmungsmarathon:<br />

Schwarz-Gelb für Christian Wulff, <strong>Rot</strong>-<br />

<strong>Grün</strong> für Joachim Gauck und die Linke<br />

für Luc Jochimsen, ihre Außenseiterkandidatin<br />

zur Wahl des Staatsoberhaupts. Marquardt<br />

wartete mit den Gästen von Attac,<br />

22 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Illustration: Wieslaw Smetek<br />

von Greenpeace. Doch als endlich die ersten<br />

Politiker aus dem Reichstag kamen,<br />

war klar: <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> hat nichts zu feiern,<br />

wenn die Beteiligten sich nicht mal<br />

auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten<br />

einigen.<br />

Marquardt hat weitergearbeitet. Veranstaltungen,<br />

eine Wochenendklausur in<br />

Brandenburg mit Professoren und dem<br />

Journalisten Jakob Augstein. Zu einem<br />

Abend lud sie sogar den Stasi-Akten-Beauftragten<br />

Roland Jahn ein. Empfindlichkeiten,<br />

Gemeinsamkeiten. Die Idee: r2g<br />

soll der Nukleus sein für den Tag x, wenn<br />

es doch klappt mit dem Bündnis.<br />

2013? „Nein. Eine rechnerische Mehrheit<br />

bedeutet noch lange keinen Wählerauftrag.“<br />

Marquardt ist ja nicht doof, sie<br />

kennt die Sprachregelung ihrer neuen Partei.<br />

Was ist mit 2017? Sie überlegt kurz,<br />

dann legt sie los. „Wir sind nicht mehr im<br />

Kalten Krieg. Ich bin nicht die Generation<br />

von Lafontaine und Müntefering. Ich bin<br />

nicht 70. Ich will eine politische Perspektive,<br />

die Gesellschaft verändert.“<br />

Es ist tatsächlich so: Die Zeit läuft für<br />

ein Linksbündnis. Sigmar Gabriel wird diesen<br />

September erst 54 Jahre alt. Und Träger<br />

von <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> könnten vor allem<br />

Jungpolitiker sein.<br />

Der grüne Bundestagsabgeordnete<br />

Sven-Christian Kindler ist so einer. Er<br />

wirkt äußerlich wie das Gegenteil des<br />

klassischen Altlinken mit Sandalen und<br />

Ströbele-Pulli. Smarter Auftritt, blau-weiß<br />

gestreiftes Hemd. Vermutlich stellen sich<br />

viele CDU-Kreisvorsitzende so den perfekten<br />

Schwiegersohn vor. Gerade hat er<br />

mit seiner Freundin eine Küche für die<br />

Wohnung in Hannover ausgesucht. Hannover<br />

ist sein Wahlkreis, jetzt bestellt er<br />

eine Rhabarbersaftschorle im „Café Safran“<br />

in der Calenberger Neustadt. In diesem<br />

Viertel bekamen die <strong>Grün</strong>en bei der<br />

Landtagswahl im Januar 30 Prozent. In<br />

den rot-grünen Koalitionsgesprächen gehörte<br />

Kindler zu den Unterhändlern der<br />

<strong>Grün</strong>en, bis in die Nacht ging das, er hat<br />

die Dinge kalkuliert und durchgeprüft.<br />

Denn rechnen, das kann er: duales Studium<br />

zum Betriebswirt, Controlling bei<br />

Bosch. Im Haushaltsausschuss des Bundestags<br />

lässt er sich von den Staatssekretären<br />

und Ministern die Budgetposten<br />

vortragen. Excel, SAP – und sehr links.<br />

Kostprobe? „Primat des Öffentlichen über<br />

die Wirtschaft, Umverteilung des Reichtums,<br />

sozial-ökologischer Umbau: Ich bin<br />

bei den <strong>Grün</strong>en, weil sie eine emanzipatorische<br />

linke Partei sind.“ Auch Kindler gehört<br />

zur r2g-Connection. Schwarz-<strong>Grün</strong>?<br />

„Funktioniert nicht“ – er sagt das, als wäre<br />

es das Ergebnis einer Matheaufgabe.<br />

Den rot-rot-grünen Nachwuchs verbinden<br />

gemeinsame Erlebnisse. Sie haben<br />

in Heiligendamm gegen den G-8-Gipfel<br />

protestiert, in Dresden gegen Naziaufmärsche<br />

demonstriert und im Wendland<br />

den Castor blockiert. „Wir wollen eben<br />

die Welt verbessern“, sagt Kindler. „In<br />

den nächsten Wochen kämpfen wir für<br />

starke <strong>Grün</strong>e und den Regierungswechsel<br />

mit <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>. Ich bin zuversichtlich, dass<br />

wir das schaffen. Die Diskussionen über<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 23


T i t e l<br />

strategische Mitte-Links-Projekte – auch<br />

in einer Dreierkonstellation – werden aber<br />

weitergehen.“<br />

<strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> betreiben beim <strong>Grün</strong>en-Nachwuchs<br />

nicht nur Parteilinke, sondern<br />

auch Realos wie die Bundestagsabgeordnete<br />

Nicole Maisch oder Malte Spitz,<br />

Mitglied des Bundesvorstands. Kommt es<br />

zu einem Links-Bündnis, könnten junge<br />

<strong>Grün</strong>e dieses Typs entscheidend sein: als<br />

Detailarbeiter und Organisierer. Wenn eine<br />

Regierung nicht im Chaos landen soll, helfen<br />

Tabellenkalkulationen mehr als Talkshow-Stanzen<br />

und Ticker-Erfolge.<br />

Regieren, das ist ein täglich neu erarbeiteter<br />

Kompromiss. Die Linke aber ist durch<br />

Kompromisslosigkeit groß geworden. Vor<br />

allem in der Außen- und Sicherheitspolitik.<br />

„Die Hürde heißt Nato“, sagt Niels Annen.<br />

„Da geht im Moment nichts.“<br />

Eben hat er auf der Straße eine Frau<br />

begrüßt: seine Konkurrentin von der Linken<br />

im Wahlkreis Hamburg-Eimsbüttel.<br />

„Moin“, hat er nett gerufen und hinterher<br />

gesagt: „Die ist schon okay.“ Annen arbeitet<br />

an seinem Comeback für den Bundestag.<br />

2009 hat ihn die eigene Partei bei<br />

der Nominierung abgeschossen. Er blieb<br />

im Bundesvorstand, schloss sein Studium<br />

ab und machte in Washington noch einen<br />

Master in International Public Policy,<br />

die Außenpolitik war auch im Bundestag<br />

sein Feld. Damals im Parlament störte<br />

ihn, dass viele in der SPD auf die Linke<br />

aggressiver reagierten als auf CDU, CSU<br />

und FDP. Er fand das dumm. „Die Linken<br />

durften die Märtyrer spielen“, sagt er.<br />

„Die Ausgrenzung hat nicht uns gestärkt,<br />

sondern die.“ Er redete mit den Linken.<br />

Er habe – Arbeitersohn – die gemeinsamen<br />

Wurzeln in der Sozialpolitik gesehen.<br />

„Verliebt in <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> war ich nie“,<br />

schiebt er schnell hinterher, immerhin ist<br />

ja Wahlkampf. Aber „prinzipiell und langfristig<br />

gilt schon: Je mehr Optionen, desto<br />

stärker die Partei“.<br />

Das Parteiprogramm der Linken verlangt<br />

die Auflösung der Nato. Deutschland<br />

solle aus den militärischen Strukturen des<br />

Bündnisses austreten. Kampfeinsätze: nein.<br />

Mit UN-Mandat: auch nicht. Annen hat<br />

sich mit den Forderungen beschäftigt. Er<br />

denkt nicht, dass die Linke so leicht davon<br />

runterkommt. Bis zum Kosovo-Krieg<br />

mussten SPD und <strong>Grün</strong>e erst einen Weg<br />

zurücklegen. Die SPD führte damals eine<br />

Und die Nato?<br />

Die Linke<br />

will sie doch<br />

auflösen. „Wir<br />

sind auch<br />

Realisten“, sagt<br />

Gregor Gysi<br />

Debatte, Schritt für Schritt. Die <strong>Grün</strong>en<br />

hatten in Joschka Fischer einen starken<br />

Anführer, der seinen Kurs brachial durchzusetzen<br />

vermochte. Beides sieht Annen<br />

bei den Linken nicht. Im Gegenteil: Die<br />

harte Linie in der Außenpolitik sei Alleinstellungsmerkmal<br />

– und der Kitt, der die<br />

zerstrittene Partei zusammenhält.<br />

Oder geht da doch was mit der Nato?<br />

„Dass wir das nicht durchgesetzt bekommen,<br />

wissen wir“, hat Gysi neulich im ZDF<br />

über die von seiner Partei geforderte Auflösung<br />

des Verteidigungsbündnisses gesagt.<br />

„Wir sind doch auch Realisten.“ Im Zusammenhang<br />

mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr<br />

sprach er in diesem Interview nur<br />

noch von „Kampfeinsätzen“, die die Linke<br />

nicht mitmachen könne. Ein feiner Unterschied<br />

– und ein Schritt auf die SPD zu.<br />

Gysi wieder, der Meister des Angleichens.<br />

Ob die Linkspartei in außen- und sicherheitspolitischen<br />

Fragen hart bleibt,<br />

wird stark davon abhängen, wie ihre<br />

nächste Bundestagsfraktion aussieht. Wegen<br />

des neuen Wahlrechts kann man kaum<br />

vorhersagen, wie viele ostdeutsche Reformer<br />

und wie viele Hardcore-Linke aus dem<br />

Westen ins Parlament einziehen werden.<br />

Doch erst einmal steht der 22. September<br />

bevor, der Abend der Balkendiagramme.<br />

Der rote Balken der Sozialdemokraten<br />

könnte mickrig werden. Andrea<br />

Nahles leitet offiziell als Generalsekretärin<br />

die Wahlkampagne. Sie ist Sigmar Gabriels<br />

große Hoffnung. Steinbrück wird sich<br />

nach einer Niederlage ins Private verabschieden.<br />

Irgendjemand muss den Parteivorsitzenden<br />

Gabriel vor der Wucht des<br />

Scheiterns schützen. Nahles ist als Prellbock<br />

vorgesehen. Das ist die Voraussetzung<br />

für den Plan des Sigmar Gabriel. Er<br />

braucht Schuldige, um bleiben zu können.<br />

Obwohl er selbst den Kandidaten gekürt<br />

hat. Steinbrück ist sein Kandidat. Das ist<br />

das Lindenblatt auf Gabriels Schulter, da<br />

ist er verwundbar.<br />

Nahles hat in der Partei mehr Freunde<br />

und Verbündete als Gabriel. Zu viele sind<br />

Opfer oder jedenfalls persönlich Leidtragende<br />

seiner notorischen Unzuverlässigkeit<br />

geworden. Jeder hat so sein eigenes aussagekräftiges<br />

und bitteres Sigmar-Erlebnis.<br />

Bleiben noch die beiden Landeschefs<br />

Olaf Scholz in Hamburg und vor allem<br />

Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen.<br />

Die könnte ihre Landtagswahl im Mai<br />

2017 zu einer Vorwahl machen. Gerhard<br />

Schröder hat 1997 bekanntlich die Landtagswahl<br />

in Niedersachsen genutzt, um<br />

sich als Kanzlerkandidat gegen Oskar Lafontaine<br />

durchzusetzen.<br />

Die kitzligen Wochen und Monate für<br />

Gabriel rücken näher. Hopp oder topp.<br />

Kraft darf nicht angreifen, Scholz auch<br />

nicht, Nahles darf nicht putschen. Dann<br />

wäre der Weg frei für Gabriel. Für seinen<br />

Weg zu <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>. Für seine Option.<br />

Es wäre die Vollendung des Weges, den<br />

er seit seiner Wahl zum Parteichef vor vier<br />

Jahren geht. In das Gabriel-Puzzle passt das<br />

gültige Grundsatzprogramm von 2007, in<br />

dem immer noch dieser Satz steht: „Der<br />

demokratische Sozialismus bleibt für uns<br />

die Vision einer freien, gerechten und solidarischen<br />

Gesellschaft, deren Verwirklichung<br />

für uns eine dauernde Aufgabe ist.“<br />

So würde das heute wohl nicht mal<br />

mehr Dietmar Bartsch beim Bratdorsch<br />

formulieren.<br />

Georg Löwisch<br />

ist Textchef von <strong>Cicero</strong><br />

Christoph Schwennicke<br />

ist Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Fotos: Andrej Dallmann (2)<br />

24 <strong>Cicero</strong> 9.2013


„Regieren ist immer besser“<br />

Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig über<br />

Koalitionsfragen, Klingelknöpfe und Steinbrücks Korsett<br />

Illustration: Wieslaw Smetek<br />

H<br />

err Albig, Sie sind immer in der<br />

Regierung gewesen: Ministeriumssprecher<br />

von Oskar Lafontaine,<br />

Hans Eichel und Peer Steinbrück,<br />

Oberbürgermeister von Kiel und heute<br />

Ministerpräsident von Schleswig-Holstein.<br />

Was haben Sie gegen Opposition?<br />

Regieren ist immer besser. Da bist du auf<br />

der Welle und nicht hinter ihr. Ich will<br />

gestalten und nicht nur über das meckern,<br />

was andere machen. Das überlasse<br />

ich gern der CDU.<br />

Wie will es die SPD denn überhaupt in die<br />

Bundesregierung schaffen?<br />

Mit <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>. Das ist nicht leicht, aber<br />

es kann klappen. Wenn Schwarz-Gelb<br />

zusammen zum Beispiel 43 Prozent hat,<br />

brauchen wir halt 44. Dann wird’s spannend.<br />

Viel hängt davon ab, wer sonst<br />

noch im Parlament ist. Wir sind in<br />

Schleswig-Holstein knapp ins Ziel gerauscht,<br />

<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> in Niedersachsen<br />

ebenfalls. Wir können uns das im Wahlkampf<br />

erkämpfen, von Haus zu Haus.<br />

Soll Ihre Partei an der Haustür zurückholen,<br />

was in den Medien schiefläuft?<br />

Meine Erfahrungen machen mich sicher,<br />

dass man an der Haustür Wahlen gewinnen<br />

kann. Ganz altmodisch. Man muss<br />

so vielen Menschen wie möglich die Gelegenheit<br />

geben, uns noch einmal neu<br />

kennenzulernen. Ob das reicht, um die<br />

mediale Lage – die ist, wie sie ist – auszugleichen,<br />

werden wir sehen. Aber der Berliner<br />

Journalismus überschätzt seine Wirkung<br />

in Husum oder Trappenkamp. In<br />

Berlin werden Dinge heiß diskutiert, von<br />

denen hört man in Trappenkamp nie.<br />

Ist in Trappenkamp der Fernsehempfang<br />

gestört?<br />

Der Fernsehempfang in Trappenkamp<br />

ist ausgezeichnet. Aber die Menschen haben<br />

dort auch noch was anderes zu tun,<br />

als Berliner Pressemappen zu lesen. Die<br />

Leute arbeiten, denken über ihr eigenes<br />

Leben nach. Und über Leute, die real vor<br />

ihnen stehen. Vertrauen, Wertschätzung –<br />

das braucht Kontakt. Wir unterschätzen<br />

heute die Bedeutung der uralten 1.0-Welt.<br />

Was empfehlen Sie Ihrer Partei?<br />

Hintern hoch, Wahlkampf machen –<br />

und zwar wir alle. Klingelknopf, Tür auf,<br />

und die Geschichte erzählen, an die du<br />

glaubst. Warum wir es besser können.<br />

Was ist, wenn es völlig überraschend nicht<br />

reicht zur Mehrheit von SPD und <strong>Grün</strong>en?<br />

Ich finde: Wir sollten im Bund regieren.<br />

Wir haben ein sehr klares Ziel: <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>.<br />

Wenn wir es verpassen, suchen wir nach<br />

anderen Varianten. Das kann auch eine<br />

Große Koalition sein – auch wenn sie<br />

wahrlich keiner herbeisehnt und ich bis<br />

18 Uhr am 22. September für <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong><br />

kämpfe.<br />

Dann regiert Merkel die SPD wieder runter.<br />

Wir hätten eine andere Situation. Wenn<br />

es auf 2017 zuginge, wäre Merkel schon<br />

ziemlich lange da. Hinter ihr ist in der<br />

Union gar nichts. Ist sie weg, wird das<br />

überdeutlich. In dem Moment muss<br />

die SPD in einer guten Ausgangssituation<br />

sein. Sie hat in den sechziger Jahren<br />

schon einmal bewiesen, dass sie die<br />

Union dann überholen kann.<br />

Sigmar Gabriel in der Rolle des Willy<br />

Brandt? Sie machen Witze.<br />

Wer dann welche Rolle übernimmt, ist<br />

doch jetzt nicht die Frage. Wir haben<br />

genug gute Frauen und Männer. Das<br />

primäre Wahlziel ist <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong>. Daran<br />

glaube ich – dafür kämpfe ich. Es<br />

würde uns aber nicht helfen, wenn wir<br />

sagen: Kommt <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> nicht, sind wir<br />

so beleidigt, dass wir in die Opposition<br />

gehen.<br />

Ist <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> auch eine Option?<br />

Nein. <strong>Rot</strong>-<strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> ist momentan keine<br />

Alternative. Die Linkspartei hat kein Personal,<br />

mit dem man allen Ernstes auf<br />

Bundesebene regieren möchte.<br />

Vor einem Jahr haben Sie Peer Steinbrück<br />

von der Kanzlerkandidatur abgeraten.<br />

Fühlen Sie sich bestätigt?<br />

Darum geht es doch nicht. Ich habe damals<br />

gesagt: Peer, lad dir das doch nicht<br />

auf, du hast genug geleistet. Aber er<br />

wollte das. Und das war gut so. Er ist der<br />

bessere Kanzler für unser Land. Jetzt erbringt<br />

er für uns einen wahnsinnigen<br />

Kraftakt. Das Amt ist eines der härtesten<br />

der Welt. Es zwängt einen Politiker in ein<br />

Korsett. Wir alle in der SPD haben ihn<br />

jetzt verdammt noch mal jeden Augenblick<br />

zu unterstützen, damit wir endlich<br />

wieder einen guten Kanzler haben.<br />

Haben die Berliner Medien Steinbrück<br />

kleingeschrieben?<br />

Sie verhalten sich wie immer. Sie sind opportunistisch<br />

und laufen der Stärke hinterher.<br />

Zeigt Angela Merkel irgendwann<br />

Schwäche, wird über sie auch anders geschrieben<br />

werden. Das geht ganz schnell.<br />

Das sind halt die Medien in Berlin. Aber<br />

das darf einen nicht überraschen, dass<br />

man gleich in Tränen ausbricht. Wenn<br />

man stolpert, heißt es aufstehen, Mund<br />

abwischen, weitergehen. Das geht leichter,<br />

wenn man dabei von vielen gestützt<br />

wird. Das ist jetzt unsere Aufgabe.<br />

Das Gespräch führte Georg Löwisch<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 25


T i t e l<br />

Die Angstkultur<br />

Der autoritäre Wettbewerbsstaat gedeiht. Es sind Reformen nötig, denen sich SPD und<br />

<strong>Grün</strong>e nicht entziehen dürfen. Eine Gesellschaft ohne Angst braucht Parteien mit Mut<br />

von Katja Kipping<br />

F<br />

arbenspiele und Arithmetik bestimmen<br />

die Wahlberichterstattung.<br />

Die Fragen der Journalisten<br />

und Journalistinnen drehen<br />

sich um Mehrheiten und Konstellationen,<br />

aber selten um Programmatisches<br />

oder gar um die grundlegenden Vorstellungen<br />

darüber, wie wir leben wollen.<br />

Inhalte spielen allenfalls als Bedingung<br />

eine Rolle, unter denen die Linke einem<br />

sozialdemokratischen Kanzler ins Amt verhelfen<br />

könnte.<br />

Und diese Bedingungen sind schnell<br />

benannt: flächendeckender gesetzlicher<br />

Mindestlohn von zehn Euro, eine Rente,<br />

die sicher vor Armut schützt, die Abschaffung<br />

des repressiven Hartz-IV-Sanktionsregimes,<br />

eine couragierte Besteuerung<br />

der Millionäre und der Stopp von Rüstungsexporten<br />

sowie eine friedliche und<br />

gewaltfreie Außenpolitik. Diese Forderungen<br />

sind – seien wir ehrlich – noch nicht<br />

einmal besonders radikal. Sie formulieren<br />

die Selbstverständlichkeiten einer solidarischen<br />

Gesellschaft. Gerade weil das so<br />

ist, stellt sich aber umso drängender die<br />

Frage, warum SPD und <strong>Grün</strong>e sich offenbar<br />

einem solchen Politikwechsel hin zu<br />

einer solidarischen Gesellschaft 2013 entziehen<br />

wollen.<br />

Um diese Frage zu beantworten, muss<br />

ich etwas ausholen: Der finanzmarktgetriebene<br />

Kapitalismus greift soziale Rechte sowie<br />

die ökologischen Lebensgrundlagen<br />

an. Die zunehmende Prekarisierung der<br />

Lebens- und Arbeitswelt in diesem Land<br />

hat verschiedene Gesichter: Stress im Job,<br />

das Gefühl, in immer kürzerer Zeit immer<br />

mehr schaffen zu müssen, Angst vorm Verlust<br />

des Arbeitsplatzes – und sei er noch<br />

so schlecht bezahlt –, Angst vor Hartz-IV-<br />

Sanktionen, das Gefühl, als Erwerbslose<br />

auf dem Amt nicht als Bürgerin zu gelten.<br />

Wir erleben, wie verschiedene Gruppen<br />

gegeneinander ausgespielt werden: der<br />

Arbeiter der Stammbelegschaft gegen die<br />

Leiharbeiterin, die Verkäuferin mit Dumpinglohn<br />

gegen den Erwerbslosen oder der<br />

Migrant gegen die „Deutsche“. Eine Angstkultur<br />

breitet sich aus – in Jobcentern wie<br />

in Betrieben.<br />

Auch Kinder erleben den Druck bereits<br />

in der Schule. So beklagen Eltern, dass G 8<br />

ihren Kindern die Kindheit nimmt. Die<br />

Zunahme des Niedriglohnsektors führt<br />

bei unvorhergesehenen Ausgaben schnell<br />

in die private Verschuldungsfalle zum<br />

Beispiel durch steigende Energiekosten.<br />

Selbst für Menschen mit durchschnittlichem<br />

Einkommen wird ein Zahnimplantat<br />

Illustration: Wieslaw Smetek; Foto: Picture Alliance/DPA<br />

26 <strong>Cicero</strong> 9.2013


unerschwinglich, während Menschen, die<br />

Hartz IV beziehen, sich erst gar keine neue<br />

Brille mehr leisten können. Für junge Solo-<br />

Selbstständige wiederum kann eine fehlende<br />

Kindertagesstätte existenzbedrohend<br />

werden.<br />

Diese Entwicklungen sind nicht<br />

nur – aber eben auch – eine Folge der<br />

Logik der Austeritätspolitik. Sie hat zur<br />

Agenda-2010-Politik in Deutschland geführt,<br />

die zum letzten großen Exportschlager<br />

Deutschlands werden<br />

könnte. Dort, wo die Löhne<br />

und Renten am niedrigsten<br />

und die Sozialsysteme am<br />

durchlässigsten sind, würde<br />

die Wirtschaft am besten gedeihen,<br />

so lautet das längst<br />

widerlegte Mantra. In Griechenland,<br />

Spanien und Portugal<br />

bekommen wir eine Ahnung,<br />

wohin der verordnete<br />

Dumpingwettlauf führt. Diese Austeritätspolitik,<br />

die Merkel mit Unterstützung von<br />

SPD und <strong>Grün</strong>en Europa aufzwingt, droht<br />

sowohl die deutschen Absatzmärkte in Europa<br />

kollabieren zu lassen als auch die Europäische<br />

Union zu unterhöhlen. Diese Entwicklung<br />

ist gefährlich für die Demokratie:<br />

Wo sich eine Kultur der Angst entwickelt,<br />

kann sich der Citoyen nicht entfalten. Dort<br />

gedeiht der autoritäre Wettbewerbsstaat.<br />

Wenn wir eine solidarische Gesellschaft<br />

in Deutschland und in Europa wollen,<br />

müssen aber die drängendsten Fragen<br />

grundsätzlich neu verhandelt werden. Wollen<br />

wir die Austeritätspolitik, also letztlich<br />

den Kurs der Sozial- und Lohnkürzungen,<br />

fortsetzen oder wollen wir das Öffentliche<br />

stärken? Wie gehen wir mit den Folgen der<br />

Bankenkrise 2008 um? Bürden wir diese<br />

Last den Staaten und ihren Bürgerinnen<br />

SPD und<br />

<strong>Grün</strong>e ergehen<br />

sich in<br />

kindischen<br />

Abgrenzungsritualen<br />

und Bürgern auf oder sollen die Banken<br />

als Profiteure zur Verantwortung gezogen<br />

werden?<br />

Wollen wir Einkommensgerechtigkeit<br />

befördern, indem wir einen 1:20-Einkommenskorridor<br />

in Unternehmen mit Mindest-<br />

und Höchsteinkommen einführen?<br />

Wollen wir, dass Menschen ab 65 von ihrer<br />

Rente gut leben können oder dass sie noch<br />

im hohen Alter gezwungen sind, dazuzuverdienen<br />

oder sogar Flaschen zu sammeln?<br />

Wollen wir eine Zweiklassenmedizin<br />

oder eine solidarische<br />

Bürgerversicherung?<br />

Wollen wir unterschiedliche<br />

Lebensverhältnisse in Ostund<br />

West-, in Nord- und<br />

Süddeutschland oder halten<br />

wir am Grundsatz der<br />

gleichen Lebensverhältnisse<br />

fest? Wollen wir eine bezahlbare<br />

Energiewende oder<br />

überlassen wir sie den Profitinteressen von<br />

vier Energieunternehmen? Wollen wir mit<br />

dem Export von Kriegsgütern Geld verdienen<br />

oder verzichten wir auf den Handel<br />

mit dem Tod? Sehen wir der zunehmenden<br />

Angstkultur tatenlos zu oder engagieren wir<br />

uns für eine angstfreie Gesellschaft, indem<br />

wir zum Beispiel eine sanktionsfreie Mindestsicherung<br />

einführen und die Ausbeutung<br />

durch Leiharbeit abschaffen?<br />

Gefangen in den Paradigmen der Austeritätspolitik<br />

können weder SPD noch<br />

<strong>Grün</strong>e sich diesen Fragen unvoreingenommen<br />

zuwenden. Sie stehen sich selbst<br />

im Weg. Deshalb sind sie selbst und nicht<br />

die „Vermutung vieler Menschen, dass es<br />

egal ist, ob man wählen geht oder nicht“,<br />

der größte Gegner der SPD, wie Sigmar<br />

Gabriel auf seiner Facebook-Seite vermutet.<br />

Wer sein im Vergleich zu vergangenen<br />

Jahren sozialeres Programm vom Architekten<br />

der Agenda 2010 verkaufen lässt und<br />

keine glaubhafte machtpolitische Alternative<br />

anbietet, muss sich nicht wundern,<br />

dass die Menschen die Auseinandersetzung<br />

zwischen Schwarz-Gelb und <strong>Rot</strong>-<strong>Grün</strong> als<br />

Farce empfinden.<br />

Hätten SPD und <strong>Grün</strong>e aber Mut,<br />

könnten sie mit den Glaubenssätzen der<br />

Austeritätspolitik brechen und die Auseinandersetzung<br />

gegen mächtige Lobbyinteressen<br />

um eine Gesellschaft ohne Angst<br />

annehmen. Sie könnten gemeinsam mit<br />

uns, den Gewerkschaften und den sozialen<br />

Bewegungen die grundlegenden Sozialreformen<br />

anstreben, die dafür nötig sind.<br />

Stattdessen ergehen sie sich in kindischen<br />

Abgrenzungsritualen. Eine Regierungskoalition<br />

können sie sich eher mit der Union<br />

oder gar mit der FDP als mit uns vorstellen.<br />

Damit ist eigentlich alles gesagt.<br />

So verbleibt es der Linken, wirkliche<br />

Alternativen sichtbar zu machen. Einige<br />

davon wurden inzwischen von anderen<br />

Parteien übernommen, zum Beispiel der<br />

Mindestlohn, die Finanzmarkttransaktionssteuer<br />

oder die Abschaffung der Praxisgebühr.<br />

So wirkt die Linke nicht nur<br />

als soziale Ideenwerkstatt, die Druck für<br />

soziale Reformen macht, sondern auch<br />

als Garantin der Demokratie, indem sie<br />

der Entpolitisierung durch die Konstruktion<br />

vermeintlicher Sachzwänge entgegenwirkt.<br />

Denn nur wo Alternativen zur Auswahl<br />

stehen, wird die Wahl zur Wahl und<br />

verkommt nicht zum Ritual.<br />

Katja Kipping<br />

ist Vorsitzende der Linken<br />

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Die Geschichte eines scheinbar genügsamen Lebens,<br />

in dem die großen Dinge ihren Widerhall fanden:<br />

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T i t e l<br />

<strong>Grün</strong> muss sozial sein<br />

Nachhaltigkeit als Lifestyle reicht nicht. Die Gesellschaft muss nicht nur ökologischer<br />

werden, sondern zugleich gerechter. Wir sollten extrem viel verändern<br />

von Jürgen Trittin<br />

M<br />

anche sind überrascht, dass<br />

die <strong>Grün</strong>en den Kampf für<br />

mehr soziale Gerechtigkeit<br />

in diesem Wahlkampf so<br />

stark thematisieren, etwa bei<br />

Mindestlöhnen und Leiharbeit oder bei der<br />

stärkeren Beteiligung Vermögender und<br />

Gutverdienender an der Finanzierung unseres<br />

Gemeinwesens. Die vielen Klischees<br />

über die Partei der Besserverdienenden<br />

oder angebliche Lebensstilpolitik zur Gewissensberuhigung<br />

für Privilegierte haben<br />

eines vergessen lassen: Es gab von Anfang<br />

an einen engen Zusammenhang zwischen<br />

der sozialen und der ökologischen Dimension<br />

grüner Politik.<br />

Das betrifft zum einen die Auswirkungen<br />

ökologischer Schäden. Von den besonders<br />

gravierenden menschengemachten<br />

Veränderungen – wie dem Klimawandel,<br />

der schrumpfenden Biodiversität, der Zerstörung<br />

der Böden und der Übernutzung<br />

der Ressourcen – sind zwar alle Menschen<br />

betroffen, aber eben nicht gleich stark. Ärmere<br />

und Schwächere trifft es in der Regel<br />

härter als Reichere und Stärkere.<br />

Das gilt international: Der Klimawandel<br />

verursacht schon heute in vielen armen<br />

Ländern der Südhalbkugel Konflikte um<br />

Ressourcen und Schäden durch Extremwetter.<br />

Aber das gilt auch national, denn<br />

von Feinstaub und Verkehrslärm sind die<br />

Wohngebiete der Reichen seltener und weniger<br />

betroffen. Und viele Umweltschäden<br />

treffen Generationen, die nichts mit<br />

den Ursachen zu tun hatten. Es geht bei<br />

Illustration: Wieslaw Smetek; Foto: Picture Alliance/DPA<br />

28 <strong>Cicero</strong> 9.2013


ökologischen Fragen nicht um einen Lebensstil<br />

oder um Geschmacksfragen. Es<br />

geht um die materiellen Grundlagen unseres<br />

Lebens, um Atemluft, Nahrungsmittel,<br />

Bewegungsfreiheit, Gesundheit und<br />

um die gerechte Verteilung lebenswichtiger<br />

Ressourcen. In dieser Betrachtungsweise,<br />

einer Art ökologischem Materialismus,<br />

sind gerechte und nachhaltige Politik<br />

nicht voneinander zu trennen.<br />

Ein weiterer Zusammenhang ist eher<br />

instrumentell. Um eine nachhaltige Wirtschaftsweise<br />

zu erreichen, müssen wir extrem<br />

viel verändern. Wir müssen als Gesellschaft<br />

unsere Energieerzeugung, unseren<br />

Verkehr, unsere Chemieindustrie und den<br />

Maschinenbau, unsere Ressourcenverwendung<br />

und -verschwendung drastisch umgestalten.<br />

Dieser Umbau hat in Deutschland<br />

und vielen anderen Ländern der Welt gerade<br />

erst begonnen, der Weg<br />

ist noch weit.<br />

Der grüne Wandel ist ein<br />

wichtiges und historisches<br />

Menschheitsprojekt, das begeistern<br />

kann. Er bringt viele<br />

soziale Vorteile mit sich: Gerade<br />

Menschen mit geringen<br />

Einkommen profitieren davon,<br />

wenn wir unseren Strom<br />

oder unsere Wärme unabhängig<br />

machen von immer<br />

teurer werdenden fossilen<br />

Brennstoffen. Und der ökologische<br />

Wandel schafft neue<br />

Arbeitsplätze und sichert damit<br />

auch Wohlstand und sozialen<br />

Zusammenhalt. Aber: Der Wandel<br />

verlangt den Menschen auch einiges ab.<br />

Umbau heißt Aufbau und Abbau. Viele<br />

müssen sich umstellen, auf neue Technologien<br />

und Verhaltensweisen einstellen.<br />

Dieser Wandel kann nur gelingen, wenn<br />

er breiten Rückhalt in der Bevölkerung hat.<br />

Und den hat er nur, wenn es dabei gerecht<br />

zugeht. Kosten, Lasten und Chancen müssen<br />

gerecht verteilt und verhandelt werden.<br />

Sonst findet der ökologische Umbau keine<br />

Akzeptanz.<br />

Schließlich ergibt sich ein Zusammenhang<br />

aus sozialer Gerechtigkeit und Ökologie<br />

aus der Entwicklungstendenz sehr ungleicher<br />

Gesellschaften. Der Kapitalismus<br />

kann als Wohlstandsmaschine wirken, tendiert<br />

aber zu einer sehr ungleichen Verteilung<br />

des Wohlstands. Seine Vermählung<br />

Weil grüne<br />

Politik sozial<br />

orientiert<br />

ist, passt sie<br />

schlecht zu<br />

konservativmarktliberalen<br />

Parteien<br />

mit der Demokratie und ihren Teilhabeansprüchen<br />

aller Bürgerinnen und Bürger<br />

ist immer spannungsvoll gewesen, wie<br />

der Wirtschaftssoziologe Wolfgang Streeck<br />

in seinem aktuellen Buch „Gekaufte Zeit“<br />

treffend analysiert hat.<br />

Der Kapitalismus steuert Gesellschaften<br />

über Markt, Preissignale und Gewinnmotiv,<br />

die Demokratie über Debatte, Institutionen<br />

und Gesetzgebung. Markt<br />

erzeugt Wohlstand, aber auch Gewinner<br />

und Verlierer, Macht und Ungleichheit.<br />

Demokratie verspricht dagegen die<br />

universale Teilhabe aller und stärkt egalitäre<br />

Tendenzen. Über mehrere Jahrzehnte<br />

konnte die Spannung nur durch Hilfsmittel<br />

aufgelöst werden, die das Problem in<br />

die Zukunft verschoben: Inflation, Schulden,<br />

Wachstum. Der Staat konnte gegenüber<br />

dem Markt universale Teilhabe nicht<br />

ausreichend über Steuern und öffentliche<br />

Güter durchsetzen, half sich<br />

also gelegentlich über Inflation<br />

und regelmäßig über<br />

Verschuldung. Diese beiden<br />

Wege sind nicht nachhaltig,<br />

und ihre langfristigen Auswirkungen<br />

sind ebenfalls<br />

ungerecht.<br />

Umstritten ist heute die<br />

Wachstumsperspektive. Sie<br />

erzeugt Akzeptanz für hohe<br />

Ungleichheit durch das Versprechen<br />

auf zukünftige Teilhabe.<br />

Dieses Versprechen<br />

wird noch geglaubt – ist<br />

aber immer hohler geworden.<br />

Die ungleiche Verteilung<br />

von Wohlstand und Chancen durch<br />

ein Marktergebnis, das auf Gerechtigkeit<br />

nicht achtet und nicht achten kann, wurde<br />

jahrzehntelang akzeptiert, da es in Zukunft<br />

für alle aufwärtsgehen sollte. Diese Perspektive<br />

aber wird heute durch ökologische<br />

Grenzen und das hohe Entwicklungsniveau<br />

vieler westlicher Gesellschaften eingeschränkt.<br />

Seit Jahrzehnten sinken die<br />

Wachstumsraten in den entwickelten kapitalistischen<br />

Staaten – ganz ohne Eingriffe<br />

grüner Wachstumskritiker.<br />

Aufgrund der strukturellen Wachstumsabhängigkeit<br />

unserer Gesellschaften<br />

ist Politik immer wieder in der Versuchung,<br />

Wachstum künstlich zu erzeugen, obwohl<br />

die Instrumente ökologisch schädlich sind<br />

und die Effekte keinen echten Gewinn an<br />

Wohlstand und Lebensqualität bieten. Ein<br />

schlechtes Beispiel: die Abwrackprämie<br />

für Altautos ohne jede ökologische Steuerungskomponente.<br />

Eine gleichmäßigere<br />

Verteilung des gesellschaftlich produzierten<br />

Wohlstands ist nicht nur in sich gerechter,<br />

sie mindert auch den Wachstumsdruck<br />

durch extreme Statusdifferenzen<br />

und weckt weniger Ansprüche durch die<br />

materielle Kluft zum Nachbarn. Balanciertere,<br />

weniger ungleiche Gesellschaften<br />

können umsichtiger mit ihren Ressourcen<br />

umgehen, müssen weniger neurotisch auf<br />

Wachstumsraten starren und müssen nicht<br />

unökologische Wachstumsmaßnahmen ergreifen,<br />

um ihren Bevölkerungen Teilhabeperspektiven<br />

zu geben.<br />

Wegen dieses dreifachen inneren Zusammenhangs<br />

muss jede ökologische<br />

Transformation eine soziale Transformation<br />

einschließen. Das ist der Hintergrund<br />

auch für die ambitionierten grünen Vorschläge<br />

in der Haushalts- und Steuerpolitik.<br />

Sie ist aber nur ein Baustein der sozialen<br />

und ökologischen Transformation, die wir<br />

in diesem Wahlkampf den grünen Wandel<br />

nennen. Dazu gehört auch Politik für gerechte<br />

Löhne, für eine gerechte Verteilung<br />

der Kosten der Energiewende, gegen Monopoltendenzen<br />

in Energie- oder Finanzmärkten,<br />

für besser verteilte Chancen über<br />

eine gut finanzierte Bildungspolitik.<br />

Auch weil grüne Politik also in sich selbst<br />

schon sozial orientiert ist, ist unser Programm<br />

koalitionspolitisch eher anschlussfähig<br />

an sozialdemokratische Politik als<br />

an konservativ-marktliberale Parteien mit<br />

ihrem hierarchischen Gesellschafts- und<br />

Wirtschaftsverständnis. Spannungen mit<br />

der SPD gibt es industriepolitisch und in<br />

der Wachstumsfrage natürlich immer wieder,<br />

doch auch da ist die Nähe zu einer<br />

ökologisch lernfähigen SPD am größten,<br />

wie die Debatte in der Enquete-Kommission<br />

des Deutschen Bundestags zu „Wohlstand,<br />

Wachstum, Lebensqualität“ gezeigt<br />

hat. Unsere klare rot-grüne Koalitionsaussage<br />

leitet sich aus der grünen Programmatik<br />

ab.<br />

Jürgen Trittin<br />

ist Spitzenkandidat der <strong>Grün</strong>en<br />

und Fraktionschef im Bundestag<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 29


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Der Anachronist<br />

Geheimdienste wollen allwissend und allzuständig sein. Ulrich Birkenheiers MAD fällt da ein bisschen raus<br />

von Hartmut Palmer<br />

V<br />

on dem freundlichen Herrn geht<br />

keine Gefahr aus. Wie er da in<br />

seinem Büro steht, sieht er weder<br />

mächtig noch geheimnisvoll aus. Eher wie<br />

Loriot in der Rolle eines deutschen Beamten:<br />

Brille, graues Haar, akkurat gepflegter<br />

Oberlippenbart. Ulrich Birkenheiers Arbeitszimmer<br />

liegt in einer Kölner Kaserne.<br />

An den Wänden Ölbilder und Aquarelle,<br />

Landschaften und Stadtansichten, die Godesburg,<br />

der Kölner Dom, eine Fantasielandschaft.<br />

Im Regal einige sitzende Akte<br />

aus Ton. „Meine Frau hat die gemacht“,<br />

sagt der Präsident, „sie malt und töpfert.“<br />

Seit einem Jahr ist der 64 Jahre alte<br />

Jurist Chef des Militärischen Abschirmdiensts,<br />

kurz: MAD. Angesichts der Tatsache,<br />

dass sogar befreundete Staaten die<br />

Deutschen exzessiv ausspähen, kann man<br />

sich fragen, ob nicht das ganze Land einen<br />

Dienst gebrauchen könnte, der es ein wenig<br />

abschirmt. Aber das wäre wohl nicht<br />

nur in technischer Hinsicht zu viel verlangt<br />

vom MAD, denn seine Zuständigkeiten<br />

sind streng auf die Bundeswehr beschränkt.<br />

In der Affäre rund um das amerikanische<br />

Abhörprogramm blieb Birkenheiers Kölner<br />

Behörde bisher außen vor. Als Kanzleramtsminister<br />

Ronald Pofalla und die<br />

Chefs der Geheimdienste BND, Verfassungsschutz<br />

und MAD vor das Parlamentarische<br />

Kontrollgremium des Bundestags<br />

zitiert wurden, schaute Birkenheier nur zu.<br />

Hat er doch etwas von den Schnüffeleien<br />

der US-Geheimdienste gewusst?<br />

Steht in den Umlaufmappen, die auf seinem<br />

Schreibtisch liegen, irgendetwas über<br />

„Prism“ oder „Tempora“? War er überrascht?<br />

„Wir hatten und haben hierzu keine<br />

konkreten Erkenntnisse“, sagt Birkenheier,<br />

„aber wenn es in dem Umfang, wie es in den<br />

Medien steht, stattgefunden haben sollte,<br />

dann würde mich das sehr überraschen.“<br />

Das würde zum Ruf des MAD passen.<br />

Dessen Markenzeichen war schon immer<br />

die Ahnungslosigkeit – das wurde nicht<br />

erst bei der Aufklärung der NSU-Morde<br />

klar. FDP, Linkspartei und <strong>Grün</strong>e wollen<br />

die Behörde, die Verteidigungsminister<br />

Thomas de Maizière untersteht, abschaffen.<br />

Nur die Union und die Wehrexperten<br />

der SPD halten zu den etwa 1200 Beamten,<br />

die die Truppe vor Spionen, Terroristen<br />

und rechts- und linksradikalen Extremisten<br />

bewahren sollen – neuerdings auch vor gewaltbereiten<br />

Islamisten. Verfassungsschutz<br />

und – im Ausland – der Bundesnachrichtendienst<br />

könnten das genauso gut, sagen<br />

die Gegner. Der MAD-Präsident hält tapfer<br />

dagegen. „Wir sind in die Bundeswehr<br />

integriert. Und diese Nähe ermöglicht uns<br />

Einblicke, die eine andere Behörde, etwa<br />

der Verfassungsschutz, niemals bekäme.“<br />

Ulrich Birkenheier, im September 1949<br />

in Bad Kreuznach als Sohn eines Malermeisters<br />

geboren, wollte nach dem Abitur<br />

raus aus dem engen Nahetal. Er kam bis<br />

Bonn. Dort gehört er heute zu den Beamten<br />

der alten Bundeshauptstadt, die man<br />

bei Premieren im Theater oder in der Oper<br />

sieht. Er liebt Musik und Kunst und hat für<br />

die Bonner Bühnen ein Jahresabonnement.<br />

Die Beamtenlaufbahn des Juristen im<br />

Verteidigungsministerium verlief unauffällig.<br />

Personalabteilung, Rechtsabteilung,<br />

schließlich musste er als Vertreter des Ministeriums<br />

die Berliner Untersuchungsausschüsse<br />

beobachten, in denen es um den<br />

nach Guantánamo verschleppten Deutschen<br />

Murat Kurnaz und um den Luftangriff<br />

im afghanischen Kunduz ging. Seitdem<br />

kennt ihn die Spitze des Hauses als<br />

politisch zuverlässigen Juristen. Als der frühere<br />

MAD-Chef Karl-Heinz Brüsselbach<br />

2012 pensioniert wurde, brauchte de Maizière<br />

einen skandalfreien Nachfolger.<br />

Keiner seiner Vorgänger gab den Medien<br />

Interviews, geschweige denn Auskünfte<br />

über sich selbst. Birkenheier geht<br />

in die Offensive. „Nur wer weiß, was wir<br />

machen, kann unsere Arbeit verstehen.“<br />

Vor einem Jahr erschien im Bundeswehrmagazin<br />

Y eine mit Comics illustrierte Titelgeschichte<br />

über „Die Welt des MAD“.<br />

Soldatinnen und Soldaten werden auf die<br />

Gefahren hingewiesen. „Jeder hat irgendeine<br />

Schwäche: Geld, Sex, Drogen, Karriere“,<br />

heißt es da. Gezeigt wird im dazugehörigen<br />

Comic eine vollbusige russische<br />

Schönheit in hauchdünner Bluse, die einen<br />

Bundeswehrsoldaten verführen will,<br />

Geheimnisse zu verraten – das passt in jeden<br />

Soldatenspind.<br />

Nur nicht in die Zeit. In einer Welt, in<br />

der Datenströme systematisch abgegriffen<br />

und analysiert werden, klingen Warnungen<br />

vor verführerischen Agentinnen etwas<br />

anachronistisch. Allerdings hat ein so altmodischer<br />

Dienst auch das Beruhigende einer<br />

früheren Welt, etwa so, wie wenn man<br />

sich abends im Fernsehen noch mal einen<br />

James Bond mit Sean Connery anschaut.<br />

„Geld und Sex“, sagt Birkenheier, „das<br />

ist etwas, das immer noch zieht, nach wie<br />

vor.“ Allerdings hätten Agentenfilme, in<br />

denen es fast immer um Geld, Sex und<br />

Verrat geht und die er sich auch mal gerne<br />

anschaue, „mit der Realität nichts zu tun“.<br />

Der Alltag eines MAD-Agenten ist viel<br />

banaler. Das fängt schon mit der Frage an,<br />

ob der Verfassungsschutz zuständig ist oder<br />

der MAD. Wenn sich die vollbusige Comic-Spionin<br />

nicht dem Soldaten, sondern<br />

beispielsweise dem Ingenieur von Rheinmetall<br />

zuwenden würde, der gerade dabei<br />

ist, einer tolle neue Panzerkette zu erfinden,<br />

wäre der MAD aus dem Spiel. Für Zivilisten<br />

ist der Verfassungsschutz zuständig.<br />

Nicht zuständig zu sein, ist manchmal<br />

aber auch nicht das Schlechteste. Mit den<br />

Drohnen, die seinem Minister gerade Verdruss<br />

bereiten, hatte er zum Glück nichts<br />

zu tun. „Es gibt Dinge“, sagt der Geheimdienstchef<br />

und lacht, „die muss man nicht<br />

unbedingt an der Backe haben.“<br />

Hartmut Palmer<br />

ist politischer Chefkorrespondent<br />

von <strong>Cicero</strong><br />

Fotos: Frank Schoepgens für <strong>Cicero</strong>, Andrej Dallmann (Autor)<br />

30 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Prism? „Geld<br />

und Sex ist das,<br />

was zieht“, sagt<br />

Geheimdienstchef<br />

Birkenheier<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 31


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Ein EinsameR Putschist<br />

Dirk Niebels Aufstand in der FDP ging daneben. Bleibt er Minister? Er meldet schon mal Ansprüche an<br />

von Werner Sonne<br />

E<br />

inst war er mit einem klapprigen<br />

Auto in Israel angekommen,<br />

um in einem Kibbuz zu arbeiten;<br />

gleich nach Abschluss der Schule war das.<br />

Jetzt landet er in einem schicken Regierungsjet<br />

in Tel Aviv. Ein Moment der Nostalgie<br />

muss das für Dirk Niebel sein, denn<br />

es ist das letzte Mal, dass er als Minister den<br />

Nahen Osten im Airbus der Luftwaffe bereisen<br />

darf. Oder doch nicht?<br />

Beim Dreikönigstreffen im Januar hat<br />

der Entwicklungsminister zum Putsch gegen<br />

FDP-Parteichef Philipp Rösler aufgerufen.<br />

Ein neues Führungsteam müsse<br />

her. „Es zerreißt mich innerlich, wenn ich<br />

den Zustand meiner Partei sehe“, schleuderte<br />

er Rösler entgegen. Von da an ging’s<br />

bergab. Nicht mit Rösler, sondern mit Niebel.<br />

Denn Rainer Brüderle verweigerte sich<br />

dem Putschisten, und die Partei strafte Niebel<br />

ab. Beim Parteitag im März flog der<br />

ehemalige Fallschirmjäger aus der Führungsriege<br />

der FDP.<br />

Dem „Dirk“ als Minister werde dort<br />

„keiner eine Träne nachweinen“, meint einer<br />

aus der FDP-Spitze. Sein Nachfolger<br />

im FDP-Präsidium Wolfgang Kubicki<br />

sagt sarkastisch, er bewundere Niebels Geschichtskenntnisse,<br />

weil er doch mit seiner<br />

Fallschirmjägermütze auf Kreta und in Namibia<br />

aufgetreten sei – beides Orte blutiger<br />

deutscher Militäraktionen. „Auf die Idee<br />

muss man kommen“, ätzt Kubicki.<br />

Im Bus vom Flughafen nach Jerusalem<br />

gibt es sie wieder als Souvenir für die<br />

Mitreisenden: eben diese Fallschirmjägermütze,<br />

sein Markenzeichen, das Original<br />

hat er dem Haus der Geschichte in Bonn<br />

vermacht. Ein Abschiedsgeschenk?<br />

Nicht, wenn es nach Dirk Niebel geht,<br />

der auf dieser Reise auf einen breitkrempigen<br />

Sonnenhut ausgewichen ist. Bei politischen<br />

Gesprächen, einer Grundsteinlegung<br />

für eine Schule, der Eröffnung eines<br />

Klärwerks im Westjordanland und einem<br />

Frühstück mit israelischen Wirtschaftsbossen<br />

bringt er immer wieder eine Botschaft<br />

unter, die mindestens so an die Delegation<br />

der deutschen Mitreisenden wie an seine<br />

lokalen Gesprächspartner gerichtet ist: Mit<br />

mir ist noch zu rechnen, eine Kampfansage<br />

Richtung Berlin.<br />

Ganz so aussichtlos ist Niebels Lage<br />

nicht mehr. Er hat sich zum Spitzenkandidaten<br />

der Liberalen in Baden-Württemberg<br />

für die Bundestagswahl hochgekämpft.<br />

Die Südwest-FDP ist zwar tief zerstritten,<br />

hat aber als zweitgrößter Landesverband<br />

einigen Einfluss in der Partei. Auch Niebel<br />

glaubt freilich nicht an Wunder. Nein,<br />

ein Ergebnis von 18,8 Prozent wie 2009 in<br />

Baden-Württemberg werde es wohl nicht<br />

wieder. Aber: „Zweistellig muss es in jedem<br />

Fall werden.“ Er sei überzeugt, dass<br />

er im Ländle mit einem guten Ergebnis<br />

dazu beitragen werde, eine Mehrheit für<br />

Schwarz-Gelb zu erreichen. „Und ich sehe<br />

nicht, dass gute Leistung dann nicht auch<br />

entsprechend belohnt werden sollte.“<br />

Mit anderen Worten: Wer käme an<br />

Niebel als Minister vorbei? Rösler etwa?<br />

Da wird Niebel trotzig: „Ich bin überzeugt,<br />

dass Philipp Rösler genau weiß, wer gute<br />

Arbeit geleistet hat. Und welche Landesverbände<br />

er braucht, um eine vernünftige<br />

Regierungspolitik zu betreiben, die liberal<br />

unterlegt ist.“ Noch Fragen, Herr Rösler?<br />

Nun gibt es noch die Chefin im Ring.<br />

Warum sollte Angela Merkel den Liberalen<br />

– falls es erneut für Schwarz-Gelb<br />

reicht – noch einmal fünf Ministerien zubilligen,<br />

wenn die FDP um mehr als die<br />

Hälfte schrumpft? Selbst an der FDP-<br />

Spitze rechnet man fest mit nur drei Ressorts:<br />

Außenpolitik, Justiz und Wirtschaft,<br />

sprich Westerwelle, Leutheusser-Schnarrenberger<br />

und Rösler.<br />

Auch da gibt sich der Fallschirmjäger-Hauptmann<br />

der Reserve kämpferisch:<br />

„Wenn man die Alternativen der Union betrachtet,<br />

muss man zur Kenntnis nehmen,<br />

dass bei einer sogenannten Großen Koalition<br />

natürlich viel mehr Minister abgegeben<br />

werden müssten als bei der Fortsetzung<br />

dieser erfolgreichen Regierung. Es spricht<br />

also nichts gegen die Beibehaltung der bisherigen<br />

Aufteilung.“<br />

In seiner eigenen Partei sehen ihn dagegen<br />

manche nur noch in einer „gehobenen<br />

Funktion in der Fraktion“. Den Vorsitz<br />

der FDP im Bundestag dürfte Brüderle<br />

behalten. Ein Ausweg wird gesucht: Weg<br />

mit Niebel zu einer internationalen Organisation<br />

ist ein Modell. Ein anderer Ausweg<br />

wäre, so räsoniert einer in der FDP-Spitze,<br />

vielleicht doch die Zusammenlegung von<br />

Außen- und Entwicklungsministerium,<br />

mit einem Dirk Niebel als Staatsminister<br />

unter Westerwelle. Wäre das nicht genau<br />

das, was er früher gefordert hat – die Auflösung<br />

eben des Entwicklungsministeriums?<br />

Heute will Niebel daran nicht erinnert<br />

werden. Im Gegenteil. Warum möchte er<br />

ausgerechnet in diesem Amt weitermachen?<br />

„Weil ich noch nicht fertig bin.“<br />

Nach außen hat er in seiner Amtszeit<br />

Schlagzeilen gemacht, weil er einen Teppich<br />

im BND-Flugzeug von Afghanistan<br />

unverzollt nach Deutschland bringen ließ<br />

(für den dann gar kein Zoll fällig war) und<br />

weil er auch FDP-Parteifreunde in seinem<br />

zuvor tiefroten Ministerium unterbrachte.<br />

Seine Reformen, die Zusammenlegung<br />

der Entwicklungshilfegesellschaften, finden<br />

auch bei der Opposition Anerkennung.<br />

Nun will er endlich die Reformen im internationalen<br />

Bereich angehen.<br />

Niebel will’s noch mal wissen. Wenn sie<br />

ihn lassen würden. „Wenn ich nicht Optimist<br />

wäre, wäre ich nicht in der FDP.“<br />

Dass er sich für hohe Ämter berufen<br />

hält, wird klar, wenn man in seinem Noch-<br />

Ministerium anruft. Die Musik in der Warteschleife<br />

kommt von Tim Bendzko: „Muss<br />

nur noch kurz die Welt retten …“<br />

Werner Sonne<br />

ist Journalist und Buchautor.<br />

Er wurde als Auslands- und<br />

Hauptstadtkorrespondent der<br />

ARD bekannt<br />

Fotos: Maurice Weiss/ostkreuz für <strong>Cicero</strong>, Herby Sachs/WDR (Autor)<br />

32 <strong>Cicero</strong> 9.2013


„Wenn ich<br />

nicht Optimist<br />

wäre, wäre<br />

ich nicht in<br />

der FDP“<br />

Dirk Niebel zu seinen Chancen,<br />

Bundesminister zu bleiben<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 33


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Planet Röschen<br />

Ursula von der Leyen lebt in ihrer eigenen Welt, ihr Ego bringt Parteifreunde auf. Wie wurde sie so?<br />

von Constantin Magnis<br />

U<br />

rsula von der LeyeN ist vier<br />

Jahre alt, als sie ihrer Mutter von<br />

einem sonderbaren Traum erzählt.<br />

Darin sagt sie: „Vater im Himmel,<br />

ich breche die Wolken! Und ich brach die<br />

Wolken! Und da sagte ich: Vater im Himmel,<br />

ich breche die Tür! Und ich brach die<br />

Tür! Als die Tür gebrochen war, schwebte<br />

ich dem Himmel entgegen, und ich wurde<br />

ein Engel. Kleine braune Flügel hatte ich,<br />

und eine kleine, weiße Unterhose …“<br />

Was Heidi Adele Albrecht, Frau des<br />

späteren niedersächsischen Ministerpräsidenten<br />

Ernst Albrecht, da 1963 von ihrer<br />

Tochter notiert, liest sich wie ein Bild<br />

für deren spätere politische Reise. Wo andere<br />

sich Jahrzehnte nach oben arbeiteten,<br />

vollzieht Ursula von der Leyen in wenigen<br />

Jahren ihren himmelfahrtsähnlichen<br />

Aufstieg an die Spitze der CDU. Auf dem<br />

Weg nach oben, so schien es, brach jede<br />

Tür, die sie beschlossen hatte einzurennen,<br />

selbst wenn die eigene Partei von innen<br />

dagegendrückte.<br />

Aber jetzt, kurz vor der Wahl, hat sie<br />

einen entscheidenden Punkt erreicht. In<br />

einer inzwischen von Kronprinzen völlig<br />

bereinigten CDU wirkt die Arbeitsministerin<br />

auf einmal wie die Einzige, die Merkel<br />

im Notfall beerben könnte. Doch es<br />

ist auch kühl und einsam um sie geworden.<br />

Ihre Alleingänge zu Rente und Frauenquote<br />

haben sie Sympathien in der Partei<br />

gekostet. In Berlin würden ihr nach<br />

wiederholten Flügelstürmen nicht wenige<br />

Kollegen von Herzen einen Absturz gönnen.<br />

Was die Kanzlerin von all dem hält,<br />

dürfte sich nach der Wahl zeigen, wenn<br />

klar wird, ob die Ministerin Macht hinzugewinnt<br />

oder verliert. Stagnieren wäre<br />

schon auffällig für von der Leyen.<br />

Auch Merkel gilt als überrascht davon,<br />

wie rigoros von der Leyen der Partei<br />

ihre Linie aufdrücken will. Überraschungen<br />

mag die Kanzlerin nicht, die Neigung<br />

zu Alleingängen auch nicht gerade. Ausgerechnet<br />

Eigenschaften, die von der Leyens<br />

Aufstieg bisher angetrieben haben, könnten<br />

sie zu Fall bringen: das enorme Selbstbewusstsein<br />

der Ministerin, diese Überzeugung,<br />

eine Sonderrolle zu spielen, ja<br />

geradezu herausragen zu müssen. Wer verstehen<br />

will, wie sie so wurde, muss ganz<br />

von vorne anfangen.<br />

Schon die zitierten Tagebucheinträge<br />

ihrer inzwischen verstorbenen Mutter sind<br />

ein Indiz. Allein dass sie veröffentlicht wurden,<br />

zeugt von einer Familie, die auch ihr<br />

Privates als bereichernd für die Allgemeinheit<br />

empfindet und die Äußerungen ihrer<br />

Kinder für verewigungswürdig. Ursula<br />

Gertrud, Spitzname „Röschen“, ist<br />

die Dritte von sieben Geschwistern. Sie<br />

wird 1958 geboren, in Brüssel, wo ihr Vater<br />

Ernst Albrecht, Kosename „Percy“, für<br />

die EU-Vorgängerin EG arbeitet. Zu Ursulas<br />

Geburt notiert die Mutter: „Wie kann<br />

ich anders als Dich nun auch als liebe, zarte<br />

Rosenblume an mein Herz zu drücken! Du<br />

bist ein sensationelles Baby: Das erste Kind,<br />

das sich nicht ins Leben hineinschreit, sondern<br />

von einem friedlichen Schlummer in<br />

den anderen gleitet. (…) Dein bevorzugter<br />

Laut, den die Brüder ständig nachahmen:<br />

ereeh, ereeh!“<br />

Die Albrechts sind ein eleganter, großbürgerlicher<br />

Clan, tief gläubige Protestanten,<br />

es wird gemeinsam gebetet und<br />

gesungen, abends liest das Ehepaar sich gegenseitig<br />

Platon vor, am Wochenende jagt<br />

„Percy“ Fasanen beim belgischen Adel. Auf<br />

den jährlichen Familienfesten wird Charade<br />

gespielt und Quadrille getanzt, es<br />

werden Polonaisen durch Lampion-geschmückte<br />

Staudengärten veranstaltet und<br />

Bocciarunden auf dem Krokettrasen. Zu jedem<br />

Fest führen die Kinder Theaterstücke<br />

auf, die von ihrer Mutter geschrieben wurden.<br />

Es wird dem Auftreten der späteren<br />

Politikerin nicht geschadet haben.<br />

Ihre wohl erste Führungsrolle bekommt<br />

Ursula mit 13 Jahren. Da stirbt ihre kleine<br />

Schwester Benita an Krebs. „Röschen“ ist<br />

jetzt das einzige Mädchen im Haus und<br />

kümmert sich um ihre Brüder. Im selben<br />

Jahr zieht die Familie von Belgien nach<br />

Niedersachsen, wo Ernst Albrecht 1976<br />

überraschend zum Ministerpräsidenten gewählt<br />

wird. Die Albrechts werden die „First<br />

Family“ des Bundeslands, und Ursula ist<br />

die strahlende Prinzessin. Im Dorf Beinhorn<br />

hinter Hannover baut Albrecht eine<br />

Klinkervilla mit geziegeltem Obergeschoss.<br />

Sie nennen das Haus „Tundrinsheide“.<br />

Das weitläufige Anwesen zwischen Pferdekoppeln<br />

und uralten Eichen wird bald<br />

zum mythischen Sitz der Familie und zu ihrer<br />

Bühne: Regelmäßig erscheinen Homestorys<br />

der Albrechts, „Röschen“ muss mit<br />

den Geschwistern Jägerlieder im NDR-<br />

Fernsehen singen, 1978 nimmt die ganze<br />

Familie die Schlager-Platte „Wohlauf in<br />

Gottes schöne Welt“ auf. Kommen Parteifreunde<br />

zu Besuch, werden die Kinder<br />

aufgereiht, um unter der Regie ihrer Mutter<br />

Hauskonzerte zu geben, Ursula meist<br />

am Klavier. Mancher Besucher verkneift<br />

sich währenddessen ein Grinsen. „Albrechts<br />

haben das Familienleben von 1918<br />

kultiviert“, sagt ein CDU-Mann, der oft<br />

dort war. „Das war nicht von dieser Welt.<br />

Ein völlig eigenes Universum. Das macht<br />

es Röschen bis heute schwer, den Zugang<br />

zu ganz normalen Familien zu finden.“<br />

Selbst auf Tundrinsheide, diesem Heimatplaneten<br />

im Albrecht-Universum, bekommt<br />

Röschen eine Sonderrolle: Die verbliebene<br />

Tochter gilt als Augapfel ihres Vaters.<br />

Im kleinen Kreis spricht er oft von ihr, über<br />

die fünf Söhne weniger. „Röschen“ hockt<br />

nachmittags auf der Haustreppe und wartet,<br />

bis ihr Vater nach Hause kommt. Während<br />

die Brüder bei Besprechungen rausgeschickt<br />

werden, erleben Besucher, wie Ursula<br />

unterm Schreibtisch ihres Vaters sitzen bleiben<br />

darf. Trotzdem wird auch sie zu eiserner<br />

Disziplin erzogen. In der Schule wird<br />

maximaler Fleiß erwartet, ein Studium ist<br />

selbstverständlich, die Promotion erwünscht.<br />

Heidi Adele Albrecht erzählt der Bild, wie sie<br />

Foto: Anatol Kotte/Laif<br />

34 <strong>Cicero</strong> 9.2013


„Als die Tür<br />

gebrochen<br />

war, wurde<br />

ich ein<br />

Engel“<br />

Ursula von der Leyen<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 35


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

ihren Sohn Harald einmal zur Strafe ohne<br />

Handschuhe Brennnesseln pflücken schickt.<br />

Fernsehen, berichten Nachbarn, durften die<br />

Kinder kaum, Micky Maus lesen auch nicht.<br />

Spielkameraden erinnern sich, dass die Albrecht-Buben<br />

Kalender hatten, in die sie Termine<br />

zum Spielen notierten.<br />

Ungewöhnlich wird bald auch das Leben<br />

im Dorf um Tundrinsheide herum.<br />

Als Schutz vor der RAF wird in Beinhorn<br />

ein eigenes Polizeirevier installiert. Zwölf<br />

Beamte und zwei Autos patrouillieren die<br />

Straßen, die Kinder werden im Streifenwagen<br />

zur Schule gefahren, der Ort wird zur<br />

Burg der Albrechts.<br />

Ursula ist an der Schule eine Überfliegerin,<br />

überspringt eine Klasse, macht mit<br />

17 Jahren Abitur, Note 0,7. Ein normaler<br />

Studienalltag ist nicht möglich: Weil die<br />

Gefahr durch die RAF steigt, muss sie von<br />

Göttingen nach London wechseln, wo sie<br />

unter falschem Namen und bewacht von<br />

Scotland Yard studiert. Erst 1990, als Ernst<br />

Albrecht abgewählt wird, wird das Polizeirevier<br />

aufgelöst, das Wachhaus abgerissen,<br />

die Flutlichtanlage abmontiert. In Beinhorn<br />

kehrt Ruhe ein.<br />

Aber Ende der Neunziger wird „Röschen“,<br />

inzwischen verheiratet, Medizinerin<br />

und Mutter von sieben Kindern, von ihrer<br />

Herkunft eingeholt. In Hannover knirscht es<br />

zwischen Fraktionschef Christian Wulff, katholisch,<br />

und dem Lager seines Vorgängers<br />

Jürgen Gansäuer, evangelisch, zu dem auch<br />

Wilfried Hasselmann gehört, CDU-Ehrenvorsitzender<br />

in Niedersachsen und Ernst<br />

Albrechts rechte Hand. Albrechts Begeisterung<br />

für seine Tochter ist bekannt, in kleiner<br />

Runde schwärmt er davon, wie es Strauß gelungen<br />

sei, seine Tochter Monika in der Politik<br />

unterzubringen. Als Wulff „Röschen“ auf<br />

einmal in sein Kompetenzteam beruft, zieht<br />

er Albrecht – und damit Hasselmann – auf<br />

seine Seite und neutralisiert so schlagartig<br />

seine parteiinternen Gegner.<br />

Wulffs Wunderwaffe ist in ihrem damaligen<br />

Wohnort schon eine Attraktion,<br />

bevor sie 2001 zu den Kommunalwahlen<br />

antritt. Nahezu jeden Abend dreht das<br />

hochgewachsene, blonde Fräuleinwunder<br />

Jogging runden durch den Ort: Sie zu Fuß,<br />

die perfekt erzogenen Kinder auf Rädern<br />

oder Inlineskates, das Pony trabt nebenher.<br />

Ihr Wahlkampf kommt über die Region<br />

wie ein Naturereignis: Kinder, Ziege,<br />

Pony, alle werden eingebunden, sie hat<br />

dank Wulff und ihrem Vater den Parteiapparat<br />

im Rücken, Bild und NDR begleiten<br />

ihre Kampagne. Sie hätten so etwas noch<br />

nie erlebt, sagen Ortspolitiker, denen bald<br />

klar wird, dass hier jemand gezielt aufgebaut<br />

wird.<br />

Das bestätigt sich vor der Landtagswahl<br />

2003. Im Vorfeld einer Kampfabstimmung<br />

um „Röschens“ späteren Wahlkreis<br />

macht die Bild den bisherigen Inhaber<br />

Lutz von der Heide, einen altgedienten Abgeordneten,<br />

nieder. Der zuständige Redakteur<br />

bekommt nach der Wahl einen Posten<br />

im Niedersächsischen Wirtschaftsministerium.<br />

Mitbewerber beäugen neidisch von<br />

der Leyens Wahlkampfstände, die mit Musikkapellen<br />

ausgestattet und von Wulff persönlich<br />

besucht werden. Am Wahltag, kurz<br />

bevor sie nicht nur Abgeordnete, sondern<br />

gleich auch Sozialministerin wird, sieht<br />

man „Röschen“ mit ihrem Vater durch<br />

den Landtag schlendern, händchenhaltend.<br />

Für viele bleibt sie Außenseiterin, bestenfalls<br />

Exotin. Ob in Gemeinderat oder<br />

Landtag: Kollegen tun sich gelegentlich<br />

schwer mit „Röschen“, meist ohne ihr<br />

mehr vorwerfen zu können als ihre beherrschte<br />

Höflichkeit, die große, heile Familie,<br />

ihre Karriere, ihr sicheres Auftreten<br />

und die Tatsache, dass sie all das auch politisch<br />

einsetzt. Im Kern ist es die Verbitterung<br />

derer, die Jahrzehnte politische Kleinarbeit<br />

geleistet haben, um dann von der<br />

lächelnden Tochter Albrecht überholt zu<br />

werden.<br />

Der Albrecht-Clan. Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht 1976<br />

inszeniert seine Familie in der NDR-Sendung „Die Aktuelle Schaubude“. Rechts<br />

an seiner Seite: Tochter Ursula, die heutige Bundesarbeitsministerin<br />

Dass sie im Landtag und später in Berlin<br />

Empfänge meidet und nach Sitzungen<br />

oft fluchtartig die Heimreise antritt,<br />

statt noch einen mitzutrinken, macht es<br />

nicht besser. Die Ministerin leistet sich<br />

den Luxus, das Drumherum zu vernachlässigen,<br />

weil ihr Leben nie aufgehört hat,<br />

um die Familie zu kreisen. Nicht nur um<br />

ihre sieben Kinder, sondern inzwischen<br />

auch wieder um „Tundrinsheide“, wo sie<br />

2007 samt Familie eingezogen ist, um ihren<br />

demenzkranken Vater nicht allein zu<br />

lassen. In Beinhorn erlebt man die neue<br />

Hausfrau als nicht mehr ganz so volksnah<br />

wie die alte. Das Dorf wird kaum mehr,<br />

wie früher, zu Familienfesten eingeladen.<br />

Die Albrechts erschienen noch zu jeder<br />

Ortsfeier, von der Leyen schickt eher mal<br />

eine Kiste Bier vorbei. Sie plauscht auch<br />

selten mit den Dorfbewohnern, meist ruft<br />

Foto: Ullstein Bild<br />

36 <strong>Cicero</strong> 9.2013


F r a u F r i e d f r a g t s i c h …<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Privat (Autor)<br />

sie nur ein „Guten Tag“ vom Pferd herunter.<br />

Und dennoch: Sie ist jetzt dort Herrin,<br />

wo sie einst ihren Weg begonnen hat.<br />

Der Kreis hat sich geschlossen.<br />

Sechs Geschwister, sieben Kinder, wie<br />

soll das Leben als Objekt und Subjekt ehrgeiziger<br />

Kinderpädagogik nicht auch auf<br />

die Politikerin abfärben? Eine Szene im<br />

Sommer 2011. Ursula von der Leyen empfängt<br />

im Bundestag eine Schülergruppe.<br />

Aufmerksam sitzen die eben noch herumfeixenden<br />

Kinder vor der Ministerin, eines<br />

hat Fragen zur Frauenquote. „Da muss<br />

ich Druck machen“, sagt sie, rückt ganz<br />

nah und verschwörerisch an die Kinder<br />

heran und flüstert: „Und das gibt dann<br />

manchmal auch Krach.“ Sie strahlt und<br />

hebt die Augenbrauen, man möchte augenblicklich<br />

von ihr mit einer Tasse Kakao<br />

ins Bett gebracht und zugedeckt werden.<br />

Zum Abschied ein Gruppenfoto, dafür sollen<br />

die Kinder lächeln. „Und wie heißt das<br />

Wort mit der Ameise?“, ruft von der Leyen<br />

mit aufgerissenen Augen. „Aaa-mei-senscheiße!“,<br />

rufen die Kinder im Chor.<br />

Auch das gehört zu ihren Problemen in<br />

Berlin: Viele Parteifreunde fühlen sich von<br />

ihr behandelt, als wären sie Teil einer Kindergruppe.<br />

Tatsächlich gehörte es – speziell<br />

in der Familienpolitik – zu von der Leyens<br />

Erfahrungen, ihrer Partei in der Zeit voraus<br />

zu sein, ihr auf die Sprünge helfen zu<br />

müssen, es besser zu wissen. Das hat viele<br />

gegen sie aufgebracht, wie ihr jüngstes,<br />

schlechtes Ergebnis bei der Wahl zur Parteivize<br />

zeigt. In der CDU antwortet niemand<br />

„Ameisenscheiße“, wenn sie ruft.<br />

Nie war sie in der Bundestagsfraktion unbeliebter.<br />

Es gibt bessere Ausgangslagen für<br />

den Weiterflug.<br />

Trotzdem, viele Wähler lieben diese Ministerin.<br />

Schon deshalb wird Merkel gut<br />

daran tun, sich von der Leyen warmzuhalten.<br />

Solange sie ihr nicht gefährlich wird.<br />

Ihren Mentoren ist „Röschen“ inzwischen<br />

entwachsen. Wulff sowieso, und heute<br />

kümmert sie sich um Ernst Albrecht, nicht<br />

mehr umgekehrt. Im Laufe seiner Krankheit<br />

ging ihm auch ihr Spitzname verloren.<br />

Er hat ihn vergessen. „Röschen“, erklärte<br />

sie kürzlich, „gibt es nicht mehr.“<br />

Constantin Magnis<br />

ist Ressortleiter Reportagen<br />

bei <strong>Cicero</strong><br />

… wie ein Gemeinwesen mit<br />

Egoisten funktionieren soll<br />

M<br />

ein Roman „Eine windige<br />

Affäre“ handelt von einer<br />

Bauingenieurin, die einen<br />

Windpark in Litauen errichten<br />

soll. Sie kämpft dabei auch gegen militante<br />

Windkraftgegner, die kein Mittel<br />

scheuen, das Vorhaben zu torpedieren.<br />

Die Protestler behaupten eine angeblich<br />

gesundheitsschädliche Infraschall-<br />

Belastung, legen (von ihnen) getötete<br />

Fledermäuse unter bestehende Windräder<br />

und gehen bei Versammlungen<br />

verbal und mit Stühlen aufeinander los.<br />

Das alles habe ich mir ausgedacht<br />

und hatte Sorge, ob man es mir nicht<br />

als völlig übertrieben vorhalten würde.<br />

Inzwischen spielen sich ähnliche Szenen<br />

in meinem oberbayerischen Wohnort ab. Unterschriften werden gesammelt,<br />

Gutachten in Auftrag gegeben, an vielen Wohnhäusern hängen Protestbanner gegen<br />

die Errichtung von Windrädern, das Infraschall-Märchen wird auch erzählt,<br />

und nun hat sich – nach langem Suchen – sogar eine seltene Vogelart gefunden, die<br />

durch die Anlagen bedroht sein könnte: der Schwarzstorch. Natürlich sei auch der<br />

Tourismus in der Gegend gefährdet, sorgen sich die angeblichen Kämpfer fürs Gemeinwohl.<br />

Obgleich der Ort genau genommen etwas abseits der bedeutenden Touristenregionen<br />

Bayerns liegt und sich eher durch einen Mangel an touristischer Infrastruktur<br />

auszeichnet. Bei den Versammlungen der Windkraftgegner geht es hoch<br />

her, und wer es wagt, anderer Meinung zu sein, ist schnell als Verräter gebrandmarkt.<br />

Die Kritiker versäumen übrigens nicht, immer wieder zu betonen, dass sie<br />

die Energiewende ganz großartig finden – nur eben bitte nicht in ihrer Gegend.<br />

Ich frage mich, wie in diesem Land noch irgendein Vorhaben umgesetzt werden<br />

soll, wenn sich bei den Bürgern immer mehr der Egoismus durchsetzt. „Heiliger<br />

St. Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ andere an.“ Wo kommt ein Gemeinwesen<br />

hin, wenn jeder nur für die eigenen Belange streitet? Eine – von einer<br />

überwältigenden Mehrheit der Bürger gewünschte – Wende in der Energiepolitik<br />

muss auch von dieser überwältigenden Mehrheit mitgetragen werden. Das kann<br />

im Einzelfall Verzicht bedeuten. Aber wie soll es anders gehen?<br />

Die meisten der Erzürnten sehen untätig zu, wenn um sie her schlimmes Unrecht<br />

geschieht, das sie nicht persönlich betrifft. Da werden Menschen aufgrund<br />

ihrer Religion oder Hautfarbe diskriminiert, da werden Kinder vernachlässigt und<br />

misshandelt – kein Grund zur Aufregung. Kaum aber besteht die Gefahr, dass ein<br />

Windrad (wahlweise Solaranlage oder Biogasanlage) in der Nachbarschaft den Wert<br />

des Eigenheims mindern könnte, läuft der Wutbürger zu großer Form auf. Und<br />

gibt vor, sich um das Gemeinwohl zu sorgen. In Wahrheit geht’s um nicht mehr<br />

als seine private Idylle.<br />

Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />

Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 37


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5 6<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

7<br />

12<br />

8 9<br />

10 11<br />

13 14 15<br />

Man muss doch die Realitäten sehen? Bloß nicht. Um einen radikalen Außenblick auf die Politik<br />

zu ermöglichen, haben im Wahljahr neun Persönlichkeiten ihr Wunschkabinett zusammengestellt.<br />

Ministerien wurden verschmolzen, Christian Wulff feierte als Integrationsminister ein Comeback, und<br />

Friedrich der Große erstand als Bundeskanzler wieder auf. Die Autorinnen und Autoren der Serie:<br />

Anna Thalbach, Roger Willemsen, Frank-Markus Barwasser alias Erwin Pelzig, Thea Dorn, Monika Maron,<br />

Jörg Thadeusz, Katja Kraus, Christiane Paul und Else Buschheuer<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Grafik: <strong>Cicero</strong>; Fotos: Picture Alliance/DPA (13), Getty Images, Gelsenwasser Dresden GmbH<br />

38 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Anzeige<br />

Wen hätten Sie gern an der Macht? Im Jahr der<br />

Bundestagswahl hat <strong>Cicero</strong> Persönlichkeiten eingeladen, sich<br />

eine Regierung zu wünschen. Zum Abschluss der Serie besetzt<br />

die Schriftstellerin Else Buschheuer das Kabinett. Sie hätte gern<br />

ihre Kollegin Sibylle Berg als Kanzlerin. In die Kabinettsdisziplin<br />

einordnen müssen sich Alice Schwarzer, Thomas Gottschalk<br />

und Papst Franziskus<br />

(1) Bundeskanzlerin<br />

Sibylle Berg. Schwebt über allem.<br />

Freundin von mir (Vetternwirtschaft).<br />

(2) Auswärtiges<br />

Thomas Gottschalk. Angenehm undeutsch:<br />

Hat immer gute Laune. Mehrsprachig.<br />

(3) Innen<br />

Thomas de Maizière. Die Begründung<br />

liefert er selbst: „Ich habe so viel<br />

gesät, jetzt möchte ich mal ernten.“<br />

(4) Justiz und Wahrheit<br />

Josephine Witt (deutsche Femen-Aktivistin).<br />

Zieht blank für die Gerechtigkeit.<br />

(5) Finanzen<br />

Alice Schwarzer. Kann sparen<br />

(siehe Emma-Honorare).<br />

(6) Wirtschaft und Umwelt<br />

Gunda Röstel. Warum ist diese kluge<br />

und powervolle <strong>Grün</strong>en-Politikerin<br />

von der Bildfläche verschwunden?<br />

(7) Verteidigung<br />

Loriot (1923 – 2011). Weil der<br />

Walkürenritt die militärische Leistung<br />

ist, die ihn am meisten beeindruckt hat.<br />

(9) Kultur und Medien<br />

Frank Castorf. Köpft angestaubte<br />

Kulturdenkmäler und sorgt für<br />

Stimmung im Publikum.<br />

(10) Gesundheit<br />

Helmut Schmidt. Der lebende Beweis<br />

dafür, dass Rauchen gesund ist.<br />

(11) Frauen<br />

Ernie Reinhardt alias Lilo Wanders. Ein<br />

Mann, der weiß, was Frauen brauchen.<br />

(12) Arbeit und Soziales<br />

Sahra Wagenknecht. Kämpft für<br />

Mindestlohn und eiweißreiche<br />

Ernährung (Hummer).<br />

(13) Verkehr<br />

Papst Franziskus. Fährt der alte Lord<br />

fort, fährt er nur im Ford fort.<br />

(14) Wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

Dirk Niebel. Er findet, dass man<br />

dieses Ministerium abschaffen sollte.<br />

(15) Technologie<br />

Wolverine. Rettet die Welt mit<br />

ausfahrbaren Eisenkrallen.<br />

Gabriele Pauli<br />

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Pauli ließ die CSU erbeben. In ihrer<br />

Politbiografie zeigt sie, warum es<br />

keinen Platz für Paradiesvögel gibt<br />

und die Politik in Deutschland immer<br />

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Visionen und Anstöße für eine<br />

Politik mit Rückgrat.<br />

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DEUTSCHLAND<br />

WÄHLT ...<br />

... und wer regiert?<br />

Über Wählerwille, Machtkämpfe<br />

und Kompromisszwänge.<br />

(8) Landwirtschaft<br />

Gregor Gysi. Ist gelernter Melker.<br />

NEU<br />

Foto: Else Buschheuer<br />

Else Buschheuer, 47, ist Schriftstellerin. Sie arbeitete in der DDR<br />

unter anderem als Kartenabreißerin am Deutschen Theater und<br />

als Buchhändlerin. Nach der Wende wurde sie Zeitungs- und<br />

Fernsehjournalistin. Aus New York schrieb sie nach dem 11. September<br />

2001 ein Internettagebuch. Ihr fünfter Roman „Zungenküsse mit<br />

Hyänen“ ist soeben im Aufbau-Verlag erschienen<br />

„Der Wähler kann nur hoffen, dass<br />

irgendetwas von dem Wirklichkeit<br />

wird, was er sich von seiner<br />

Wahlbeteiligung erwartet.“<br />

(G.P. Hefty)<br />

192 Seiten, Broschur – EUR 19,90<br />

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9.2013 <strong>Cicero</strong> 39<br />

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| B e r l i n e r R e p u b l i k | i m K L o s t e r L e b e n<br />

Einfach göttlich<br />

Genießen: Die<br />

Franziskaner-<br />

Schwestern<br />

Gertrud und<br />

Erika während<br />

eines Ausflugs<br />

auf der<br />

Bodenseeinsel<br />

Mainau<br />

40 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Kloster heißt, seine bisherige Existenz aufzugeben. Wie ist das<br />

Leben dann? Der Fotograf Kiên Hoàng Lê hat einen Monat mit den<br />

Brüdern und Schwestern aus Stühlingen verbracht<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 41


| B e r l i n e r R e p u b l i k | i m K L o s t e r L e b e n<br />

Wandern:<br />

Franziskanerinnen<br />

und Kapuziner<br />

aus Stühlingen im<br />

Schwarzwald<br />

Sich spiegeln: Die<br />

Franziskanerinnen<br />

an einem Teich<br />

auf der Mainau<br />

FOTOS: Kien Hoang Le / Agentur FOCUS (SEITEN 40 BIS 47)<br />

42 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Reinigen: Schwester<br />

Julia putzt in der<br />

Klosterkirche<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 43


| B e r l i n e r R e p u b l i k | i m K L o s t e r L e b e n<br />

44 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Freuen: Schwester<br />

Clara springt nach<br />

der Gartenarbeit<br />

von einer Bank<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 45


| B e r l i n e r R e p u b l i k | I m K l o s t e r L e b e n<br />

Sich etwas gönnen: Schwester<br />

Julia mit einem Glas Likör<br />

Schmusen: Die<br />

Klosterkatze bringt<br />

Abwechslung in<br />

den Alltag<br />

46 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Baden: Bruder<br />

Jürgen bei der<br />

Zeitungslektüre<br />

im Waschraum<br />

S<br />

chwestern und Brüder, das schreibt sich jetzt locker<br />

flockig. Doch am Anfang waren die traditionellen<br />

Begriffe gewöhnungsbedürftig. Später wurde ich<br />

selbst Bruder Kiên gerufen. Die Schwestern und Brüder<br />

im Kloster hatten Vertrauen zu mir gefasst, zu dem<br />

30 Jahre alten Fremden, der nicht christlich, sondern eher buddhistisch<br />

ist und versucht, die Welt durch seine Kamera zu verstehen.<br />

Einen Monat lebte ich im Kloster Stühlingen an der Schweizer<br />

Grenze mit den vier Schwestern und vier Brüdern – eine einmalige<br />

Erfahrung.<br />

Bruder Kiên – mein neuer Rufname fiel mir bald nicht mehr<br />

auf. Ein Assimilierungsprozess, der ganz unbewusst geschah. Das<br />

Leben im Kloster ist das Leben in einer Gemeinschaft mit ihren<br />

verschiedenen Individuen und einer ganz eigenen Gruppendynamik.<br />

Die gleiche Kleidung in Tracht – für die Franziskanerinnen –<br />

und Habit – für die Kapuziner – gibt den Klosterbewohnern eine<br />

Basis. Sie spiegelt den gemeinsamen inneren Ruf wider, ein Leben<br />

in Armut, Demut und für Jesus zu führen. Sie unterliegen aber<br />

keinem Trachten- beziehungsweise Habitzwang.<br />

Die Schwestern und Brüder besitzen kein privates Geld. Besitztümer<br />

beschränken sich auf das Hab und Gut in ihren Zimmern.<br />

Für ihr leibliches Wohl ist im Kloster gesorgt, teils durch<br />

die Ernten aus dem Garten und teils aus Spenden der Supermärkte<br />

im Dorf, die ihre abgelaufenen Produkte dem Kloster schenken.<br />

Die Besitzlosigkeit gibt den Menschen eine ungeheure Freiheit,<br />

sich auf etwas zu konzentrieren, ohne den Fokus auf die<br />

Grundbedürfnisse legen zu müssen. Man könnte fast sagen: ein<br />

bedingungsloses Grundeinkommen. Das Ideal ist, dass die Gemeinschaft<br />

den Einzelnen versorgt. Der ist in der Lage, sich auf<br />

das zu konzentrieren, was er am besten kann. Diese Freiheit war<br />

früher größer, weil der Zustrom und Zuspruch zu den Orden zahlreich<br />

und die Belastung des Einzelnen geringer war.<br />

Heute spüren die Orden die Säkularisierung. Es kommen vielleicht<br />

ein, zwei Novizen pro Jahr hinzu, und dann ist nicht sicher,<br />

ob sie sich für ein Leben im Kloster entscheiden. Was bleibt, ist<br />

eine ökonomische Rechnung. Wie erhalte ich Klöster, wenn die<br />

Kräfte schwinden? In der ersten Phase muss der Einzelne mehr<br />

Verantwortung und mehr Zeit für die weltlichen Aufgaben aufwenden.<br />

Die wachsenden Aufgaben sind eine große Belastung für<br />

die Schwestern und Brüder. Es braucht Zeit, Ruhe und Besinnung,<br />

um in sich zu gehen und den spirituellen Dialog zu führen.<br />

Wenn auch das Bündeln der Kräfte nicht mehr ausreicht, müssen<br />

entweder Klöster geschlossen oder Mitglieder anderer Orden<br />

sowie Laien aufgenommen werden. Im Kloster Stühlingen<br />

haben die Kapuziner Franziskanerinnen des Klosters Reute in<br />

Oberschwaben eingeladen, mit ihnen gemeinsam ein Kloster zum<br />

Mitleben zu gestalten. Die Franziskanerinnen sind quasi bei den<br />

Kapuzinern angestellt und dennoch gleichgestellt.<br />

Es ist eine radikale Entscheidung, ins Kloster zu gehen, alles<br />

aufzugeben und in eine neue Familie einzutreten. Die Kirche<br />

und die Orden haben allerdings die Regeln gelockert. Schwestern<br />

und Brüder besuchen ihre Familien und fahren sogar mit ihnen<br />

in den Urlaub.<br />

<br />

Kiên Hoàng Lê<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 47


| B e r l i n e r R e p u b l i k | L i b e r a l e i m N e t z<br />

„mehr aufrichtigkeit“<br />

Wirtschaftsminister und FDP-Chef Philipp Rösler über Mobbing und Shitstorms<br />

im Internet, den NSA-Abhörskandal – und über seine eigenen dunklen Seiten<br />

H<br />

err Minister, von Angela Merkel<br />

ist bekannt, dass sie permanent<br />

online ist und Nachrichtenportale<br />

verfolgt. Ist das bei Ihnen ähnlich?<br />

Ja, allein schon dank der modernen<br />

Smartphones. Aber ich nutze sie eher<br />

zur direkten Kommunikation. Zum Beispiel<br />

Chatprogramme, um mit Kollegen,<br />

Familie oder Freunden in Kontakt<br />

zu bleiben.<br />

Das Internet ist also kein „Neuland“ für<br />

Sie, wie die Bundeskanzlerin das formuliert<br />

hat?<br />

Diesen Satz hat sie sicher anders gemeint,<br />

als er wahrgenommen wurde. Aber was<br />

mich angeht: In der digitalen Welt war<br />

ich schon früh mit dabei, schon seit den<br />

achtziger Jahren. Damals gab es statt Internet<br />

noch Akustikkoppler zur Datenübertragung<br />

per Telefon.<br />

Wie sehen Sie als Liberaler eigentlich die<br />

Freiheit im Netz? Das Internet ist ja auch<br />

ein Forum für wüsteste Beschimpfungen<br />

aller Art, gerade auch unter dem Schutz<br />

der Anonymität.<br />

Wie bei jeder technischen Innovation<br />

gibt es Chancen und Risiken. Der Arabische<br />

Frühling zum Beispiel wäre ohne Internet<br />

kaum möglich gewesen. Da waren<br />

es ja gerade junge Leute, die sich vernetzt<br />

haben, um ihren Willen zur gesellschaftlichen<br />

Umgestaltung zu artikulieren und<br />

zu organisieren. Die dunkle Seite des Internets<br />

ist die Anonymität, die es vorher<br />

in dieser Form nicht gab. Da werden<br />

manchmal Sätze geschrieben, die im normalen<br />

zwischenmenschlichen Umgang<br />

niemals gesagt würden.<br />

Als Politiker werden Sie wahrscheinlich oft<br />

angefeindet.<br />

„Es gibt Politiker, die manche Sachen aus Angst vor Häme im Internet nicht mehr<br />

auszusprechen wagen“: Philipp Rösler zählt sich selbst offenbar nicht zu dieser Spezies<br />

Als Politiker muss man damit leben.<br />

Aber normale Bürger, die nicht ständig<br />

in der Zeitung stehen, trifft es besonders<br />

hart, wenn sie plötzlich am Onlinepranger<br />

stehen. Das ist dann wirklich<br />

schlimm: Wenn man sieht, dass man<br />

mir nichts, dir nichts mit Shitstorms<br />

überzogen und mit Hasstiraden verfolgt<br />

wird und sich am Ende nicht dagegen<br />

wehren kann.<br />

Ihnen selbst wurde von einem Mitglied<br />

der <strong>Grün</strong>en via Facebook der NSU an den<br />

Hals gewünscht: „Schade, dass die NSU-<br />

Gruppe sich nicht solche wie sie vorgenommen<br />

hat, denn das wäre nicht so schlimm.“<br />

Foto: Marko Priske/Laif<br />

48 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Wie dickfellig muss man eigentlich sein, um<br />

öffentliche Mordfantasien zu ertragen? So<br />

etwas steckt man doch auch als Spitzenpolitiker<br />

nicht einfach weg.<br />

Mit Dickfelligkeit hat das nichts zu tun.<br />

Als Politiker weiß ich einfach, dass solche<br />

Entgleisungen leider dazugehören. Der<br />

Mann, von dem Sie sprechen, hat sich ja<br />

auch entschuldigt und ist bei den <strong>Grün</strong>en<br />

ausgetreten.<br />

Haben Sie die Entschuldigung<br />

angenommen?<br />

Wir haben die Sache einfach nicht<br />

weiterverfolgt.<br />

Was sagt denn diese Bereitschaft zur<br />

totalen Enthemmung über den Zustand<br />

unserer Gesellschaft aus?<br />

Ganz nüchtern gesagt: Dass innerhalb<br />

unserer Gesellschaft offenbar Gesprächsbedarf<br />

herrscht. Bundespräsident Joachim<br />

Gauck hat zu Recht gesagt, dass<br />

wir eine Debatte brauchen über Kultur,<br />

Werte, Anstand und den Umgang miteinander<br />

im Netz. Wir brauchen diese<br />

Diskussion – so schwierig es auch sein<br />

mag, sie aus der Realität ins Internet zu<br />

übertragen.<br />

Hat die Shitstorm-Kultur einen Einfluss<br />

auf den politischen Diskurs im<br />

Allgemeinen?<br />

Ich beobachte eine zunehmende Distanzlosigkeit<br />

der Menschen gegenüber Politikern.<br />

Es gibt keine Filter mehr dafür,<br />

was man alles gegen Politiker an Anfeindungen<br />

vorbringen kann. Deshalb gibt<br />

es auch Politiker, die bestimmte Dinge<br />

einfach nicht mehr aussprechen, weil sie<br />

Angst davor haben, mit ihren Argumenten<br />

einen Shitstorm auszulösen. Das ist<br />

dann natürlich ein Rückschritt in der politischen<br />

Debattenkultur, den wir nicht<br />

einfach akzeptieren sollten.<br />

Weil es dazu führt, dass Politiker nur noch<br />

Worthülsen verwenden, um möglichst<br />

wenig Angriffsfläche zu bieten?<br />

Auch das. Auf der einen Seite wollen Politiker<br />

ja nicht reden wie „typische Politiker“.<br />

Wenn sie es nicht tun, riskieren<br />

sie aber einen Shitstorm. Tun sie es<br />

doch, lautet der Vorwurf, man würde nur<br />

Sprechblasen von sich geben. Ich glaube,<br />

in einer Gesellschaft sollten alle Beteiligten<br />

versuchen, ein bisschen aufrichtiger<br />

zu sein, und Argumente zumindest<br />

nicht absichtlich falsch verstehen. Gerade<br />

deshalb brauchen wir ja eine Diskussion<br />

über unsere Debattenkultur, und da stehen<br />

wir erst am Anfang.<br />

In Ihrer eigenen Partei gibt es ja mitunter<br />

ebenfalls denkwürdige Beiträge zur<br />

Debattenkultur. Der hessische FDP-<br />

Landesvorsitzende Jörg-Uwe Hahn hat<br />

sich einst darüber Gedanken gemacht,<br />

ob „unsere Gesellschaft schon so weit ist,<br />

einen asiatisch aussehenden Vizekanzler<br />

auch noch länger zu akzeptieren“. Hat Sie<br />

das nicht irritiert?<br />

Jörg-Uwe Hahn ist einer von wenigen<br />

aus der Partei, mit denen ich wirklich befreundet<br />

bin. Und wenn ich eines weiß,<br />

dann, dass er alles andere als rassistisch<br />

ist, und so war dieser Satz auch nicht gemeint.<br />

Jörg-Uwe Hahn genießt nicht<br />

ohne Grund einen hervorragenden Ruf<br />

als Integrationsminister. Gerade dieses<br />

Beispiel zeigt sehr gut, wie schnell eine<br />

Aussage verdreht werden kann, wenn sie<br />

völlig verkürzt als Nachrichtenmeldung<br />

in Umlauf gebracht wird. Zumal in einer<br />

Zeit, in der ich ohnehin stark in der<br />

Kritik stand. Außerdem hat Jörg-Uwe<br />

Hahn seinen Satz ja nicht anonym ins Internet<br />

gestellt, und das macht für mich<br />

auch einen großen Unterschied. Die<br />

Anonymität ist ja das Gefährliche, weil<br />

Handeln und Haften dann nicht mehr<br />

zusammenpassen.<br />

Wie würden Sie denn Hahns verkürzt wiedergegebene<br />

Frage heute beantworten?<br />

Ist Deutschland weit genug, um einen<br />

asiatisch aussehenden Vizekanzler zu<br />

akzeptieren?<br />

„Ich beobachte eine zunehmende<br />

Distanzlosigkeit der Menschen<br />

gegenüber Politikern“<br />

Nach all den vielen Begegnungen mit<br />

den unterschiedlichsten Menschen, die<br />

ich bisher hatte, kann ich klar sagen: Ja.<br />

Wir erleben mit dem NSA-Skandal<br />

derzeit eine der wohl umfangreichsten<br />

Ausspähaktionen seit der Existenz des<br />

Internets. Wie verhält sich der Vorsitzende<br />

einer liberalen Partei angesichts dieses<br />

Vorgangs?<br />

Erst einmal erlaube ich mir den Hinweis,<br />

dass jetzt, während wir miteinander<br />

sprechen, noch längst nicht eindeutig<br />

geklärt ist, was eigentlich wirklich<br />

geschehen ist oder geschieht. Mittlerweile<br />

stellt sich doch manches anders<br />

dar als zu Anfang dieser Geschichte. Gerade<br />

diese Debatte zeigt aber, wie richtig<br />

der Kampf der FDP gegen die Vorratsdatenspeicherung<br />

gewesen ist und<br />

bleibt. In den vergangenen vier Jahren<br />

haben wir die Vorratsdatenspeicherung<br />

verhindert und sind deshalb von vielen<br />

Kollegen und auch dem Koalitionspartner<br />

fast schon als Sicherheitsrisiko hingestellt<br />

worden. Die NSA-Geschichte<br />

hat aus meiner Sicht drei Dimensionen.<br />

Erstens zeigt sich noch mal, wie sensibel<br />

wir bei Datenschutz und Datensicherheit<br />

sein müssen – je mehr man das Internet<br />

nutzt und es ins tägliche Leben<br />

integriert, desto wichtiger werden diese<br />

Fragen. Zum Zweiten brauchen wir ein<br />

eigenes Rechtssystem auf europäischer<br />

Ebene; derzeit arbeitet unsere Justizministerin<br />

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger<br />

daran, die Debatte mit der Europäischen<br />

Kommission über gemeinsame<br />

Datenschutzrichtlinien wieder aufleben<br />

zu lassen. Außerdem versucht sie zusammen<br />

mit Außenminister Guido Westerwelle,<br />

Partner auf UN-Ebene zu finden,<br />

um den Schutz der Privatsphäre in den<br />

UN-Konventionen zu verankern.<br />

Und drittens?<br />

Drittens stellt sich die Frage, wie wir uns<br />

konkret vor der Abschöpfung von Daten<br />

schützen können. Was das angeht, muss<br />

ich leider sagen, dass wir in Europa technisch<br />

zu sehr abhängig sind von Internetstrukturen<br />

in anderen Regionen der Welt.<br />

Was meinen Sie damit?<br />

Zum Beispiel den gesamten Bereich der<br />

mobilen Kommunikation. Durch die<br />

Tatsache, dass wir in Deutschland keine<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 49


| B e r l i n e r R e p u b l i k | L i b e r a l e i m N e t z<br />

Handy-Produktion mehr haben, machen<br />

wir uns natürlich abhängig von ausländischer<br />

Technologie. Was alles mit solchen<br />

Geräten möglich ist, bestimmen nicht<br />

deutsche Unternehmer, sondern Konzerne<br />

in Asien und in Amerika. Da müssen<br />

wir den Anspruch haben aufzuholen,<br />

um wieder vorne mitspielen zu können.<br />

Und damit soll Datenklau verhindert<br />

werden?<br />

Wir können nicht alles selber machen,<br />

aber vieles können wir deutlich sicherer<br />

machen. Es geht um die Strukturen.<br />

Wenn ich hier in Berlin meinem Kollegen<br />

im Nebenraum via Handy eine Mail<br />

schicke, dann laufen die Daten vielleicht<br />

über Server-Punkte in den Vereinigten<br />

Staaten. Denn wir haben keine<br />

eigene Infrastruktur für das Internet, keinen<br />

Zentralserver. Es gibt weltweit nur<br />

noch zwei Anbieter im Bereich des digitalen<br />

Datentransfers – keiner von beiden<br />

mit Standort in Europa. Das ist am Ende<br />

natürlich auch eine Kostenfrage. Und ob<br />

die Verbraucher hierzulande bereit sind,<br />

mehr zu bezahlen, das muss sich erst mal<br />

herausstellen.<br />

Irritiert es Sie, dass die Datenklau-Affäre<br />

die Menschen hier nicht allzu sehr zu<br />

beeindrucken scheint?<br />

Als Partei der Bürgerrechte wissen wir,<br />

dass solche Themen die Menschen nicht<br />

übermäßig bewegen. Aber Recht ist keine<br />

Frage von Mehrheiten. Für uns Liberale<br />

geht es um die grundsätzliche Frage, ob<br />

etwas richtig oder falsch ist. Und ich bin<br />

überzeugt, es ist richtig, sich für Bürgerrechte,<br />

Datenschutz und Datensicherheit<br />

einzusetzen.<br />

Das heißt, das von Innenminister Friedrich<br />

ins Spiel gebrachte „Supergrundrecht auf<br />

Sicherheit“ existiert für Sie nicht?<br />

Dieses angebliche „Supergrundrecht“<br />

ist ja eine Erfindung des ehemaligen<br />

SPD-Innenministers Otto Schily. Bekanntlich<br />

gibt es in unserer Verfassung<br />

weder ein solches Grundrecht, noch haben<br />

die tatsächlichen Grundrechte eine<br />

unterschiedliche Wertigkeit. Grundrechte<br />

sind Abwehrrechte des Einzelnen,<br />

um einen übermächtigen Staat zu verhindern<br />

– aber keine Anspruchsrechte. Karl-<br />

Hermann Flach, der erste Generalsekretär<br />

unserer Partei, hat sehr zu Recht gesagt:<br />

Die Zunahme an Sicherheit bedeutet<br />

eine Abnahme an Freiheit – und umgekehrt.<br />

Da gilt es, die richtige Balance zu<br />

finden.<br />

Die FDP ist ja auch die Partei der transatlantischen<br />

Beziehungen. Hat Sie der<br />

Skandal um die Ausspähungen da nicht<br />

besonders gekränkt? Die NSA ist immerhin<br />

ein amerikanischer Geheimdienst.<br />

„Bei der mobilen Kommunikation<br />

muss Deutschland wieder vorne<br />

mitspielen wollen“<br />

Amerikaner und Briten haben inzwischen<br />

glaubhaft versichert, dass sie uns nicht<br />

ausspionieren. Unter Freunden hört man<br />

sich nicht ab. Unabhängig davon kann<br />

man sich unter Freunden sagen, was man<br />

für richtig und für falsch hält – und von<br />

deutscher Seite das Recht auf informationelle<br />

Selbstbestimmung immer wieder<br />

einfordern. Das Spielen mit antiamerikanischen<br />

Ressentiments, wie es derzeit<br />

teilweise zu beobachten ist, halte ich aber<br />

in jedem Fall für verheerend. Ich will die<br />

Amerikaner in dieser Sache nicht verteidigen.<br />

Trotzdem sollte man gelegentlich<br />

daran erinnern, was die Vereinigten Staaten<br />

am 11. September 2001 erlebt haben.<br />

Da muss man zumindest nachvollziehen,<br />

dass dort die Balance zwischen Freiheit<br />

und Sicherheit anders gesetzt wird<br />

als bei uns.<br />

Fürchten Sie, dass Ihre Telefonate oder<br />

E-Mails abgefischt wurden?<br />

Wenn Sie Regierungsmitglied sind, müssen<br />

Sie fast davon ausgehen, dass das passiert<br />

– und zwar von unterschiedlichster<br />

Seite.<br />

Sie haben einmal gesagt, mit 45 Jahren<br />

würden Sie mit der Politik aufhören. Gilt<br />

diese Ansage noch?<br />

Ja. Als ich mit 29 Fraktionsvorsitzender<br />

in Niedersachsen wurde, hatte ich<br />

mir zum Ziel gesetzt, 15 Jahre Politik im<br />

Hauptberuf zu machen.<br />

Sie sind jetzt 40. Und später arbeiten Sie<br />

in Ihrem erlernten Beruf als Arzt weiter?<br />

Mein erlernter Beruf ist Sanitätsoffizier,<br />

und den kann ich natürlich nicht mehr<br />

ausüben. Und Arzt? Ich glaube, dafür bin<br />

ich schon zu lange aus diesem Beruf raus.<br />

Im vergangenen Jahr waren Sie eine Zeit<br />

lang als Parteivorsitzender schon so gut<br />

wie abgeschrieben und konnten sich nach<br />

dem guten Abschneiden der FDP bei der<br />

Landtagswahl in Niedersachsen dann<br />

doch behaupten. Mit welchen Lehren<br />

sind Sie aus diesem Stahlbad wieder<br />

aufgetaucht?<br />

Dass sich jeder Kampf lohnt, wenn man<br />

ihn aus Überzeugung führt. Durch diese<br />

Erkenntnis kann mich so schnell nichts<br />

mehr erschüttern.<br />

Aber so etwas ist ja auch eine Erfahrung<br />

im Umgang mit Menschen. Wie gehen Sie<br />

mit Parteifreunden um, die Ihre Ablösung<br />

betrieben haben?<br />

Da bin ich ganz Arzt und sage mir: Die<br />

Menschen sind, wie sie sind. Außerdem<br />

ist doch klar: Wenn eine Partei in einer<br />

schlechten Lage ist, sieht man zuallererst<br />

auf den Vorsitzenden. Und wir standen<br />

als FDP in den Umfragen damals<br />

nicht gut da. Dass da Nervosität entstand,<br />

kann ich schon verstehen. Außerdem<br />

muss man eben immer auch die dunklen<br />

Seiten des Menschen in Betracht ziehen.<br />

Was ist denn Ihre dunkle Seite?<br />

Die Leidenschaft für tiefschwarzes Lakritz.<br />

Lakritz ist das Geheimnis meines<br />

Erfolgs.<br />

Gut zu wissen. Irgendeine bestimmte<br />

Marke?<br />

Skandinavischer Salzlakritz ist sehr zu<br />

empfehlen. Den bekomme ich in Berlin<br />

beim Händler meines Vertrauens. Ein<br />

kleiner Laden in Kreuzberg.<br />

Das Gespräch führten Alexander Marguier<br />

und Christoph Schwennicke<br />

50 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Redaktionsgespräch<br />

Besuchen Sie uns in Berlin und<br />

kommen Sie mit den Redakteuren<br />

von <strong>Cicero</strong> ins Gespräch. Wir<br />

laden Sie ein zu einem Blick hinter<br />

die Kulissen unseres Magazins und<br />

sind gespannt auf Ihre Meinung,<br />

Anregungen oder Kritik. Bitte vormerken:<br />

5.11. 2013, 16 Uhr. Jeweils<br />

mit anschließendem Abendessen.<br />

Foyergespräch<br />

Kommen Sie am Sonntag, den<br />

29. 9. 2013, zum <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

mit Peter Sloterdijk und<br />

Martin Walser mit dem Thema<br />

„Mehr als schön ist nichts – Zwei<br />

Meinungen über den Zustand der<br />

Welt“, moderiert vom <strong>Cicero</strong>-<br />

Kolumnisten Frank A. Meyer im<br />

Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-<br />

Platz 1, 11 Uhr.<br />

Wir laden Sie ein!<br />

Als Leser kennen Sie uns schon – höchste Zeit, dass wir uns<br />

jetzt persönlich kennenlernen. Hier fünf Vorschläge für Sie.<br />

Arbeitsfrühstück<br />

Lassen Sie uns über Geld sprechen:<br />

Kommen die Staatsfinanzen endlich<br />

in Ordnung? Wer kontrolliert<br />

die Ausgaben des Bundes? Diskutieren<br />

Sie mit dem haushaltspolitischen<br />

Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion,<br />

Carsten Schneider.<br />

Moderation im Einstein unter den<br />

Linden: Christoph Schwennicke.<br />

Bitte vormerken: 8. 11. 2013.<br />

Redaktionskonferenz<br />

Dienstags um 10 Uhr – einmal in<br />

der Woche trifft sich die <strong>Cicero</strong>-<br />

Redaktion zur großen Themenkonferenz.<br />

Nehmen Sie daran<br />

teil und schlagen Sie uns Ihre<br />

Themen und Geschichten für die<br />

kommenden Ausgaben vor. Bitte<br />

vormerken: 17. 10. 2013.<br />

Druckereibesuch<br />

Gutenberg würde aus dem Staunen<br />

nicht herauskommen: Erleben<br />

Sie, wie in atemberaubender<br />

Geschwindigkeit und mit der<br />

Präzision eines Uhrwerks die neue<br />

<strong>Cicero</strong>-Ausgabe im <strong>Rot</strong>ations-<br />

Offsetverfahren gedruckt wird.<br />

Druckereibesuch mit Blick hinter<br />

die Kulissen bei Neef+Stumme in<br />

Wittingen am 18. 10. 2013.<br />

Liebe Abonnenten, wir möchten Sie einladen!<br />

Für Ihre Treue möchten wir uns persönlich bei Ihnen bedanken. Wählen Sie aus,<br />

zu welcher <strong>Cicero</strong>-Veranstaltung Sie kommen möchten, und schreiben Sie uns<br />

eine E-Mail oder Postkarte:<br />

Mark Siegmann<br />

<strong>Cicero</strong>-Leserservice<br />

Friedrichstraße 140<br />

10117 Berlin<br />

E-Mail: einladung@cicero.de<br />

www.cicero.de/einladung


| B e r l i n e r R e p u b l i k | M e i n S c h ü l e r<br />

„Guido war ein Gentleman“<br />

Der Lehrer Helmut Lennartz erinnert sich noch gut an seinen<br />

Schüler Guido Westerwelle, der gerne Künstler werden wollte<br />

Bei uns in Bonn an der Schule gab es damals im<br />

Jahrgang weit über 100 Schüler, die meisten sind<br />

schnell vergessen. Und dann gibt es Leute wie Westerwelle.<br />

An ihn hätte ich mich auch erinnert, wenn<br />

er danach nie wieder aufgetaucht wäre.<br />

Guido hat 1980 bei uns am Ernst-Moritz-<br />

Arndt-Gymnasium in Bonn Abitur gemacht. Aber<br />

er ist erst in der Oberstufe von der Realschule zu<br />

uns gewechselt. Er hatte damals recht langes, blondes Haar und<br />

kam mit einer ganzen Truppe ehemaliger Realschüler. Unter denen<br />

fiel er auf, weil er den Ton angab. Von unseren Gymnasiasten<br />

wurden die ehemaligen Realschüler eher kritisch betrachtet, das<br />

hatte auch mit Arroganz zu tun. Bei Guido kam noch etwas anderes<br />

dazu, nämlich seine spezielle Art: Er hatte zu allem schnell<br />

eine Meinung, manchmal zu schnell, und verkündete die auch<br />

gerne. Es gab Gymnasiasten, die er damit provoziert hat, und die<br />

vieles von dem, was er so sagte, für Blödsinn hielten. In einem kleinen<br />

Kreis seiner Mitschüler kursierte damals sogar ein „Schwarzbuch<br />

Westerwelle“, in dem sie sich über ihn lustig gemacht haben.<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

Bei den Lehrern fiel er auch durch sein Mundwerk<br />

auf, obwohl er eher ein Gentleman war. Das<br />

unterschied ihn von vielen Mitschülern, die alles<br />

andere als höflich zu uns waren. Nicht, dass er ein<br />

Schleimscheißer gewesen wäre, aber er war bereit,<br />

den Lehrern Achtung zu erweisen.<br />

Nur eine Situation gab es, die hatte ich als Jahrgangsstufenleiter<br />

noch nicht erlebt. Es gab einen<br />

Deutschlehrer, der kam überhaupt nicht mit Guido klar. Der<br />

bat mich, ob ich den Westerwelle nicht aus seinem Kurs herausnehmen<br />

könne. Das habe ich gemacht, so wurde Guido mein<br />

Deutschschüler. Seine Noten waren unterschiedlich, die konnten<br />

von einer Fünf bis zu einer Zwei gehen. Dass er mal Politiker<br />

werden würde, auf den Gedanken wäre man damals nicht gekommen.<br />

Er hat überlegt, beruflich in Richtung Kunst zu gehen. Sein<br />

Kunstlehrer hat ihm aber abgeraten.<br />

In der <strong>Cicero</strong>-Serie „Mein Schüler“ zur Bundestagswahl spürt<br />

Constantin Magnis Lehrer unserer Spitzenpolitiker auf<br />

Guido Westerwelle<br />

als Schüler. Ein<br />

Deutschlehrer<br />

am Bonner<br />

Gymnasium<br />

wollte ihn<br />

unbedingt<br />

loswerden. Da<br />

nahm ihn Helmut<br />

Lennartz, heute<br />

76, in seinen Kurs<br />

Grafik: <strong>Cicero</strong>; Fotos: Privat, Markus C. Hurek<br />

52 <strong>Cicero</strong> 9.2013


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GEO. Die Welt mit anderen Augen sehen


| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />

Nein,<br />

lieber Otto<br />

Heute bedeutet Überwachung<br />

Allmacht. Ein Brief an den<br />

früheren Innenminister Schily<br />

Von Frank A. Meyer<br />

D<br />

arf man, soll man einem verehrten lieben Freund öffentlich<br />

widersprechen? Wenn er sich selber öffentlich<br />

äußert, muss man es sogar. Und selbstverständlich öffentlich.<br />

So gebietet es geradezu die Freundespflicht.<br />

Otto Schily hat dem Spiegel Anfang August ein Interview<br />

zur Snowden-NSA-Affäre gegeben. Anlässlich dieses Gesprächs<br />

beurteilte der Innenminister von Gerhard Schröders rot-grüner<br />

Regierung die Kritik an der allumfassenden Internet-Überwachung<br />

durch die amerikanische National Security Agency mit<br />

folgenden Worten: „Die Furcht vor dem Staat trägt teilweise<br />

wahnhafte Züge.“<br />

Lieber Otto Schily, ist es denn wirklich „Furcht vor dem<br />

Staat“, die der Kritik an der Spionage der USA gegen Bürger in<br />

aller Welt zugrunde liegt? Nein, das Gegenteil ist der Fall. Herausragendes<br />

Motiv der meisten Kritiker ist die Sorge um den<br />

Staat, genauer: um den demokratischen Rechtsstaat.<br />

Die amerikanische Gesellschaft ebenso wie die britische sehen<br />

ihren Staat unterwandert durch einen Staat im Staat, der<br />

sich als Sicherheitsapparat tarnt, in Wahrheit aber eine allmächtige<br />

Behörde ist.<br />

Diese Geheimstruktur erfasst und verarbeitet – jeder wirksamen<br />

Kontrolle durch Demokratie und Rechtsstaat enthoben –<br />

Abermillionen Daten von Bürgern und fügt sie bei Bedarf zu<br />

Persönlichkeitsprofilen zusammen. Anhand algorithmischer Formeln<br />

versucht das klandestine Behördengeflecht aus den Daten<br />

verdächtiges, künftig kriminelles Verhalten herauszufiltern und<br />

zu verhindern – alles unter dem Vorwand, optimale Sicherheit<br />

für ebenjene Bürger zu garantieren: ein Thriller wie der Science-<br />

Fiction-Film „Minority Report“ im Weltmaßstab.<br />

Das hochtechnologisch erschnüffelte Geheimwissen ist dem<br />

Verfassungsstaat nahezu komplett entzogen. Es wird sanktioniert<br />

durch geheime Richter, die geheime Verfahren führen und geheime<br />

Urteile fällen. Das Ergebnis ist Herrschaftswissen, Wissen,<br />

das der Staat im Staat zum eigenen Überleben benötigt.<br />

Ist dies noch das amerikanische Regierungssystem der<br />

Checks and Balances, ist dies noch der Staat, den wir für seine<br />

Erklärung der Menschenrechte bewundern, den Generationen<br />

unterdrückter und drangsalierter Europäer herbeigewünscht haben,<br />

um auch in der Alten Welt die Freiheit über die Diktatur<br />

triumphieren zu lassen?<br />

Nein, Otto Schily: Nicht die Kritik an der digitalen Geheimdienst-Maschinerie<br />

trägt „wahnhafte Züge“. Dem Wahn<br />

verfallen sind die Geheimagenturen, scheinbar legitimiert vom<br />

Schrecken des Attentats auf das World Trade Center am 11. September<br />

2001. Seit diesem Tag haben sich die USA gewandelt:<br />

Sie sind von der Freiheitsnation zur Sicherheitsnation geworden<br />

– von der Verheißung zum Moloch.<br />

Die Sicherheit des Staates begründet den Sicherheitsstaat –<br />

in der DDR die Stasi. In Washington stützt sich die Mammut-Behörde<br />

auf den pathetisch geschichtstümelnden Begriff<br />

„Homeland Security“ – Heimatschutz.<br />

Otto Schily sagte auch: „Man soll keinen falschen Gegensatz<br />

zwischen Freiheit und Sicherheit konstruieren.“ Ja, was wäre<br />

dann der richtige Gegensatz? Im vorliegenden Fall muss er gar<br />

nicht erst konstruiert werden. Bundespräsident Joachim Gauck<br />

hat ihn bereits benannt: „Die Angst, unsere Telefonate oder<br />

Mails würden von ausländischen Nachrichtendiensten erfasst<br />

und gespeichert, schränkt das Freiheitsgefühl ein.“<br />

Freiheitsgefühl ist nicht nur ein Gefühl. Es ist die Voraussetzung<br />

für gelebte Freiheit!<br />

Angst hingegen ist das Gegenteil von Freiheit. Angst haben<br />

die USA. Angst haben alle Bürger, die ihre elektronische Kommunikation<br />

durch die Angstverwalter der amerikanischen und<br />

britischen und anderer Geheimdienste erfasst sehen.<br />

Angst essen Seele auf. Die amerikanische. Und unsere. Die<br />

Seele der freien Welt.<br />

Noch eine Formulierung Otto Schilys gehört unter die Lupe<br />

genommen: „Law and Order sind sozialdemokratische Werte.“<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

54 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Foto: Privat<br />

Doch auf Recht und Ordnung bestanden die Genossen<br />

in ihrer 150-jährigen Geschichte nicht nur aufseiten des Staates,<br />

sondern stets auch gegenüber dem Staat, der sie, gerade in<br />

Deutschland, allzu lange und mit allen Mitteln bekämpfte, sie<br />

bis in die jüngste Vergangenheit als „vaterlandslose Gesellen“<br />

verdächtigte, überwachte und kujonierte.<br />

Recht und Ordnung, das ist die Grundformel des demokratischen<br />

Rechtsstaats, um den sich die Sozialdemokratie unter<br />

schweren Opfern immer wieder verdient gemacht hat.<br />

Otto Schily selbst erlebte als RAF-Anwalt den übergriffigen<br />

Staat, der in der bleiernen Zeit der Terroristenprozesse auch ihn<br />

als Verteidiger der Komplizenschaft mit Terroristen verdächtigte<br />

und überwachte. Heute würden die Geheimdienste der USA<br />

und Großbritanniens Schilys Anwaltspost ausspionieren und<br />

dem Verbündeten Deutschland zur Verfügung stellen. Sie würden<br />

die Post – zur Sicherheit – wohl bereits mitlesen und mithören,<br />

während er sie noch formuliert.<br />

Ja, lieber Otto Schily: So steht es um die demokratische<br />

Welt. Und jeden Tag steht es um unsere Bürgerfreiheit ein wenig<br />

schlimmer. Dies lehrt uns Enthüllung um Enthüllung.<br />

Nichts ist mehr, wie es war, als Du Dich gegen den deutschen<br />

Überwachungsstaat der RAF-Jahre zur Wehr setztest.<br />

Nichts ist mehr, wie es war, als Du im Amt des Innenministers<br />

über den Rechtsstaat wachtest!<br />

Deine sieben Jahre als Minister mögen Dich zu dem Satz<br />

inspiriert haben: „Ich empfehle ein gewisses Vertrauen in den<br />

Staat und seine Sicherheitsbehörden.“ Gerade Sicherheitsbehörden<br />

aber verdienen Misstrauen, nicht Vertrauen. Sie erfordern<br />

Kontrolle. Unerbittliche Nachprüfung jedes einzelnen<br />

Schrittes. Gerade in der Demokratie. Gerade durch die<br />

Demokratie.<br />

Denn es gehört zum Wesen der freiheitlichen Ordnung, dass<br />

sie ihre behördlichen Mächte an die Kandare nimmt, sie einhegt<br />

und begrenzt – sie transparent, durchschaubar macht, wenn<br />

nicht für die breite Öffentlichkeit, so doch für unbestechliche<br />

Gremien der demokratisch legitimierten Politik.<br />

Stasi, das war beileibe nicht nur die DDR. Bei uns in der<br />

Schweiz fichierte die Bundespolizei bis Ende des Kalten Krieges<br />

in den frühen neunziger Jahren 700 000 Bürgerinnen und Bürger<br />

– das heißt, sie verfasste Dossiers von einem Zehntel ihrer<br />

damals sieben Millionen Einwohner.<br />

System und Mentalität jener ominösen Bundesbehörde ähnelten<br />

damals auf verbüffende Weise den Machenschaften des<br />

DDR-Stasi-Ministers Erich Mielke: Telefonüberwachen, Brieföffnen,<br />

Aushorchen von Privaträumen mittels Richtmikrofonen,<br />

Beschattung, Denunziation, Einsatz von V-Leuten, Empfehlung<br />

an Arbeitgeber, Verdächtigte zu entlassen.<br />

Überwachung total – in der Schweiz, diesem Berg-Urgestein<br />

der Demokratie? Ja, auch die Schweiz unterhielt einen Staat im<br />

Staat, getarnt als Staatsschutz.<br />

Ein Satz aus Deinem Spiegel-Interview, lieber Otto Schily,<br />

eignet sich dazu trefflich als Kommentar: „In einem demokratischen<br />

Rechtsstaat spionieren Geheimdienste keine Bürger aus,<br />

sondern dienen der Gefahrenabwehr.“<br />

Die Eidgenossen räumten ihren Augiasstall schließlich aus.<br />

Wie aber steht es mit dem deutschen Schweinekoben aus Zeiten<br />

der Ost-West-Konfrontation?<br />

Allzu bekannt, allzu gewohnt wirkt die Überwachungsmentalität,<br />

die dank des Ex-Agenten Edward Snowden ans Licht<br />

kommt. Die Geheimen der Ära John Le Carrés spielten zwar im<br />

Vergleich zu den NSA-Methoden noch im Sandkasten. Auch die<br />

Agentenwerkzeuge aus den Zeiten James Bonds wirken nachgerade<br />

putzig, wenn man sie mit der Cyber-Spionage des Programms<br />

„Prism“ vergleicht.<br />

Überwachungsmacht bedeutet heute Allmacht: Keine E-<br />

Mail, kein Twitter-Tweet, kein „I like“ auf Facebook, keine<br />

Buchbestellung bei Amazon bleibt unerfasst – und alles wird automatisch<br />

auf verdächtige Stichworte oder Verhaltensweisen gecheckt.<br />

Der Regisseur Andres Veiel, mit Recherchen über die<br />

NSA befasst, schildert die schöne neue Geheimdienstwelt: „Die<br />

Möglichkeit, das Denken eines Menschen nachrichtendienstlich<br />

zu erfassen, seine Intuition berechenbar zu machen, die gab es<br />

bisher nicht.“<br />

Jetzt gibt es sie. Und diese Fähigkeit haben nicht nur Geheimdienste.<br />

Auch die Computer-Nerds der Silicon-Valley-<br />

Industrie arbeiten ihnen eilfertig zu. Internet-Giganten wie<br />

Google, Microsoft oder Facebook, mit deren bedienerfreundlichen<br />

Programmen wir international kommunizieren, unterstehen<br />

keiner demokratischen Aufsicht.<br />

Sie inszenieren sich zwar gern als Anarchos des Internet-Zeitalters<br />

– Kapuzenpullover statt Krawatte, Turn- statt Lederschuhen,<br />

Fahrrad statt Sportwagen –, in Wirklichkeit aber sind sie<br />

spießige US-Puritaner, die weder ruhen noch rasten, bis sie alle<br />

Bewegungen dieser Welt unter Kontrolle haben – gern auch als<br />

Helfer totalitär gestimmter Geheimdienstler.<br />

Es ist eine Internet-Theokratie, die da heraufdämmert, ausgestattet<br />

mit allen Mitteln und der Macht, den demokratischen<br />

Rechtsstaat geräuschlos zur Implosion zu bringen. Der Ökonom<br />

Max Höfer fand den treffenden historischen Vergleich: „In<br />

den Niederlanden bauten die Calvinisten seit dem 18. Jahrhundert<br />

das Wohnzimmer zur Straßenseite und verboten Gardinen<br />

vor den Fenstern, denn der rechtschaffene Protestant hat nichts<br />

zu verbergen.“<br />

Eric Schmidt, Executive Chairman von Google, formuliert<br />

das Dogma seiner Religion so: „Wenn es etwas gibt, von dem<br />

Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten sie es vielleicht<br />

gar nicht erst tun.“ Man muss, nach den neuesten Erkenntnissen,<br />

hinzufügen: Sie sollten es am besten gar nicht erst<br />

denken!<br />

Wie hätte Stasi-General Mielke das Schmidt-Diktum zu seiner<br />

Zeit formuliert? Wohl so: „Brave Parteisoldaten haben von<br />

mir nichts zu befürchten.“<br />

Doch, lieber Otto Schily, man darf, man muss die Vulgarität<br />

von Eric Schmidt und Seinesgleichen zur Vulgarität der Stasi<br />

in Bezug setzen, damit klar wird: Sie sind die Putschisten unserer<br />

Tage.<br />

Frank A. Meyer<br />

ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />

Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 55


| W e l t b ü h n e<br />

Des Volkes General<br />

Abdel Fattah al Sisi gibt sich moderat. Im Umgang mit dem politischen Gegner agiert er wie seine Vorgänger<br />

von Julia Gerlach<br />

S<br />

eine Stimme klingt weich und<br />

warm. Wie ein Vater spricht er,<br />

ein Vater, der seine Kinder liebt,<br />

aber auch streng mit ihnen sein kann. Seit<br />

vielen Jahren ist in Ägypten die Rede davon,<br />

dass nur ein neuer starker Mann die<br />

Probleme des Landes in den Griff bekommen<br />

kann. Abdel Fattah al Sisi, Ägyptens<br />

Armeechef und Verteidigungsminister,<br />

scheint der Mann zu sein, der diese Rolle<br />

übernehmen könnte. Er ist resolut und zugleich<br />

volksnah, berühmt für seine bewegenden<br />

Reden.<br />

Seinen wohl eindrücklichsten Auftritt<br />

hatte al Sisi Ende Juni. Für den 30. Juni waren<br />

Massenproteste gegen den damaligen<br />

Präsidenten Mohammed Mursi geplant.<br />

Klar war, es würden Millionen Menschen<br />

auf die Straße gehen. Klar war auch, dass<br />

Mursi nicht nachgeben würde. Die Angst<br />

vor einem Bürgerkrieg wuchs. Das war al<br />

Sisis Stunde.<br />

„Die Armee sollte sich aus den Alltagsgeschäften<br />

der Politik raushalten“, sagte er<br />

und warnte gleichzeitig: „Ich glaube nach<br />

wie vor an dieses Prinzip, doch habe ich<br />

zugleich eine Verantwortung. Ich werde es<br />

nicht dulden, dass Ägypten in einem dunklen<br />

Tunnel verschwindet. Krieg zwischen<br />

seinen Bürgern darf es nicht geben.“ Seine<br />

Augen glänzten, er war gerührt. Mit der<br />

Sorge um den Frieden im Land begründete<br />

al Sisi dann auch, weshalb er vier Tage nach<br />

den ersten großen Demonstrationen Mursi<br />

absetzte: „Ich musste eingreifen, die Gefahr<br />

eines Bürgerkriegs war zu groß.“<br />

Wenn man al Sisi fragt, ob es ihm nicht<br />

vielleicht doch um das Präsidentenamt geht,<br />

reagiert er gereizt. „Sie können sich wohl<br />

nicht vorstellen, dass jemand nicht nach<br />

Macht strebt, was?“, blafft er. Als Mursi<br />

zum Präsidenten gewählt wurde und er al<br />

Sisi kurz darauf zu seinem Verteidigungsminister<br />

machte, da habe die Armee hinter<br />

ihm gestanden: „Wir waren sehr am<br />

Erfolg des Präsidenten interessiert. Überhaupt,<br />

wenn wir nicht gewollt hätten, dass<br />

er regiert, dann hätten wir ja auch etwas an<br />

den Wahlen drehen können. Das haben die<br />

Regierungen vor uns ja auch getan“, sagt<br />

der General. Er sei der treue Wächter über<br />

Ägyptens Sicherheit und werde dafür sorgen,<br />

dass der Neuanfang gelingt. Das versicherte<br />

al Sisi dann auch, als er am 3. Juli<br />

vor die Kameras trat und die Absetzung<br />

Mursis bekannt gab.<br />

Allerdings ist es eine Sache, was al Sisi<br />

sagt, und eine andere, was getan wird.<br />

Bereits Stunden nach Mursis Absetzung<br />

wurde Kairo mit riesigen Porträts des Generals<br />

geschmückt. „Er ist wie Gamal Abdel<br />

Nasser, ein starker Mann, einer, der<br />

Ägypten wieder zu Ansehen verhelfen<br />

wird“, sagt ein junger Mann und salutiert<br />

vor dem Konterfei des Armeechefs.<br />

Er wünscht sich, wie so viele andere auch,<br />

dass al Sisi sich zum Präsidenten wählen<br />

lässt: „Wenn er nicht von sich aus antritt,<br />

dann werden wir ihn mit großen Demonstrationen<br />

oder einer Unterschriftenaktion<br />

dazu bringen, unser Kandidat zu werden!“,<br />

erklärt der junge Mann.<br />

Tatsächlich spielt al Sisi mit dem Populismus.<br />

So rief er zu Massenprotesten<br />

gegen die Muslimbruderschaft auf. Millionenfach<br />

sollten die Menschen auf die<br />

Straßen strömen und der Armee den Rücken<br />

stärken im Kampf gegen Gewalt und<br />

Terrorismus. Seit dieser Machtdemonstration<br />

– die Größe der Proteste war überwältigend<br />

– gilt es noch mehr als ausgemachte<br />

Sache, dass al Sisi bereitsteht.<br />

Was aber ist von ihm zu erwarten? Zunächst<br />

ist der 1954 in Kairo Geborene Teil<br />

des Systems Armee. Das ägyptische Militär<br />

ist ein Staat im Staate, die Generäle betreiben<br />

ein riesiges Wirtschafts imperium und<br />

spielen auch in der Verwaltung des Landes<br />

eine entscheidende Rolle.<br />

Al Sisi gehört zu einer neuen Generation<br />

von Generälen: Er hat im Gegensatz<br />

zu seinen Vorgängern keine Kriegserfahrung,<br />

dafür aber im Ausland studiert. Am<br />

United States Army War College in Carlisle,<br />

Pennsylvania schrieb er 2006 ein Thesenpapier<br />

zum Thema „Demokratie in der<br />

arabischen Welt“. Er kritisierte darin die<br />

Diktatoren in der Region und ihren Hang,<br />

Wahlen zu fälschen. Gleichzeitig gilt er als<br />

praktizierender, gläubiger Moslem. Wäre<br />

al Sisi also womöglich ein Militärherrscher<br />

neuen Typs, religiös, zugleich demokratisch<br />

und den Menschenrechten verpflichtet?<br />

Zweifel sind erlaubt.<br />

International bekannt wurde er im<br />

Frühjahr 2011. Demonstrantinnen hatten<br />

berichtet, sie seien in Militärgewahrsam<br />

dem erniedrigenden Jungfräulichkeitstest<br />

unterzogen worden. Die Armee<br />

schwieg. Allein al Sisi wandte sich an die<br />

Presse und verteidigte die Praxis. Erst auf<br />

internationalen Druck ließ er kurz darauf<br />

die Tests verbieten. Ganz offensichtlich<br />

ging es ihm vor allem darum, den Ruf der<br />

Armee wiederherzustellen.<br />

Am Umgang mit dem politischen Gegner<br />

hat sich indes nichts geändert: So wurden<br />

Mursi und viele Muslimbrüder direkt<br />

nach al Sisis Putsch verhaftet, Fernsehsender<br />

wurden geschlossen, und wo immer<br />

sich Mursi-Anhänger zu Demonstrationen<br />

versammelten, gab es Tote und Verletzte.<br />

Statt die Lage zu beruhigen, setzt al<br />

Sisi auf Konfrontation. Er drohte mehrfach,<br />

die Proteste gewaltsam aufzulösen. Agiert<br />

jemand so, der es ernst meint mit Demokratie<br />

und Menschenrechten?<br />

Julia Gerlach berichtet seit<br />

2008 aus Kairo. Sie hat mehrere<br />

Massenproteste erlebt, aber so<br />

aufregend wie in diesem Sommer<br />

war es seit langem nicht<br />

Fotos: Reuters, Claudia Wiens (Autorin)<br />

56 <strong>Cicero</strong> 9.2013


„Ich musste<br />

eingreifen, die<br />

Gefahr eines<br />

Bürgerkriegs<br />

war zu groß“,<br />

rechtfertigt<br />

General Abdel<br />

Fattah al Sisi<br />

die Absetzung<br />

von Präsident<br />

Mohammed Mursi<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 57


| W e l t b ü h n e<br />

bUSH RELOADED?<br />

Barack Obama gleiche immer mehr seinem geschmähten Amtsvorgänger, sagen seine Kritiker. Stimmt das?<br />

von rOGER cOHEN<br />

E<br />

R bleibt Rätselhaft, dieser Barack<br />

Obama. Es gibt einen fundamentalen<br />

Widerspruch – so als<br />

wären der Politiker, den sich die Welt vorgestellt<br />

hat, und der Bewohner des Weißen<br />

Hauses zwei unterschiedliche Personen.<br />

Da war die überschäumende Rhetorik<br />

dieses Mannes, der vorschnell den Friedensnobelpreis<br />

erhalten hat. Er sprach davon,<br />

das Weltgeschehen wieder in gerechtere<br />

Bahnen zu lenken. Nüchterner ausgedrückt,<br />

kündigte der Präsident an: das Gefangenenlager<br />

in Guantánamo zu schließen,<br />

den Rechtsstaat wiederherzustellen, die sicherheitsbedingte<br />

Überwachung wieder<br />

mit dem Schutz der persönlichen Freiheiten<br />

in Einklang zu bringen, den Drohnenkrieg<br />

einzudämmen und die ausufernden<br />

Befugnisse der Regierung zu begrenzen, die<br />

nach 9/11 ständig erweitert worden waren.<br />

Doch diese Befugnisse, die Obamas<br />

Amtsvorgänger George W. Bush in den<br />

Händen des Präsidenten gebündelt hat,<br />

bestehen fort. Die Zahl der Drohnenangriffe<br />

ist gestiegen. Laut dem in London<br />

ansässigen Bureau of Investigative Journalism<br />

waren es allein in Pakistan mindestens<br />

315, verglichen mit 52 unter Bush. Immer<br />

mehr Soldaten sind – mit zweifelhaftem<br />

Erfolg – nach Afghanistan geschickt worden.<br />

Mithilfe von Überwachungsprogrammen<br />

werden Telefonate und Aktivitäten in<br />

sozialen Medien in großem Stil kontrolliert<br />

und wahllos Daten gesammelt. Was<br />

die Europäer, vor allem die Deutschen, aufgebracht<br />

hat. Das Gefangenenlager in Guantánamo<br />

Bay existiert noch immer.<br />

Obama hat davon gesprochen, den<br />

Krieg gegen den Terror beenden zu wollen,<br />

und er hat das Wesen dieses Krieges<br />

auch verändert. Aber der Präsident agiert<br />

eher so, als wolle er dieses gefräßige Biest<br />

weiter füttern, statt es zu zähmen. Die Ausgaben<br />

für Sicherheit hat er jedenfalls – auf<br />

Kosten der doch unveräußerlichen Rechte<br />

der amerikanischen Bürger – verdoppelt.<br />

Woher kommt dieser dramatische Widerspruch<br />

zwischen Wort und Tat? Haben<br />

wir uns verführen lassen, einen Mann zu<br />

sehen, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt,<br />

weil die Erleichterung über das Ende der<br />

Bush-Jahre uns trunken gemacht hat? Weil<br />

das Bild, das Obama auf keinen Fall abgeben<br />

durfte, das des wütenden schwarzen<br />

Mannes war, der sich im Namen seiner liberalen<br />

Ideen mit dem Militär- und Sicherheitsapparat<br />

anlegt? Weil der Kampf gegen<br />

den Terror und Al Qaida eben doch so<br />

verzwickt ist, dass schmerzhafte Kompromisse<br />

zwingend notwendig waren? Oder<br />

ist Obamas Liberalismus doch nichts weiter<br />

als eine dünne Fassade? Vielleicht ist er<br />

im tiefsten Herzen ein knallharter Pragmatiker,<br />

ein Jurist, der immer Zugeständnisse<br />

macht; ein Mann, in den zu viele Ideale hineinprojiziert<br />

wurden?<br />

Kein Zweifel: Barack Obama ist auf einer<br />

Welle der Illusionen ins Weiße Haus gespült<br />

worden. Die Welt hätte ihn von Anfang an<br />

als den erkennen können, der er ist: ein halb<br />

weißes Kind der Eliteuniversitäten Columbia<br />

und Harvard, das den größten Teil seiner<br />

Kindheit als Barry Soetoro in einem<br />

komfortablen Mittelschichten-Leben auf<br />

Hawaii verbracht hat, bevor es sich durch<br />

einen Willensakt in Barack Obama verwandelte.<br />

Einer, der dazugehört und der aufgrund<br />

seiner Ausbildung und seines Temperaments<br />

mit einem Hang zum Kompromiss<br />

ausgestattet ist. Ein Christ, den eher eine<br />

tiefe Neugierde auf die Lebensbedingungen<br />

der Schwarzen in Amerika umtreibt als eine<br />

Prägung, die nur jemand erfährt, der diese<br />

Lebensumstände selbst kennengelernt hat.<br />

Kurz: Wir hätten begreifen können,<br />

dass Obama weniger Empathie für die<br />

Benachteiligten mitbringt als Bill Clinton,<br />

der in Armut aufgewachsen ist, und dass<br />

Obama allen Grund hat, vorsichtig zu agieren,<br />

wenn seine zusammengesetzte Identität<br />

nicht auseinader fallen soll.<br />

Aber die meisten Menschen (mich eingeschlossen)<br />

haben sich 2008 dafür entschieden,<br />

einen anderen Obama zu sehen.<br />

Einen schwarzen Politiker, mit dem<br />

der amerikanische Sündenfall der Sklaverei<br />

endgültig abgeschlossen sein würde. Einen<br />

Kosmopoliten, der in Indonesien gelebt<br />

hat und als geborener Friedensstifter<br />

mit muslimischen Vorfahren die Spaltung<br />

zwischen dem Westen und dem Islam nach<br />

9/11 überwinden könnte. Einen Außenseiter,<br />

der die immer noch existierenden<br />

Rassenbarrieren einreißen würde. Einen<br />

in jeder Hinsicht revolutionären Politiker.<br />

Eine weltgewandte Persönlichkeit, die den<br />

Schaden der Bush-Jahre ungeschehen machen<br />

und jene falsche Politik mit dem ersten<br />

Tag seiner Präsidentschaft wieder zurechtrücken<br />

würde. Wir wollten in Obama<br />

die Inkarnation des amerikanischen Traumes<br />

sehen, just in dem Moment, als er zu<br />

verblassen schien.<br />

In unserer Enttäuschung über Obama<br />

schwingt also auch die Enttäuschung mit,<br />

dass wir uns in die Irre haben führen lassen.<br />

Wir wollten den schwarzen und nicht auch<br />

den weißen Mann sehen. Doch wer hätte<br />

das laut gesagt? Aber das ist es nicht allein.<br />

Auch der Präsident hat nach allen denkbaren<br />

Maßstäben sein Wort und seine Versprechen<br />

gebrochen. Politisches Kalkül hat sich<br />

gegen alle innere Überzeugung durchgesetzt.<br />

Ich vermute, dass die Entwicklung etwa<br />

so vonstatten ging: Obama musste seinen<br />

Liberalismus und seine „schwarze Wut“ unter<br />

Kontrolle halten, um gewählt zu werden<br />

– bis ihm das zur Gewohnheit wurde.<br />

Als er den Rückzug aus dem Irak wollte,<br />

musste er den Afghanistankrieg ausweiten,<br />

denn er musste ja beweisen, dass er kein demokratischer<br />

Feigling ist. Später wollte er<br />

sich aus beiden Kriegen zurückziehen, die<br />

nicht mehr zu gewinnen waren und die<br />

den amerikanischen Steuerzahler schon<br />

mehr als eine Billion Dollar gekostet haben.<br />

Um das auszugleichen, erwies sich der<br />

Drohnenkrieg als probates Mittel. Wie bei<br />

dem außer Kontrolle geratenen Überwachungsprogramm<br />

wurde auch hier aus einer<br />

sauberen Technologie – fliegenden Robotern<br />

– eine Art Allzweckwaffe, deren Gebrauch<br />

weder hinreichend überprüft noch<br />

Foto: Pedro Santana/AFP/Getty Images<br />

58 <strong>Cicero</strong> 9.2013


„Ich denke, wir haben in<br />

einigen Fällen unsere<br />

Werte aufs Spiel gesetzt“<br />

Barack Obama<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 59


| W e l t b ü h n e<br />

eingeschränkt wurde. Der Präsident, der so<br />

überzeugend davon gesprochen hatte, die<br />

amerikanischen Werte wiederherzustellen,<br />

autorisierte Drohnenangriffe, die viele unbeteiligte<br />

Zivilisten das Leben kosteten, darunter<br />

auch vier US-Bürger.<br />

Natürlich hat dieser hart arbeitende und<br />

disziplinierte Präsident auch Erfolge vorzuweisen:<br />

die Tötung Osama bin Ladens 2011<br />

in Pakistan, die Verhinderung weiterer großer<br />

Terroranschläge auf die USA, die weitgehende<br />

Ausschaltung der Kernorganisation<br />

von Al Qaida. Der Krieg im Irak ist vorbei,<br />

der Krieg in Afghanistan neigt sich seinem<br />

Ende zu. Wenn Obama hinter unseren Erwartungen<br />

zurückgeblieben ist, dann auch,<br />

weil er mit einer gnadenlosen Feindseligkeit<br />

des Kongresses zurechtkommen muss.<br />

Dennoch ist es so, wie Obama in seiner<br />

Grundsatzrede zur Sicherheit an der<br />

National Defense University im Mai eingestand:<br />

„Ich denke, wir haben in einigen<br />

Fällen unsere Werte aufs Spiel gesetzt.“ Wir<br />

befinden uns an einem Wendepunkt. Der<br />

Präsident hat, schenkt man ihm Glauben,<br />

sein Scheitern eingesehen. Denn Ähnliches<br />

sagte er im August, als er ankündigte, dass<br />

die Überwachungsprogramme künftig besser<br />

kontrolliert würden.<br />

Anders ausgedrückt: Nach der großen<br />

Orientierungslosigkeit in der Zeit nach 9/11,<br />

die auch Obamas erste Amtszeit noch prägte,<br />

brauchen wir dringend eine Kurskorrektur.<br />

Der Staat muss aufhören, in die Privatsphäre<br />

der Bürger einzudringen, wahllos den weltweiten<br />

digitalen Datenausstoß zu sammeln,<br />

um ihn dann in einer eine Million Quadratmeter<br />

großen Festung in Utah zu speichern.<br />

Das Geheimgericht, das befugt ist, internationale<br />

Lauschangriffe und das massenhafte<br />

Abfangen von E-Mails zu autorisieren, darf<br />

nicht, wie bisher, die gehorsame Marionette<br />

der Regierung sein, sondern muss ein Ort<br />

echter Auseinandersetzung werden.<br />

Edward Snowden, der Whistleblower,<br />

hat eine wichtige Rolle gespielt. Ohne<br />

Obama ist weit besser, als seine<br />

Kritiker behaupten – auch wenn<br />

er nicht ganz der ist, den wir uns<br />

einmal vorgestellt haben<br />

ihn wüssten wir nicht, wie es der NSA gelang,<br />

auf die E-Mail- und Facebook-Konten<br />

und Videos von Bürgern auf der ganzen<br />

Welt zuzugreifen. Wir wüssten nicht,<br />

wie die Behörde heimlich an die Telefondaten<br />

von Millionen von Amerikanern gelangen<br />

konnte; und auch nicht, wie sie durch<br />

Anträge bei dem sogenannten Foreign Intelligence<br />

Surveillance Court (Fisa) neun<br />

amerikanische Internetunternehmen dazu<br />

zwingen konnte, die digitalen Informationen<br />

ihrer Kunden preiszugeben.<br />

Die längst überfällige Debatte, was die<br />

US-Regierung im Namen der Sicherheit<br />

nach 9/11 tut oder lässt, wäre ausgeblieben.<br />

Wir sprächen nicht über die Standards,<br />

die das Fisa-Gericht anwendet, über die<br />

Kontrolle dieses Gerichts und des Prism-<br />

Programms, über die Verteidigung der bürgerlichen<br />

Freiheiten gegen den alles verschlingenden<br />

Appetit der Geheimdienste;<br />

nichts davon würde diskutiert.<br />

Es ist, als sei nach über zehn Jahren eine<br />

Mehrheit der Amerikaner endlich zu einer<br />

ernsthaften Aufarbeitung der großen Orientierungslosigkeit<br />

bereit. Die Institutionen<br />

im Herzen des Systems der Checks and Balances,<br />

welche die amerikanische Demokratie<br />

und ihre zivilen Freiheiten erst ausmachen,<br />

haben versagt. Der Kongress hat dem<br />

Präsidenten einen Blankoscheck ausgestellt,<br />

mit dem er Krieg führen darf, wann und wo<br />

es ihm beliebt. Die Presse hat den Krieg im<br />

Irak, der unter Vorspiegelung falscher Tatsachen<br />

begonnen wurde, kaum hinterfragt.<br />

Guantánamo hat aus dem Rechtsstaat eine<br />

Farce gemacht. Die Vereinigten Staaten haben,<br />

um es mit Obamas eigenen Worten zu<br />

sagen, zugelassen, dass der Präsident „unbegrenzte<br />

Befugnisse“ erlangt.<br />

Barack Obama hat zu all dem lange<br />

geschwiegen. Die Doktrin des Drohnenkriegs<br />

wurde in seiner ersten Amtszeit nicht<br />

erklärt. Sein Scheitern in Guantánamo<br />

wurde totgeschwiegen. Dann kam seine<br />

Rede im Mai, in der er James Madison, einen<br />

der <strong>Grün</strong>derväter der USA, zitierte:<br />

„Kein Land kann inmitten eines fortdauernden<br />

Krieges seine Freiheit bewahren.“<br />

Die Vereinigten Staaten sind da keine<br />

Ausnahme, wie auch Obama zuletzt zugeben<br />

musste: „Wenn wir unser Denken, unsere<br />

Definitionen, unser Handeln nicht disziplinierten,<br />

würden wir Gefahr laufen, in<br />

weitere Kriege hineingezogen zu werden,<br />

die wir nicht zu führen brauchen, oder weiter<br />

Präsidenten mit unbegrenzten Befugnissen<br />

auszustatten, die eher für den traditionellen<br />

bewaffneten Konflikt zwischen<br />

Staaten geeignet sind.“<br />

Diese „unbegrenzten Befugnisse“ basieren<br />

auf der sogenannten Authorization to<br />

Use Military Force (AUMF, Befugnis zur<br />

Anwendung militärischer Gewalt), verabschiedet<br />

in der Woche nach dem 11. September<br />

2001. Im Kern wurde damit der<br />

Präsident befugt, ohne oder mit nur sehr<br />

wenig öffentlicher Kontrolle überall auf<br />

der Welt Al Qaida, die Taliban oder andere<br />

Kräfte, die unter diesen losen Bezeichnungen<br />

kämpfen, in einer breiten Antiterrorkampagne<br />

anzugreifen. Das Ergebnis<br />

waren ein katastrophaler Bodenkrieg im<br />

Irak – ungerechtfertigt und in Sachen Antiterrorkampf<br />

völlig kontraproduktiv – und<br />

Drohnenangriffe von Pakistan bis Somalia.<br />

Wenigstens fallen die Euphemismen<br />

nun weg. Wir haben Obama von „Folter“<br />

sprechen hören, nicht von „verschärften<br />

Befragungstechniken“, und wir haben<br />

gehört, dass Menschen gefangen gehalten<br />

werden „in einer Weise, die der Rechtsstaatlichkeit<br />

widerspricht“. Doch die bedeutendste<br />

Klarstellung war eher allgemeiner<br />

Natur: das Eingeständnis des Präsidenten,<br />

dass ein endloser Krieg unweigerlich jene<br />

Institutionen beschädigen würde, die für<br />

den Schutz von Freiheit, Demokratie und<br />

Rechtsstaatlichkeit stehen.<br />

Obama muss noch viel konkreter und<br />

offener mit seinen Absichten werden. Nirgendwo<br />

ist der Bedarf größer als in der<br />

Drohnenpolitik. Obwohl Obama deren<br />

Rechtmäßigkeit im Rahmen der AUMF<br />

verteidigt hat, gab er auch zu erkennen,<br />

dass es zu wenig öffentliche Diskussionen<br />

gegeben habe und dass die Gefahr bestünde,<br />

Drohnen zu einer Allzweckwaffe<br />

im Antiterrorkampf zu machen. Er sprach<br />

von strengerer Überwachung und Kontrolle.<br />

Aber Obama blieb zu vage. Die Zahl<br />

der Drohnenangriffe ist verstörend. Allein<br />

in Pakistans Stammesgebieten wurden<br />

60 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Foto: Picture Alliance/DPA<br />

mindestens 3586 Menschen getötet, unter<br />

denen sich mindestens 884 Zivilisten<br />

befanden, darunter bis zu 197 Kinder.<br />

Selten haben wir die selbstkorrigierenden<br />

Mechanismen, die in der Gewaltenteilung<br />

in der amerikanischen Verfassung<br />

eingebaut sind, dringender gebraucht. Der<br />

Kampf gegen den Terror ist ein schmutziges<br />

Geschäft. Es gibt keine einfachen oder endgültigen<br />

Lösungen. Am Ende wird Obama<br />

an seiner Fähigkeit gemessen werden, Wort<br />

und Tat in Einklang zu bringen und ein gesünderes<br />

Gleichgewicht zwischen Sicherheit<br />

und Freiheit herzustellen. Ein „lame duck“<br />

zu sein, ist, zumindest theoretisch, ein befreiender<br />

Zustand. Obama ist viel liberaler,<br />

als es bisher den Anschein hatte; er kann immer<br />

noch seine Mittel und Ziele – effektiv<br />

und prinzipientreu – in Einklang bringen.<br />

Es ist eine mühsame Aufgabe, in der<br />

globalen Kakofonie den Ton zu bestimmen.<br />

Für ein Land wie die USA, das den Zenit<br />

seiner Dominanz überschritten hat und vor<br />

immensen innenpolitischen Herausforderungen<br />

steht, ist es noch mühsamer.<br />

Doch ich bin nach wie vor überzeugt<br />

von der amerikanischen Macht als einer<br />

Kraft für das Gute, und ich glaube, dass wir<br />

künftig vier Dinge von Obama brauchen:<br />

Führungsstärke, Diplomatie (dieses altmodische<br />

Wort), Beständigkeit und Mut.<br />

Wir brauchen diese vier Dinge, um<br />

einen Krieg mit dem Iran zu verhindern,<br />

denn ein dritter Krieg der USA mit einem<br />

muslimischen Land wäre ein Desaster. Wir<br />

brauchen sie, um einen Frieden zwischen Israel<br />

und Palästina herbeizuführen, um den<br />

Einsatz von Drohnen zu kontrollieren, um<br />

die uneingeschränkte Überwachung zu zügeln<br />

und um die USA vor der tödlichen innenpolitischen<br />

Gefahr eines endlosen Krieges<br />

gegen den Terror zu schützen.<br />

Jetzt, da sich unsere Illusionen verflüchtigt<br />

haben, sollte der echte Obama hervortreten,<br />

gestärkt durch die Erfahrungen<br />

seiner ersten Amtszeit und seinen zweiten<br />

Wahlsieg, und sich seinen Nobelpreis verdienen.<br />

Er ist weit besser, als seine Kritiker<br />

behaupten – auch wenn er nicht ganz der<br />

ist, den wir uns einmal vorgestellt haben.<br />

Übersetzung: Luisa Seeling<br />

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| W e l t b ü h n e | l i b a n o n<br />

TAnz auf<br />

dem Vulkan<br />

Beirut boomt, tanzt – und protestiert.<br />

Gleichzeitig wächst die Angst, der Bürgerkrieg<br />

in Syrien könnte sich wie ein Flächenbrand<br />

auch im eigenen Land ausbreiten<br />

von Jan Rübel<br />

62 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Party bis zum Abwinken:<br />

Beim Feiern vergisst Beiruts<br />

wohlhabende Jugend im B 018,<br />

was um sie herum geschieht<br />

M<br />

anchmal, wenn der Südwind<br />

Fetzen sorglosen Plauderns<br />

vom Café gegenüber<br />

herweht, frage sie sich schon,<br />

was das ist: Heimat. Wenn es<br />

dunkelt, der Juwelier Mawla seine Jalousien<br />

herunterlässt und sie den Treppenabsatz<br />

davor bezieht. Wenn sie Hanans und<br />

Ranas Köpfe auf ihrem Schoß bettet, die<br />

rechte Hand mit der kleinen Kaugummischachtel<br />

zum Verkauf ausstreckt und den<br />

Blick im Pflasterstein der Hamra-Straße<br />

versenkt. „Ich schalte den Verstand meist<br />

aus, das ist das Beste“, sagt sie.<br />

Vor drei Monaten ist Najma, 28, die<br />

ihren vollständigen Namen nicht verraten<br />

will, aus Damaskus geflohen. Der Krieg<br />

hatte schon längst ihr Südstadtviertel erreicht,<br />

doch die Familie harrte aus, nur kam<br />

eines Abends Najmas Ehemann nicht zurück.<br />

Die Ersparnisse waren nahezu aufgebraucht,<br />

seit Monaten hatte er als Schreiner<br />

kaum mehr gearbeitet. Da packte sie zwei<br />

Taschen und schloss sich einem Treck an,<br />

fuhr mit Hana, 4, und Rana, 2, über die<br />

grüne Grenze zwischen Syrien und dem Libanon.<br />

Ein Lastwagen spuckte sie in Dahiya,<br />

einem Vorort Beiruts, aus und irgendwann<br />

erreichte sie den Einkaufsboulevard Hamra.<br />

Inmitten von Neonreklamen für Armani<br />

und Gucci atmet sie den Duft der<br />

Bars von Wasserpfeife und Whiskey ein,<br />

hört das Rauschen der SUV von BMW<br />

und Porsche – auf Mawlas Treppenstufen<br />

mit Glasvitrinen voller Schmuck im<br />

Rücken. „Diesen Platz habe ich gesehen<br />

und gedacht, das ist jetzt meine ‚Heimat‘“,<br />

sagt Najma und lacht heiser über dieses<br />

Wort. Nun wachen die Taxifahrer von ihrem<br />

Stand neben dem Bürgersteig über ihr<br />

Wohl, stecken ihr Brot und Cola zu, immer<br />

wieder beugen sich Passanten, kaufen<br />

Kaugummi, reichen aus mitgebrachten<br />

Kochtöpfen Essen. Es ist 22 Uhr, Hana<br />

und Rana schlafen. Erst wenn die Vergnügungsmeile<br />

gegen zwei Uhr schließt, wird<br />

sich die Familie aufmachen nach Dahiya.<br />

„Dort habe ich ein Zimmer gemietet, für<br />

300 Dollar im Monat“, sagt sie. „Die kriege<br />

ich schon zusammen, die Leute helfen.“<br />

Beirut ist eine Stadt voller Schatten.<br />

Sie drücken sich an Häuserwände, stromern<br />

bettelnd durch die City und schlafen<br />

auf der Straße. Sie leben in Beirut, aber<br />

sie nehmen am Leben nicht teil. Der Krieg<br />

im Nachbarland hat sie in den vergangenen<br />

Monaten in den Libanon vertrieben,<br />

Foto: Frank Schultze/Zeitenspiegel<br />

bisher sind es über eine Million Syrer, die<br />

in den vier Millionen Einwohner zählenden<br />

Zedernstaat kamen. Keine Zeltlager<br />

nehmen sie auf, keine Barackensiedlungen.<br />

Sie tauchen ab. Werden von libanesischen<br />

Familien privat aufgenommen oder<br />

sie schlagen sich allein durch, irgendwie.<br />

„Natürlich will ich wieder zurück“, sagt<br />

Najma. „Sobald ich wüsste, dass ich dort<br />

leben könnte.“<br />

Die Flüchtlinge kommen in ein Land,<br />

das mit sich selbst nicht im Reinen ist.<br />

Auch 23 Jahre nach dem verheerenden Bürgerkrieg<br />

leisten sich die Libanesen ein politisches<br />

System, das genau zu jenen Waffengängen<br />

zwischen 1975 und 1990 geführt<br />

hat: Klientelismus und Korruption haben<br />

die Oberhand gewonnen, mit dem „Staat“<br />

oder einer „Nation“ identifiziert sich kaum<br />

jemand. Stattdessen setzt jeder auf seine<br />

Konfession als Staat im Staate; Politik reduziert<br />

sich aufs Dirigieren von Geldströmen.<br />

In diesem Land erscheinen die neuen<br />

Flüchtlinge wie Gäste, die, so unscheinbar<br />

sie auch sind, am Zaun dieses schwachen<br />

Systems rütteln. Der Krieg um Syrien greift<br />

auf den Libanon über.<br />

Riad Issa, 44, steuert seinen Nissan Sonic<br />

durch die verschlafenen Straßen von<br />

Tripoli, es ist 8.30 Uhr am Samstagmorgen.<br />

Nur langsam reckt sich die Stadt im Nordlibanon<br />

aus dem Schlaf, in der vergangenen<br />

Nacht gab es hier wieder Kämpfe zwischen<br />

Befürwortern und Gegnern des syrischen<br />

Regimes von Baschar al Assad. Der Nissan<br />

passiert einen Panzer der libanesischen Armee,<br />

vom Heck bis zum Bug mit einem<br />

Graffito besprüht: „Es gibt keinen Gott außer<br />

Gott.“ Riad Issa schaut auf die Uhr.<br />

„Heute werden kaum Schüler kommen. Die<br />

Eltern lassen sie nicht auf die Straße.“<br />

Issa ist Handlungsreisender in Sachen<br />

Frieden. Eigentlich arbeitet er als Elektrotechniker<br />

in einer staatlichen Telekommunikationsfirma.<br />

Die meiste Zeit aber verbringt<br />

er in Nichtregierungsorganisationen,<br />

für die Gruppe „Permanent Peace Movement“<br />

will er gleich einen Workshop abhalten,<br />

es geht um Gewaltprävention. Zwei<br />

Schulklassen haben ihr Kommen zugesagt.<br />

An den Tischen im Saal eines Kulturzentrums<br />

nehmen schließlich 20 Schüler<br />

Platz. „Ab 18 Uhr darf ich nicht mehr auf<br />

die Straße“, sagt Omar, 13. „Jede Nacht<br />

gibt es Schießereien.“ Najib, 14, pflichtet<br />

ihm bei. „Da braucht man selbst eine Waffe.<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 63


| W e l t b ü h n e | L i b a n o n<br />

Ich mag sie nicht, aber eine Pistole macht<br />

mich stark, und verteidigen muss ich mich<br />

doch.“ Issa, ein ehemaliger Milizenkämpfer<br />

der Kommunistischen Partei, sagt: „Kugeln<br />

lösen kein Problem, sie vergrößern es<br />

nur“. Es klingt weise und hilflos zugleich.<br />

Dann spricht er eine Stunde lang, über<br />

Grundlagen von Kommunikation und wie<br />

schnell man sich missversteht. „Hört nie<br />

auf Dritte“, appelliert er an die Jugendlichen.<br />

„Hört nur darauf, was der Nächste<br />

sagt. Haltet Ausschau nach gemeinsamen<br />

Interessen.“ Er schaut die Jugendlichen an,<br />

als wollte er sie hypnotisieren.<br />

Sein Job ist hart. Tief sitzen Angst<br />

und Stolz, die alten Bindungen an Familie,<br />

Clan und Konfession. Keine der 17 Religionsgemeinschaften<br />

im Libanon ist stark<br />

genug, alle anderen vollends zu dominieren.<br />

Das schafft Druck. Charles Harb, Professor<br />

für Psychologie an der Amerikanischen<br />

Universität von Beirut, machte 2010<br />

erschreckende Entdeckungen über die libanesische<br />

Jugend: Ein Drittel bekennt sich<br />

offen zu feindlichen Vorurteilen gegenüber<br />

anderen Konfessionen, zwei Drittel würden<br />

niemals interkonfessionell heiraten.<br />

Diese Tendenzen haben sich in den vergangenen<br />

Jahren sogar verstärkt. Die zumeist<br />

sunnitischen Flüchtlinge aus Syrien<br />

wirbeln nun die konfessionellen Größenverhältnisse<br />

durcheinander. Zu den vielen<br />

Schismen im Libanon gesellt sich ein weiterer<br />

Riss: Er verläuft zwischen Gegnern und<br />

Unterstützern des Assad-Regimes.<br />

Auf der Rückfahrt nach Beirut hält Issa<br />

für einen Snack. Bei „Halab & Sons“ löffelt<br />

er eine Halawiya bi Jibin, Mozzarella<br />

mit Teig, Pistazien und Rosensirup. Er ertränkt<br />

den Käse im Zuckersaft. „Die Lage<br />

heute ist noch schlimmer als 1975“, sagt er.<br />

„Früher ging es auch um Politik, um Ideologie.<br />

Heute denkt jeder nur konfessionell.“<br />

Und die Hisbollah, jene von Iran mit Waffen<br />

und Geld gepäppelte Partei der Schiiten,<br />

der größten Bevölkerungsgruppe? Ihre<br />

Waffenarsenale übersteigen die aller anderen<br />

Gruppen, der Staatsstreitkräfte eingeschlossen.<br />

Würde sie, wenn ein Krieg ausbricht,<br />

nicht kurzen Prozess machen?<br />

„Gewiss“, sagt Riad Issa. „Und was<br />

dann? Dann hätten wir syrische Verhältnisse.<br />

Was derzeit dort geschieht, ist eine<br />

Blaupause für den Libanon.“<br />

Zurück in Beirut füllen sich am Samstagabend<br />

die Straßen, Restaurants und Bars<br />

Wut und Angst: Junge Demonstranten protestieren gegen die Verlängerung der<br />

Legislaturperiode durch das libanesische Parlament und warnen vor einem Bürgerkrieg<br />

stellen ihre Stühle auf den Bürgersteig. Wie<br />

verloren steht ein Dutzend Demonstranten<br />

vor dem Nationalmuseum. Sie halten<br />

Schilder hoch mit Slogans wie „Nein zum<br />

Krieg“ oder „Ich bin Sunnit, Schiit und<br />

Christ“. „Wir haben uns spontan über<br />

Facebook verabredet“, sagt Chris, 19. Er<br />

spüre, dass sich da etwas rege, etwas, das<br />

ihm Angst macht. „Der Hass zwischen den<br />

Konfessionen nimmt zu – nur redet niemand<br />

drüber. Ich habe es satt.“<br />

Die „grüne Linie“ entlang, jene Straße,<br />

die einst im Bürgerkrieg den muslimischen<br />

Westen vom christlichen Osten trennte,<br />

laufen Jugendliche mit Transparenten<br />

und Fahnen ins Stadtzentrum. Längst ist<br />

die grüne Linie nicht mehr Wahrzeichen<br />

der zerschossenen Metropole, die durchlöcherten<br />

Häusergerippe wichen Glaspalästen.<br />

Beirut erlebt einen beispiellosen Immobilienboom.<br />

Geld aus aller Welt, vor<br />

allem aus dem Arabischen Golf, fließt in<br />

die Stadt, die nicht zur Ruhe kommt. Abrissbirnen<br />

räumen nicht nur mit Kriegstrümmern<br />

auf, sondern auch mit heruntergekommenen,<br />

aber morbid charmanten<br />

europäisch-osmanischen Villen der <strong>Grün</strong>derzeit.<br />

Alte Kinos und Hinterhofkneipen<br />

machen Platz für Starbucks und H & M.<br />

Beirut verliert sein Gesicht. Zum Nukleus<br />

dieser Stadtstraffung streben jetzt die jungen<br />

Demonstranten. Aus dem Häuflein<br />

vorm Museum ist eine wütende Menge<br />

am Sternplatz im Stadtzentrum geworden.<br />

Die Menschen kommen aus allen Richtungen,<br />

vorbei an den sandsteinfarbenen<br />

Prachtbauten, neoklassisch soll die Shoppingmeile<br />

sein, sie wurde erst vor wenigen<br />

Jahren aus dem Boden gestampft. Früher<br />

stand hier einmal der Basar – nach dem<br />

Bürgerkrieg schoben Bagger dessen Reste<br />

ins Meer und errichteten ein Disneyland<br />

für Reiche.<br />

Die oberen Stockwerke stehen zumeist<br />

leer. Unten versammeln sich nun<br />

rund 400 Demonstranten; Krach machen<br />

sie für 4000. „Politiker raus“, skandieren<br />

sie, und „Ziad und Fuad, ist noch nicht<br />

Schluss mit eurem Gelderfluss?“, rufen sie<br />

zum Parlament hinüber, das sich zwischen<br />

Stacheldraht, einer Riege Polizisten, einem<br />

Zaun und noch einer Riege Uniformierter<br />

verbirgt. Weil sich die Abgeordneten nicht<br />

auf eine Wahlrechtsreform einigen konnten,<br />

verlängerten sie kurzerhand ihre Legislaturperiode<br />

um 17 Monate. Eine Studie<br />

von Transparency International von Mitte<br />

Juni kommt zum Ergebnis, dass die Korruption,<br />

ohnehin auf hohem Niveau, zugenommen<br />

hat: 61 Prozent der Befragten<br />

Foto: Frank Schultze/Zeitenspiegel<br />

64 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Foto: Kathrin Harms/Zeitenspiegel (Autor)<br />

„Hisbollah<br />

schützt nur<br />

Libanesen,<br />

die in Syrien<br />

wohnen.<br />

Wer hat uns<br />

denn immer<br />

geholfen? Das<br />

war Assad.<br />

Jetzt helfen wir<br />

ihm“<br />

Ahmad Nasr, Hisbollah-Aktivist<br />

gaben an, für den Erhalt von Dokumenten<br />

Schmiergeld gezahlt zu haben.<br />

Die Demonstranten reißen Wahlplakate<br />

der Abgeordneten von Häuserwänden<br />

und zertrampeln sie. „Wir sind die<br />

Herrschaft und das Volk“, rufen sie. Ganz<br />

stimmt das wohl nicht: Es sind die Gutverdienenden,<br />

die hier protestieren, die Hammer<br />

und Sichel am Silberkettchen tragen<br />

und eine Zeitungsausgabe der Alternativen<br />

Studentenbewegung auf Englisch verteilen,<br />

aber nicht auf Arabisch. „Die Arbeiter haben<br />

wir noch nicht erreicht“, murmelt Nizar<br />

Ghanem, einer der Organisatoren.<br />

Die Arbeiter wohnen im Viertel Basta<br />

Tahta, rund einen Kilometer vom Parlament<br />

entfernt. Seine Mauern zieren frisch<br />

gekleisterte Plakate mit traurigen Männergesichtern,<br />

im Hintergrund weiße Tauben,<br />

bunte Tulpen. Eine aufgehende Sonne. Die<br />

Konterfeis zeigen die aktuellen Märtyrer,<br />

die Hisbollah in den Krieg nach Syrien geschickt<br />

hat und vor wenigen Tagen in Leinen<br />

gehüllt zurückbrachte. Seit die Partei<br />

offen aufseiten des Assad-Regimes kämpft,<br />

zieht sie den Hass vieler Sunniten auf sich.<br />

Sehnen doch die meisten von ihnen nicht<br />

nur den Sturz Assads herbei, einige kämpfen<br />

auch mit den Rebellen in Syrien. Viele<br />

Schiiten dagegen stellen sich hinter den<br />

derzeitigen Parteikurs. Verlagert sich die<br />

Frontlinie bald westwärts, kämpfen dann<br />

Libanesen gegen Libanesen auch im Libanon?<br />

Preise für Waffen ziehen jedenfalls an<br />

im Libanon. Die Nachfrage steigt.<br />

„Die Sunniten haben nicht verstanden,<br />

worum es uns geht“, sagt Ahmad Nasr, ein<br />

Parteikader. Das Hemd zugeknöpft, den<br />

Bart sorgsam gestutzt, lehnt der 21-Jährige<br />

an einem Wagen. „Hisbollah schützt nur<br />

Libanesen, die in Syrien wohnen, und die<br />

schiitischen Schreine.“ Stirnrunzeln. „Außerdem<br />

verteidigen wir uns gegen die Salafisten,<br />

diese Fundamentalisten wollen Libanon<br />

zu einer Bastion für Al Qaida machen.“<br />

Er stockt. „Okay, wer hat uns immer geholfen?<br />

Das war Assad. Jetzt helfen wir ihm.<br />

Wir sind Partner.“<br />

Offiziell hat sich die libanesische Regierung<br />

eine Nichteinmischung in die syrischen<br />

Wirren verordnet. Die radikalschiitsche<br />

Hisbollah aber dominiert das<br />

Kabinett – und schickt ihre Kämpfer nach<br />

Syrien. Sie offenbart damit ihre Schwäche,<br />

im Libanon Zivilpolitik zu betreiben. Hisbollah<br />

bleibt eine militärische Kadertruppe,<br />

die ihre Ziele abarbeitet; auch auf Kosten<br />

des Landes.<br />

Keine drei Kilometer südlich der Basta<br />

scheint der Druck im libanesischen Kessel<br />

doch zu groß. Die Vorurteile, das Misstrauen,<br />

die Waffen: Vor der Imam-Ali-<br />

Moschee im Viertel Tariq al Jadideh wartet<br />

alles auf den großen Knall. Dutzende<br />

Jungs auf Mopeds, mit Schlagstöcken und<br />

schwarzen Fahnen der sunnitischen Islamisten,<br />

umkreisen das Gotteshaus. Die ersten<br />

Händler schließen ihre Geschäfte. Polizeitrupps<br />

sammeln sich in der Nebenstraße.<br />

Während ein Prediger über Lautsprecher<br />

zur Einheit aller Sunniten aufruft, durchzuckt<br />

eine erste Welle der Erregung die<br />

Menschen vor der Moschee. Keiner weiß<br />

Genaues, plötzlich laufen alle nach vorn,<br />

Polizisten über die Straße, Jugendliche über<br />

die Dächer parkender Autos. Vor einem<br />

Geschäft für Hochzeitsmoden entsteht ein<br />

Knäuel. Die Aufregung legt sich schnell,<br />

als sich herausstellt, dass lediglich zwei Syrerinnen<br />

beim Diebstahl erwischt wurden.<br />

Ein Geländewagen bringt die Frauen mit<br />

Blaulicht fort.<br />

Die Imam-Ali-Moschee ist ein Zentrum<br />

sunnitischer Extremisten. Noch vor<br />

vier Monaten hatte hier Ahmad Assir gepredigt,<br />

einer ihrer Wortführer. Nun hält er<br />

sich irgendwo im Land versteckt, nachdem<br />

die Armee sein mit Waffen gefülltes Hauptquartier<br />

in Saida gestürmt hatte. Die Hisbollah<br />

hatte heimlich Kämpfer entsandt, es<br />

gab Tote auf beiden Seiten. In Tariq al Jadideh<br />

gärt es. „Heute wird abgerechnet“,<br />

sagt ein junger Mann. Er hat sich frei genommen<br />

vom Hühnergrill, jetzt fuchtelt<br />

er mit einem Zettel. „Da stehen die Adressen<br />

von schiitischen Familien des Viertels<br />

drauf. Die sollten besser verschwinden.“<br />

Lange genug hätten die Sunniten unter der<br />

Hisbollah gelitten. „Unser Stolz ist verletzt.“<br />

Als sich nach dem Gebet die Moschee<br />

von Hunderten leert, warten sie auf das Signal.<br />

Die Mopeds heulen, die Hauptstraße<br />

ist schnell besetzt. „Nieder mit Hisbollah“,<br />

rufen ein par Dutzend junge Männer und<br />

haken sich unter. Die Menge marschiert los,<br />

kommt aber abrupt zum Halt. Und dann<br />

sieht man den Grund.<br />

Stumm bewegen sie sich schweren<br />

Schrittes, die Demonstranten weichen<br />

sofort: Rund 30 junge Männer, ihre Tattoos<br />

glänzen auf den breiten Unterarmen.<br />

Sie schauen gefährlich, finster. „Qabadayyat!“,<br />

flüstert ein Protestierer – Anführer<br />

von Gangs, welche die Straßen kontrollieren,<br />

im Viertel bekannt und gefürchtet,<br />

oft im Sold mächtiger Patrone. Eine weitere,<br />

starke Machtstruktur in dieser Stadt<br />

am Rande des Krieges. Die schweren Jungs<br />

umzingeln das letzte Dutzend, das mit dem<br />

Tanz nicht aufhört, die Fäuste reckt und<br />

Scheich Assir lobpreist. Die tätowierten<br />

Männer reden kein einziges Wort. Doch<br />

nach zehn Minuten endet der Spuk, die<br />

Menge zerstreut sich. Heute ist kein Tag für<br />

einen Krieg. Jemand will ihn nicht.<br />

Am Straßenrand lehnt ein Mittfünfziger<br />

an seinem SUV, die langen Beine in einem<br />

zu kurzen Anzug. Altmodisch wirkt er,<br />

winkt die Qabadayyat zu sich und klopft<br />

ihnen auf die Schultern. Auch der Polizeikommandant<br />

eilt herbei, erstattet Bericht.<br />

Der Patron, der seinen Namen nicht nennen<br />

will, nimmt Jobgesuche und Bittschreiben<br />

entgegen. Das System hat heute<br />

gewankt, gefallen aber ist es nicht. Vorerst.<br />

Der Mann steigt hinten in den SUV und<br />

braust davon.<br />

Jan Rübel<br />

studierte Islamwissenschaft in<br />

Hamburg, Beirut und Tel Aviv.<br />

Er ist Partner bei Zeitenspiegel<br />

Reportagen<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 65


| W e l t b ü h n e | V a t i k a n<br />

Liebe auf den<br />

ersten Blick<br />

66 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Papst Franziskus hat eine neue Begeisterung für die katholische Kirche<br />

ausgelöst. Gläubige aller Religionen wie auch Atheisten fühlen sich von ihm<br />

angesprochen. Wie erklärt sich die Strahlkraft dieses Kirchenoberhaupts?<br />

von Julius Müller-Meiningen<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 67


| W e l t b ü h n e | V a t i k a n<br />

S<br />

ie ist schwarz, abgegriffen und<br />

unscheinbar. Aber die lederne<br />

Aktentasche ist wieder einer<br />

dieser kleinen Gegenstände, mit<br />

denen er Großes sagen möchte,<br />

mit denen er Wirkung erzeugen will: Papst<br />

Franziskus, Meister des Details.<br />

Natürlich trägt er die Tasche selbst,<br />

auch auf seiner ersten Auslandsreise zum<br />

Weltjugendtag nach Rio de Janerio. Den<br />

Berichterstattern, die ihn begleiten, entgeht<br />

sie nicht. Als er auf dem Rückflug spontan<br />

eine Pressekonferenz gibt, ist deshalb auch<br />

sein Handgepäck Thema. Die Schlüssel für<br />

die Atombombe seien nicht drin, scherzt<br />

Franziskus. Stattdessen: „Ein Rasierer, das<br />

Brevier (ein Buch mit Stundengebeten),<br />

mein Kalender, ein Buch zum Lesen, ich<br />

habe eines über die Heilige Thérèse mitgenommen,<br />

die ich verehre. Ich habe diese<br />

Tasche immer auf Reisen dabeigehabt, das<br />

ist normal.“ Der Papst macht eine kurze<br />

Pause. „Wir müssen normal sein.“<br />

Damit meint Franziskus vor allem den<br />

Klerus und die Kurie, den Verwaltungsapparat<br />

des Vatikans. Normalität sucht man<br />

hier seit einiger Zeit vergeblich. Erstmals<br />

in der Neuzeit ist ein Papst zurückgetreten,<br />

Benedikt XVI. war schon lange nicht mehr<br />

Herr im eigenen Haus. Er ließ sich auf einen<br />

Streit mit den Traditionalisten der Piusbruderschaft<br />

ein. Nicht nur Pädophilie-<br />

Skandale erschütterten die Kirche, sondern<br />

auch die Vatileaks-Affäre um gestohlene<br />

Geheimdokumente und den untreu gewordenen<br />

Papst-Butler Paolo Gabriele, Gerüchte<br />

um eine Homosexuellen-Lobby im<br />

Vatikan, Geldwäsche in der Vatikanbank.<br />

Von ihrer Aufgabe, der Verkündigung des<br />

Evangeliums, wirkte die Kirche Lichtjahre<br />

entfernt. Zeitweise glich der Vatikan einem<br />

zwielichtigen Unternehmen, in dem jeder<br />

machte, was er wollte.<br />

Seit Franziskus im Amt ist, sind die<br />

meisten dieser Probleme nicht verschwunden.<br />

Aber sie erscheinen jetzt in einem anderen<br />

Licht. Wer spricht noch von Vatileaks?<br />

Wohin haben sich die von der<br />

italienischen Presse „Raben“ getauften, anonymen<br />

Informanten verkrochen, die der<br />

Presse Geheimakten zusteckten?<br />

Franziskus ist der erste Jesuit auf dem<br />

Stuhl Petri, der erste Papst aus Lateinamerika,<br />

er kommt „vom Ende der Welt“, wie<br />

er selbst am Abend seiner Wahl sagte. Er<br />

hat das Kunststück fertiggebracht, Oberhaupt<br />

von 1,2 Milliarden Katholiken zu<br />

„Von den ersten<br />

Tagen an<br />

bemüht sich<br />

Franziskus zu<br />

zeigen, dass<br />

er einer aus<br />

unserer Mitte<br />

ist, einer aus<br />

der Herde“<br />

Kardinal Óscar Rodríguez Maradiaga<br />

sein und doch wie ein Außenstehender<br />

aufzutreten. Die schwarze Aktentasche,<br />

die Franziskus wie ein Rechnungsprüfer<br />

im Namen Gottes mit sich herumträgt, ist<br />

Symbol für diesen neuen Pragmatismus.<br />

Seit die Kardinäle am 13. März Jorge Mario<br />

Bergoglio zum Papst wählten, verspüren<br />

immer mehr Menschen „Frühlingsgefühle“,<br />

wenn sie an den Papst und die Kirche denken.<br />

So formuliert es ein einflussreicher katholischer<br />

Funktionär in Rom. Enttäuschte<br />

Gläubige beschreiben ein Gefühl von Aufbruch.<br />

Sie hoffen auf einen Wandel und<br />

dass die Kirche nicht mehr wegen ihrer<br />

Skandale wahrgenommen wird. Sie soll das<br />

befördern, was sie am Christentum schätzen:<br />

den Glauben an eine höhere Macht,<br />

Werte, Gnade und Vergebung, Hilfe für<br />

Schwächere, Nächstenliebe.<br />

Kurienmitarbeiter, die sich bis vor kurzem<br />

für die Verhältnisse in Rom rechtfertigen<br />

mussten, bekommen in ihrer Heimat<br />

nun Komplimente für ihren sympathischen<br />

Chef, weil der jugendlichen Straftätern<br />

die Füße wäscht und als Erstes<br />

die Müllmänner und das Toilettenpersonal<br />

zu seinen Frühmessen im Gästehaus<br />

Santa Marta einlädt. „Ich bin richtig stolz<br />

auf den Papst“, sagt ein Monsignore im<br />

Vatikan.<br />

Viele, die sich für erklärte Gegner eines<br />

als reaktionär und weltfremd empfundenen<br />

Katholizismus hielten, ertappen sich<br />

beim Sympathisieren mit dem Stellvertreter<br />

Christi. Franziskus hat der Kirche ein<br />

menschliches Antlitz verpasst.<br />

Fest steht: Mit keiner Imagekampagne<br />

hätte die katholische Kirche mehr Zuspruch<br />

gewinnen können als mit der Wahl<br />

68 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Fotos: DDP Images (Seiten 66 bis 67), Gregorio Borgia/Picture Alliance/DPA<br />

Papst Franziskus begeistert nicht nur Katholiken. Auch die Protestantin Angela<br />

Merkel war bei ihrem Besuch im Vatikan angetan vom neuen Kirchenoberhaupt<br />

des 76 Jahre alten Argentiniers Jorge Mario<br />

Bergoglio zum Papst. Einer Umfrage<br />

des Meinungsforschungsinstituts Demopolis<br />

zufolge haben 85 Prozent der Italiener<br />

Vertrauen zu Franziskus, unter Katholiken<br />

sind es sogar 96 Prozent. Aber auch<br />

65 Prozent der Nichtkatholiken und Bekenntnislosen<br />

fühlen sich zu Franziskus<br />

hingezogen.<br />

Auf seiner ersten Fahrt innerhalb Italiens<br />

besuchte der Papst die süditalienische<br />

Insel Lampedusa. Hier warnte er vor der<br />

„Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Wer<br />

habe um die Frauen und Kinder geweint,<br />

die in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft<br />

im Meer ertranken?, fragte der Papst<br />

und löste damit auch außerhalb der katholischen<br />

Welt Nachdenklichkeit aus. Die<br />

Flüchtlingstragödie im Mittelmeer hatten<br />

die meisten vergessen.<br />

Und er sagt Sätze wie: „Wenn jemand<br />

schwul ist und den Herrn sucht und dabei<br />

guten Willen beweist, wer bin ich, dass ich<br />

über ihn richte?“ Das war auf dem Rückflug<br />

aus Rio, seiner ersten Auslandsreise. Man<br />

hatte ihn nach der Homosexuellen-Lobby<br />

im Vatikan und Monsignore Battista Ricca<br />

gefragt. Nachdem Franziskus den Priester<br />

zum Prälaten der Vatikanbank ernannt<br />

hatte, wurden Vorwürfe laut, der Geistliche<br />

habe während seiner Zeit als päpstlicher<br />

Diplomat in Uruguay seine Homosexualität<br />

ausgelebt. Franziskus hätte Ricca wieder absetzen<br />

können, aber er sagte: Nicht die homosexuelle<br />

Tendenz sei das Problem, sondern<br />

Lobbyismus. „Der Katechismus sagt,<br />

diese Personen sollen nicht diskriminiert,<br />

sondern akzeptiert werden.“<br />

Franziskus verkörpert eine aus Rom<br />

bislang unbekannte Milde. Er setzt auf<br />

Integration, nicht auf Konfrontation. Das<br />

macht ihn für Katholiken liebenswert und<br />

für Skeptiker akzeptabel. Klug umschifft<br />

er bislang umstrittene Themen wie Zölibat,<br />

Frauenweihe oder Abtreibung, in denen<br />

die katholische Doktrin wenig Spielraum<br />

lässt.<br />

Am Ende der Pressekonferenz im Flugzeug<br />

brandet Applaus unter den Journalisten<br />

auf. Es gelingt ihnen nicht, Franziskus<br />

emotional auf Distanz zu halten. Berichterstatter,<br />

die auf der ersten Auslandsreise des<br />

Papstes in Brasilien dabei waren, berichten<br />

über Kollegen, die schon auf dem Hinflug<br />

zu Tränen gerührt waren, als Franziskus jeden<br />

einzelnen persönlich begrüßte. Er hat<br />

Witz, Charme, wirkt milde. Er wickelt sie<br />

alle um den Finger.<br />

Einmal pro Woche, jeden Mittwoch bei<br />

der Generalaudienz, geht der Fischer Franziskus<br />

ganz gezielt auf Menschenfang. „Er<br />

scharrt beim Frühstück schon mit den<br />

Füßen, wann er endlich in dem Papamobil<br />

über den Petersplatz fahren darf.“ So<br />

scherzt man in der Kurie über die Lust<br />

dieses Papstes am Bad in der Menge. Bei<br />

seinem schüchternen, oft unbeholfen wirkenden<br />

Vorgänger Benedikt wirkten die<br />

Audienzen wie eine Pflichtübung. Inzwischen<br />

ist der Petersplatz regelmäßig mit<br />

100 000 Menschen überfüllt, manchmal<br />

reicht die Schlange der Pilger und Neugierigen<br />

hinunter bis zum Tiber. So viel<br />

prompten Zuspruch hatte nicht einmal Johannes<br />

Paul II.<br />

Überpünktlich fährt Franziskus auf<br />

dem Platz vor. Ein Jubelsturm bricht los.<br />

Die meisten sehen den Papst zunächst nur<br />

auf den Videoleinwänden. Nach ein paar<br />

Minuten ist seine weiße Silhouette auch<br />

in der Ferne zu erkennen. Erhaben gleitet<br />

der Oberhirte durch eine Gischt von<br />

gezückten Smartphones. Er wirkt glücklich.<br />

Franziskus strahlt die vielen ekstatischen<br />

Gesichter an. Manchmal bleibt sein<br />

Blick länger an einem Augenpaar haften.<br />

Es wirkt, als wollte der Papst ein Zwiegespräch<br />

beginnen. Dann lässt Franziskus anhalten,<br />

er steigt aus, küsst Kinder und Behinderte.<br />

Erwachsene Frauen kreischen wie<br />

Teenager, Männer wischen sich Tränen aus<br />

den Augen. Die Masse himmelt ihn an wie<br />

einen Messias.<br />

In Rio de Janeiro blieb sein Kleinwagen<br />

in der begeisterten Menschenmenge<br />

stecken, sein Fahrer war falsch abgebogen,<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 69


| W e l t b ü h n e | v a t i k a n<br />

es war ein Albtraum für die Sicherheitsleute.<br />

„Sicherheit ist, den Menschen zu<br />

vertrauen“, sagte Franziskus später. Einen<br />

Sicherheitskordon zwischen Bischof und<br />

Volk zu ziehen, sei verrückt. „Ich bevorzuge<br />

diesen anderen Wahnsinn, die Nähe,<br />

die allen guttut.“<br />

Es ist, als würde dieser Mann ein lange<br />

Zeit unbefriedigtes Bedürfnis stillen, das irgendwo<br />

zwischen Spiritualität und Personenkult<br />

liegt. Einer seiner engsten Vertrauten,<br />

der ebenfalls charismatische Kardinal<br />

Óscar Rodríguez Maradiaga aus Tegucigalpa,<br />

Honduras, sagt es so: „Von den ersten<br />

Tagen an bemüht sich Franziskus zu<br />

zeigen, dass er einer aus unserer Mitte ist,<br />

einer aus der Herde.“ Franziskus selbst ermahnt<br />

Priester und Bischöfe, sie sollten<br />

den „Geruch ihrer Herde“ verströmen und<br />

nicht wie Funktionäre auftreten.<br />

Maradiaga, Präsident der Caritas und<br />

ein Gegenspieler des lange Zeit mächtigen<br />

und umstrittenen Kardinalstaatssekretärs<br />

Tarcisio Bertone, ist mit der Wahl Bergoglios<br />

zu einem der einflussreichsten Männer<br />

in der Kurie aufgestiegen. Ihn betraute<br />

der Papst mit der Koordinierung der acht<br />

Kardinäle, die ihn bei der Reform der Kurie<br />

beraten sollen. „Viele von uns waren<br />

sich einig, dass Papst Benedikt nicht gut<br />

über die Wirklichkeit informiert war, dass<br />

einige Dokumente ihn nicht erreichten“,<br />

berichtet Maradiaga über die Beratungen<br />

der Kardinäle vor dem Konklave.<br />

Franziskus beobachtet, informiert sich,<br />

führt Gespräche. Er hat drei Kommissionen<br />

eingesetzt. Die von Maradiaga geleitete<br />

Gruppe zur Reform der Kurie, eine<br />

Ermittlungskommission zur Vatikanbank<br />

und eine für mehr Transparenz in der<br />

Güterverwaltung.<br />

Der Papst traut den Verhältnissen in der<br />

Kurie nicht. Das hat er mit der Öffentlichkeit<br />

gemeinsam. Anstatt das standesgemäße<br />

päpstliche Appartamento im Apostolischen<br />

Palast zu bewohnen, residiert er<br />

weiter im einfachen vatikanischen Gästehaus<br />

Santa Marta. Hier kann er selbst über<br />

seine Begegnungen entscheiden, ist nicht<br />

wie Benedikt dem Risiko der Isolation ausgesetzt<br />

und seinen Beratern ausgeliefert. Im<br />

Vatikan gebe es viele „Herrscher über den<br />

Papst“, soll Bergoglio seinem Freund und<br />

Ex-Schüler Jorge Milia gestanden haben.<br />

„Das Schwierigste sei gewesen zu verhindern,<br />

dass sie über seinen Terminkalender<br />

Bescheiden: Mit schwarzen Gesundheitsschuhen, einem Kreuz aus Blech und dem Fischerring<br />

zeigt sich Franziskus in der Öffentlichkeit. Seine schwarze Ledertasche trägt der Papst selbst<br />

bestimmten.“ Der ruht nun sicher vor<br />

jeglicher Fernsteuerung in der schwarzen<br />

Aktentasche.<br />

Doch hinter der Sympathie, die Franziskus<br />

für seinen erfrischenden Stil entgegenschlägt,<br />

verbergen sich auch Rätsel. Vor<br />

allem in den ersten Tagen seines Pontifikats<br />

kam der Papst auffällig häufig auf den<br />

Teufel zu sprechen. Benedikt hätte Kopfschütteln<br />

ausgelöst, wenn er wie Franziskus<br />

mit Léon Bloy behauptet hätte: „Wer<br />

nicht zum Herrn betet, betet zum Teufel.“<br />

Später war die Rede davon, Franziskus<br />

habe nach einer Audienz einem Behinderten<br />

im Rollstuhl den Teufel ausgetrieben.<br />

Der Fernsehkanal der italienischen<br />

Bischofskonferenz hatte arglos die Nachricht<br />

verbreitet. Der Vatikan dementierte.<br />

Aber bei aller Begeisterung für Franziskus<br />

hat auch das gestrige Bild von Luzifer seinen<br />

festen Platz in diesem Pontifikat.<br />

Manche Ansichten Bergoglios sorgten<br />

schon früher für Empörung. Als Erzbischof<br />

von Buenos Aires charakterisierte er die Befürworter<br />

von Homosexuellenrechten als<br />

eine „Bewegung, die vom Vater der Lüge<br />

ausgeht“. Die Homoehe bezeichnete er als<br />

einen „destruktiven Anspruch gegenüber<br />

dem Plan Gottes“.<br />

Niemand spricht mehr über Bergoglios<br />

zwiespältige Rolle als Generaloberst der<br />

Jesuiten zur Zeit der Militärdiktatur in Argentinien.<br />

Bergoglio sei für die Glaubensgemeinschaft<br />

lange ein „schwarzes Schaf“<br />

gewesen, weil er zwei Brüder, die später<br />

verschleppt wurden, nicht genügend vor<br />

der Verfolgung durch die Junta geschützt<br />

hätte. Das erzählen nicht linke Kirchenkritiker,<br />

sondern gut informierte und jeglicher<br />

Sabotage unverdächtige Jesuiten in<br />

Rom.<br />

Fotos: FILIPPO MONTEFORTE/AFP/Getty Images, Franco Origlia/Getty Images<br />

70 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Fotos: LUCA ZENNARO/AFP/Getty Images, GIAMPIERO SPOSITO/ullstein bild/Reuters, Privat (Autor)<br />

Vielleicht ist der bedingungslose Zuspruch<br />

auch einem oberflächlichen Blick<br />

geschuldet. In der Kurie reiben sich einige<br />

überrascht die Augen über den Franziskus-<br />

Hype. Es gibt traditionalistische Kritiker,<br />

die sich vor allem an der burschikosen Liturgie<br />

und am unkonventionellen Stil des<br />

Papstes stören. Ratzinger-Verehrer erheben<br />

den Vorwurf, Franziskus falle stark<br />

vom intellektuellen Niveau seines Vorgängers<br />

ab und lasse keine theologische Leitidee<br />

erkennen. Die Mehrheit der Kurialen<br />

blickt gespannt auf die kommenden Monate,<br />

wenn die ersten wegweisenden Entscheidungen<br />

von Franziskus zu erwarten<br />

sind. „Manche vermissen den intellektuellen<br />

Kick“, sagt ein Prälat. „Aber die normalen<br />

Leute wollen im Herzen angesprochen<br />

werden, und das kann er.“<br />

Über seinen Vorgänger, den unverstandenen<br />

Denker Benedikt, der nun im<br />

Bergoglio<br />

akzeptiert nur<br />

die nötigsten<br />

Insignien<br />

päpstlicher<br />

Macht, sie sind<br />

ihm fremd.<br />

Die Mozetta,<br />

den roten<br />

Samtmantel,<br />

lehnt er ab<br />

Kloster Mater Ecclesiae in den vatikanischen<br />

Gärten lebt, sagt Franziskus: „Er ist<br />

für mich wie der weise Großvater im eigenen<br />

Haus, wie ein Papa. Ich habe ihn lieb.“<br />

Benedikt klagte in scharfen Gedanken den<br />

Relativismus an, den Verlust der Werte. Es<br />

waren Worte, bei denen auch ihr holpriger,<br />

manchmal schriller Ton auffiel. Franziskus<br />

wünscht in einem weichen, spanisch gefärbten<br />

Italienisch nach dem Angelusgebet<br />

am Sonntag: „Guten Appetit!“ Mit banalen<br />

Worten und einem sanften Ton hat er sich<br />

in weniger als sechs Monaten mehr Gehör<br />

verschafft als Benedikt in acht Jahren.<br />

Bergoglio ist stark beeinflusst von der<br />

lateinamerikanischen „Theologie des Volkes“,<br />

die 1968 in den Beschlüssen von Medellín<br />

Eingang fand. Die Kirche muss auf<br />

die Armen zugehen und kohärent sein,<br />

lautet eine ihrer Kernideen. Also setzte<br />

sich Bergoglio in Argentinien für sozial<br />

benachteiligte Menschen ein, verzichtete<br />

auf die großzügige erzbischöfliche Wohnung<br />

in Buenos Aires und nahm die U-<br />

Bahn statt den Wagen mit Chauffeur.<br />

In Rom, auf Lampedusa oder in Rio<br />

de Janeiro lässt sich Franziskus in unauffälligen<br />

Autos kutschieren und nicht wie<br />

eine Ikone in einer schwarzen Limousine.<br />

So rauschte Benedikt XVI. durch<br />

Rom. Bergoglio akzeptiert nur die nötigsten<br />

Insignien päpstlicher Macht, sie<br />

sind ihm fremd. Die Mozetta, den roten<br />

Samtmantel, lehnt er ab. Statt roter Slipper<br />

trägt er schwarze Orthopädieschuhe.<br />

Unter der weißen Soutane scheint seine<br />

schwarze Hose durch. Auf der Brust trägt<br />

er ein einfaches Kreuz aus Blech.<br />

Gerade zum Papst gewählt, bestand<br />

Franziskus darauf, eigenhändig die Rechnung<br />

im römischen Gästehaus zu bezahlen,<br />

das ihn während des Konklaves beherbergte.<br />

Für einen auf Glaubwürdigkeit<br />

und Gerechtigkeit bedachten lateinamerikanischen<br />

Bischof sind diese Gesten<br />

selbstverständlich. Für die an katholischen<br />

Prunk und Statussymbole gewöhnten<br />

Augen der Europäer wirken sie wie<br />

eine Revolution.<br />

„Er ist wirklich so“, sagt der Kurienmitarbeiter<br />

José Ignacio Tola, der Bergoglio<br />

noch aus der päpstlichen Kommission<br />

für Lateinamerika kennt. Weihbischof<br />

Eduardo García, ein früherer Kollege von<br />

Bergoglio aus Buenos Aires, sagt: „Was<br />

wir als ehemalige Mitarbeiter jetzt erleben,<br />

sind nicht einfach Wiederholungen, sondern<br />

Kohärenz, und das ist wichtig. Bergoglio<br />

ist sich treu geblieben.“<br />

Ob er als Bischof glücklich gewesen sei,<br />

wird der Papst auf der Pressekonferenz im<br />

Flugzeug gefragt. „Ja, sehr“, sagt Bergoglio.<br />

Und als Papst? Seine Begeisterung stockt<br />

ein wenig. „Ja“, sagt er. Franziskus macht<br />

bislang nicht den Eindruck, den Aufgaben<br />

nicht gewachsen zu sein. Aber man<br />

merkt, dass das Amt auch auf ihm lastet,<br />

dass er sich eingeengt fühlt wie in einem<br />

Käfig. Er sagt: „Sie wissen ja gar nicht, wie<br />

gerne ich durch die Straßen von Rom laufen<br />

würde!“<br />

Julius Müller-Meiningen<br />

berichtet seit 2008 über den<br />

Vatikan. Eine ähnliche Begeisterung<br />

für die Kirche hat er noch<br />

nicht erlebt<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 71


| W e l t b ü h n e | P a p s t<br />

Franziskus? find ich gut!<br />

Pomp ist nicht seine Sache. Über Homosexuelle mag er nicht richten. Die<br />

Unregelmäßigkeiten im Vatikan nicht länger dulden. Damit gewinnt der oberste Hirte der<br />

katholischen Kirche die Herzen der Menschen – über alle Glaubensgrenzen hinweg<br />

Franziskus braucht die Liebe der Gläubigen<br />

Die Bewegungen dieses Papstes sind überraschend, sein Handeln<br />

scheint unvorhersehbar, er bricht mit Gewohntem. Dafür<br />

vor allem wird er geschätzt. Es entsteht der Eindruck eines aktiven<br />

Kirchenmannes, der sich nicht instrumentalisieren lässt, sondern<br />

eigene Entscheidungen trifft, die sich ganz unmittelbar an<br />

der Nachfolge Christi orientieren. Er tritt in einen sehr offenen<br />

Dialog mit den Gläubigen und spricht sie direkt an, herzlich und<br />

unverstellt. Sollte Franziskus eine Veränderung der autokratischen<br />

Strukturen innerhalb des Vatikans umsetzen wollen, braucht er<br />

die Liebe und das Vertrauen der Weltgemeinschaft der Gläubigen.<br />

Zunächst aber scheint er seinem Herzen und seinem Gewissen<br />

zu folgen und da anzufangen, wo es nottut: sich den Armen<br />

und Ausgeschlossenen zuzuwenden, dort hinzugehen, wo keiner<br />

hin will, mit denen zu sprechen, die keiner sehen will, und Mitmenschlichkeit<br />

und Verantwortung einzufordern. Abgesehen von<br />

den kleinen großen Zeichen (einfaches Habit, offenes Auto, bescheidenes<br />

Wohnen) gibt es erste strukturelle Reformen: Er unterzeichnet<br />

ein Dekret zur verschärften Verfolgung von Kindsmissbrauch<br />

und passt die teilweise veraltete Justiz im Kirchenstaat<br />

internationalen Standards an. Das lässt hoffen.<br />

Martina Gedeck<br />

zählt zu den profiliertesten<br />

Charakterdarstellerinnen<br />

im<br />

deutschen Film. „Die<br />

Gottesfrage hat mich<br />

immer begleitet“, sagt<br />

die Protestantin<br />

Bodo Kirchhoff<br />

ist Schriftsteller. Von ihm stammen<br />

unter anderem die Romane<br />

„Die Liebe in groben Zügen“,<br />

„Schundroman“ und „Infanta“<br />

Das vollkommene Gegenbild<br />

Italien, wo wir den Sommer mit unseren Schreibseminaren verbringen, steht noch im Banne Silvio<br />

Berlusconis. Auf gespenstische Weise imponiert er vielen Italienern, trotz seiner Plastikhaare<br />

und dem Hang zum Operettenhaften, der Lügen, der Rechtsverdrehereien und im Grunde nicht<br />

besonders männlichen Affären.<br />

Vor diesem Hintergrund stellt Franziskus das vollkommene Gegenbild dar. Der neue Papst<br />

ist in jeder Hinsicht die menschliche Opposition zu Berlusconi, vor allem zu dessen lächerlichem<br />

Prunkbedürfnis. Franziskus’ bewusster Verzicht auf alles Pomphafte zeigt, dass es zumindest<br />

an der Spitze eines geistlichen Staates einen Menschen geben kann, der durch Einfachheit<br />

beeindruckt. Meine Hoffnung ist, dass er etwas dazu beiträgt, die Italiener mit ihrem<br />

Staat und den Amtsinhabern zu versöhnen, sie aus ihrer kindischen Rolle zu holen, den Staat<br />

um jeden Preis „bescheißen“ zu müssen. Dieser Papst wendet sich dem Übel, ja dem Unrat<br />

zu, statt ihn mit erhobenem Zeigefinger für moralische Appelle zu nutzen. Er macht sich notfalls<br />

diesen Zeigefinger schmutzig, und nur dann hat ein solcher Finger Gewicht. Franziskus<br />

ist wieder ein Mächtiger, dem man sich anschließen kann, weil seine Macht auch aus gezeigter<br />

Ohnmacht besteht.<br />

Die Frage ist, ob er mit den komplizierten Verhältnissen im Vatikan allein fertig wird, welche<br />

Berater er sich holt und ob er auch mit dieser Aufgabe ein Modell für Italien schafft.<br />

Fotos: Michael Tinnefeld/Agency People Image, Peter Peitsch/peitschphoto.com<br />

72 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Fotos: Bernd WeiSSbrod/Picture Alliance/DPA, Action Press, A. Hornischer, Action Press [M]<br />

Eine Freude für alle<br />

Der neue Papst erfreut alle Christenmenschen und nicht nur<br />

die. Einfache und einnehmende Botschaften und ein Verhalten,<br />

das sie zu belegen scheint, strahlen aus – weit über die<br />

katholische Kirche hinaus. Für<br />

das Verständnis der Weltreligionen<br />

untereinander ist es ein<br />

Segen, wenn das Christentum<br />

von einem Botschafter vertreten<br />

wird, der auch bei Muslimen,<br />

Juden, Hindus und Buddhisten<br />

ankommt. Es ist ihm gelungen,<br />

Sebastian Turner<br />

ist Werbefachmann.<br />

Als Parteiloser hat er 2012<br />

für das Amt des Stuttgarter<br />

Oberbürgermeisters<br />

kandidiert<br />

Ein Glücksfall für die Religion an sich<br />

Päpste kommen und gehen, der Katholizismus bleibt. Die Religion<br />

an sich bleibt, gleichgültig in welcher Form. Wir erleben<br />

die Krise der Institution(en) der Religion(en), nicht die<br />

Krise der Religion an sich. Zeitlos sind ihre Grundfragen: Wer<br />

oder was ist der Mensch? Woher kommen, wohin gehen wir?<br />

Wie, für wen, wofür leben wir? Das sind die ewigen Fragen des<br />

Seins, der Religion.<br />

Ohne Institution keine Tradition, verstanden als Weitergabe<br />

und Beschäftigung mit diesen Fragen. Dafür bestehen<br />

die Institutionen der Religionen,<br />

die Kirche zum Beispiel. Auch<br />

die Institutionen der Religionen<br />

bestehen aus Personen, charismatischen<br />

und glaubwürdigen, belanglosen<br />

oder unglaubwürdigen.<br />

Das bedeutet: Die Krise der Institution<br />

katholische Kirche und<br />

Michael Wolffsohn<br />

ist deutsch-jüdischer<br />

Historiker. Er schrieb unter<br />

anderem die Bücher „Wem<br />

gehört das Heilige Land?“<br />

und „Juden und Christen“<br />

große Sympathien und Erwartungen<br />

zu wecken. Das ist nicht<br />

einfach. Wirklich schwer wird es,<br />

sie zu erfüllen, wenn eine der ältesten<br />

Organisationen der Erde<br />

dafür verändert werden muss.<br />

anderer religiöser Institutionen<br />

ist eine Krise ihrer Personen.<br />

Nun hat der Katholizismus<br />

wieder mit Papst Franziskus<br />

eine charismatische Person,<br />

die – wie in der zunehmend personalisierten<br />

Politik – die Hoffnungen<br />

und Wünsche der Gläubigen<br />

glaubwürdig durch seine Person fokussiert. Das ist ein<br />

Glücksfall für den Katholizismus und „die“ Religion an sich.<br />

Die Gefahr: Charisma wird zur Gewohnheit und veralltäglicht<br />

sich meistens. Die Chance: Die Zeit des Charismas ist<br />

für die Substanz zu nutzen. Lang lebe Papst Franziskus – und<br />

sein Charisma.<br />

Zeichen und Wunder<br />

Ich sehe in der Kirche eher ein politisches als ein spirituelles<br />

Unternehmen und ans Spitzenpersonal habe ich ähnliche<br />

Erwartungen wie an Staatschefs oder Konzernlenker –<br />

Vorbildfunktion, Führungsqualitäten, Kompetenz und<br />

Menschlichkeit.<br />

In den vergangenen Jahren hätte ich keinen Euro in eine<br />

katholische Konzernaktie investiert, zu rückständig und<br />

moralisch fragwürdig erschien mir die Führung. Der Gipfel<br />

waren die systematische Vertuschung von Missbrauchsfällen<br />

und die Umarmung der Holocaust-Leugner von den<br />

Piusbrüdern.<br />

Und nun Franziskus. Nach anfänglicher Skepsis wegen zu<br />

großer Nähe zur argentinischen Militärherrschaft (die ihm<br />

nicht nachgewiesen werden konnte) überrascht der neue<br />

Chef fast täglich seine Kunden und Mitarbeiter. Er trägt<br />

keinen Hermelin und keine Prada-Schuhe, wohnt im Gästehaus<br />

statt im<br />

Palast, umarmt<br />

die Ausgestoßenen<br />

der Gesellschaft<br />

und wirbt<br />

für eine „Kirche<br />

der Armen“. Er<br />

will die Kurie re-<br />

Amelie Fried<br />

ist Schriftstellerin und Fernsehmoderatorin.<br />

Sie ist evangelisch getauft, aber<br />

mit Anfang zwanzig aus der Kirche<br />

ausgetreten<br />

formieren, bei<br />

der Vatikanbank<br />

aufräumen, und<br />

auf das Thema<br />

Schwulenlobby<br />

im Vatikan angesprochen,<br />

sagt er,<br />

wenn es eine solche<br />

geben sollte,<br />

sei das ein Problem,<br />

weil Lobbys<br />

ein Problem<br />

seien. Und weiter:<br />

„Wenn ein<br />

Priester homosexuell<br />

ist, Gott<br />

sucht und ein<br />

Mensch guten<br />

Willens ist, wer bin ich, über ihn zu richten?“ Es gibt Homosexuelle<br />

in der katholischen Kirche? Und die können gute<br />

Priester sein? Womöglich sogar gute Menschen? Das hat uns<br />

bisher keiner von denen da oben gesagt, schön, dass es jetzt<br />

mal einer getan hat. Leider bleibt für den Papst der homosexuelle<br />

Akt eine Sünde. Aber bei der katholischen Kirche ist<br />

man ja schon dankbar für kleine Signale in Richtung mehr<br />

Menschlichkeit, Empathie und Gleichberechtigung – was<br />

nur zeigt, wie groß der Mangel ist. Aber vielleicht geschehen<br />

ja noch Zeichen und Wunder. Für den Fall, dass Franziskus<br />

den Zölibat aufhebt und Frauen ins Priesteramt lässt,<br />

kündige ich hiermit meinen Eintritt in die katholische Kirche<br />

an. Zum Glück ist die Gefahr gering.<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 73


| W e l t b ü h n e | K o m m e n t a r<br />

Die Mittelschicht<br />

begehrt auf<br />

Türken und Russen, Brasilianer und Bulgaren – sie<br />

alle gehen zu Tausenden auf die Straße. Warum<br />

ausgerechnet jetzt? Und was eint diese Proteste?<br />

Von Ulrich speck<br />

I<br />

n den groSSen Städten des Landes versammeln sich<br />

Menschen, erst Hunderte, dann Tausende, Zehntausende,<br />

Hunderttausende. Spontan, ungeplant. Die<br />

Stimmung ist ausgelassen, friedlich. Eher ein Happening, nicht<br />

ein nach vorgeplantem Muster ablaufender Protest. Niemand<br />

organisiert die Demonstration, keine Partei, keine Gewerkschaft<br />

führt und dirigiert. Facebook und Twitter sind die Plattformen,<br />

auf denen man sich austauscht und koordiniert; das Handy ist<br />

das unentbehrliche Utensil. Die Leute sind jung, chic, urban;<br />

viele haben Jahre an der Universität verbracht, sind herumgekommen,<br />

haben internationale Kontakte, nicht nur übers Internet.<br />

Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und Mobilität sind<br />

Merkmale dieser neuen kosmopolitischen Mittelschichten, die<br />

jetzt auch politische Präsenz zeigen, in Russland, in der Türkei,<br />

in Brasilien, in Bulgarien und anderswo.<br />

Mit traditioneller Politik haben diese Kreise nichts im Sinn,<br />

auch nichts mit der etablierten Opposition. Hauptmotiv für den<br />

Protest ist der lang angestaute Ärger über die Willkür, Selbstgerechtigkeit<br />

und Korruption der Herrschenden. Über Jahre<br />

hat man die Anmaßungen der politischen Führung hingenommen<br />

und sich vor allem um das private Fortkommen gekümmert,<br />

jetzt aber ist das Maß voll. Und man entdeckt, dass man<br />

nicht allein ist mit dem Wunsch nach einem freieren Leben und<br />

einem anständigen, fairen Staat, der den Bürgern dienen und<br />

nicht ein Instrument zur Bereicherung der Herrschenden sein<br />

soll. Man entdeckt die Macht der Masse.<br />

Die Wucht des unerwarteten Protests bringt die Regierungen<br />

in die Defensive. Mit der klassischen Opposition haben<br />

die Herrschenden gelernt umzugehen. Der neue Protest aber<br />

ist anarchisch, herrschaftsfrei, ohne Zentrum und damit kaum<br />

zu kontrollieren. Wo keine Rädelsführer sind, kann man auch<br />

keine Rädelsführer einschüchtern oder kooptieren. Wo es keine<br />

eindeutigen, klar abgegrenzten politischen Ziele gibt, kann man<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

74 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Foto: Privat<br />

nicht mit schnellen Zugeständnissen dem Protest den Wind aus<br />

den Segeln nehmen. Die Regierungen lassen Polizei aufmarschieren<br />

und Wasserwerfer auffahren, und sind doch bei aller<br />

Machtdemonstration erst einmal irritiert, entwaffnet, machtlos.<br />

Nach ein paar Wochen allerdings verliert der Protest seine Dynamik.<br />

Die Protestierenden sind erschöpft, Arbeit und Karriere<br />

rücken wieder in den Mittelpunkt. Die Party ist vorbei. Die Regierung<br />

geht wieder in die Offensive, meist mit einem Mix aus<br />

Zuckerbrot und Peitsche. Das übrig gebliebene Häufchen radikaler<br />

Demonstranten wird abgeräumt.<br />

Die Länder, in denen der neue Mittelschicht-Protest stattfindet,<br />

ähneln sich. Russland, die Türkei, Brasilien und Bulgarien<br />

sind Boomländer, deren Wirtschaft in den vergangenen<br />

Jahren erheblich gewachsen ist. Viele Menschen sind dabei<br />

wohlhabend geworden, vielen geht es besser als der Generation<br />

davor. Zugleich liegen diese Länder in der Peripherie des Westens.<br />

Die jungen Frauen und Männer, die in Istanbul und Moskau<br />

demonstriert haben, sind aufgewachsen im Einflussbereich<br />

der westlichen Kultur und Politik, ohne daran jedoch vollständig<br />

teilzuhaben. Fernsehen, Fernreisen, Studienaufenthalte und<br />

Internet haben die neuen Mittelschichten geprägt, ihre Mentalität<br />

ist globalisiert.<br />

Die neue Mobilität, online und offline, macht die Lebensverhältnisse<br />

vergleichbar. Autokratischen und halbautokratischen<br />

Regimes fällt es immer schwerer, ihre Bevölkerungen abzuschirmen<br />

und die Medien unter Kontrolle zu halten. Und der<br />

Vergleich zwischen den kulturell-politischen Standards des Westens<br />

und den Verhältnissen zu Hause fällt oft ungünstig aus. Der<br />

Ärger über eine die Bürger drangsalierende Polizei, über korrupte<br />

Amtsträger und über ein arrogantes politisches System<br />

wächst. Patriarchalisch-autokratische Herrschaftsformen geraten<br />

unter Druck.<br />

Die Stärke des Protests, seine Spontaneität und seine inhaltliche<br />

Breite, sind allerdings auch seine Schwäche. Ohne Organisation,<br />

ohne Professionalisierung geht es nicht, wenn man direktdemokratische<br />

Impulse in die Sprache der Macht übersetzen will.<br />

Man braucht Geld, man braucht einen Vorsitzenden, ein professionelles<br />

Team und ein Programm. Man muss sich auf Organisation<br />

und Dauerhaftigkeit einlassen. Von alledem ist eher wenig<br />

zu sehen: Der Protest schwillt an und ebbt wieder ab, ohne dass<br />

daraus eine veritable politische Bewegung entsteht.<br />

Die andere groSSe Schwäche ist die Beschränkung auf die<br />

großen Städte. Auch in der Landbevölkerung gibt es große Unzufriedenheit,<br />

etwa über korrupte Beamte. Doch dieser Ärger<br />

transformiert sich nicht in Protest. Der Funke zwischen Stadt<br />

und Land springt nicht über, zur Erleichterung der Herrschenden.<br />

Die städtische Mittelschicht-Bewegung bleibt auf sich<br />

selbst bezogen. Zwischen der kosmopolitischen, westlich orientierten<br />

Stadtbevölkerung und einer eher konservativen Landbevölkerung<br />

gibt es wenig Verbindendes.<br />

Trotz aller strukturellen Schwäche sind aber doch mit den<br />

Protesten in Russland, in der Türkei, in Brasilien und Bulgarien<br />

verkrustete politische Strukturen aufgebrochen worden. Die Regierenden<br />

sind verwarnt worden. Die von einem neuen Bürgersinn<br />

beflügelten Mittelschichten haben ihnen die Grenzen dessen<br />

gezeigt, was sie zu akzeptieren bereit sind. Der Protest ist<br />

zwar wieder abgeebbt, er kann aber jederzeit wiederkommen.<br />

Und wenn er anschwillt, kann er die Macht der herrschenden<br />

Kreise brechen. Die neuen Mittelschichten haben demonstriert,<br />

dass sie ein politischer Faktor sind und sich nicht nur als Konsumenten<br />

definieren. Sie haben deutlich gemacht, dass Machtmissbrauch<br />

ein riskantes Spiel ist. Diejenigen, die heute oben<br />

sind, können jederzeit abstürzen.<br />

Autokratische Herrscher macht das besonders nervös. Bei<br />

ihnen ist der Widerspruch zwischen der Fassade liberaler Demokratie<br />

und der Realität einer Willkürherrschaft besonders<br />

scharf. In Russland hat Putin auf die Proteste mit einer Verschärfung<br />

der Repression reagiert. Auch in der Türkei zieht Erdogan<br />

die Schrauben an, sein Fokus ist vor allem die Kontrolle<br />

der Medien. Doch anders als Russland ist die Türkei, bei allen<br />

Einschränkungen, eine lebendige Demokratie mit einer Vielzahl<br />

von Machtzentren. Erdogans Möglichkeiten, die türkische Gesellschaft<br />

und Politik zu steuern, sind weitaus begrenzter als die<br />

Möglichkeiten Putins, der tatsächlich ein System der zentralen<br />

Kontrolle etabliert hat.<br />

Was beide aber nicht zurückdrehen können, ist der Prozess<br />

einer Fundamentalpolitisierung von Kreisen, die bislang unpolitisch<br />

waren oder zumindest schienen. Die neuen Mittelschichten<br />

in Russland galten bislang als gleichsam stille Teilhaber des<br />

Putin-Systems, weil sie von den sprudelnden Einnahmen aus<br />

der Energieproduktion, die der Kreml kontrolliert, profitiert haben,<br />

direkt oder indirekt. In der Türkei war Erdogans Herrschaft<br />

auch in den Mittelschichten akzeptiert, weil seine Regierung<br />

gleichbedeutend war mit Stabilität und anhaltendem Wachstum.<br />

Doch nun ist das Tischtuch zerschnitten. Die ökonomisch<br />

aufsteigenden Schichten lassen sich nicht mehr dauerhaft von<br />

der Politik fernhalten, sie wollen Bürger im vollen Wortsinne<br />

sein: nicht nur bourgeois, sondern auch citoyen, Teilhaber am<br />

Politischen.<br />

Der Aufstand der Mittelschichten in der Peripherie des<br />

Westens hält auch eine Lehre für den Westen bereit. Das Argument,<br />

Rechtsstaat und Demokratie seien der Kultur nichtwestlicher<br />

Länder fremd, wird von den Protestbewegungen ad<br />

absurdum geführt. Auch viele Russen wollen eine anständige<br />

Regierung, die im Interesse der Bürger regiert statt im Interesse<br />

einer kleinen Clique. Auch viele Bulgaren lehnen es ab, von<br />

Oligarchen regiert zu werden. Auch viele Brasilianer sind allergisch<br />

gegen Korruption. Auch für viele Türken sind fundamentale<br />

Rechte wie Demonstrations- und Pressefreiheit von größter<br />

Bedeutung.<br />

Anders gesagt: Die liberale Demokratie mit ihren Mechanismen<br />

der Herrschaftskontrolle und ihrer Garantie von Grundund<br />

Freiheitsrechten bleibt das Ziel all derer, die sich von autokratisch-patriarchalischer<br />

Herrschaft befreien wollen.<br />

Ulrich Speck<br />

ist außenpolitischer Analyst und Autor<br />

in Brüssel und Heidelberg<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 75


| K a p i t a l<br />

Der ach so nette Thomas<br />

Thomas Bach will IOC-Präsident werden, aber die deutsche Dopingdiskussion gefährdet seine Wahl<br />

von Jens Weinreich<br />

I<br />

n seiner 119 Jahre währenden<br />

Geschichte hatte das Internationale<br />

Olympische Komitee nur<br />

acht Präsidenten. Im selben Zeitraum gab<br />

es immerhin elf Päpste.<br />

Acht IOC-Präsidenten – elf Päpste.<br />

Schon der Vergleich zeigt, dass die Wahl<br />

des neunten IOC-Präsidenten am 10. September<br />

2013 in Buenos Aires eine historische<br />

Angelegenheit ist, besonders aus<br />

deutscher Sicht. Denn Thomas Bach, 59,<br />

Rechtsanwalt aus Tauberbischofsheim, ist<br />

unter sechs Kandidaten der Favorit für den<br />

IOC-Thron. Bei einem Sieg wäre er Chef<br />

des milliardenschweren Konzerns, der ein<br />

Kulturgut der Menschheit vermarktet: die<br />

Olympischen Spiele.<br />

Thomas Bach kann eine lupenreine<br />

olympische Karriere vorweisen. Er war<br />

1976 Fecht-Olympiasieger, später Athletensprecher,<br />

ist seit 1991 IOC-Mitglied.<br />

Seit 2006 amtiert Bach als Präsident des<br />

Deutschen Olympischen Sportbunds.<br />

Doch im IOC wird Thomas Bach nicht<br />

als ehemaliger Sportler wahrgenommen,<br />

sondern als Mann der Wirtschaft. Insofern<br />

darf man seinen härtesten Konkurrenten,<br />

den die ganze Welt als Sportikone<br />

kennt, nicht abschreiben: Sergej Bubka,<br />

49, aus der Ukraine, Olympiasieger und<br />

noch immer Weltrekordler im Stabhochsprung.<br />

Als sich die sechs IOC-Kandidaten<br />

Anfang August in Moskau zur Eröffnung<br />

der Leichtathletik-Weltmeisterschaft<br />

trafen, wurde nur einer zur Privataudienz<br />

beim russischen Präsidenten Wladimir Putin<br />

gebeten: Bubka.<br />

Putins Einfluss im Sportbusiness ist<br />

enorm. Er hat die Olympischen Winterspiele<br />

2014, die Fußball-WM 2018,<br />

die Formel 1 und etliche andere Weltmeisterschaften<br />

nach Russland geholt.<br />

Sollte der russische Präsident ein Interesse<br />

am Ausgang der IOC-Wahlen haben,<br />

wäre er wohl in der Lage, Stimmen<br />

für seinen Kandidaten zu generieren. Der<br />

stünde auch 2014 bei der Eröffnung der<br />

Winterspiele in Putins Residenzstadt Sotschi<br />

an seiner Seite.<br />

Neben Bubka muss Bach noch den<br />

Singapur-Chinesen Ser Miang Ng, 64, im<br />

Auge behalten. Im derzeit 104 Mitglieder<br />

umfassenden IOC ist Ng vielleicht der beliebteste<br />

Präsidentschaftskandidat – doch<br />

das reicht nicht aus, um den Thron zu erklimmen.<br />

Es sei denn, der einflussreiche kuwaitische<br />

IOC-Funktionär Scheich Ahmad<br />

al Sabah schwenkt von seinem bisherigen<br />

Favoriten Bach auf Ser Miang Ng um.<br />

Putin, Oligarchen, Ölscheichs – IOC-<br />

Wahlen sind keine Sportveranstaltung,<br />

sondern globales Monopoly. Bach ist mittendrin.<br />

Mit Kuwait verbinden ihn wirtschaftliche<br />

Interessen. So gehört die Tauberbischofsheimer<br />

Weinig AG, bei der er<br />

seit Jahren dem Aufsichtsrat vorsteht, kuwaitischen<br />

Investoren. Bach ist zudem<br />

Präsident einer sogenannten deutsch-arabischen<br />

Wirtschaftskammer (Ghorfa), weshalb<br />

ihm vor allem im arabischen Raum<br />

IOC-Stimmen zufallen sollten.<br />

Aber bei IOC-Wahlkämpfen kann das<br />

Momentum der letzten Wochen entscheiden.<br />

Wer hat negative Schlagzeilen, wer<br />

verkörpert welche Botschaften? Die in<br />

Deutschland derzeit heftig geführte Diskussion<br />

über das Dopingsystem des westdeutschen<br />

Sports kann Bach Stimmen<br />

kosten. Zumal er damit wenig souverän<br />

umgeht und einen Berliner Anwalt in die<br />

Spur geschickt hat, der Journalisten, die<br />

Fragen nach der Vergangenheit stellen, mit<br />

„Strafanzeige wegen übler Nachrede“ droht.<br />

Wird Bach auf der Zielgeraden nervös?<br />

Derlei Schreiben erinnern an etwas ältere<br />

Briefe seiner Kanzleikollegen, die auf Erkundigungen<br />

nach seinen wirtschaftlichen<br />

Tätigkeiten mit bösen Briefen antworteten<br />

und sich „Ausforschungsfragen“ verbaten.<br />

Dabei klangen Mandate und Verträge,<br />

die im Rahmen der Insolvenz der<br />

Philipp Holzmann AG oder dem Korruptionsverfahren<br />

bei Siemens publik wurden,<br />

durchaus delikat. Denn das Interesse dieser<br />

Konzerne an fürstlich dotierten Kontrakten<br />

mit Bach bestand offenbar weniger in<br />

dessen juristischer Expertise als vielmehr<br />

aufgrund seiner weitverzweigten Kontakte.<br />

Thomas Bach hat stets erklärt, zwischen<br />

privaten, geschäftlichen und sportlichen<br />

Interessen zu trennen. Er prägte dafür<br />

den Begriff der „vielfältigen Lebenssachverhalte“.<br />

Interessenkonflikte gibt es bei Bach<br />

nicht, bei Zweifeln daran verweist er gerne<br />

auf Stellungnahmen seiner Vertragspartner.<br />

Aber jetzt, da die Machtfrage gestellt ist,<br />

interessieren sich immer mehr IOC-Mitglieder<br />

für derartige Vorgänge. Auch Bachs Intermezzo<br />

beim Sportartikelkonzern Adidas<br />

wird wieder hinterfragt. Denn als Bach von<br />

1985 bis 1987 dem damaligen Adidas-Boss<br />

Horst Dassler als Adlatus diente, hat Dassler<br />

den Weltsport mit einem einzigartigen Korruptionssystem<br />

überzogen. Thomas Bach<br />

aber hat davon nichts mitbekommen und<br />

war nie an unsauberen Geschäften beteiligt.<br />

20 Jahre lang hat Bach im IOC selten<br />

verloren. Die gescheiterte Olympiabewerbung<br />

Münchens für die Winterspiele<br />

2018 war ein schwerer Rückschlag für ihn.<br />

Erstmals sah man den Fechter mit hochgeklapptem<br />

Visier, Bach vergoss nach der<br />

verheerenden Abstimmungsniederlage im<br />

Juli 2011 Tränen vor laufenden Kameras.<br />

Es brachte ihm Sympathiepunkte im<br />

IOC, die er aber sofort wieder verspielte.<br />

Denn verschiedene IOC-Mitglieder berichten,<br />

Bach habe schon ab Sommer 2011<br />

jene Abweichler gesucht, die München die<br />

versprochenen Stimmen verwehrt hatten.<br />

In Vieraugengesprächen soll sich Bach eisenhart<br />

gezeigt haben. Auch deswegen sind<br />

einige IOC-Mitglieder verstimmt über den<br />

energischen Deutschen, den sie bisher als<br />

den netten Thomas kannten.<br />

Jens Weinreich<br />

schreibt seit 20 Jahren über die<br />

Korruption im Sport. In Kürze<br />

erscheint sein Buch „Macht,<br />

Moneten, Marionetten“<br />

Fotos: Action Press, Privat (Autor)<br />

76 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Putin, Oligarchen, Ölscheichs –<br />

IOC‐Wahlen sind globales Monopoly<br />

und Thomas Bach ist mittendrin<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 77


| K a p i t a l<br />

immer gut verpackt<br />

In Berlin kämpft Lencke Wischhusen für die Interessen junger Unternehmer – und zu Hause eigentlich auch<br />

von Til KNipper<br />

L<br />

encke Wischhusen hat zurzeit<br />

ein Problem, das viele Deutsche<br />

quält: Sie weiß nicht, wen sie bei<br />

der Bundestagswahl am 22. September<br />

wählen soll. Bei der 27-jährigen Unternehmerin<br />

aus Bremen ist das insofern bemerkenswert,<br />

als sie viele der zur Wahl stehenden<br />

Kandidaten inzwischen persönlich<br />

kennt. Sie ist nämlich nicht nur die Geschäftsführerin<br />

der von ihrem Vater Dieter<br />

Wischhusen aufgebauten Unternehmensgruppe<br />

W-Pack Kunststoffe, sondern seit<br />

Ende des vergangenen Jahres auch Bundesvorsitzende<br />

des Verbands der Jungen Unternehmer<br />

(BJU).<br />

Gehen Sie dann also gar nicht wählen,<br />

Frau Wischhusen? „Nein, das ist das<br />

Schlimmste, was man machen kann, weil<br />

davon nur die Parteien profitieren, die<br />

Sie gar nicht wollen.“ SPD und <strong>Grün</strong>e?<br />

„Nein, die sind für mich als Unternehmerin<br />

schon wegen ihrer Vermögenssteuerpläne<br />

unwählbar.“ Nach den Linken muss<br />

man dann wohl gar nicht fragen? „Nein.“<br />

CDU? „Das Betreuungsgeld ist unsinnig.<br />

Das Geld sollte man lieber in Kindergärten<br />

und die Bildung investieren.“ FDP?<br />

„Haben die Eurorettungspolitik mitgetragen<br />

und auch nicht viel gegen die ständig<br />

steigende Staatsverschuldung getan.“ Was<br />

Wischhusen in diesem Wahlkampf „besonders<br />

beängstigend“ findet: Wie die einzelnen<br />

Parteien ihren jeweiligen Markenkern<br />

vernachlässigen. „Es geht nur noch um die<br />

Frage: Wer hat welches Thema als Erstes<br />

besetzt?“<br />

Als BJU-Vorsitzende versteht Wischhusen<br />

zwar inzwischen besser, wie der Berliner<br />

Politikbetrieb funktioniert. Trotzdem<br />

ist sie regelmäßig verzweifelt, wenn<br />

sie meint, dass die Interessen der jungen<br />

Familienunternehmer in der Hauptstadt<br />

nicht genügend Gehör finden. Ihre großen<br />

BJU-Themen sind Generationengerechtigkeit<br />

und unternehmerische Freiheit.<br />

Darüber kann sie stundenlang referieren.<br />

Gerne sagt sie dabei Sätze wie: „Als Familienunternehmerin<br />

denke ich in Generationen<br />

und nicht in Quartalen.“ Oder: „Wenn<br />

wir nicht sofort mit dem staatlichen Schuldenabbau<br />

beginnen, werden unsere Kinder<br />

und Kindeskinder kaum noch Handlungsspielräume<br />

haben.“ Das klingt gestelzt<br />

aus dem Mund der jungen<br />

Unternehmerin, aber man<br />

nimmt es ihr trotzdem ab.<br />

Wischhusen, die äußerlich<br />

ein bisschen an Paris<br />

Hilton in gesund erinnert,<br />

hat sich sehr früh entschieden,<br />

ins väterliche Unternehmen<br />

einzusteigen: „Ich habe<br />

schon als Sechsjährige jedem<br />

erzählt: Ich möchte so wie<br />

Papa werden“, sagt sie. Kein<br />

Wunder, sei die Firma doch<br />

schon zu Hause am Abendbrottisch<br />

ständig Thema<br />

gewesen.<br />

W-Pack Kunststoffe handelt<br />

mit Verpackungsmaterialien<br />

aller Art: Stretch folien,<br />

Pappkartons, Menüschalen,<br />

Feinkostbecher. Mit 50 Mitarbeitern<br />

setzt die Unternehmensgruppe<br />

15 Millionen<br />

Euro im Jahr um.<br />

Da es keine Mindestbestellmengen gibt,<br />

reicht der Kundenstamm von Imbissbesitzern<br />

über Supermarktketten bis hin zu<br />

Industriekonzernen.<br />

Leicht hat ihr der Vater den Einstieg<br />

nicht gemacht. Mit 18 hat Tochter Lencke<br />

als Azubi bei ihm angefangen, nebenher<br />

erst an einer Wirtschaftsakademie und anschließend<br />

an einer Fachhochschule Betriebswirtschaft<br />

studiert. Sie musste sich<br />

hocharbeiten, den Respekt der Mitarbeiter<br />

hart erkämpfen, die zuerst dachten, jetzt<br />

komme hier „die Kronprinzessin, die sich<br />

alles erlauben kann“. Aber schnell merkten<br />

sie, dass der Chef seine Tochter genauso<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagt jetzt<br />

auch der Deutsche-<br />

Bank-Chef Anshu<br />

Jain. <strong>Cicero</strong> weiß das<br />

schon länger und stellt<br />

den Mittelstand in<br />

einer Serie vor. Die<br />

bisherigen Porträts aus<br />

der Serie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

hart in die Pflicht nimmt wie alle anderen.<br />

Per Kaltakquise musste sie sich ihren<br />

eigenen Kundenstamm aufbauen und den<br />

Verpackungshandel von der Pike auf lernen.<br />

Feedback für ihre Arbeit vom Vater<br />

gab es selten. Wischhusen senior pflegte<br />

einen eher hanseatisch-patriarchalischen<br />

Führungsstil.<br />

Irgendwas muss sie aber<br />

doch richtig gemacht haben.<br />

Denn Ende 2009 sagte der<br />

Vater zu ihr: „Komm mal in<br />

mein Büro – wir müssen reden.“<br />

Dort eröffnete er ihr,<br />

dass er sie zur Geschäftsführerin<br />

ernennen wolle und<br />

bereits einen Notartermin<br />

vereinbart habe.<br />

Dieter Wischhusen, 70,<br />

kommt noch regelmäßig<br />

in die Firma, betreut seine<br />

alten Kunden und diskutiert<br />

strategische Fragen<br />

mit Tochter und Sohn, der<br />

inzwischen auch im Unternehmen<br />

arbeitet. Seine<br />

Tochter provoziert er dabei<br />

gerne mit alten Pfeffersack-<br />

Sprüchen: „Weib, halt die<br />

Klappe, vom Geschäft verstehst<br />

du nichts.“ Sie weiß<br />

aber, wie stolz der Vater ist, dass die nächste<br />

Generation sein Lebenswerk fortsetzt.<br />

Als Chefin bevorzugt Lencke Wischhusen<br />

aber einen kommunikativeren Führungsstil<br />

als der Vater: „Ich delegiere viel<br />

mehr.“ Muss sie auch, um Zeit für ihr BJU-<br />

Amt zu haben, damit die neue Bundesregierung<br />

weiß, was die jungen Unternehmer<br />

wollen.<br />

Til Knipper<br />

leitet das Ressort<br />

Kapital bei <strong>Cicero</strong><br />

Fotos: Jens Umbach für <strong>Cicero</strong>, Andrej Dallmann (Autor)<br />

78 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Mit Stretchfolie<br />

zum Verpacken<br />

von Paletten<br />

macht Lencke<br />

Wischhusen den<br />

meisten Umsatz<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 79


| K a p i t a l<br />

Berlins Banker<br />

Ulrich Schröder verwaltet mehr Steuergeld als das ganze Bundeskabinett, aber hat er die KfW noch im Griff?<br />

von Heinz-Roger Dohms<br />

U<br />

lrich Schröder kommt gerade<br />

aus Athen – und sieht ein bisschen<br />

fertig aus. Das Gesicht fahl,<br />

die Haare unsortiert. Normalerweise legt<br />

der 62-Jährige Wert auf makelloses Auftreten.<br />

Heute fragt er, ob es okay sei, wenn er<br />

aufs Jackett verzichte.<br />

Es ist ein schwüler Freitag Mitte Juli.<br />

Schröder, Chef der Staatsbank KfW, empfängt<br />

in der Hauptstadt-Niederlassung seines<br />

Instituts am Gendarmenmarkt, dritter<br />

Stock, ein großer, aber schlichter Raum,<br />

vier Ledersessel um zwei runde Sitztische.<br />

Die Sekretärin hat ihm einen Kaffee gebracht.<br />

Der soll helfen gegen die Müdigkeit<br />

am Ende einer strapaziösen Woche.<br />

Schröder fängt an, von Athen zu erzählen.<br />

Mit Schäuble war er da, es ging um<br />

einen Hunderte Millionen Euro schweren<br />

Kredittopf für griechische Mittelständler.<br />

Wie selbstverständlich mischt die KfW in<br />

der Sache mit – so wie sie gefühlt immer<br />

und überall mitmischt seit Ausbruch der<br />

Finanzkrise. „Die Sicherheitsvorkehrungen<br />

für den Schäuble-Besuch haben mich<br />

sehr beeindruckt, die halbe Stadt war abgesperrt“,<br />

berichtet Schröder. Viele Banker<br />

haben in den vergangenen Jahren einen<br />

dramatischen Bedeutungsverlust erfahren.<br />

Bei ihm war es andersrum. Er ist jetzt mittendrin<br />

in der großen Politik.<br />

Über Karrieren entscheiden manchmal<br />

Kleinigkeiten, auch auf Schröder trifft das<br />

zu. Anfang 2008, so hieß es, wäre er gern<br />

Chef der WestLB geworden – kam aber<br />

nicht zum Zuge. Wie man heute weiß, war<br />

die WestLB zu der Zeit schon nicht mehr<br />

zu retten. Bald danach ging sie unter.<br />

Stattdessen heuerte Schröder kurz darauf<br />

bei der KfW an, doch als er dort zwei<br />

Wochen im Amt war, erlebte die Bank den<br />

schwärzesten Moment ihrer Geschichte.<br />

Am 15. September 2008, dem Tag der<br />

Lehman-Pleite, überwiesen die Frankfurter<br />

dem US-Haus noch rund 300 Millionen<br />

Euro. „Deutschlands dümmste Bank“,<br />

titelte die Bild. Viel fehlte nicht, und<br />

Schröder wäre den Posten, den er gerade<br />

erst bekleidete, schon wieder los gewesen.<br />

Und nun, fünf Jahre später? Ist die KfW<br />

neben der Deutschen Bank das unbestritten<br />

mächtigste Geldhaus des Landes. Und<br />

Schröder neben deren Chefs Anshu Jain<br />

und Jürgen Fitschen der wichtigste Banker<br />

der Republik. Was für ein Aufstieg.<br />

Die Dimensionen, in die die einst biedere<br />

Kreditanstalt für Wiederaufbau hineingewachsen<br />

ist, sind in der Tat gewaltig –<br />

und furchteinflößend, wie Kritiker meinen.<br />

Schließlich haftet der Steuerzahler uneingeschränkt<br />

für den staatlichen Moloch. 70<br />

bis 80 Milliarden Euro nimmt die KfW inzwischen<br />

jährlich am Kapitalmarkt auf, um<br />

ihre Geschäfte zu finanzieren. Keine andere<br />

Bank weltweit erreicht diese Größenordnung.<br />

Während andere Institute ihre<br />

Bilanzsummen eindampfen, hat die KfW<br />

die ihre in den vergangenen fünf Jahren<br />

von 354 Millarden Euro auf 512 Milliarden<br />

Euro aufgebläht.<br />

Wer treibt diese Entwicklung voran?<br />

Sind es die Umstände, die Politik oder<br />

Schröder selbst? Und: Wer ist der Mann,<br />

der inzwischen – rechnet man Bilanzsumme<br />

versus Bundesetat – über fast doppelt<br />

so viel Staatsgeld gebietet wie alle Berliner<br />

Ministerien zusammen? Hat er den<br />

Moloch noch im Griff?<br />

Um Antworten auf diese Fragen zu<br />

finden, muss man zunächst fünf Jahre<br />

zurückblenden. Am 1. September 2008<br />

nimmt Schröder bei der KfW seine Arbeit<br />

auf. Lehman ist da noch nicht zusammengekracht.<br />

Aber die Welt steckt trotzdem<br />

schon mittendrin in der Finanzkrise.<br />

In Deutschland sind die ersten Banken<br />

bereits gefallen. Bei einer handelt es sich<br />

um die börsennotierte Düsseldorfer IKB,<br />

deren Hauptaktionär die KfW ist. Mit einem<br />

hohen einstelligen Milliardenbetrag<br />

muss das Förderinstitut bei der Tochter einspringen.<br />

Es ist ein veritabler Skandal, der<br />

die SPD-Politikerin Ingrid Matthäus-Maier,<br />

Während andere<br />

Geldhäuser<br />

schrumpfen, hat<br />

die staatliche<br />

Förderbank KfW<br />

ihre Bilanzsumme<br />

in den<br />

vergangenen<br />

fünf Jahren von<br />

354 Milliarden<br />

Euro auf<br />

512 Milliarden<br />

Euro aufgebläht<br />

Foto: Gaby Gerster/Laif<br />

80 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Ulrich Schröder ist seit<br />

2008 Chef der staatlichen<br />

Förderbank KfW, dem<br />

inzwischen drittgrößten<br />

Geldhaus des Landes<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 81


| K a p i t a l<br />

Schröder selbst<br />

verbringt das<br />

Wochenende<br />

inmitten der<br />

aufziehenden<br />

Lehman-<br />

Katastrophe<br />

privat in Paris.<br />

Wer weiß, was<br />

mit ihm passiert<br />

wäre, wenn das<br />

damals bekannt<br />

geworden wäre.<br />

Wurde es aber<br />

nicht<br />

die man ein Jahr zuvor als KfW-Chefin installiert<br />

hat, den Kopf kostet.<br />

Dann kommt: das Lehman-Wochenende,<br />

der 13. und 14. September. Über<br />

Tage hat sich der Gau für die Finanzwelt<br />

angedeutet. Viele Banken haben Notfallteams<br />

installiert, um sich für das Unfassbare<br />

zu wappnen. Nur bei der KfW ist niemand<br />

im Haus. „Das war damals noch ein<br />

richtiger Beamtenladen. Freitagnachmittag<br />

sind alle ins Wochenende. Und Montagmorgen,<br />

als man die Überweisung an Lehman<br />

hätte stoppen können, war noch keiner<br />

da“, sagt lakonisch einer, der die Bank<br />

bestens kennt.<br />

Schröder selbst, der Chef, noch keine<br />

14 Tage im Amt, verbringt das Wochenende<br />

inmitten der aufziehenden Katastrophe<br />

privat in Paris, wie Eingeweihte erzählen.<br />

Wer weiß, was mit ihm passiert wäre,<br />

wenn das damals öffentlich geworden wäre.<br />

Wurde es aber nicht.<br />

Auch so ist Schröders damalige Ausgangsposition<br />

auf den ersten Blick verheerend:<br />

Wer braucht eine Staatsbank, die<br />

Millionen und Milliarden verbrennt? Und<br />

wer einen Bankchef, der die dümmliche<br />

Lehman-Überweisung nicht zu verhindern<br />

wusste? Die Antwort der Politik aber lautet:<br />

Beide werden gebraucht. Die KfW, um<br />

die Folgen des globalen Finanz-GAUs für<br />

die deutsche Wirtschaft abzufedern. Und<br />

Schröder, um diesen Prozess zu managen.<br />

„Nachdem sie Matthäus-Maier rausgeworfen<br />

hatte, konnte sie den neuen Chef<br />

nicht gleich wieder entlassen. Das hat ihn<br />

gerettet“, sagt ein hochrangiger Staatsbanker,<br />

der Schröder seit langem kennt, aber<br />

nicht sonderlich mag. Allerdings sagt dieser<br />

Banker auch: „Was man anerkennen muss:<br />

Er hat die Lage danach richtig eingeschätzt<br />

und ausgenutzt.“<br />

Zunächst einmal räumt Schröder auf.<br />

Die beiden für die Lehman-Überweisung<br />

zuständigen Manager müssen gehen. Manche<br />

sehen darin noch heute ein Bauernopfer,<br />

andere halten die Entscheidung für<br />

richtig und alternativlos. Wie immer es gewesen<br />

sein mag, jedenfalls zeigt sich damals<br />

ein für die KfW völlig neuer Managementstil:<br />

„Wenn Dinge schieflaufen, dann hat<br />

das unter Schröder Folgen – auch personelle“,<br />

sagt ein Insider. „Das war vor seiner<br />

Zeit anders.“<br />

Doch Schröder zeigt nicht nur Härte. Es<br />

gelingt ihm, die Bank wieder aufzurichten,<br />

auch emotional. Mitarbeiter erzählen von<br />

einer Rede, die er im Herbst 2008 kurz<br />

nach seinem Amtsantritt in der Wandelhalle<br />

der Bank vor der versammelten Belegschaft<br />

hält, kurz, prägnant, ein Ruck-Moment.<br />

„Die Leute waren wegen der Häme<br />

nach der Lehman-Sache tief verunsichert“,<br />

erinnert er sich beim Gespräch in seinem<br />

Berliner Büro. „Für mich war das ein Stück<br />

weit ein Geschenk. Denn dadurch wurde<br />

es einfacher, die notwendigen Veränderungen<br />

einzuleiten.“<br />

Tatsächlich sagen alle, die mit der KfW<br />

zu tun haben, dass die Bank heute eine völlig<br />

andere sei als vor fünf Jahren. Professioneller,<br />

moderner, effizienter. Keine Behörde<br />

mehr. Sondern ein Unternehmen. Schröder<br />

hat ein neues Risikomanagement implementiert,<br />

einen Bereich, den seine Vorgänger<br />

vernachlässigt hatten. Zudem stellte<br />

die KfW erfolgreich ihre komplette IT um.<br />

Das ist vor dem Hintergrund bemerkenswert,<br />

dass andere Institute mit ähnlichen<br />

Vorhaben grandios gescheitert sind. „Die<br />

Bank hat in den letzten Jahren eine außergewöhnliche<br />

Transformation durchlaufen –<br />

übrigens auch kulturell“, sagt Thomas Rederer<br />

von der Consultingfirma Capco – ein<br />

regelmäßiger Berater und darum intimer<br />

Kenner der KfW. „Natürlich holpern solche<br />

Prozesse immer an der einen oder anderen<br />

Stelle. Aber unterm Strich hat Herr<br />

Schröder diesen Prozess sehr gut im Griff.“<br />

Das ist vor allem deshalb erstaunlich,<br />

weil die interne Transformation parallel<br />

verläuft zu dem enormen externen<br />

Wachstum.<br />

Die Explosion der Bilanzsumme beginnt<br />

mit dem Wirtschaftseinbruch 2009.<br />

Deutschland legt ein milliardenschweres<br />

Konjunkturprogramm auf. Finanzieren<br />

soll es: die KfW. Damit ist es nicht getan.<br />

Deutsche Großkonzerne bekommen Probleme<br />

mit der Finanzierung langfristiger<br />

Auslandsengagements, weil sich die privaten<br />

Banken aus dem Geschäft zurückziehen.<br />

Wer springt ein? Die KfW. 2011<br />

folgt Fukushima, die Bundesregierung ruft<br />

die Energiewende aus. Bezahlen muss das<br />

Abenteuer: die KfW. Hinzu kommen die<br />

vielen, vielen KfW-Förderprogramme für<br />

Kleinunternehmer, Häuslebauer oder Studenten.<br />

Die Zahl dieser Einzelengagements<br />

geht in die Millionen.<br />

Kein Wunder, dass die KfW schon<br />

bald die zweitgrößte Bank in Deutschland<br />

sein wird. Vor ihr ist dann nur noch<br />

82 <strong>Cicero</strong> 9.2013


die Deutsche Bank, während die Commerzbank<br />

weiter versucht, sich gesundzuschrumpfen.<br />

Doch selbst der Abstand der<br />

KfW zur Deutschen Bak schmilzt, denn<br />

auch der Marktführer aus Frankfurt will<br />

seine Bilanzsumme kräftig verringern.<br />

Der Bedeutungszuwachs der Staatsbank<br />

ist überall sichtbar. Während fast alle Banken<br />

Personal abbauen, ist die Zahl der KfW-<br />

Mitarbeiter in der Ära Schröder um rund<br />

50 Prozent auf mehr als 5000 gestiegen.<br />

Rund 700 davon sitzen in den Westarkaden,<br />

einem 57 Meter hohen Bürokomplex,<br />

den das Geldinstitut jüngst gegenüber ihrer<br />

Zentrale am Frankfurter Palmengarten<br />

hochgezogen hat. Früher galten die KfW-<br />

Banker unter ihresgleichen als Langweiler,<br />

heute als die mit den sicheren und trotzdem<br />

attraktiven Jobs. Wer wie Ingrid Hengster,<br />

die bisherige Deutschland-Chefin der Royal<br />

Bank of Scotland, in den KfW-Vorstand<br />

berufen wird, der hat es geschafft.<br />

Schröder sieht sich als Manager dieses<br />

Wachstums. Als derjenige, der die Wünsche<br />

der Politik in vernünftige Bahnen lenkt. Allerdings<br />

funktioniert das nicht immer.<br />

Ein Beispiel: 2010 überrascht Schröder<br />

den KfW-Verwaltungsrat mit einer Idee. Er<br />

will das Kommunalfinanzierungsgeschäft<br />

an die Anforderungen des Risikomanagements<br />

anpassen. Anders gesagt: Hoch verschuldete<br />

Städte wie Oberhausen sollen<br />

weniger Geld kriegen. „Der hat das vorgestellt<br />

wie einen Fakt, wir sollten das nur<br />

noch abnicken“, erinnert sich ein Verwaltungsrat.<br />

Das 36-köpfige Kontrollgremium,<br />

durchsetzt mit Politikern, lässt Schröder<br />

auflaufen.<br />

Die Anekdote illustriert zweierlei. Erstens<br />

die Machtverhältnisse in der Staatsbank.<br />

Und zweitens, vor allem, dass die<br />

KfW-Kontrolleure ihre Kontrollfunktion<br />

eher eigenwillig interpretieren. Nämlich<br />

nicht mäßigend. Sondern pushend. Im<br />

Zweifel, so will es die Politik, soll die KfW<br />

das Geld großzügig ausgeben, nicht kleinkrämerisch<br />

beisammenhalten.<br />

„Die KfW ist nichts anderes als eine gigantische<br />

Zweckgesellschaft des Bundes“,<br />

sagt darum ein Analyst, der das Institut<br />

seit vielen Jahren beobachtet. Er benutzt<br />

das böse Wort Zweckgesellschaft ganz bewusst.<br />

So nannte man in der Finanzkrise<br />

jene außerbilanziellen, unkontrollierten<br />

Vehikel, die zahlreiche Banken zum Einsturz<br />

brachten.<br />

„Die KfW ist heute viel sichtbarer und<br />

leistungsfähiger als vor ein paar Jahren. Darum<br />

kommt jeder Politiker, der irgendein<br />

Problem hat, auf die Idee, nach der KfW zu<br />

rufen“, sagt Managementberater Rederer.<br />

Meinen ein paar Landespolitiker, die Bank<br />

solle Schlecker auffangen – dann kann der<br />

Vorstand das noch abwehren. Aber wenn<br />

die Bundesregierung meint, die Bank solle<br />

griechische Kleinunternehmer fördern –<br />

dann wird es schwierig.<br />

Öffentlich gefällt sich Schröder seit einiger<br />

Zeit in der Rolle dessen, der selber<br />

mahnt, die KfW nicht zu stark wachsen<br />

zu lassen. Der Chef als sein eigener Kontrolleur.<br />

Intern wird das allerdings anders<br />

wahrgenommen. „Die Forderungen aus der<br />

Politik kommen oft ungefiltert in der Organisation<br />

an, da müsste Schröder stärker als<br />

Puffer dienen. Das Management hört sehr<br />

viel mehr als früher auf das, was von ihm<br />

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| K a p i t a l<br />

Die Omnipräsenz<br />

der<br />

Bank stört<br />

Schröder nicht.<br />

„Dafür ist er<br />

zu eitel“, ätzt<br />

ein Aufseher.<br />

Die Politik hat<br />

die KfW lieb<br />

gewonnen<br />

in der Krise.<br />

Dass dabei<br />

ein riesiger<br />

Schattenhaushalt<br />

entsteht, stört<br />

niemanden<br />

erwartet wird“, sagt ein Insider. Die Omnipräsenz<br />

der KfW scheint Schröder nicht zu<br />

stören. „Dafür ist er zu eitel“, ätzt ein Verwaltungsrat.<br />

In Berlin sorgt zum Beispiel<br />

für Stirnrunzeln, dass die Bank inzwischen<br />

eine eigene Kulturstiftung unterhält. „Das<br />

hat mit dem Förderauftrag rein gar nichts<br />

zu tun“, sagt der SPD-Politiker und KfW-<br />

Kontrolleur Carsten Schneider. Auch sonst<br />

sorgt Schröder gewissenhaft dafür, „dass<br />

die Sonne auf sein Haus scheint“, wie ein<br />

Förderbankkollege spöttisch meint – seit<br />

neuestem etwa mit einer millionenteuren<br />

TV-Kampagne.<br />

Gegenüber der Politik verhält sich<br />

Schröder im Großen und Ganzen: geschmeidig.<br />

Ein einziges Mal hat er sich offen<br />

mit Berlin angelegt, vorigen Herbst war<br />

das, als die Koalition entschied, einen Teil<br />

des KfW-Gewinns in den Bundeshaushalt<br />

umzuleiten. In der Bank haben sie ihm<br />

das hoch angerechnet, zumal es Schröder<br />

gelang, den Beschluss zu entschärfen. Als<br />

kürzlich indes die Vertragsverlängerung<br />

seines Vorstandskollegen Axel Nawrath<br />

anstand, zeigte Schröder weniger Kampfesmut.<br />

Er schätzt dessen Arbeit, hätte ihn<br />

gern behalten. Aber Wirtschaftsminister<br />

Philipp Rösler (FDP), Vize-Chef des KfW-<br />

Verwaltungsrats, wollte den Sozialdemokraten<br />

Nawrath loswerden. „In solchen Fällen<br />

muss ich die Entscheidung des Eigentümers<br />

akzeptieren“, sagt Schröder dazu.<br />

Seine eigene politische Verortung: Er<br />

ist ein CDU-Mann, gebürtiger Westfale,<br />

sehr katholisch. In den siebziger Jahren<br />

war er Vorsitzender des Rings Christlich-<br />

Demonkratischer Studenten (RCDS). Aus<br />

dieser Zeit rührt eine enge Freundschaft zu<br />

Verteidigungsminister Thomas de Maizière,<br />

auch den Ex-Bundespräsidenten Christian<br />

Wulff kennt er von damals. Vom Berliner<br />

Betrieb hält er sich gleichwohl fern. Sein<br />

wichtigster Ansprechpartner in der Regierung<br />

ist Finanzminister Wolfgang Schäuble.<br />

Die Nummer von Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkel habe er zwar, heißt es – aber eher<br />

für den Notfall, der bislang nicht eingetreten<br />

ist. Mit einem SPD-Kanzler Peer<br />

Steinbrück hätte der CDU-Mann Schröder<br />

übrigens kein Problem. Den kennt er<br />

aus gemeinsamen Düsseldorfer Zeiten, wo<br />

er bis 2008 Chef der staatlichen NRW-<br />

Bank war.<br />

Was hat Schröder vor mit der KfW? Er<br />

selbst sagt: „Ordnungspolitisch sehe ich<br />

den Bedeutungsgewinn meines Instituts<br />

durchaus skeptisch.“ Denn die Geschäftsbanken<br />

sollten die dominierenden Player<br />

sein, das Wachstum müsse vom Prinzip her<br />

revidierbar bleiben.<br />

Aber ist es das wirklich?<br />

Im Moment spricht nicht viel dafür.<br />

Die privaten Banken sind momentan<br />

mehr mit der Regulierung beschäftigt als<br />

mit neuen Geschäften – was in den nächsten<br />

Jahren auch so bleiben dürfte. Und die<br />

Politik?<br />

„Hat das Instrument KfW lieb gewonnen<br />

in der Krise“, wie ein mit Schröder<br />

gut bekannter Banker sagt. „Es gibt einen<br />

überparteilichen Konsens, die Rolle des<br />

Instituts weiter zu stärken. Dass dabei ein<br />

riesiger Schattenhaushalt entsteht, wird in<br />

Kauf genommen. Warum sollte sich Schröder<br />

dagegen wehren? Er reitet stattdessen<br />

die Welle.“<br />

Dazu passt, dass man in den vergangenen<br />

Monaten ohnehin den Eindruck<br />

gewinnen musste, dass es zwischen Politik<br />

und KfW wichtigere Sachen zu bereden<br />

gibt als das große Ganze – nämlich<br />

Schröders inzwischen besiegelte Vertragsverlängerung.<br />

„Das Thema hat in manchen<br />

Verwaltungsratssitzungen die ganze<br />

Tagesordnung überlagert“, erzählt ein<br />

Kontrolleur.<br />

Im Kern ging es um ein paar Annehmlichkeiten,<br />

die die Regierung ihrem Banker<br />

gern aus dem Vertrag herausverhandelt<br />

hätte. Doch Schröder, im Wissen um<br />

seine starke Position, blieb hart und gewann<br />

den kleinen Machtkampf. Dafür<br />

durfte er kurz darauf im Spiegel über sich<br />

lesen, er sei „raffgierig“ und „größenwahnsinnig“,<br />

was dann doch harter Tobak war.<br />

Als Quelle der Geschichte gilt das<br />

Wirtschaftsministerium, wo der Staatssekretär<br />

und frühere Kartellamtschef Bernhard<br />

Heitzer – ein Liberaler wie sein Chef<br />

Rösler – für die KfW zuständig ist. Schröder,<br />

unweit der Berliner Ministerien in seinem<br />

Büro am Gendarmenmarkt sitzend,<br />

verzieht bei diesem Thema beinahe keine<br />

Miene. „Als Staatsbanker muss ich mit so<br />

etwas leben“, sagt er zu dem Artikel, „die<br />

Schmerzzulage ist in meinem Gehalt inbegriffen.“<br />

Heinz-Roger Dohms<br />

berichtet seit Jahren aus der<br />

Frankfurter Bankenwelt und hat<br />

den Aufstieg der KfW vor Ort<br />

miterlebt<br />

Foto: Privat<br />

84 <strong>Cicero</strong> 9.2013


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Strom<br />

Stromer. Ulrich Kranz zerlegte als<br />

junger Mann gern ölige Motoren. Heute<br />

arbeitet er bei BMW in München<br />

am sauberen Elektroantrieb des i3<br />

gegen<br />

Sprit<br />

86 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Fotos: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />

Bei BMW entwickelt<br />

Ulrich Kranz Elektroautos,<br />

Friedrich Nitschke baut<br />

die hochgezüchteten<br />

Sportwagen. Tradition<br />

und Zukunft. Zwei<br />

Ingenieure, zwei Welten<br />

von Lutz Meier<br />

N<br />

och gibt es diese jungen<br />

Männer. Noch laufen Kerle<br />

herum, wie Friedrich Nitschke<br />

und Ulrich Kranz in ihrer<br />

Jugend welche waren. Zwei<br />

dieser Jungs sind extra aus Amerika gekommen,<br />

um die schnellen Autos zu bewundern<br />

in der BMW-Welt, jener großen<br />

Ausstellungshalle des Autokonzerns<br />

in München, die aussieht, als sei sie ein<br />

metallisch glitzernder Tempel jener Mobilität,<br />

wie wir sie noch kennen. Oder ihr<br />

Mausoleum.<br />

Die beiden Fans aus Amerika in Shorts<br />

und Shirts sehen sich um. Hier stehen die<br />

Modelle, auf deren Heck ein großes M<br />

prangt. M wie Motorsport, das ist die Welt<br />

Benziner. Friedrich Nitschke machte<br />

schon in seiner Jugend Autos durch große<br />

Motoren schneller. Als Chef der M-Sparte<br />

von BMW ist er sich treu geblieben<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 87


| K a p i t a l | Z u k u n f t d e s A u t o s<br />

von Friedrich Nitschke. Er schaut gern mal<br />

hier vorbei, um Kontakt zur Kundschaft<br />

aufzunehmen und über Motoren zu fachsimpeln.<br />

Einen Spaziergang weiter im Innern<br />

der BMW-Welt hat Ulrich Kranz seinen<br />

Ausstellungsraum. Sein Buchstabe ist<br />

ein kleines i. Wofür es steht, ist nicht ganz<br />

so klar wie beim M. Für etwas Wegweisendes,<br />

Kreatives, Blitzsauberes, i wie innovativ,<br />

i wie iPhone. Kranz wollte ein Auto<br />

bauen, das so begehrenswert ist wie ein Appleprodukt<br />

und so pumperlgsund wie ein<br />

Müsli aus dem Bioladen.<br />

In seinem Ausstellungraum sitzt Kranz<br />

zwischen Büchern über nachhaltiges Gärtnern<br />

und Bildbänden über die Null-<br />

Emissions-Stadt von morgen. Kranz will<br />

und kann auf Fans nicht hoffen, wie sie<br />

Nitschke drüben erwarten. Aber der Elektroautopionier<br />

von BMW kann warten. Er<br />

ist sich sicher, dass die Zukunft ihm und<br />

seiner Sparte gehört.<br />

Das M und das i. Es sind zwei grundverschiedene<br />

Welten. Bei BMW leben sie<br />

nun nebeneinander. Im September zeigt der<br />

Konzern sein neues Elektroauto i3 zur offiziellen<br />

Premiere auf der Automobilmesse<br />

IAA in Frankfurt, ab November wird es<br />

richtig ernst, dann muss Ulrich Kranz<br />

sein Zukunftsauto an den Mann bringen.<br />

Gleichzeitig muss Friedrich Nitschke seinem<br />

Publikum beweisen, dass bei allen<br />

Öko-Kapriolen BMW weiter reinrassige<br />

Autos für PS-Begeisterte liefern kann. Solch<br />

eine Doppelstrategie hat noch kein Autokonzern<br />

gewagt, aber die BMW-Chefs haben<br />

keine Alternative gesehen: Das i brauchen<br />

sie, um strengere CO 2<br />

-Vorschriften<br />

einhalten zu können und neue Kunden zu<br />

gewinnen: Menschen, die in Bioläden einkaufen<br />

und Wert auf Nachhaltigkeit legen.<br />

Das M soll in der Zwischenzeit in der alten<br />

Autowelt weiter Geld verdienen.<br />

In der Ausstellungshalle ist diese<br />

alte Autowelt noch intakt, halbwegs jedenfalls.<br />

Friedrich Nitschke kommt die Treppe<br />

herunter. Die beiden jungen Männer aus<br />

Amerika stecken mit den Oberkörpern unter<br />

der meterlangen Motorhaube des M6<br />

Coupé. „Das heißeste Auto, das wir derzeit<br />

haben“, so nennt es Friedrich Nitschke.<br />

Die beiden Fans bestaunen die acht Zylindertöpfe<br />

wie eine Skulptur. Dann tauchen<br />

die Jungs auf aus dem Motorraum<br />

und erblicken Nitschke. Sie erfahren, dass<br />

dieser Mann der Chef der M-Sparte von<br />

BMW ist. Hastig streifen sie Rennfahrertrikots<br />

mit dem großen M über. Handys<br />

werden gezückt, Nitschke stellt sich zwischen<br />

sie, er legt den Jungs die Arme auf<br />

die Schultern, öffnet den Mund zu einem<br />

väterlichen Lächeln, Klick, der unwiderbringliche<br />

Moment ist für die Ewigkeit<br />

festgehalten. „Solche Fans haben wir hier<br />

immer wieder“, sagt Nitschke. Sie sind<br />

seine Lebensversicherung.<br />

Nitschke steht seit zwei Jahren an der<br />

Spitze der M-Sparte. Die Konzerntochter<br />

für hochgezüchtete Motoren und sportliche<br />

Fahrzeuge bedient jene Autofahrer, denen<br />

ein normaler Sechs- oder Achtzylinder<br />

von BMW noch zu müde ist. Ein Traumjob<br />

„Jeder M muss durch die Hölle“ – Friedrich Nitschke arbeitet<br />

an den hochmotorisierten Benzinern von BMW<br />

für Nitschke: „Ich betrachte es als Privileg<br />

und Ehre, für M arbeiten zu dürfen.“ Er ist<br />

ein Typ mit den lässigen Bewegungen eines<br />

in die Jahre gekommenen Altrockers. Seine<br />

Männer machen all das, was Ingenieure anderswo<br />

in der Autowelt kaum mehr dürfen:<br />

Das Letzte an Power aus dem Motor kitzeln,<br />

das Fahrwerk auf Kurvengeschwindigkeit<br />

trimmen, koste es, was es wolle.<br />

Anderswo geht es nur noch darum, jedes<br />

Bauteil auf Gewichts- und Kostenersparnis<br />

abzuklopfen, im hintersten Winkel des Motorraums<br />

noch Potenzial aufzuspüren, um<br />

den CO 2<br />

-Wert um ein halbes Gramm pro<br />

Kilometer zu senken. Kompromisse, Kompromisse,<br />

Kompromisse.<br />

Das Letzte aus dem Motor<br />

kitzeln: Er betrachtet es als eine<br />

Ehre, in der M-Sparte zu arbeiten<br />

Foto: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />

88 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Hinter dem großen M dagegen verbirgt<br />

sich ein Rückzugsort der Kompromisslosigkeit.<br />

Zwar stehen auch neben den<br />

M-Fahrzeugen in der BMW-Welt Schilder,<br />

die CO 2<br />

-Ausstoß und Energieeffizienzklasse<br />

anzeigen: ein dunkelroter Balken bezeichnet<br />

die schlechteste aller Klassen, 325 Gramm<br />

CO 2<br />

-Ausstoß pro Kilometer. In den Augen<br />

der potenziellen M-Käufer ist das aber eher<br />

ein Beleg dafür, dass wenigstens hier die Autowelt<br />

noch in Ordnung ist. „Jeder M muss<br />

durch die Hölle“, sagt Nitschke, „die Nordschleife<br />

am Nürburgring.“ Wenn die Fahrzeuge<br />

da zu langsam sind, gehen sie nicht<br />

in Serie. Nitschke pest selbst regelmäßig<br />

über den Ring, Wochenenden verbringt er<br />

bei Tourenwagenrennen, und wenn er eine<br />

Rennstrecke beschreibt, hat er ein Lächeln<br />

im Gesicht.<br />

Ein GroSSkonzern wie BMW funktioniert<br />

ähnlich wie eine Volkspartei, die eine<br />

Strömung kann nicht ohne die andere: Es<br />

ist Friedrich Nitschkes Job, das viele Geld<br />

für Ulrich Kranz’ Zukunftsvision zu verdienen;<br />

das kleine i braucht noch das Geld vom<br />

großen M. So ungefähr jedenfalls beschreibt<br />

Nitschke die Arbeitsteilung. Die M-Sparte<br />

gibt es seit 40 Jahren. Jetzt ist das kleine i von<br />

Ulrich Kranz dazugekommen. Sie wurden<br />

nebeneinander gestellt, zwei technische Prinzipien,<br />

zwei Ideen der Fortbewegung, zwei<br />

Welten. Das breitschultrige M und das pfiffige<br />

i. Nitschke und Kranz.<br />

Kranz erklärt in seiner i-Lounge, warum<br />

auch seine Aufgabe ein Traumjob ist.<br />

Er hat Hände, die wie manikürt wirken, er<br />

zeichnet mit ihnen fein abgezirkelte Linien<br />

in die Luft, wie ein Dirigent. Er schlägt einen<br />

weiten Bogen und sagt, dass nicht nur<br />

das Auto von Grund auf ökologisch wird,<br />

sondern gleich auch noch die Autoindustrie<br />

und die mobile Welt insgesamt. Ganzheitlich,<br />

sagt Ulrich Kranz. Windturbinen<br />

liefern, zumindest wenn der Wind weht, die<br />

Energie für die Fabrik des neuen BMW i3<br />

in Leipzig. Sie sollen signalisieren, dass das<br />

ganze Auto möglichst nur mit Öko-Energie<br />

zusammengeschraubt, -gepresst und vernietet<br />

wird. Kranz erklärt weiter: das Recyclingkonzept,<br />

die Aufbereitung der Batterien.<br />

Null Emissionen das gesamte Autoleben<br />

lang, das sei vielleicht ein schöner Traum,<br />

sagt er, aber man wolle dem möglichst nahekommen.<br />

Beim i3 sind selbst die Sitze mit<br />

olivenblattgegerbtem Leder bezogen. Oder –<br />

wahlweise – mit Wolle von Öko-Schafen<br />

aus Schottland. Das Armaturenbrett ist mit<br />

unbehandeltem Holz belegt, die Türverkleidung<br />

aus Bastgeflecht.<br />

Der i3 wird das erste elektrische Serienfahrzeug<br />

aus deutscher Produktion sein,<br />

eine riskante Wette des Herstellers auf die<br />

Zukunft. Allein die Entwicklung hat schon<br />

Milliarden gekostet, wenn man die Investitionen<br />

in das im Automobilbau neuartige<br />

Karbonfaser-Material mit einrechnet, aus<br />

dem der i3 zu großen Teilen besteht. Es<br />

ist ein Auto, das mindestens 35 000 Euro<br />

kostet und mit einer Batterieladung gut<br />

150 Kilometer weit kommt, ein Auto für<br />

Überzeugungstäter.<br />

Im Konzern wächst die Anspannung.<br />

Der Preis für das Elektroauto wurde gegenüber<br />

den ursprünglichen Andeutungen nach<br />

unten korrigiert, gleichzeitig schalteten die<br />

Münchner ihre PR-Maschine in den höchsten<br />

Gang.<br />

In der Branche kühlen sich die Hoffnungen<br />

in die Elektromobilität ab. Pioniere<br />

wie Tesla und Fisker wanken, etablierte Hersteller<br />

wie General Motors oder Nissan, die<br />

schon viel früher mutig Stromgefährte auf<br />

den Markt brachten, mussten ihre Pläne zusammenstreichen.<br />

Die Kundschaft zögert,<br />

weil sie den Batterien ebenso wenig traut<br />

wie der unkoordinierten Förderpolitik der<br />

Regierungen. Die begrenzte Reichweite der<br />

Stromfahrzeuge scheint endgültig die alte Illusion<br />

der grenzenlosen Mobilität zu zerstören.<br />

„Reichweitenangst“ heißt das Wort, das<br />

BMW-Vertriebsvorstand Ian Robertson so<br />

ausspricht, als handele es sich um eine ansteckende<br />

Krankheit. Er muss die Revolution<br />

dennoch den Händlern und den Kunden<br />

schmackhaft machen.<br />

Widrigkeiten? Ulrich Kranz sagt, er sei<br />

überhaupt nicht aufgeregt, und fast möchte<br />

man ihm glauben. Er will die ökoangehauchten,<br />

vermögenden Großstadt-Akademiker<br />

zu BMW-Kunden machen. Eine<br />

Gruppe, der Marketingleute schon vor Jahren<br />

den Namen „Lohas“ verpasst haben.<br />

Das steht für „Lifestyle of Health and Sustainability“<br />

oder frei übersetzt: grün sein,<br />

zumindest auf dem Papier. Das Problem ist,<br />

dass BMW für die „Lohas“ bisher all das<br />

verkörpert, was sie ablehnen. Kranz ficht<br />

das nicht an: „Wir wollen mit dem i3 ja gerade<br />

neue Kunden ansprechen. Menschen,<br />

die vielleicht bisher gar kein Auto fahren<br />

und öffentliche Verkehrsmittel benutzen.“<br />

Kranz muss mit dem i3 also nicht nur beweisen,<br />

dass die Marke BMW eine Zukunft<br />

E-Mobilität<br />

Planung<br />

gegen<br />

Wirklichkeit<br />

Warum sich der Boom<br />

der E-Autos verzögert<br />

Eine Million Elektroautos in<br />

Deutschland bis 2020. An diesem<br />

Ziel hält die Bundesregierung öffentlich<br />

fest. Nur politisch hat<br />

Schwarz-Gelb wenig unternommen,<br />

um es zu erreichen, sagen sowohl<br />

Kritiker aus Umweltverbänden<br />

als auch Interessenvertreter der<br />

Autoindustrie.<br />

Stattdessen blockiert die Bundeskanzlerin<br />

in Brüssel eine EU-<br />

Regelung für schärfere CO 2<br />

‐Werte.<br />

Diese sieht vor, den Ausstoß<br />

von Kohlendioxid für Neuwagen<br />

bis 2020 auf durchschnittlich<br />

95 Gramm pro Kilometer zu senken.<br />

Derzeit liegt die Grenze bei<br />

130 Gramm. Über seine Wagenflotte<br />

verteilt muss jeder Hersteller<br />

den CO 2<br />

-Ausstoß deutlich senken.<br />

Für BMW und Daimler, die vor allem<br />

große, schwere Autos mit hohem<br />

Schadstoffausstoß im Angebot<br />

haben, ist die Herabsetzung der<br />

Grenzwerte schwierig zu erreichen<br />

und mit hohen Entwicklungsinvestitionen<br />

verbunden.<br />

Daher sind die Premiumhersteller<br />

für sogenannte Super credits:<br />

Emissionsarme Fahrzeuge wie Elektro-<br />

und Hybridfahrzeuge mit einem<br />

Ausstoß von weniger als 50 Gramm<br />

Kohlendioxid sollen bei der Berechnung<br />

des Kohlendioxidausstoßes<br />

der Flotte mindestens mit dem Faktor<br />

2,5 angerechnet werden. Mit nur<br />

wenigen E-Autos könnten sie viele<br />

CO 2<br />

-ungünstige Großfahrzeuge<br />

rechnerisch unter die Schwelle drücken.<br />

VW will auf Super credits verzichten,<br />

weil es in der Modellpalette<br />

des Konzerns genug Kleinwagen<br />

gibt, die die hohen CO 2<br />

-Werte der<br />

Porsches und Audis ausgleichen. til<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 89


| K a p i t a l | Z u k u n f t d e s A u t o s<br />

hat. Das i muss auch noch die Zukunftsfähigkeit<br />

des Autos an sich verkörpern.<br />

Kranz ist inzwischen selbst ein Überzeugungstäter,<br />

dabei hat er vorher eine<br />

Benzinerkarriere durchlaufen. Als junger<br />

Ingenieur war er beim Aufbau des ersten<br />

US-Werkes des Konzerns dabei, später<br />

bei der Entwicklung der geländegängigen<br />

X-Fahrzeuge. Bis 2007 verantwortete er<br />

schließlich die Produktlinie der erfolgreichen<br />

Tochtermarke Mini. Heute spricht<br />

Kranz so ergriffen von Handling und Dynamik<br />

des Elektrofahrzeugs, als hätte er<br />

nie einen Tropfen Benzin verbrannt. Er ist<br />

sicher, dass auch ein Elektrofahrzeug auf<br />

Touren kommt. Wenn der Konzern Journalisten<br />

im i3 über seine Teststrecke schickt,<br />

triezt Kranz die Fahrnovizen, auf die Tube<br />

zu drücken, bis die Reifen rauchen. Das ist<br />

nicht unbedingt nachhaltig, aber die Botschaft<br />

an die Lohas dieser Welt lautet: Hier<br />

gibt es Öko-Zukunft ohne Verzicht.<br />

Die Geburtsstunde des „Project i“<br />

liegt jetzt sechs Jahre zurück. Damals ruft<br />

BMW-Chef Norbert Reithofer seine Vorstandskollegen<br />

zusammen, um darüber<br />

nachzudenken, ob es in 20 oder 30 Jahren<br />

noch eine Automobilindustrie in der<br />

heutigen Form geben wird. Oder noch<br />

konkreter: Wie lange lässt sich noch mit<br />

Großlimousinen, Geländetrumms und<br />

Reihensechszylindern Geld verdienen?<br />

Reithofer ist alarmiert, von allen Seiten<br />

scheint das Geschäftsmodell der alten Autowelt<br />

bedroht zu sein: Die Klimaerwärmung<br />

lässt Politiker immer strengere CO 2<br />

-<br />

Grenzen beschließen; rasant wachsende<br />

Riesenmetropolen suchen nach neuen Mobilitätskonzepten<br />

im verzweifelten Kampf<br />

gegen den Verkehrsinfarkt; die Autobegeisterung<br />

der Jungen in den großen Industrienationen<br />

lässt nach; Führerschein und das<br />

erste eigene Auto sind längst nicht mehr<br />

das Ziel aller Träume.<br />

Die Antworten auf die drängenden<br />

Fragen soll Ulrich Kranz finden. Für den<br />

heute 55-Jährigen ist das die bisherige<br />

Krönung seiner Karriere. Er bekommt ein<br />

Büro, eine Sekretärin, ein Budget und die<br />

Aufgabe, einen Ausweg zu finden. Er muss<br />

nicht unbedingt ein neues Auto entwickeln,<br />

sondern eine tragfähige Überlebensidee für<br />

den Konzern. Mit sieben Leuten fängt er<br />

an, sie löchern Stadtplaner, treffen sich<br />

mit Soziologen, fragen Bürgermeister aus,<br />

Architekten, Umweltaktivisten in China,<br />

Nord- und Südamerika, in Japan und Europa.<br />

Sie leben tagelang mit Familien in<br />

Schanghai, Mexico City, Tokio und Los<br />

Angeles und begleiteten sie auf ihren Wegen<br />

zur Arbeit, zur Schule und ins Kino.<br />

Dass am Ende doch wieder ein Auto dabei<br />

herausgekommen ist, mag man konventionell<br />

finden. Wenn man den i3 aber sieht<br />

und fährt, ist das neue Modell eine Revolution.<br />

Zumindest für die Bayerischen Motorenwerke,<br />

gegründet 1916, sie tragen das<br />

Röhren und Knattern von Verbrennungsmaschinen<br />

ja quasi im Namen.<br />

Das neue Auto ist nicht mehr das<br />

blechgewordene Versprechen auf Beschleunigung,<br />

das die früheren BMWs waren. Es<br />

erinnert ein wenig an eine Bergbahngondel,<br />

die sich selbstständig gemacht hat. Das<br />

Forschungsprojekt hat auch Kranz’ eigene<br />

Haltung zum Auto verändert. Für rasante<br />

Beschleunigung kann er sich nach wie vor<br />

„Natürlich habe ich Benzin im Blut“ – Ulrich Kranz wurde<br />

Pionier der Elektromobilität und entwickelt den i3<br />

begeistern, aber nun träumt er davon, den<br />

Bewegungsdrang des Menschen in Einklang<br />

mit der Natur zu bringen.<br />

Das „Project i“ hat im ganzen Konzern<br />

für ein Umdenken gesorgt. Zwar waren<br />

anfangs nicht alle begeistert von der<br />

Elektro offensive, gepaart mit der Erforschung<br />

der Lebensgewohnheiten moderner<br />

Großstädter. Zwar referierte Einkaufschef<br />

Klaus Draeger im Vorstand unermüdlich<br />

über die unübertroffene Energiedichte von<br />

Benzin, die eine Batterie niemals erreichen<br />

würde. Zwar witzelten die Motorenbauer<br />

alter Schule über elektrische Trambahnen<br />

und Golfplatzkarren, wenn Kranz in einer<br />

abgeschirmten Fabrikhalle die Chefs<br />

zu Probefahrten mit ersten Prototypen<br />

einlud. Aber Kranz wusste den wichtigsten<br />

Mann auf seiner Seite: Norbert Reithofer.<br />

Der Vorstandschef überzeugte am<br />

Ende all die Zweifler mit einem Argument,<br />

Der Ingenieur bekam ein Büro,<br />

ein Budget und den Auftrag,<br />

die Zukunft zu entdecken<br />

Fotos: Andreas Müller für <strong>Cicero</strong><br />

90 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Foto: Uta Wagner (Autor)<br />

das auch die immensen Investitionen für<br />

das „Project i“ rechtfertigte: Ohne E-Auto<br />

werde es für den Konzern unmöglich, die<br />

Grenzwerte der EU einzuhalten. Ab 2020<br />

soll die gesamte Industrie eine Grenze von<br />

95 Gramm CO 2<br />

im Durchschnitt pro Fahrzeug<br />

nicht überschreiten dürfen. Jeder Hersteller<br />

muss die Durchschnittswerte seiner<br />

Fahrzeugflotte radikal absenken. Ohne i<br />

kein M. Und auch keine großmotorigen<br />

Limousinen mehr, oder SUVs.<br />

Längst haben die drohenden Emissionsgrenzen<br />

die gesamte Branche auf Trab<br />

gebracht und auch zur elektrischen Bewegung<br />

hingeführt, doch abgesehen von Renault-Nissan<br />

hat kein Autokonzern so viel<br />

Geld in das E-Wagnis gesteckt wie BMW.<br />

Nach auSSen hin gab Reithofer im Sommer<br />

vor vier Jahren ein wirkungsvolles Signal<br />

für die automobile Schubumkehr: Mit<br />

Aplomb kündigte er an, dass der Konzern<br />

die Formel 1 verlässt. Das eingesparte<br />

Geld – zwischen 150 und 250 Millionen<br />

Euro im Jahr – werde nicht mehr in die<br />

schnellsten, sondern stattdessen in die ökologischsten<br />

Autos der Welt gesteckt. Dabei<br />

profitierte Kranz sogar direkt vom Formel-<br />

1-Ausstieg, weil er 30 Techniker aus dem<br />

Motorsport-Team übernehmen konnte. Sie<br />

hatten vorher daran gearbeitet, die enorme<br />

Bremsenergie der Rennwagen in Batterien<br />

einzuspeisen, damit diese später mit noch<br />

mehr Wumms aus der Kurve kamen. Jetzt<br />

tüftelten sie am optimalen Energiemanagement<br />

des neuen Öko-Autos.<br />

Mit dem Formel-1-Ausstieg zeigte Reithofer,<br />

wie ernst es ihm war, mit BMW den<br />

Weg vom PS-Saulus zum Öko-Paulus zu<br />

gehen. Leute wie Friedrich Nitschke müssen<br />

sich fast zwangsläufig der Frage stellen,<br />

ob sie die letzte Entwicklergeneration bei<br />

BMW vertreten, für die der Sound eines<br />

Benzinmotors Musik ist, die in PS denken<br />

und Potenz in Zylindern messen.<br />

Nitschke und Kranz kennen sich. Während<br />

sie bei BMW aufstiegen, sind sie sich<br />

immer wieder begegnet. Nitschke folgte<br />

Kranz als Entwicklungschef bei Mini. Der<br />

Benziner würde dem Stromer nie absprechen,<br />

ein echter Motormann zu sein. Und<br />

Kranz achtet sorgsam darauf, Nitschke<br />

nicht als Mann der Vergangenheit zu<br />

charakterisieren. Auch PR-Strategen von<br />

BMW geben sich große Mühe, den Eindruck<br />

zu zerstreuen, dass sie Gegenspieler<br />

wären, M und i, Nitschke und Kranz.<br />

Tatsächlich hat sie ja beide der gleiche<br />

Traum zu BMW geführt.<br />

Kinderfotos von Nitschke, Jahrgang<br />

1954, zeigen ihn vor einem riesigen Tisch<br />

voller Modellautos. Auch Kranz, Jahrgang<br />

1958, kann schon im Kindergartenalter<br />

Automarken an kleinsten Details auseinanderhalten.<br />

Später versucht sich der Saarländer<br />

daran, Mopeds bis auf die allerletzte<br />

Schraube zu zerlegen. „Als Tuning würde<br />

ich das noch nicht bezeichnen“, erzählt<br />

Kranz. „Aber es ging schon darum, die<br />

Mopeds schneller zu machen.“.<br />

Nitschke probiert derweil in Oberfranken<br />

mit Freunden, in alte Autos stärkere<br />

Motoren zu verpflanzen. Der Traum von<br />

beiden heißt: BMW.<br />

Die Marke sei schon damals cool gewesen,<br />

erinnert sich Kranz. „In den Sechzigern<br />

und Siebzigern war BMW beim Motorsport<br />

immer auf der Überholspur.“<br />

Auch der junge Friedrich Nitschke<br />

treibt sich an Rennstrecken herum. „Mit<br />

dem M1 war BMW da meist vorne dran“,<br />

erzählt er. „Bei den Menschen, die BMW<br />

gefahren sind, habe ich einen Spirit gespürt,<br />

zu dem ich mich immer hingezogen gefühlt<br />

habe.“<br />

Nitschke spart sich vom ersten selbst<br />

verdienten Geld einen BMW 1602 zusammen.<br />

Bei Kranz reicht es nur zu einem<br />

Renault 4, aber er beginnt eine Mechanikerlehre<br />

bei einem Autohaus, das aus Straßen-BMWs<br />

Rennwagen baut. Die darf er<br />

ausgiebig testfahren. „Zu der Zeit war das<br />

nicht so schwierig, da waren die Straßen<br />

noch frei“, berichtet der Schöpfer des i3.<br />

Heute ist Ulrich Kranz ein bedächtiger<br />

Typ, auf den ersten Blick ein typischer<br />

Vertreter der eigenen Zielgruppe, der Lohas.<br />

Dennoch sagt er: „Natürlich habe ich<br />

Benzin im Blut.“ Aber die Welt und die<br />

Technik hätten Fortschritte gemacht.<br />

Ob Friedrich Nitschke Benzin im<br />

Blut hat, muss man ihn gar nicht fragen.<br />

Nitschke ist ein Mann, dem man die<br />

Freude am Fahren von Weitem ansieht und<br />

der gern über die Erotik des Verbrennungsmotors<br />

philosophiert. „Das kommt daher,<br />

dass wir von Kindesbeinen an mit der<br />

Faszination aufgewachsen sind, mit dem<br />

Sound, dem Gefühl beim Gasgeben, der<br />

Form von sechs Zylindertöpfen.“<br />

Bei der heutigen Jugend findet er<br />

das nicht mehr überall. Die Welt ändert<br />

sich, das gibt auch der M-Chef Friedrich<br />

Nitschke zu.<br />

Und Ulrich Kranz hebt die Bedeutung<br />

der starken Benzinmotoren hervor. Nicht i<br />

gegen M, sondern i und M als Traumpaar.<br />

Seit sich die Zweifel wieder mehren, ob<br />

und wie schnell die Elektroepoche wirklich<br />

anbricht, haben sich Kranz und die Leute<br />

bei BMW eine neue Argumentation zurechtgelegt.<br />

Die Elektropioniere müssten<br />

das klassische Automobil nicht ablösen, sie<br />

könnten es auch verbessern. So sucht der<br />

Konzern natürlich seine Investitionen in<br />

E-Antrieb und Leichtbautechnik mit Karbonfaser<br />

auch für den Fall zu rechtfertigen,<br />

dass der i3 kein Verkaufsschlager wird.<br />

Vielleicht bleibe das rein batteriebetriebene<br />

Fahrzeug auf lange Sicht noch<br />

für bestimmte Verwendungszwecke reserviert,<br />

aber die Technik brauche man in<br />

jedem Fall, sagt Kranz. „Auch bei Hochleistungsautomobilen<br />

wird der Anteil von<br />

unterstützenden E-Maschinen größer werden.<br />

So gesehen werden beide Seiten i und<br />

M konvergieren.“<br />

Gleichzeitig macht sich Friedrich<br />

Nitschke keine Illusionen über die Zukunft<br />

seiner hochmotorisierten Benziner. Einen<br />

M mit klassischen Motoren werde man mit<br />

den künftigen CO 2<br />

-Gesetzen nicht mehr<br />

bauen können, sagt er. Aber noch verdiene<br />

BMW mit seinen Autos halt gutes<br />

Geld. Und auf der Rennstrecke könne der<br />

i3 nicht mit einem seiner Fahrzeuge mithalten,<br />

auch wenn Nitschke das Kurventempo<br />

des Elektromodells beeindruckt hat.<br />

Vielleicht wird die i-Revolution zu einer<br />

Evolution, vielleicht setzt sich die Technik<br />

des Ulrich Kranz eher leise, allmählich<br />

und nach einigen Rückschlägen durch.<br />

Aber am Ende werden die letzten Ms von<br />

Friedrich Nitschke nur noch in den Garagen<br />

der Liebhaber stehen.<br />

Der Ingenieur der starken, schnellen<br />

Benziner hält sich noch bei seinen Autos in<br />

der Halle auf, das Geplänkel mit den beiden<br />

Fans aus Amerika hat etwas gedauert.<br />

Er schaut auf die Uhr. Schon Viertel nach<br />

sechs. Um halb hat er den nächsten Termin<br />

in seinem Büro im Vorort Garching,<br />

das ist normalerweise kaum mehr zu machen.<br />

Aber Nitschke grinst, er hat ja sein<br />

M6 Cabriolet dabei. 560 PS.<br />

Lutz Meier<br />

ist Wirtschaftsreporter. Als er den<br />

i3 voll austestete, freute er sich,<br />

wenn in der Kurve die Reifen<br />

quietschten<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 91


| K a p i t a l | M e d i e n<br />

Der Digitale Kiosk<br />

Seit der Amazon-<strong>Grün</strong>der die Washington Post gekauft hat, jammern Deutschlands Medien<br />

noch lauter. Sie sollten ihre Zukunft selber in die Hand nehmen. Das Vorbild? Amazon<br />

von Petra Sorge<br />

A<br />

ls die Rechnung seiner Kreditkartenfirma<br />

kam, war Amazon-<br />

<strong>Grün</strong>der Jeff Bezos außer sich.<br />

250 Millionen Dollar – ein „reiner<br />

Wahnsinn“. „Ich wollte die<br />

Washington Post auf gar keinen Fall kaufen.<br />

Ich lese sie nicht einmal!“ Bezos habe sich<br />

doch nur unachtsam durch die Post-Webseite<br />

geklickt. „Ich habe ihnen gesagt, dass<br />

ich nicht weiß, wie das in meinen Warenkorb<br />

gekommen ist.“<br />

Der bislang spektakulärste Deal im US-<br />

Zeitungsmarkt ist so unglaublich, dass man<br />

auch einmal auf eine frei erfundene Szene<br />

wie diese hereinfallen kann. So erging es<br />

einigen chinesischen Medien, darunter der<br />

Nachrichtenagentur Xinhua: Sie verbreiteten<br />

die Satire des Komikers Andy Borowitz<br />

im New Yorker, wonach der 49 Jahre<br />

alte Bezos die Washington Post ungewollt<br />

beim Onlineshopping erworben habe, als<br />

echte Meldung.<br />

In Deutschland konnte darüber aber<br />

niemand so richtig lachen.<br />

Die Branche reagierte entsetzt, dass<br />

die Post ausgerechnet an ein Internetunternehmen<br />

verkauft wurde. Die Frankfurter<br />

Allgemeine geißelte Bezos als Monopolisten,<br />

„der die Buchbranche vernichtet“,<br />

und fragte sich, ob Lenin nicht doch recht<br />

behalten habe: „Die Welt wird bestimmt<br />

von einer Finanz-Daten-Online-Oligarchie,<br />

mit besten Verbindungen zum Geheimdienst.“<br />

Der Springer-Vorstandsvorsitzende<br />

Mathias Döpfner nannte den<br />

Kaufpreis der Washington Post während einer<br />

Telefonkonferenz mit Analysten „schockierend“<br />

niedrig.<br />

Döpfner und seine Kollegen sehen das<br />

Ende einer Ära. Die Washington Post galt<br />

jahrzehntelang als Flaggschiff des investigativen<br />

Journalismus. Hier heuerte Joseph<br />

Pulitzer an, Namensgeber des wichtigsten<br />

Die alte Welt in<br />

Washington: 1973<br />

enthüllen Carl Bernstein<br />

(links) und Bob Woodward<br />

die Watergate-Affäre<br />

US-Journalistenpreises; hier deckten Carl<br />

Bernstein und Bob Woodward den Watergate-Skandal<br />

auf.<br />

Doch Eigentümer Donald Graham sah<br />

für sich und seine Zeitung keine Zukunft<br />

mehr. Der Verlegererbe mit Harvard-Abschluss<br />

wurde sich mit dem Selfmademilliardär<br />

von Amazon schnell handelseinig:<br />

Jeff Bezos schnappte sich den Markenartikel<br />

zum Tiefstpreis. „Bei 188 Millionen<br />

Euro – dafür hätte ich die Washington Post<br />

auch gerne genommen“, sagte Springer-<br />

Chef Döpfner noch während der Telefonkonferenz<br />

mit den Analysten.<br />

Eine überraschende Bemerkung.<br />

Schließlich hatte die Axel Springer AG<br />

erst zwei Wochen zuvor selbst zwei Qualitätszeitungen<br />

verkauft: die Berliner Morgenpost<br />

und das Hamburger Abendblatt,<br />

die erste von Verleger Axel Springer gegründete<br />

Zeitung. Dazu veräußerte der<br />

Konzern noch fünf Programm- und zwei<br />

Die alte Welt in<br />

Hamburg: 1948 feiert<br />

das „Hamburger<br />

Abendblatt“ Premiere<br />

Frauenzeitschriften. Kosten: 920 Millionen<br />

Euro. Ein Geschäft auf Pump. Denn das<br />

Geld hat die Käuferin, die Essener Funke<br />

Mediengruppe, eigentlich gar nicht.<br />

Der Milliardendeal nährte die Furcht<br />

vor einem Ausverkauf des Journalismus:<br />

Wenn Deutschlands größter Verlagskonzern<br />

nur noch an Bild und Welt festhält,<br />

heißt das dann nicht, dass er im Printgeschäft<br />

eigentlich keine Zukunft mehr sieht?<br />

Auch viele Journalisten der Funke-<br />

Gruppe fürchten um ihre Jobs: Springers<br />

Welt soll bald auch Inhalte für den Essener<br />

Verlag liefern. In den Funke-Redaktionen<br />

erinnert man sich noch mit Schrecken an<br />

den Sparkurs der hauseigenen Westdeutschen<br />

Allgemeinen Zeitung vor vier Jahren.<br />

Damals wurden in mehreren Sparrunden<br />

hunderte Stellen gestrichen.<br />

Der nordrhein-westfälische Verlag hatte<br />

damit auf Entwicklungen reagiert, die die<br />

gesamte Branche erfassen. Nicht nur die<br />

Fotos: ©axelspringer.de, Action Press, Andrej Dallmann (Autorin)<br />

92 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Kostenloskultur im Internet frisst Löcher<br />

in die Bilanz. Vor allem brechen Werbeerlöse<br />

weg. Denn Unternehmen erreichen<br />

ihre Kunden über das Internet mittlerweile<br />

zielgenauer als über Printmedien.<br />

Die Folge: Verlage investieren zunehmend<br />

selbst in Shopping- und Serviceportale.<br />

2012 erwirtschaftete Springer im Internet<br />

über eine Milliarde Euro – mehr als<br />

in jedem anderen Geschäftsbereich. Das<br />

Geld verdienten aber nicht bild.de oder<br />

Welt Online, sondern Rubrikenmärkte wie<br />

immonet.de oder stepstone.de. Wenn die<br />

Axel Springer AG verkündet, bald „das<br />

führende digitale Medienunternehmen“<br />

Deutschlands zu werden, hat<br />

das wenig mit Journalismus<br />

zu tun.<br />

Sind die Entwicklungen<br />

bei Springer und bei der<br />

Washington Post also wirklich<br />

schlechte Nachrichten<br />

für die Medienindustrie?<br />

Nicht unbedingt.<br />

Zum einen lässt sich in<br />

der Bemerkung Döpfners<br />

auch ein Bekenntnis zum –<br />

printbasierten – Recherchejournalismus<br />

lesen. Zum anderen begrüßt sogar ein alter<br />

„Watergate“-Haudegen den Amazon-<br />

Deal. Bob Woodward sagte, er hoffe, dass<br />

die Washington Post künftig journalistische<br />

Werte mit „dem gesamten Potenzial des digitalen<br />

Zeitalters“ verbinden könne.<br />

Jeff Bezos wäre das zuzutrauen: Sein Erfolg<br />

beruht auf der Vermarktung immaterieller<br />

Güter. Er begann als Buchhändler,<br />

baute ein Vertriebswesen auf, erfand<br />

das „Kindle“ und eine Plattform für Selbstautoren.<br />

Bezos ist längst ein Verleger. Der<br />

Schritt ins Nachrichtengeschäft ist da nicht<br />

nur logisch, sondern geradezu genial.<br />

Für die Washington Post bieten sich<br />

völlig neue Vertriebsmöglichkeiten. Über<br />

Koppelangebote könnten ihre Inhalte den<br />

Verkauf des Amazon-Lesegeräts ankurbeln.<br />

Es könnten Aboempfehlungen in der Kategorie<br />

„Kunden, die dies gekauft haben,<br />

kauften auch …“ auftauchen. Das ausgeklügelte<br />

analoge Vertriebsnetz von Amazon<br />

könnte sogar für das Printprodukt lebensverlängernd<br />

wirken – indem das Unternehmen<br />

seinen „Prime“-Kunden die Zeitung<br />

als Bonus frei Haus liefert. Von Amazon-<br />

Themen-Specials mit per Post versandten<br />

DVDs über den Aufbau einer eigenen<br />

Suchdatenbank wäre alles denkbar.<br />

Warum können<br />

sich die<br />

deutschen<br />

Verlage nicht<br />

beim Vertrieb<br />

zusammentun?<br />

Apple hat es mit iTunes in der Musikindustrie<br />

vorgemacht: Da war sie plötzlich,<br />

die leicht zu bedienende Bezahlplattform, auf<br />

die alle Plattenfirmen gewartet hatten und an<br />

die keiner mehr glauben wollte. Viele Nutzer,<br />

die zuvor ihre Songs raubkopiert hatten, zahlten<br />

dank Apple wieder für Musik.<br />

Deutsche Verlage sollten angesichts dieser<br />

Potenziale nicht länger über den Untergang<br />

ihres Geschäftsmodells jammern.<br />

Sie sollten selbst über den Aufbau eines<br />

eigenen großen Digitalkiosks nachdenken.<br />

Keine Chance gegen Amazon? Das<br />

Image des Unternehmens in Deutschland<br />

leidet doch gerade deswegen, weil es zu miserablen<br />

Bedingungen arbeiten<br />

lässt und die Preise für<br />

Bücher brutal drückt.<br />

Die Frage, wie die Washington<br />

Post künftig über<br />

solche Zustände im eigenen<br />

Haus berichten wird,<br />

ist noch nicht beantwortet.<br />

Auch nicht die, ob Jeff<br />

Bezos die Meinungsmacht<br />

seiner Zeitung zur Durchsetzung<br />

von Geschäftsinteressen<br />

nutzen wird.<br />

Wer bei Amazon shoppt, gibt Daten<br />

preis, für die sich die NSA interessiert –<br />

auch das könnte zum Wettbewerbsnachteil<br />

werden. Gerade haben T-Online, GMX<br />

und Web.de eine „E-Mail made in Germany“<br />

vorgestellt. Sie soll bald nur noch<br />

verschlüsselt verschickt werden. Auch wenn<br />

es bei der Umsetzung noch hapert: Es ist<br />

ein Anfang.<br />

Warum können sich deutsche Verlage<br />

nicht für ein ähnliches Projekt zusammentun?<br />

Für ein „Amazon-iTunes made in Germany“?<br />

Ein Vertriebskanal könnte das sein,<br />

den jeder deutschsprachige Nutzer zuerst<br />

ansteuert, auf dem er Zeitungen und Magazine<br />

einkaufen, spielen, in Büchern stöbern<br />

und sich die individuellen Nachrichten all<br />

seiner Lieblingsseiten selbst zusammenstellen<br />

kann – das wäre doch mal was. Diese<br />

Plattform würde damit werben, dass sie die<br />

Daten ihrer Nutzer schützt. Mit Blick auf<br />

Amazons vertikale Angebotspalette müssten<br />

die Verlage aber auch mit anderen Händlern<br />

zusammenarbeiten. Erfahrungen gibt<br />

es da, deutsche Verlage verkaufen längst<br />

auch <strong>Rot</strong>wein und DVDs.<br />

Um ein solches Portal zu entwickeln,<br />

müssten die beiden Interessenvertreter der<br />

Presse – der Bundesverband Deutscher<br />

Zeitungsverleger und der Verband Deutscher<br />

Zeitschriftenverleger – eine gemeinsame,<br />

innovative Spezialeinheit einrichten.<br />

Oder ist das zu viel verlangt? Vielleicht<br />

wäre eine gemeinsame Tochter der wichtigen<br />

Verlage der bessere Weg.<br />

Der Haken: Ein derartiges Kooperationsmodell<br />

hätte eine marktbeherrschende<br />

Stellung. Das Bundeskartellamt würde<br />

ziemlich sicher tätig, die Behörde in Bonn<br />

untersagte ja auch die Fusion von Tagesspiegel<br />

und Berliner Zeitung.<br />

Andererseits: Ist der Wunsch nach heimischer<br />

Pressevielfalt nicht naiv, wenn<br />

Amazon auch den hiesigen Medienmarkt<br />

erobert? Gegen iTunes, Facebook und<br />

Google rennen deutsche Datenschützer<br />

und deutsche Verlage bereits vergeblich an.<br />

Aus gutem Grund gibt es im Vertrieb<br />

schon seit der Nachkriegszeit staatlich geduldete<br />

Monopole: das Pressegrosso. Das<br />

sind Zwischenhändler, die in ihrem jeweiligen<br />

Vertriebsgebiet bestimmen, welche<br />

Zeitschriften in den Kiosks ausliegen.<br />

Sie unterliegen der Preisbindung der Verlage<br />

– und sichern so die Pressevielfalt in<br />

Deutschland. Ohne die Grossisten hätte<br />

es auch <strong>Cicero</strong> vor neun Jahren deutlich<br />

schwerer gehabt, seine Leser zu finden.<br />

Man müsste für einen Onlinekiosk der<br />

deutschen Verlage nicht einmal das Gesetz<br />

ändern. Denn im Kartellrecht existiert die<br />

Möglichkeit der sogenannten „Ministererlaubnis“.<br />

Philipp Rösler (oder ein Nachfolger)<br />

könnte mit diesem Instrument eine<br />

Kooperation zum Wohle der Meinungsvielfalt<br />

erlauben.<br />

Nicht umsonst hatte sich der Holtzbrinck-Verlag<br />

des Tagesspiegels damals an<br />

Wirtschaftsminister Wolfgang Clement gewandt.<br />

Doch der folgte im Wesentlichen<br />

dem Bundeskartellamt. Das war 2002.<br />

Damals waren Amazon und Google noch<br />

Winzlinge; iTunes war gerade ein Jahr alt.<br />

In der Zwischenzeit sind die Start-ups zu<br />

Webgiganten herangewachsen.<br />

Ein digitaler Kiosk der deutschen Verlage<br />

müsste auch erst wachsen. Er wäre<br />

mehr eine unternehmerische als eine juristische<br />

Herausforderung. Sie könnte sich<br />

lohnen.<br />

Petra Sorge<br />

ist Redakteurin bei <strong>Cicero</strong><br />

online. Den Strukturwandel<br />

der Medien begleitet sie in ihrer<br />

Internetkolumne<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 93


| K a p i t a l | S y s t e m k r i t i k<br />

Macht der Kapitalismus<br />

uns unglücklich?<br />

24 Stunden bei der Arbeit, zeitlos, ortlos: Unser<br />

Wirtschaftssystem überdreht. Das ewige Streben nach mehr<br />

kennt nur Verlierer – Erkenntnisse eines Geläuterten<br />

Von Max A. Höfer<br />

94 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Katja Zimmermann<br />

V<br />

ierzig bis 50 Stunden kannst du<br />

gut und gerne arbeiten“, riet der<br />

Arzt dem Brandenburger Ministerpräsidenten,<br />

„aber 80 – vergiss<br />

es.“ Ohne seinen Schlaganfall<br />

würde Matthias Platzeck also immer<br />

noch jenseits des Belastungslimits schuften.<br />

Wie beinahe alle Spitzenpolitiker, denn wer<br />

im Haifischbecken Schwächen zeigt, wird<br />

schnell gefressen.<br />

Okay, das ist die Politik, könnte man<br />

einwenden, die war immer schon unerbittlich.<br />

Aber der Arbeitsdruck hat auch<br />

in der Wirtschaft massiv zugenommen.<br />

Das demonstriert schon die Leistungsdisziplin<br />

der Spitzenmanager. Sie verströmen<br />

einen Korpsgeist, der alles dem Erfolg unterordnet,<br />

und sie signalisieren damit, dass<br />

sie das ohnehin schon immense Veränderungstempo<br />

noch steigern können: Wir<br />

erhöhen Rendite und Effizienz, wir optimieren<br />

alles – sogar uns selbst. Neuerdings<br />

unterzieht sich die Leistungselite einem<br />

stählenden Fitnesstraining. Den 14-Stunden-Arbeitstag<br />

eröffnen sie mit Joggen oder<br />

einem Workout.<br />

Es fällt auf, wie schlank die Dax-Konzernchefs<br />

mittlerweile sind. Zigarre und dicker<br />

Bauch, das war einmal. Der zeitgemäße<br />

Kapitalismus ist fit und gesund. Er<br />

trinkt stilles Mineralwasser. Perfekte Performance<br />

ist alles, auch bei der Figur. Die Unternehmenskennzahlen<br />

müssen stetig nach<br />

oben weisen, das ist ohnehin klar, aber<br />

auch im Privatleben muss alles stimmen.<br />

„Happy Workaholics“, nennt Managerberater<br />

Reinhard Sprenger diese Marathon-<br />

Männer, weil sie „fast erotisch angezogen<br />

werden von dem, was sie tun“, und den<br />

Preis, der dafür zu zahlen ist, „den zahlen<br />

sie gern“. Alles, was der Mensch normalerweise<br />

zum Glücklichsein braucht, Familie,<br />

Freunde, Muße, Hobbys, Gelassenheit,<br />

wird dem Beruf geopfert. Die atemlose Getriebenheit<br />

darf aber nicht asketisch rüberkommen,<br />

obwohl sie genau das ist. Es soll<br />

nicht so aussehen, als ob sich die Topmanager<br />

aufopfern. Das würde zu sehr an<br />

alte soldatische Tugenden erinnern, wie<br />

sie noch im Titel CEO anklingen: exekutierender<br />

Offizier. Der happy Workaholic<br />

muss so tun, als ob er seinen Job liebt und<br />

sich darin selbst verwirklicht, bei gleichzeitigem<br />

Schlafentzug, um noch mehr Sitzungen<br />

abhalten zu können.<br />

Der kalifornische hat den rheinischen<br />

Kapitalismus abgelöst: Glücklichsein wird<br />

zur Pflicht. Obwohl die Manager also länger<br />

arbeiten und verfügbarer sind als je<br />

zuvor, soll alles ganz easy aussehen. Der<br />

Zwang, als Workaholic auch noch Happiness<br />

vortäuschen zu müssen, ist vielleicht<br />

das Perfideste an dieser Entwicklung.<br />

Zumal in den Niederungen des Arbeitsalltags<br />

die Überforderung regiert. Ich<br />

will den Fall des Swisscom-Chefs Carsten<br />

Schloter, der sich vor kurzem das Leben<br />

nahm, gewiss nicht strapazieren, aber<br />

Schloter selbst klagte kurz vor seinem Tod<br />

über seine Totalverpflichtung, über sein<br />

vernachlässigtes Privatleben und dass er<br />

sein Smartphone nicht mehr abschalten<br />

könne. Ein eigenes Büro hatte er nicht<br />

mehr, er arbeitete von überall. Er war ortlos<br />

geworden, zeitlos im Dienst, 24 Stunden<br />

am Tag und sieben Tage die Woche.<br />

Max A. Höfer war von 2006 bis 2009 Geschäftsführer<br />

der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft<br />

(INSM). Davor arbeitete er unter anderem als leitender<br />

Redakteur beim Wirtschaftsmagazin Capital.<br />

Die INSM ist eine von den Arbeitgeberverbänden der<br />

Metall- und Elektroindustrie finanzierte Denkfabrik,<br />

die sich seit ihrer <strong>Grün</strong>dung im Jahr 2000 für<br />

Deregulierung und freie Marktwirtschaft starkmacht.<br />

Von der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 wurde<br />

die Lobbyorganisation etwas überrascht und konnte<br />

kaum schlüssige Ideen zu deren Lösung beisteuern.<br />

Höfer setzt sich in seinem vor kurzem bei Knaus<br />

erschienenen Buch „Vielleicht will der Kapitalismus<br />

gar nicht, dass wir glücklich sind? Erkenntnisse eines<br />

Geläuterten“ mit der Frage auseinander, warum wir<br />

es nicht schaffen, im größten Wohlstand aller Zeiten<br />

glücklich und zufrieden zu sein. Höfer denkt um: Ein<br />

ehemaliger Prediger des Systems lehnt den Kapitalismus<br />

in seiner heutigen Ausprägung ab. <br />

til<br />

Der flexible Mensch, jederzeit und<br />

überall einsetzbar, abrufbereit und projektbezogen,<br />

in wechselnden Räumen<br />

und Teams – das ist gerade bei Google,<br />

Microsoft und Apple Ziel der Unternehmensorganisation.<br />

Ein Menetekel ist<br />

France Télécom, die ihre Führungskräfte<br />

unter dem Slogan „Time to move“ alle drei<br />

Jahre zwangsversetzte. So sollten sie flexibel<br />

und kreativ bleiben und eine zu enge Verbindung<br />

mit Personal und Routinen vermeiden.<br />

Die Selbstmordrate im Unternehmen<br />

nahm derart zu, bis schließlich die<br />

französische Justiz ermittelte. Hier artete<br />

der Steigerungskapitalismus zweifellos aus,<br />

aber seine Logik ist intakt.<br />

Es wundert daher nicht, dass der Kapitalismus<br />

auch heute nur wenige Freunde<br />

hat. Bei den meisten überwiegt das Unbehagen,<br />

dass das System ungesund und unsicher<br />

ist, und die Erwartungen an ein gutes<br />

Leben nicht erfüllt. Die Menschen fürchten<br />

vielmehr, dass der Stress und die Arbeitsverdichtung<br />

im Job weiter zunehmen<br />

und dass es nichts bringt, wenn sie immer<br />

mehr in der gleichen Zeit leisten. Denn<br />

den wachsenden Anforderungen stehen<br />

nur marginale Reallohngewinne gegenüber.<br />

14 verschiedene Geruchsrichtungen<br />

für WC-Spüler oder 30 neue Joghurt sorten<br />

sind auch kein schlagkräftiges Argument<br />

für mehr Zufriedenheit.<br />

Unserem Wirtschaftssystem gelingt<br />

es immer weniger, die Vorteile von technischem<br />

Fortschritt und Produktivität in<br />

„glückbringenden“ Wohlstand umzusetzen.<br />

Wir laufen in einem Hamsterrad und<br />

wissen es auch. Für ein glückliches Leben<br />

dreht sich das Hamsterrad zu schnell, für<br />

Politik und Wirtschaft dreht es sich aber<br />

immer noch zu langsam. Jeder Gedanke an<br />

Entschleunigung oder an eine Verlangsamung<br />

der Tretmühle grenzt schon an Meuterei.<br />

Wirtschaftsminister Philipp Rösler<br />

sieht uns gegenüber China und den USA<br />

in einer „Aufholjagd, die in den Kitas und<br />

in der Grundschule beginnen muss“.<br />

Warum aber kann das System nicht<br />

innehalten? Wir verfügen heute über das<br />

sechsfache Bruttoinlandsprodukt von 1960,<br />

und die Welt soll zusammenbrechen, wenn<br />

wir das Tempo nicht weiter erhöhen? Vom<br />

IWF über die OECD bis zur Euro-Troika<br />

wird für die Entfesselung von Wachstumskräften<br />

getrommelt und sei es auf Pump.<br />

Offenbar haben wir das Ziel aus den<br />

Augen verloren. Dieses Gefühl beschlich<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 95


| K a p i t a l | S y s t e m k r i t i k<br />

mich, als ich als Geschäftsführer der Initiative<br />

Neue Soziale Marktwirtschaft, der<br />

INSM, für mehr Marktwirtschaft warb.<br />

Weder meine Hinweise auf ihre beispiellose<br />

Erfolgsgeschichte noch Appelle an<br />

die segensreiche Wirkung von Markt und<br />

Wettbewerb konnten unbefangene Zustimmung<br />

auslösen. Selbst junge Menschen mit<br />

guten Karrierechancen sagten mir, dass sie<br />

die Vorstellung, demnächst auch im Hamsterrad<br />

zu laufen, wenig motiviere. Mein<br />

Lob der Warenvielfalt rief bei ihnen eher<br />

ein Gähnen hervor und provozierte Fragen<br />

nach den ökologischen Grenzen.<br />

Die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft<br />

müssen sich eingestehen, dass unser<br />

Wirtschaftssystem in einer Akzeptanzkrise<br />

steckt, die vor allem darin besteht, dass sie<br />

dem dominanten Steigerungskapitalismus<br />

nur noch wenig entgegenzusetzen haben.<br />

Umfragen zeigen, dass die Menschen gern<br />

weniger arbeiten würden und mehr Zeit<br />

mit der Familie und mit Freunden verbringen<br />

möchten. Angesichts der erreichten<br />

Produktivität müsste das leicht möglich<br />

sein, es scheint aber immer unmöglicher<br />

zu werden. Wir produzieren immer mehr,<br />

aber offenbar nicht das, was uns zufrieden<br />

macht. Lohnt es sich, dafür länger und härter<br />

zu arbeiten? Auf diese Zielkonflikte hat<br />

die Wirtschaft keine Antwort.<br />

Wenn das Ziel fragwürdig ist, lohnt der<br />

Blick zu den Wurzeln. Max Weber hat vor<br />

100 Jahren die Entstehungsgeschichte des<br />

modernen Kapitalismus beschrieben. An<br />

seiner Wiege standen die Puritaner. Sie<br />

machten aus den Menschen, die „von Natur<br />

aus einfach leben wollen, wie sie zu<br />

leben gewohnt sind, und nur so viel erwerben,<br />

wie dazu erforderlich ist“, Berufsmenschen,<br />

die den Sinn ihres Lebens in der<br />

Optimierung ihrer Arbeitsleistung sehen.<br />

Der protestantische „Geist des Kapitalismus“<br />

hat die Mentalität der westlichen<br />

Industrienationen geformt, und er hat dabei,<br />

trotz einiger Metamorphosen, seinen<br />

Kerngedanken nie verändert, wie ihn<br />

Weber eindringlich beschrieb: „Erwerb von<br />

Geld und immer mehr Geld, unter strengster<br />

Vermeidung alles unbefangenen Genießens.“<br />

Von Glück war nie die Rede. Der<br />

Berufsmensch sollte nutzenorientiert, kalt,<br />

ordentlich, fleißig und produktiv sein. Der<br />

Mensch sollte leben um zu arbeiten, und<br />

nicht, wie in allen anderen Kulturen davor,<br />

arbeiten, um gut zu leben.<br />

Die neoklassische Ökonomie hat das<br />

puritanische Prinzip der Nutzenmaximierung<br />

übernommen und radikalisiert: Mehr<br />

ist besser als weniger, lautet die Grundregel.<br />

Sie ist die Formel zur unbegrenzten<br />

Steigerung. In der Ökonomie gibt es keinen<br />

„guten“ oder „schlechten“ Konsum, sie<br />

hat auch keinen Begriff vom „guten Leben“.<br />

Ob eine Gesellschaft geschlossen bei<br />

Glück? Die Puritaner strebten<br />

nach Geld, „unbefangenes<br />

Genießen“ war streng verboten<br />

McDonald’s isst oder Slow Food genießt,<br />

das eine ist ihr so richtig wie das andere.<br />

Ob die Schüler ihr Pausenbrot verzehren<br />

oder Crack rauchen – es ist ihre Entscheidung,<br />

und ökonomisch betrachtet gilt für<br />

beide: Mehr ist besser als weniger.<br />

Mit dieser Denkweise werden wir niemanden<br />

für die Marktwirtschaft begeistern,<br />

da bin ich mir sicher. Denn was die Menschen<br />

heute bewegt, das sind Fragen nach<br />

dem guten Leben, nach den qualitativen<br />

Bedingungen für Wohlbefinden und wie<br />

wir die natürlichen Ressourcen dafür erhalten<br />

können. Unsere „protestantische Arbeitsethik“<br />

hat uns weit gebracht, aber im<br />

Steigerungskapitalismus überdreht sie und<br />

wird gefährlich.<br />

Warum tun wir uns aber so schwer, damit<br />

aufzuhören? Wie konnte der Puritaner<br />

in uns so lange überleben? Warum rebellieren<br />

wir nicht gegen die Dauerbetriebsamkeit<br />

und konsumieren unablässig weiter,<br />

obwohl es uns nicht glücklicher macht?<br />

Geht man dem „puritanischen Geist<br />

des Kapitalismus“ bis in unsere Tage nach<br />

und sucht nach den <strong>Grün</strong>den für unsere<br />

Wehrlosigkeit, stößt man auf eine Auferstehungsgeschichte.<br />

Denn in den sechziger<br />

Jahren schienen Webers Puritaner am<br />

Ende, entmachtet von Konsum, Spaß und<br />

Rebellion. Daniel Bell sagte damals voraus,<br />

dass die protestantische Arbeitsmoral an<br />

der hedonistischen Freizeitkultur zugrunde<br />

gehen werde.<br />

Falscher hätte er nicht liegen können:<br />

Yuppies und Hippies passen mittlerweile<br />

wunderbar zueinander. Der kalifornische<br />

Kapitalismus, der unser Leben derzeit<br />

durchdigitalisiert und weiter beschleunigt,<br />

ist das Ergebnis dieser Verbindung.<br />

Die Gegenkultur hat die alten Arbeitstugenden<br />

der Pflicht und Leistung mit den<br />

Idealen der Autonomie, der Kreativität und<br />

Flexibilität angereichert. Die Konzerne suchen<br />

heute genau diesen Typus: intrinsisch<br />

motiviert, spontan, disponibel, unkonventionell,<br />

dabei kompetent und gut ausgebildet.<br />

Heutige Mitarbeiter leisten ohne Murren<br />

Überstunden, sie identifizieren sich mit<br />

ihren Projekten, für sie ist die Anerkennung<br />

im Job der größte Sinn ihres Lebens.<br />

Und gerade weil wir der Arbeit zu viel Bedeutung<br />

in unserem Leben geben, weil wir<br />

unseren Selbstwert zu stark daraus ableiten,<br />

kommen wir nicht von ihr los, sondern vernachlässigen<br />

die anderen Quellen des Glückes,<br />

also Familie, Freunde, Hobbys. Geld<br />

und Erfolg haben heute noch mehr Bedeutung<br />

als zu Webers Zeiten.<br />

Die Unternehmer wird diese Analyse<br />

nicht beunruhigen, sondern erfreuen. Aber<br />

wenn sie es ehrlich mit den Menschen und<br />

mit sich selber meinen, müssen sie sich eingestehen,<br />

dass das Steigerungsspiel nicht zu<br />

gewinnen ist: Längere Arbeitszeiten und<br />

höhere Arbeitsproduktivität erzeugen höhere<br />

Einkommen für noch mehr Konsum<br />

und Wachstum, damit die Umsatz- und Erlösziele<br />

erreicht werden und uns der ganze<br />

Laden nicht um die Ohren fliegt. Nein, wir<br />

können uns Sisyphos nicht als glücklichen<br />

Menschen vorstellen.<br />

Als der Casino-Kapitalismus 2008 zuerst<br />

in den USA explodierte, casteten wir<br />

bei der INSM einen US-Schauspieler,<br />

der wie Ludwig Erhard aussah. Mit Anzug,<br />

Krawatte und Zigarre stellten wir ihn<br />

an die Wall Street. Dort verteilte der „lebendige“<br />

Erhard an die vorübergehenden<br />

Börsianer sein Buch „Wohlstand für alle“.<br />

Die verdutzten Banker konnten darin lesen,<br />

dass Erhard für eine Gesellschaft plädiert,<br />

in der das Kapital im Dienste des<br />

Menschen steht. Vielleicht sollten wir ihn<br />

heute vor die Konzernzentralen und das<br />

Bundeswirtschaftsministerium stellen.<br />

96 <strong>Cicero</strong> 9.2013


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| S t i l<br />

AM RAMPENLICHT<br />

Weiße Rockmusik und schwarze Background-Sängerinnen: Lisa Fischer verkörpert Musikgeschichte<br />

von CLAUDIA STEINBERG<br />

B<br />

EI IHREM ERSTEN Soloauftritt verlor<br />

sich Lisa Fischer so tief in ihrem<br />

Gesang, dass man sie schließlich<br />

sanft um ein Ende der Darbietung<br />

bitten musste. Diese Episode, die sich vor<br />

rund 50 Jahren in einem Kindergarten in<br />

Brooklyn vor einem Publikum von Fünfjährigen<br />

ereignete, würde ein Psychologe<br />

vielleicht als Auslöser für Fischers Abneigung<br />

begreifen, allein im Scheinwerferlicht<br />

zu stehen. Denn anstatt die „monströse<br />

Begabung“, die ihr Musiker wie Bruce<br />

Springsteen und Sting bescheinigen, für einen<br />

Solo-Höhenflug zu nutzen, wählte Lisa<br />

Fischer eine Karriere, die sich nur mit einem<br />

Oxymoron benennen lässt: Sie wurde<br />

zum Background-Superstar.<br />

Genauer, sie verbrachte den größten Teil<br />

ihres Berufslebens „20 Feet From Stardom“,<br />

wie der Titel eines passionierten Dokumentarfilms<br />

von Morgan Neville die Position<br />

selbst der talentiertesten Background-Sänger<br />

definiert. Doch im Unterschied zu vielen<br />

ihrer Kolleginnen legte Lisa Fischer nie<br />

großen Wert darauf, im vollen Rampenlicht<br />

zu stehen: „Ich liebe es, andere Künstler zu<br />

unterstützen, und wehre mich gegen die<br />

Ansicht, dass man nach mehr greifen soll,<br />

wenn man bereits exzellente Arbeit leistet“,<br />

meint die klassisch ausgebildete Sängerin,<br />

deren melodische Sprechstimme jeden<br />

Satz mit Emotionen füllt – weiche Seufzer,<br />

kleine Lacher und gedehnte Ausrufe steigen<br />

und fallen über eine ganze Oktave hinweg.<br />

Mit ihrer mächtigen Stimme überzeugte<br />

sie auch Mick Jagger, als sie 1989<br />

zum Vorsingen im Studio erschien. Sie ließ<br />

sich auch nicht aus der Fassung bringen, als<br />

er um sie herumzutanzen begann, und hat<br />

die Rolling Stones seither auf jeder Tournee<br />

begleitet. Wenn sich bei „Gimme Shelter“<br />

das melancholische Heulen aus ihrer Kehle,<br />

mit dem der Song beginnt, zu einem Rockand-Roll-Sturm<br />

verdichtet, tritt sie dann<br />

auch als Micks Partnerin ins volle Rampenlicht,<br />

zugleich konfrontativ und unterstützend,<br />

sexy, aber unantastbar.<br />

Lange bevor sie mit den Rolling Stones<br />

tourte, mit Tina Turner oder Sting, sang<br />

Lisa Fischer zu den alten Motown-Platten<br />

ihrer Mutter. Erst an der Musik-Highschool<br />

stellte sie dann fest, dass sie auch ein ganzes<br />

Repertoire klassischer Musik im Kopf hatte:<br />

Dank der Soundtracks der beliebten „Looney<br />

Tunes“, Cartoons aus dem Hause Warner<br />

Brothers, hatte sie Beethoven, Tschaikowski,<br />

Wagner und Strauss gehört. Ihren<br />

Plan, Opernsängerin zu werden, gab sie wegen<br />

der hohen Unterrichtskosten auf. Wie<br />

die meisten Background-Sänger hatte sie<br />

ihre wichtigste Gesangsausbildung längst in<br />

der Kirche erhalten: „Ich bin in einer Baptistengemeinde<br />

in Brooklyn aufgewachsen,<br />

mein Großvater war Pastor.“ Ihr offenes<br />

Ohr machte sie empfänglich für die Verwandtschaft<br />

zwischen Motown und dem<br />

Call-and-Response-Wechsel schwarzer Kirchenmusik,<br />

der ihr aus ihrem Gospelchor<br />

von jeher vertraut war. Ray Charles war<br />

ein Meister dieser Tradition und der einzige<br />

Musiker, dessen Konzerte Lisas Idol,<br />

die legendäre Background-Sängerin Merry<br />

Clayton, mit elterlicher Erlaubnis besuchen<br />

durfte. So eindeutig basierte seine Musik<br />

auf dem für die afroamerikanische Messe<br />

typischen Dialog zwischen Priester und Gemeinde<br />

– auch wenn Charles in diesem Format<br />

in erster Linie über Sex sang.<br />

„Twenty Feet From Stardom“ eröffnet<br />

dann auch mit dem Refrain von Lou<br />

Reeds „Walk on the Wild Side“ – „… and<br />

the colored girls go Doo do doo do doo do<br />

doo …“, wobei das Wort „farbig“ 1972 in<br />

der Musikindustrie als provokativer Verweis<br />

auf die gängige Rollenverteilung zwischen<br />

weißem Star und schwarzem Chorus<br />

galt. Die ersten Background Girls der<br />

frühen sechziger Jahre waren manierliche,<br />

zugeknöpfte weiße Mädchen mit hölzernen<br />

Bewegungen. Bald wurden sie von<br />

schwarzen Sängerinnen mit unwiderstehlichen<br />

Hüftschwüngen ersetzt. Sie verstanden<br />

die Hintergrundharmonien als jenen<br />

hochflorigen Tonteppich, auf dem sich der<br />

Solist entfalten konnte: „Diese Melodien<br />

stiften den Zusammenhang.“ Und sie kreieren<br />

den Sound, was vor allem die britischen<br />

Musiker der Siebziger und Achtziger,<br />

angeführt von David Bowie, erkannten.<br />

Obwohl sich Lisa Fischer immer im<br />

Hintergrund heimisch fühlte, versuchte sie<br />

es einmal mit dem Alleingang. 1991 erschien<br />

ihr Debutalbum „So Intense“, sie<br />

wurde für die Single „How Can I Ease the<br />

Pain“ mit einem Grammy ausgezeichnet.<br />

Die Trophäe fristet seither ein Dasein zwischen<br />

anderen Souvenirs ihrer turbulenten<br />

Biografie in ihrer Wohnung mit Blick<br />

auf Manhattan, der man Fischers seltene<br />

Anwesenheit anmerkt. Sie ist kaum mehr<br />

als eine Zwischenstation auf ihrer ewigen<br />

Reise. „Meine Platte ist damals zum richtigen<br />

Zeitpunkt rausgekommen, sie markiert<br />

das Ende einer Epoche, in der es noch<br />

Harmonien und Melodien gab“, erklärt sie<br />

bescheiden.<br />

Heute ist das Genre des Background-<br />

Gesangs nahezu ausgestorben, da Studioproduktionen<br />

nicht mehr mit dem gleichen<br />

Aufwand entstehen: Anstelle zeitraubender<br />

und kostspieliger Proben gibt es bei Tonaufnahmen<br />

nun meist ein Budget für elektronisches<br />

„Tuning“. Bei einem Studio-Gig<br />

hat Fischer kürzlich alle fünf Backgroundpartien<br />

separat selbst eingesungen, bevor<br />

sie digital zu einem Klangkörper verschweißt<br />

wurden. Nichts konnte sie besser<br />

über einen solchen unfreiwillig narzisstischen<br />

Vorgang hinwegtrösten, als anlässlich<br />

der Dreharbeiten zum Dokumentarfilm<br />

ihre großen Vorbilder zu treffen. Noch<br />

diesen Herbst soll es zu einem Konzert in<br />

New York kommen, bei dem Lisa Fischer<br />

und ihre Soulsisters alle ganz vorn auf der<br />

Bühne stehen werden.<br />

CLAUDIA STEINBERG<br />

lebt als freie Autorin in New<br />

York. Lisa Fischers Stimme<br />

verpasst ihr auch während des<br />

Interviews eine Gänsehaut<br />

Fotos: Victoria Will/Invision/DDP Images, Sigrid <strong>Rot</strong>he (Autorin)<br />

98 <strong>Cicero</strong> 9.2013


„Unsere<br />

Stimmen<br />

waren<br />

überall“<br />

Lisa Fischer, eine der bekanntesten<br />

Background-Sängerinnen,<br />

ist heute 55 Jahre alt<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 99


| S t i l | K l e i d e r o r d n u n g<br />

Warum ich trage, was ich trage<br />

HéLèNE GRIMAUD, PIANISTIN<br />

W<br />

arum ich trage, was ich trage?<br />

Warum nicht, könnte ich antworten.<br />

Eigentlich mache ich mir<br />

über Kleidung keine Gedanken. Sie muss<br />

atmen, fließen. Am besten ist es, ich spüre<br />

sie gar nicht, wenn ich am Flügel sitze –<br />

ohnehin kein dankbarer Ort für besondere<br />

Kleidung. Außerdem hasse ich Shopping.<br />

Dieses Stück habe ich in China für<br />

ein Konzert gekauft. Ich bin viel in Asien,<br />

liebe die Atmosphäre, die Ästhetik, die Verliebtheit,<br />

mit der sie dort in jedes noch so<br />

kleine Detail eintauchen. Dort finde ich<br />

Frieden, den Zugang zu meinem Selbst. Ich<br />

kehre immer inspiriert zurück, weiß dann,<br />

was ich als Nächstes tun werde.<br />

Wenn du Musik machst, verschwindet<br />

alles andere, es rückt ins rechte Licht, Kleidung<br />

soll da nicht ablenken, sie begleitet<br />

nur das Erfahren der Klänge. Musik benötigt<br />

das volle Spektrum meiner Emotionen.<br />

Bis hin zur Wut. Vielleicht fasziniert<br />

mich deswegen die Wildnis so sehr, insbesondere<br />

die Wölfe. In meinem Wolf Conservation<br />

Center bringen wir sie dorthin<br />

zurück, wo sie hingehören. Zunächst ziehen<br />

wir sie auf, pflegen sie. Aber zu wissen,<br />

dass einer von ihnen in die Freiheit entlassen<br />

wird – das ist es, wofür wir dort arbeiten.<br />

Diese Natürlichkeit, das Nachfühlen<br />

von Freiheit findet sich wohl auch in der<br />

Wahl meiner Kleidung wieder.<br />

Wölfe heulen eigentlich nicht im Chor.<br />

Ganz selten aber kann es vorkommen,<br />

dass sich Harmonien ergeben, dass sich<br />

die Tiere angleichen, ihre Stimmen modulieren.<br />

Wir wissen nicht, ob das Zufall<br />

ist oder sie das bewusst tun. Es zeigt, dass<br />

der Sound eines Rudels mehr Individualität<br />

enthält, als wir dachten. Auf der Bühne<br />

harmoniere ich mit dem Orchester und<br />

stehe trotzdem im Mittelpunkt. Da muss<br />

ich nicht auch noch durch meine Kleidung<br />

hervorstechen. Diese Schuhe sind<br />

aus meiner Heimatstadt Aix-en-Provence.<br />

Sie kommen von einem Schuhmacher, der<br />

nur Unikate herstellt. Ich war 13 Jahre alt,<br />

als ich von dort wegging – nach Paris ans<br />

Konservatorium. In Stilfragen war ich damals<br />

wohl noch schlimmer als heute.<br />

Aufgezeichnet von Marie Amrhein<br />

HéLène Grimaud<br />

Die Pianistin,1969 in Aix-en-Provence<br />

geboren, lernte am Pariser Conservatoire<br />

und trat mit Dirigentengrößen wie Daniel<br />

Barenboim oder Kurt Masur auf. Ihr<br />

neuestes Album, „Brahms Concertos“,<br />

erscheint am 27. September 2013<br />

Foto: Thomas Rusch für <strong>Cicero</strong><br />

100 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Foto: Kai-Uwe Heinrich<br />

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| S t i l | T R A C H T<br />

Michael Brandner schießt den<br />

Handböller, der zu Festivitäten<br />

und an hohen Feiertagen zum<br />

Einsatz kommt. Zur Lederhose<br />

trägt er ein Lodenjanker, Loferl<br />

Stutzen und Haferlschuhe<br />

mit seitlicher Schnürung. Die<br />

Bilder machte der Fotograf<br />

Gregor Hohenberg während des<br />

Almabtriebs im Herbst 2012<br />

102 <strong>Cicero</strong> 9.2013


STOLZEs BEKENNTNIS<br />

Die Lederhose macht ihren Träger zum Gleichen unter Gleichen. Sie vermittelt das<br />

Gefühl einer Heimat, die nicht einmal die eigene sein muss. Eine Spurensuche<br />

von Sarah-Maria Deckert<br />

Foto: Gregor Hohenberg<br />

B<br />

AYRISCHZELL im Leitzachtal.<br />

Am Fuß des Wendelsteins liegt<br />

es da, idyllisch eingerahmt von<br />

den oberbayerischen Alpen auf<br />

der einen und dem Schliersee<br />

auf der anderen Seite. Hier kommen sie<br />

her, die glücklichen Kühe, doppelrahmstufiger<br />

Alpenmilchkäse und das Klischee<br />

vom jodelnden Bayern. Und es soll am<br />

Pfingstsonntag gewesen sein, als der Dorfschulmeister<br />

Vogl hier im Jahr 1883 der<br />

Lederhose das Leben rettete.<br />

Wie immer sitzt er mit seinen Stammtischfreunden<br />

im Wirtshaus gemütlich bei<br />

einem Krug Bier zusammen. Ein satter Geruch<br />

von Zigarrenrauch, Schweinebraten<br />

und Gerstensaft mag den Raum durchzogen<br />

haben. Es wird diskutiert, geschimpft<br />

und getrunken, als Joseph Vogl auf die<br />

hiesige Tracht zu sprechen kommt, die<br />

am Verschwinden sei. Nur noch ein Jäger<br />

trage sie – und selbst den sehe man höchst<br />

selten in seiner kurzen Hose durchs Gebirge<br />

laufen.<br />

Vogl will der Tracht wieder zu ihrem<br />

Recht verhelfen. Eine Lederhose will er<br />

sich kaufen, wenn er nur nicht der Einzige<br />

wäre. Dann sein Heureka-Erlebnis:<br />

„Wisst’s wos? <strong>Grün</strong>d ma an Verein!“, ruft<br />

er aus. Und weil ein Bayer tut, was er sagt,<br />

lassen sich die wild entschlossenen Bayrischzeller<br />

beim nächstgelegenen Säckler<br />

in Miesbach neue Lederhosen schneidern<br />

und gründen den „Verein für Erhaltung<br />

der Volkstracht im Leitzachthale/Bayrischzell“.<br />

Es ist der erste eingetragene Trachtenverein<br />

der Welt. Und der Tag, an dem der<br />

wackere Lehrer Vogl das bayerische Nationalkostüm<br />

bewahrte.<br />

Seither hat die Lederhose eine steile<br />

Karriere hingelegt. Sie ist fester Bestandteil<br />

des alpenländischen Lokalkolorits, und<br />

jedes gestandene Mannsbild schwört auf<br />

sie. Nicht nur, weil sie ihren Träger beinahe<br />

wie von selbst in einen kernigen Burschen<br />

verwandelt. Vielmehr geht es darum,<br />

was sie ihrem Träger vermittelt: den Traum<br />

bayerischer Ursprünglichkeit.<br />

Von Österreich über Tirol bis ins Allgäu<br />

gehört die Lederhose im Alpenvorland<br />

in jeden gut sortierten Kleiderschrank. Als<br />

Kluft der Bauern und Jäger entstammt sie<br />

der Gebirgstracht und erwies sich Anfang<br />

des 19. Jahrhunderts vor allem als kniefreie<br />

„Kurze“ als praktisches Beinkleid, neben<br />

der festlicheren Kniebundhose in Anlehnung<br />

an die höfische Culotte. Der bayerische<br />

Königshof machte sie schließlich mit<br />

seinem königlichen Erlass zur „Hebung<br />

des Nationalgefühls“ von 1853 salonfähig.<br />

Prinzregent Luitpold, König Ludwig II,<br />

der österreichische Kaiser Franz Joseph I –<br />

sie alle schritten in Tracht zur Jagd. Und<br />

auch die Wittelsbacher zeigten sich in Lederhose<br />

und Lodenjanker, um – aufgeschreckt<br />

durch die Ereignisse der Französischen<br />

Revolution – Volksnähe zumindest<br />

zu suggerieren.<br />

Heute treten die Spieler des FC Bayern<br />

nach gewonnenen Großturnieren einheitlich<br />

lederbehost auf den Balkon des Münchener<br />

Rathauses. SPD-Oberbürgermeister<br />

Christian Ude zapft das Münchener Oktoberfest<br />

gekonnt in Lederhose an, während<br />

die Lufthansa ihre Besatzung zur Wiesn-<br />

Zeit in voller Trachtenmontur in die Luft<br />

schickt. Und selbst ambitionierte Hersteller<br />

wie Hugo Boss, Strenesse oder Rena<br />

Lange gehen dann neben den Billiganbietern<br />

von C&A, Aldi oder Tschibo zur Saison<br />

mit Lederhosenentwürfen ins Rennen.<br />

Das Bekenntnis zur Tracht macht ihre<br />

Träger zu Gleichen unter Gleichen. Es ist<br />

das Gefühl von Zugehörigkeit, zu einer<br />

Gemeinschaft, einer Region, einer Philosophie<br />

– zu einer Heimat, die nicht einmal<br />

unbedingt die eigene sein muss.<br />

Die Lederhose aller Lederhosen<br />

„Nicht jeder hat das Glück, am Alpenrand<br />

geboren zu sein“, sagt Stefan Baumgartner.<br />

Auf seinem Kopf ein grüner, breitkrempiger<br />

Velourshut, die graue Strickjoppe leger<br />

über die breiten Schultern gelegt, zieht er<br />

einen seiner grauen Kniestrümpfe mit dem<br />

markanten grünen Umschlag zurecht. Er<br />

trägt die Tracht des Heimat- und Volkstrachten-Erhaltungsvereins<br />

Miesbach, dessen<br />

erster Vorstand er ist, und er begrüßt<br />

den aktuellen Trachtentrend. Vor 30 Jahren<br />

erstand Baumgartner seine erste Lederhose,<br />

seither ist er Vereinsmitglied und<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 103


| S t i l | t R A C H T<br />

nimmt die Pflege seiner bayerischen Tradition<br />

und damit der Lederhose als regionalem<br />

Kulturgut sehr ernst. Laut lachen muss<br />

er allerdings, wenn er von der Lederhosenlegende<br />

aus Bayrischzell hört. „Es ist doch<br />

völlig unerheblich, wer sie zuerst hatte“,<br />

meint Baumgartner. Natürlich wüsste jeder<br />

gerne die bayerische Urhose in seinem<br />

Schrank. Doch am Ende bliebe auch sie<br />

nur „ein Stück Kleidung“.<br />

Nun ja, nicht ganz.<br />

Derweil versucht nämlich Wolfgang<br />

Gensberger den heiligsten aller<br />

Hosenbeinen so nahe wie möglich zu<br />

kommen. In Holzhausen im Landkreis<br />

Landshut entsteht derzeit sein Trachtenkulturmuseum.<br />

Verteilt auf den 420 Quadratmetern<br />

eines alten Pfarrhofs, ein Depot<br />

und zwei separate Archivgebäude lagern<br />

mehr als 80 000 Exponate bayerischer<br />

Kulturgeschichte, die Gensberger in jahrelanger<br />

Kleinarbeit mühsam zusammengetragen<br />

hat. Neben altertümlichen Fahnen,<br />

Vereins- und Funktionsabzeichen, Chroniken<br />

und Liedblättern tummeln sich natürlich<br />

auch historische Trachten. Sein ältestes<br />

Stück, eine Hose mit gestandenen 175 Jahren<br />

auf dem brüchigen Leder. „Ob das die<br />

Urlederhose ist, kann ich aber wirklich<br />

nicht sagen“, sagt er.<br />

WUNSCH NACH IDENTITÄT<br />

In Zeiten globaler Vernetzung, wenn<br />

Flexibilität und Unsicherheit anwachsen,<br />

kommt gerade Werten wie Heimat<br />

und Tradition eine besondere Bedeutung<br />

zu. Das beobachtet auch Simone Egger<br />

vom Institut für Volkskunde und Europäische<br />

Ethnologie an der Münchener<br />

104 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Michael, Steffi,<br />

Anna, Johannes<br />

und Sophie<br />

Brandner auf dem<br />

Weg zu ihrem Hof<br />

in Berchtesgadener<br />

Tracht nach<br />

Miesbacher Art<br />

Zur Lederhose<br />

trägt man ein<br />

weißes Pfoad-<br />

Hemd mit<br />

Querriegel.<br />

Der Quersteg<br />

zwischen den<br />

Hosenträgern ist<br />

meist kunstvoll<br />

bestickt<br />

Fotos: Gregor Hohenberg<br />

Ludwig-Maximilians-Universität, die sich<br />

mit dem „Phänomen Wiesntracht“ beschäftigt<br />

hat. „Der aufkeimende Trend, der<br />

sich in der aktuellen Lederhosenbegeisterung<br />

spiegelt, ist der Wunsch der mobilen<br />

Gesellschaft nach Identität“, sagt die Kulturwissenschaftlerin.<br />

Nach dem Trachten-<br />

Boom bis zu den zwanziger Jahren und ihrer<br />

Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten<br />

als wirkmächtiges Sinnbild deutscher<br />

Folklore galt die Lederhose noch bis in die<br />

fünfziger Jahre als patent. Besonders von<br />

Müttern wurde sie aufgrund ihrer robusten<br />

Diese kniefreie<br />

„Kurze“<br />

wurde mit<br />

Reliefstepperei<br />

und<br />

Blattstickereien<br />

verziert. Eiche,<br />

Efeu und Reben<br />

sind typische<br />

Motive<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 105


| S t i l | T R A C H T<br />

Natur geschätzt. Als die Jeans dann Anfang<br />

der Siebziger in Mode kam, wurde die Lederhose<br />

plötzlich als rückständig abgestempelt.<br />

Franz Josef Strauß sah man im Wahlkampf<br />

1980 in den Zeitungen nur noch als<br />

Karikatur in Lederhose, während Kanzler<br />

Helmut Schmidt im dunklen Zweireiher<br />

auf die Wiesn marschierte.<br />

Den Grund für das Trachten-Comeback<br />

in den neunziger Jahren und ihre Popularität<br />

bis heute sieht Egger in einer Art<br />

frischem Provinzialismus. Bundespräsident<br />

Roman Herzog gab ihm mit seiner Idee<br />

von „Lederhose und Laptop“ eine klingende<br />

Formel, die die CSU seither nur<br />

mantrisch abnicken kann. Tradition und<br />

Vorwärtsgewandtheit schließen sich nicht<br />

mehr aus, soll das heißen. Entsprechend<br />

unvoreingenommen, geradezu spielerisch<br />

wagt man sich heute auch an die bayerische<br />

Tracht. Stefan Dettl, Frontmann der<br />

modernen (!) Blaskapelle La Brass Banda<br />

absolviert seine Auftritte vornehmlich in<br />

Lederhose, dafür aber barfuß und mit Kapuzenpullover<br />

anstelle von Haferlschuhen<br />

und Pfoad-Hemd. Immer häufiger sieht<br />

man auch abseits der Wiesn wagemutige<br />

Kombinationen mit Polohemd und Turnschuhen.<br />

Das lederne Beinkleid emanzipiert<br />

sich zusehends von seiner Wald- und<br />

Wiesenromantik und ist nach Eggers Meinung<br />

wieder im Begriff, das zu werden,<br />

was es einmal war: fester Bestandteil der<br />

Männergarderobe.<br />

Dokument aus SchweiSS und Blut<br />

Nicht jeder hat allerdings etwas übrig für<br />

diese Form des modischen Samplings.<br />

„Verfälschten Kitsch“ nennt Friederike Heil<br />

das. Kompromisse kennt sie bei der traditionellen<br />

Tracht kaum. „Zur Lederhose<br />

gehören Hosenträger, Haferlschuh’ und<br />

Kniestrümpfe oder Loferl-Stutzen“, sagt<br />

Heil. Und sie muss es wissen.<br />

Bedächtig zieht sie Garn aus reiner<br />

Säcklerseide an einer dicken Nadel über<br />

ein Stück Bienenwachs. Das Wachs lässt<br />

das Garn leichter durch das Leder gleiten,<br />

das auf ihrem Schoß liegt, und schützt es<br />

später vor dem Ausfransen. Seit 1972 leitet<br />

die gelernte Säcklermeisterin das Lederbekleidungsgeschäft<br />

Lichtenauer und<br />

Heil in Hausham am Schliersee. Hier gibt<br />

es die Lederhose noch in Reinform, von<br />

den Kunden vor allem wegen der charakteristischen<br />

Reliefstepperei und Blattstickerei<br />

geschätzt, die in ihrem kleinen<br />

Familienbetrieb in Perfektion auf das Leder<br />

gestochen wird. Die verschnörkelten Blumen-<br />

und Blattwerkmuster hat sie vorher<br />

freihändig und ohne Vorlage aufgezeichnet.<br />

Hunderte Male gleitet die Nadel dann zwischen<br />

ihren Fingern hin und her, bis sich<br />

die Eichenblätter, der Efeu oder das Rebenlaub<br />

reliefartig aus dem Leder erheben.<br />

Zwischen 900 und 1000 Euro kosten<br />

die handbestickten Maßanfertigungen,<br />

jede davon ein Unikat. 25 bis 60 Stunden<br />

kann es dauern, bis ein Stück fertig ist, je<br />

nachdem, wie aufwendig die Verzierungen<br />

Die Lederhose<br />

ist wertstabil.<br />

Keine Modeerscheinung,<br />

nicht dem<br />

Zeitgeist<br />

unterworfen<br />

an Hosenbeinen, Hosenträgern und dem<br />

„Hosentürl“, dem breiten Hosenlatz, gewünscht<br />

werden. Wie die meisten Traditionalisten<br />

verwendet auch Heil vor allem<br />

sämisch gegerbtes Hirschleder aus Neuseeland.<br />

Aber auch das heimische Leder von<br />

frei lebenden Hirschen wird aufgrund seines<br />

rustikalen Looks immer beliebter. „An<br />

den richtigen Stellen muss es glänzen, an<br />

anderen Stellen dunkler werden“, sagt Heil.<br />

Gelebt und verwegen soll die Lederhose<br />

aussehen, aber nicht speckig (auch wenn<br />

sie dann beim Schuhplattln besonders<br />

schön kracht).<br />

Eine neue Faszination für den Look<br />

mit Patina – das kennt auch Uwe Vogt.<br />

Er ist Verkaufsleiter beim Traditionshaus<br />

Meindl in Kirchanschöring, das seit 1683<br />

in der elften Generation erfolgreich in Leder<br />

und Loden macht. Ganz klar gehe der<br />

Trend zum Natürlichen, erklärt Vogt, bei<br />

dem auch Kratzer und Spuren auf dem Leder<br />

zu sehen sein dürfen. Immer häufiger<br />

brächten junge Leute auch die Hosen ihrer<br />

Väter oder Großväter, um sie anpassen<br />

zu lassen.<br />

Schätzungsweise 17 000 Lederhosen<br />

wird Meindl im Jahr 2013 verkaufen,<br />

10 Prozent mehr als im Vorjahr. Seit<br />

acht Jahren steigen die Verkaufszahlen stetig.<br />

Vielleicht auch deshalb, weil das Traditionsunternehmen<br />

am Waginger See nicht<br />

nur die bis zu 2500 Euro teure original<br />

Hirschlederne im Programm hat. Meindl<br />

reagiert auf die starke Nachfrage und bietet<br />

auch günstigere „Einsteigermodelle“ aus<br />

Ziege oder Rind an, ab 400 Euro. Die industrielle<br />

Massenfertigung mit Discount-<br />

Angeboten für 179 Euro aus Indien, Pakistan<br />

oder Sri Lanka kommt ihm dabei<br />

nur bedingt in die Quere. „Die echte Tracht<br />

wird dadurch sicher verfälscht“, meint Vogt,<br />

„doch andererseits hätte unsere Branche nie<br />

diesen Aufschwung erlebt, wenn wir nur<br />

traditionelle Lederhosen anbieten würden.“<br />

Und mittlerweile lassen sich überzeugte Träger<br />

ihr eine Hose auch gerne etwas kosten.<br />

Denn die Lederhose ist wertstabil.<br />

Auch wenn sie immer wieder zur Klischeebildung<br />

herhalten muss, sie ist keine Eintagsfliege,<br />

keine Modeerscheinung oder<br />

dem Zeitgeist unterworfen. Sie ist beliebt<br />

und gemeinhin akzeptiert, von archaischer<br />

Qualität, ein bisschen wie der schottische<br />

Kilt – nur eben langlebiger.<br />

Das mit der Langlebigkeit ist dann<br />

noch so eine Sache, denn die Lederhose lebt<br />

sprichwörtlich am Körper mit. Sie reinige<br />

sich beim Tragen, heißt es im Volksmund.<br />

Großmütter hingen sie früher in den kalten<br />

Schnee, damit der Frost das erledige,<br />

was durch das Ausklopfen nicht von alleine<br />

verschwinden wollte. Der Scherz, bei welchem<br />

anstatt der vom Doktor verlangten<br />

Blut-, Urin- und Stuhlprobe einfach eine<br />

Lederhose eingereicht wird, kommt ebenfalls<br />

nicht von ungefähr. Und dennoch verzichtet<br />

kein echter Trachtler auf die vielen<br />

Spuren, die sich als einzigartige Familienchronik<br />

über die Generationen ins Leder<br />

gezeichnet haben.<br />

Sie ist eben ein Original, die Lederhose.<br />

Den Bayern mag der Ruf nachhängen,<br />

konservativ zu sein. Wahr ist jedenfalls,<br />

dass sie ihre Errungenschaften nicht<br />

einfach über Bord werfen. Erst recht nicht,<br />

wenn sie in die Jahre gekommen sind.<br />

SARAH-MARIA DECKERT<br />

ist gebürtige Allgäuerin. Die<br />

freie Autorin will ihren Berliner<br />

Freund dazu überreden, sich endlich<br />

eine Lederhose anzuschaffen<br />

Fotos: Gregor Hohenberg, Andrej Dallmann (Autorin)<br />

Der Fotograf dankt den Trägern der Berchtesgadener Tracht, der Familie Brandner und Wolfgang Hasenknopf sowie Ursula Wischgoll von der<br />

Berchtesgadener Tourismus GmbH für die Teilnahme an dem Deutsche-Trachten-Buchprojekt für den TASCHEN-Verlag, aus dem diese Fotos vorabgedruckt werden<br />

106 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Sophie und Johannes Brandner<br />

auf dem Weg zum Hof der<br />

Eltern im Berchtesgadener Land.<br />

Johannes trägt eine Zitterrosl von<br />

einer Kuh, die aus Holzspänen<br />

und Tanne hergestellt wurde<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 107


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K ü c h e n k a b i n e t t | S t i l |<br />

illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />

Die Schrot-Frage<br />

Handelt es sich um einen diätetischen<br />

Vorbehalt oder schwächt Getreide gar<br />

die Elite? Gedanken zum Verzicht auf<br />

Kohlenhydrate<br />

Von Julius Grützke und Thomas Platt<br />

D<br />

ie ausgewogene ernährung ist aus der Mode gekommen.<br />

Früher rieten Experten zu einer gesunden Mischung<br />

aus den Grundbausteinen des Lebens. Proteine,<br />

Fette und Kohlenhydrate sollten in einem harmonischen Verhältnis<br />

die Basis für die Speisen jedes Tages bilden. Doch diese Vision<br />

einer kompletten Idealmahlzeit hat sich überholt: Die einzelnen<br />

Bestandteile der Nahrung sind Gegenstand von Debatten geworden.<br />

Stärke, Eiweiß und Fett haben Fürsprecher und Gegner gefunden,<br />

die sich gegenseitig mit Argumenten auf den Leib rücken.<br />

Dabei gibt es stets einen Underdog. Eine lange währende Kampagne<br />

richtete sich seit den sechziger Jahren gegen das Fett. Zunächst<br />

wurde die Butter verdächtigt, das Herz zu schädigen. Mit<br />

der Zeit traf es auch die anderen Öle, die allesamt als schädliche<br />

Dickmacher galten. Fettreduzierte Lightprodukte fanden reißenden<br />

Absatz und boten der Industrie die Möglichkeit, bewussten<br />

Essern synthetische Zubereitungen schmackhaft zu machen. Allein<br />

die Wirksamkeit der auf dem Fettverzicht beruhenden Diäten<br />

ließ zu wünschen übrig. Das sorgte für Unmut, der sich schließlich<br />

in ein neues Feindbild kanalisierte.<br />

Zurzeit geben die Kohlenhydrate das schwarze Schaf. War es<br />

zunächst nur der raffinierte Schurke Zucker, der verteufelt wurde,<br />

trifft es inzwischen alle Produkte aus Mehl und Stärke. Man lässt<br />

nicht allein wegen der schlanken Linie die sogenannten Sättigungsbeilagen<br />

weg, sondern glaubt zugleich, das allgemeine Wohlbefinden<br />

zu steigern, indem man sich des Ballasts der Getreideerzeugnisse<br />

entledigt. Das beschränkt sich längst nicht mehr auf den<br />

Rahmen von Privathaushalten und Abnehmcamps, sondern hat<br />

auch in der Hochküche Einzug gehalten. Ein bekannter Sternekoch<br />

zum Beispiel brüstet sich damit, in seinem Restaurant auf<br />

Reis, Nudeln und Kartoffeln zu verzichten. Nicht einmal das übliche<br />

Brot wird dem Gast auf den Tisch gestellt. Dass eine solche<br />

radikale Maßgabe in einem vom Michelin mit Sternen dekorierten<br />

Lokal der obersten Preiskategorie den Gästen zugemutet werden<br />

kann, zeigt allerdings auch, was es mit solchen rigiden Speiseregeln<br />

auf sich hat.<br />

Für den größten Teil der Menschheit ist Ernährung keine Modeerscheinung,<br />

sondern überlebenswichtige Energiezufuhr. Dabei<br />

spielen die Kohlenhydrate eine ähnliche Rolle wie das Öl als<br />

Kraftquelle der globalen Ökonomie. Der Getreideanbau sichert<br />

das Überleben der Mehrheit der Erdbevölkerung – Fette und Proteine<br />

können nur mit erheblich größerem Aufwand produziert<br />

werden. Wer also demonstrativ die Stärke verschmäht, hat eine<br />

Schwäche für das Statussymbol einer Exklusivität, die sich nur wenige<br />

leisten können. Sollen doch die anderen das vulgäre Schrot<br />

verzehren, scheinen die Proponenten der Low-Carb-Bewegung zu<br />

sagen, wir halten uns an wertvollere Nahrungsbestandteile – wie<br />

einst der Adel, der den Bauern das Fleisch nahm und ihnen nur<br />

die Grütze ließ. Der Klassenaspekt dieser Ideologie kann auch daran<br />

ermessen werden, dass das Brot und seine Mitstreiter gar nicht<br />

aus geschmacklichen <strong>Grün</strong>den verfemt werden. Es ist vielmehr ein<br />

diätetischer Vorbehalt: Getreide schwächen die Elite. Solche Erwägungen<br />

sind nicht neu. Schon der Futurist und Protofaschist<br />

Marinetti verdammte einst die kohlenhydratreiche Pasta, weil sie<br />

die Italiener träge und kriegsscheu machte.<br />

Eine Mobilmachung haben wir allerdings nicht zu befürchten.<br />

Es ist eine grundlegende Eigenschaft von Essvorschriften, dass sie<br />

unterlaufen werden. Gegen die Reinheit der Lehre steht die Korruption<br />

des Körpers, die üblicherweise obsiegt. Die fettarm Lebenden<br />

schleichen nachts zum Kühlschrank, um sich hemmungslos<br />

am Sahneeis zu laben und der Low-Carb-Jünger feiert heimliche<br />

Nudelorgien. Das macht Diäten wirkungslos und diskreditiert<br />

die Experten. Neue Lehren treten auf den Plan und verteufeln<br />

andere Nahrungsbestandteile. Man kann vermuten, dass es als<br />

Nächstes den Eiweißen an den Kragen geht. Der Kampf gegen<br />

das Gluten, ein Protein im Weizen, mag da ein Vorzeichen eines<br />

neuen Trends sein.<br />

Julius Grützke und Thomas Platt<br />

sind Autoren und Gastronomiekritiker. Beide leben<br />

in Berlin und essen Kohlenhydrate<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 109


| S a l o n<br />

Jazz an der Wursttheke<br />

Helge Schneider verweigert sich mit neuem Album und neuem Film gekonnt aller Sinnzumutung<br />

von daniel Haas<br />

N<br />

atürlich ist auch der Diener<br />

wieder dabei. Kommt alle 20 Minuten<br />

auf die Bühne, Tablett,<br />

Kanne, stoisches Gesicht. „Ah, der Tee!“,<br />

sagt der Maestro und nippt am Tässchen.<br />

„Der Arzt hat gesagt, ich muss viel trinken.“<br />

Verschmitztes Lächeln. „Ist schon lange tot,<br />

der Arzt. Er hat zu wenig getrunken.“<br />

Helge Schneider 2013, die gefühlt tausendste<br />

Tour, aber es geht nicht anders. Er<br />

ist ein Live-Künstler, ein Performer, wie es<br />

auf Neudeutsch heißt. Irgendwann wird<br />

er sich auch diesen Begriff vorknöpfen,<br />

wird die Silben zerkauen oder das Wort<br />

so lange wiederholen, bis es sich semantisch<br />

selbst zersetzt. Denn das ist es, was<br />

Schneider tut: auftreten und einem verblüfften<br />

Publikum zeigen, was drinsteckt<br />

in unserer Sprache, wie viel Witz, Wahnsinn,<br />

absurde Energie.<br />

Sitzt also am Flügel und blättert in den<br />

Noten. „Die Seiten rosten schon“, sagt er,<br />

und man weiß nicht, sind die des Klaviers<br />

gemeint oder die aus Papier. Dann gibt es<br />

Mondscheinsonate mit Hustenbegleitung.<br />

So wird sich Thomas Mann das Tuberkulose-Keuchen<br />

seiner „Zauberberg“-Patienten<br />

vorgestellt haben. Deutscher Kanon<br />

in der röchelnden Dadaversion. Die<br />

Tournee muss sein, weil es ein neues Album<br />

gibt. „Sommer, Sonne, Kaktus“, der<br />

Titelsong, hat das Zeug zum Ohrwurm,<br />

genauer gesagt: zur Tinnitusfassung eines<br />

Ohrwurms. Schubidu-Heiterkeit im Fräswerk<br />

der Nervensägen.<br />

Touren muss Schneider aber auch, weil<br />

seine Kunst im Moment entsteht, ein Hin<br />

und Her ist zwischen Artist und Rezipient.<br />

„Call and response“ sagen die Jazzer<br />

dazu, einer gibt ein Motiv vor, ein anderer<br />

antwortet. Tatsächlich, der Mann, den sie<br />

von Sylt bis Stuttgart Helge nennen, als sei<br />

er der Tankwart von nebenan, macht Jazz.<br />

Wobei der Begriff strukturell zu nehmen<br />

ist. Ein spontaner Einfall beginnt, dann<br />

wird improvisiert. „Jazz bedeutet Freiheit<br />

innerhalb bestimmter Grenzen“, sagt er,<br />

oder zumindest glaubt man, dass er das<br />

gesagt hat, er hat den Mund voller Tapas.<br />

Seine Plattenfirma hat zum Gespräch<br />

in die Beletage gebeten, inklusive opulentem<br />

Brunchbuffet. „Die verrücktesten Typen<br />

sind jene, die sich Grenzen auferlegen“<br />

– das hat man jetzt verstanden. Aber<br />

dann schmuggelt sich ein Frischkäsetörtchen<br />

in die Aussprache, und schon klingt<br />

er wie im Song „Mr. Bojangles“. Auch ein<br />

Stück von der neuen Platte, ein amerikanischer<br />

Evergreen. Schneider singt ihn, als<br />

sei er Tom Waits, der gerade an Kehlkopfkrebs<br />

verendet. Zum Schluchzen traurig.<br />

Zum Schreien komisch.<br />

Dieser Verzweiflungshumor hebt ihn<br />

über die Kollegen hinaus, über die Cindys<br />

und Krömers, die Berufsfreaks, die es ohne<br />

Schneider nicht geben würde. Dass übergewichtige<br />

Proletendarsteller heute mit<br />

Hartz-IV-Witzen den Mainstream erobern,<br />

ist auch ihm zu verdanken. Seit 1993, als<br />

sein erstes Album erschien, erinnert uns<br />

Schneider daran, dass im Abseitigen, Dysfunktionalen<br />

zentrale Aspekte von Unterhaltung<br />

liegen. Entsetzen und Gelächter<br />

sind zwei Facetten derselben Stimulanz.<br />

Er selber sagt, „ich parodiere nicht, ich<br />

interpretiere“. Das klingt kokett in Anbetracht<br />

seiner Verballhornung etablierten<br />

Materials (das neue Album besteht fast<br />

ausschließlich aus Standards). Aber letztlich<br />

ist es wohl genau das: eine Auslegung<br />

bestimmter Formen gemäß der eigenen<br />

künstlerischen Haltung. Für den<br />

„Bojangles“-Song habe er sich in Imbissabteilungen<br />

von Supermärkten herumgetrieben<br />

und die Rentner belauscht. Was man<br />

da zu hören bekommt? „Die Frau ist gestorben.<br />

Koche jetzt Sachen aus der Tiefkühltruhe.<br />

Aber nee, danke, geht mir gut.“<br />

Griff zur Bagelplatte, die auf einmal etwas<br />

sehr Tröstliches hat. „In solchen Momenten“,<br />

sagt Schneider, „liegt Dramatik.“<br />

Aber die muss man heraushören wie<br />

ein sehr raffiniertes, im Hintergrund<br />

spielendes Motiv eines Jazzsongs, und dann<br />

übersetzt man sie in eine „Bojangles“-Version,<br />

durch deren schlürfende Nuscheligkeit<br />

das ganze Elend eines Außenseiterlebens<br />

schwappt.<br />

Auch sein neuer Film „00 Schneider<br />

– Im Wendekreis der Eidechse“, der<br />

am 10. Oktober startet, ist eine Interpretation.<br />

Ausgelegt wird das amerikanische<br />

Kriminalgenre der dreißiger und vierziger<br />

Jahre. Schneider hat ein Faible für die Helden<br />

der Hardboiled-Ära, Philip Marlowe,<br />

Mike Hammer, harte Typen im Kampf gegen<br />

das Verbrechen, aber vor allem gegen<br />

sich selbst, gegen die eigene Einsamkeit<br />

und Verzweiflung.<br />

Duisburg ist nicht New York und<br />

Schneider nicht Al Pacino, aber die Genreregeln<br />

werden exakt eingehalten. Es gibt<br />

korrupte Cops und zwielichtige Nachtclubs,<br />

Femmes fatales und sadistische<br />

Schurken. Die Produktionskosten dürften<br />

die des Buffets zum Interview nicht überschritten<br />

haben. Das Ganze erinnert an einen<br />

krass unterfinanzierten Fassbinder, der<br />

Ionesco verfilmt, der Chandler gelesen hat,<br />

oder umgekehrt.<br />

Die Grenze der Zumutbarkeit will er<br />

weiter in Richtung Groteske verschieben,<br />

das gilt für die Musik wie für den Film.<br />

„00 Schneider“ endet mit einer fünfminütigen<br />

Tanzsequenz: der Kommissar in der<br />

Tiefgarage, sich um sich selbst drehend und<br />

windend, als sei’s der Ausdruckstanz eines<br />

Epileptikers. Was soll das? Soll das überhaupt<br />

was? „Das Leben hat keine Pointen“,<br />

hatte Schneider im Gespräch gesagt. „Und<br />

auch in der Kunst ist das Abgeschlossene<br />

nicht erstrebenswert.“ Bleibt also wieder alles<br />

offen mit Helge Schneider. Und auch<br />

das ist nur ein vorläufiges Fazit.<br />

Daniel Haas<br />

liebt Jazz und Krimis. Kein<br />

Wunder, dass er Helge Schneider,<br />

je nach dessen Werkphase, verehrt<br />

oder fürchtet<br />

Fotos: Stephan Pick/Roba Press, Privat (Autor)<br />

110 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Helge Schneiders<br />

Album „Sommer,<br />

Sonne, Kaktus“<br />

spricht aus, was<br />

er vermisst.<br />

Der neue Film<br />

hingegen ist ein<br />

grotesker Krimi<br />

aus Duisburg<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 111


| S a l o n<br />

die Raumpflegerin<br />

Candida Höfer, Deutschlands bekannteste Fotokünstlerin, kämpft gegen das Verschwinden der Realität<br />

von Ralf Hanselle<br />

S<br />

eit tagen löst die Welt sich auf.<br />

Der Sommer schmiegt sich an die<br />

Stadt wie klebrige Firnis. Hinter<br />

dem Kölner Bayenthalgürtel, wo die Häuser<br />

kleiner werden und die Stadt sich wieder<br />

an den Fluss herantraut, verschwimmt<br />

diese Welt in einem Hitzefilm. Nur ein<br />

paar Kinder wagen sich noch in die Sonne,<br />

jauchzen und bespritzen sich mit Uferwasser.<br />

Der Rhein zeigt ein impressionistisches<br />

Flirren, wie man es von den Gemälden der<br />

Düsseldorfer Malerschule kennt: durchlässig<br />

und pointilliert, etwa bei Max Clarenbach<br />

oder Willy Lucas.<br />

Hier also wohnt die Fotokünstlerin<br />

Candida Höfer. Schon ihr Vater, der Fernsehjournalist<br />

Werner Höfer, war an diesem<br />

Ort zu Hause, zwischen Bootspontons, Ruderclubs<br />

und einer Uferpromenade, die<br />

sich hinzieht wie eine Romanlandschaft<br />

von Heinrich Böll.<br />

Köln, 16 Uhr nachmittags: Candida<br />

Höfer sieht aus wie auf den wenigen Fotos,<br />

die es von ihr gibt. Zierlich, klein, das<br />

Gesicht mädchenhaft. Über dem linken<br />

Auge hat sie eine Schwellung. „Ein Missgeschick“,<br />

sagt sie und erwähnt die Sache<br />

nicht wieder. Sie ist diszipliniert, aufgeräumt<br />

wie ihr großes Atriumhaus. An den<br />

Wänden hängen vereinzelt ein paar ihrer<br />

Bilder. Kleine Nuancen in einer sonst eher<br />

einsamen Wohnlandschaft. Als wären diese<br />

Räume nur für sich selber da. Als würden<br />

sie sich heimlich beobachten – dann, wenn<br />

Candida Höfer mal nicht hinschaut.<br />

Sie schließt die Tür und lässt den Sommer<br />

draußen, das Flirren, das Wabern, das<br />

Zittern der Hitze. Sie macht es so routiniert<br />

wie auf ihren Fotografien. Auf diesen<br />

großen Tableaus, auf denen alles kühl<br />

und nüchtern erscheint. Seit gut 30 Jahren<br />

fotografiert Candida Höfer Innenräume:<br />

Bibliotheken, Hörsäle, Museumsdepots.<br />

Die ganzen Speicherstätten der Hochkultur.<br />

„Ich habe mein Thema nie gewechselt.<br />

Darin war ich immer sehr konsequent. Ich<br />

habe die Räume entdeckt und festgehalten.“<br />

Sie spricht leise, aber bedacht. Den Blick<br />

hat sie zum Tisch gesenkt, als wäre das Reden<br />

ihr unangenehm.<br />

Festhalten muss man bekanntlich, was<br />

fortlaufen will, was andernfalls weg wäre,<br />

für immer entschwunden. Das wussten<br />

schon Höfers Lehrer an der Kunstakademie,<br />

die Fotografen Bernd und Hilla<br />

Becher. Diese hatten in den frühen sechziger<br />

Jahren damit begonnen, Fachwerkhäuser<br />

des Siegerlands mit Großbildkameras<br />

einzufangen. Später folgten Wassertürme,<br />

Hüttenwerke, Gasbehälter. Immer auf<br />

der Spurensuche nach einer Zeit, die verschwindet.<br />

„Sie wollten das unbedingt machen“,<br />

erinnert sich Höfer. Darin seien sie<br />

wiederum mehr als konsequent gewesen.<br />

„Damals, an der Akademie, da habe ich das<br />

vielleicht nicht verstanden. Jetzt aber kann<br />

ich das nachvollziehen.“<br />

Denn jetzt verschwindet das Eigene: die<br />

Theater, die Museen, die Kulturarchive. All<br />

die Sujets ihrer Fotografien. Nicht immer<br />

geschieht es so laut und so tosend wie vor<br />

gut vier Jahren – damals, als einige Kilometer<br />

den Fluss hinauf das Gedächtnis der<br />

Dom-Stadt, das Archiv, in einem Erdloch<br />

verschwand. Die meisten Orte gehen eher<br />

leise. Sie ziehen sich still und heimlich aus<br />

dem Diesseits zurück.<br />

Was heute noch plastisch und greifbar<br />

ist, entgleitet morgen ins Virtuelle.<br />

Nur eine Datenspur wird dann bleiben<br />

auf irgendeinem Großrechner am Ende<br />

der Welt. Candida Höfer will diese Entwicklung<br />

nicht kritisieren. Das sei eben der<br />

Lauf der Dinge. „Die Menschen werden<br />

die Orte auf meinen Bildern nicht vermissen.“<br />

Diese riesigen Säle. Die Wandelhallen.<br />

Es sind Räume, in denen jedes Exponat<br />

eine Ablage hat: eine Schublade, eine<br />

Vitrine. Zusammen ergeben sie ein Abbild<br />

der Ordnung der Dinge.<br />

Für sie sei das immer ein Privileg gewesen<br />

– die Arbeit an diesen Gedächtnisorten.<br />

Allein mit den Dingen zu sein, mit den<br />

Büchern, den Bildern, den Einlagerungen.<br />

„Diese Einsamkeit schafft eine ganz andere<br />

Form der Wahrnehmung.“ Für gewöhnlich<br />

kommt Höfer dann, wenn die anderen Besucher<br />

lange fort sind. Es falle ihr bis heute<br />

schwer, Menschen mit auf ihre Bilder zu<br />

bringen. Sie zu benutzen, zu arrangieren.<br />

In dieser Hinsicht habe sie immer anders<br />

gearbeitet als etwa ihr Akademie-Kollege<br />

Thomas Struth, auch wenn sie den um<br />

seine Menschenbilder manchmal beneide.<br />

Aber die Menschen – sie werden ohnehin<br />

niemals fortgehen. Sie werden bleiben,<br />

auch wenn ihre Gedächtniskammern lange<br />

leer sind. Und ihre Erinnerungsstücke werden<br />

sie mitnehmen, auf Smartphones eben,<br />

Notebooks oder mittels Datenbrillen.<br />

Candida Höfer ist nicht melancholisch,<br />

auch nicht im Angesicht der Entortung der<br />

Welt. „Das war nie als melancholisches Projekt<br />

gedacht“, sagt sie über die Anfänge ihrer<br />

fotografischen Arbeit. Sie habe einfach<br />

aus Neugier begonnen. „Das ist lange her.“<br />

Ein Satz, den sie an diesem Nachmittag<br />

mehrmals sagt. Im nächsten Winter wird<br />

Candida Höfer 70. Vorher wird das Düsseldorfer<br />

Museum Kunstpalast ihre Arbeiten<br />

in einer großen Ausstellung zeigen. Auch<br />

neue Bilder werden dann zu sehen sein.<br />

„Hier etwa sehen Sie etwas Abstraktes.“<br />

Candida Höfer zeigt auf einen kleinen<br />

Fotoausdruck auf ihrem Tisch, ein Deckenoder<br />

Fassadenausschnitt, nicht mehr als<br />

oberflächliche Strukturen, Muster, Risse,<br />

keinerlei Tiefe. Genau ist es nicht zu erkennen.<br />

Sie räuspert sich, wirkt leicht verlegen.<br />

Vielleicht muss sie sich selbst erst noch<br />

gewöhnen – an Bilder, auf denen eigentlich<br />

nichts mehr drauf ist, auf denen die Motive<br />

entglitten sind. Abgerutscht, wie die Welt<br />

da draußen heute vor ihrer Tür.<br />

RaLF hANSELLE<br />

ist Kunstkritiker. An den<br />

Bildräumen Candida Höfers<br />

schätzt er die Weite und die klare<br />

Ordnung<br />

Fotos: Frank Schoepgens für <strong>Cicero</strong>, Torsten Warmuth (Autor)<br />

112 <strong>Cicero</strong> 9.2013


„Die Menschen<br />

werden die Orte<br />

auf meinen<br />

Bildern nicht<br />

vermissen“<br />

Candida Höfer<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 113


| S a l o n<br />

Überall ist nossendorf<br />

Der Filmregisseur Hans-Jürgen Syberberg wurde zum Diaristen und erfindet sich täglich neu im Internet<br />

von ingo Langner<br />

A<br />

ls der Zug auf dem schäbigen<br />

Demminer Bahnhof hält, kommt<br />

Hans-Jürgen Syberberg mir einige<br />

Schritte entgegen. Wie bei jedem meiner<br />

sommerlichen Besuche zuvor grüßt er<br />

knapp, lächelt kaum merklich und chauffiert<br />

mich ins brandenburgische Nossendorf,<br />

seinen Geburtsort.<br />

Nach 20 Autominuten sind wir auf<br />

dem väterlichen Gutshof angekommen.<br />

2003 ist der Filmregisseur hierher aus<br />

München zurückgekehrt. Gemeinsam bewundern<br />

wir die Rosenstöcke, verwöhnen<br />

die Nachbarspferde mit Zucker und<br />

bestaunen den von Syberberg gegen den<br />

Widerstand altkommunistischer Seilschaften<br />

wiederaufgebauten Kirchturm. So entsteht,<br />

beim Gang übers Land, bei Kaffee<br />

und Aperitif, abends bei Spargel und Wein<br />

und schließlich beim nächtlichen Mondschein,<br />

in der für Syberberg typischen glasklaren,<br />

manchmal kryptischen Diktion, ein<br />

Bild von dem, was man, James Joyce zitierend,<br />

„A Portrait of the Artist as an Old<br />

Man“ nennen könnte.<br />

Wie Joyces Hauptfigur Stephen Dedalus<br />

ist Hans-Jürgen Syberberg ein Solitär.<br />

Als Schöpfer bild- wie sprachmächtiger<br />

Film- und Theaterereignisse steht er seit<br />

einem halben Jahrhundert quer zu jeglichem<br />

Mainstream. Wer einen solchen Platz<br />

einnimmt, ist einsam und angefochten.<br />

Einsam, weil er in keine Kulturbetriebsschublade<br />

passt. Angefochten, weil seine<br />

Neigung, eine hinter Masken verborgene<br />

Wahrheit auszuleuchten, Widerspruch anzieht.<br />

Vor allem natürlich für seine Tetralogie<br />

„Hitler, ein Film aus Deutschland“<br />

(1977), die mit einer Gesamtlänge von<br />

405 Minuten das Opus magnum ist.<br />

Dieses Werk inspirierte die amerikanische<br />

Publizistin Susan Sontag zu einem<br />

begeisterten Essay. „Über Syberbergs<br />

historischem Epos waltet als Muse das<br />

Kino selbst“, heißt es dort. Der Film sei<br />

„wohl das ehrgeizigste symbolische Kunstwerk<br />

unseres Jahrhunderts“. André Heller<br />

nannte ihn „einen der originellsten und radikalsten<br />

Nomaden in jener kalten Wüste,<br />

als die man das deutsche Klima bezeichnen<br />

könnte“. Für Hellmuth Karasek hingegen<br />

war Syberberg „bestenfalls ein ewiger<br />

Hitler-Junge“. Sogar die Frankfurter Allgemeine<br />

verkündete 1990: „Wo über Kultur<br />

gesprochen wird, hat Syberberg nichts<br />

mehr zu suchen.“ Tempi passati.<br />

Längst ist Hans-Jürgen Syberberg keine<br />

persona non grata mehr. Lettre international<br />

interviewt ihn, das Goethe-Institut<br />

organisierte eine Retrospektive in Breslau,<br />

einschließlich der mit Richard Wagner<br />

verbundenen Filme „Ludwig – Requiem<br />

für einen jungfräulichen König“ (1972),<br />

„Winifred Wagner und die Geschichte des<br />

Hauses Wahnfried“ (1975), „Hitler, ein<br />

Film aus Deutschland“ (1977), „Parsifal“<br />

(1982) und „Die Nacht“ (1984/85).<br />

Ist der inzwischen 77-Jährige im Massengeschmack<br />

gelandet? Keineswegs. Unter<br />

„www.syberberg.de“ arbeitet der<br />

Ungebeugte weiter am rebellischen Gesamtkunstwerk.<br />

Im „Nossendorf-Diary“<br />

kommentiert er täglich, schon im zehnten<br />

Jahr, was in Dorf- und Weltkreis geschieht.<br />

6000 bis 10 000 Besucher klicken<br />

sich jeden Tag ein. Sogar in China wollen<br />

die Menschen wissen, was Syberberg in seinen<br />

virtuosen Collagen aus Bild, Text und<br />

manchmal Ton für mitteilenswert hält.<br />

So gut wie immer ist vom wachgeküssten<br />

Gutshaus die Rede. Es war dem Vater<br />

1945 von der <strong>Rot</strong>en Armee enteignet<br />

worden. Deshalb bekommt es Syberberg<br />

1990 nicht restituiert, sondern muss das<br />

fast vollständig ruinierte Anwesen zurückerwerben.<br />

Er will aus dem Wiedergewonnenen<br />

ein belebtes Kunstgehäuse machen,<br />

das als Alterswerk ein Schlussstein in seinem<br />

eigenwilligen Kosmos sein soll. Das<br />

winzige Nossendorf avanciert dank des Internets<br />

zum virtuellen Weltspiegel.<br />

„Dort das Haus, dort der Turm und dort<br />

der Park und die Koppeln. Diese Koordinaten<br />

waren wichtig im filmischen Dunkel<br />

der ‚Nacht‘ und der ‚Marquise‘“, sagt Syberberg<br />

und fährt beim Schein einer Petroleumlampe<br />

fort: „Hier in Nossendorf gilt<br />

es zu wissen: Wo ist der Ort des Vaters? Wo<br />

ist das Land der Flucht? Und wo werden<br />

sie sich wiederfinden in der Kirche? Ohne<br />

diese Koordinaten geht es nicht. Sonst verrinnen<br />

die Stunden im Nichts und sind<br />

dann nicht zu spielen und nicht zu verstehen.<br />

In den genannten Koordinaten geht<br />

alles auf, und wir folgen ihnen.“<br />

Was das meint, konnte man im „Diary“<br />

am 16. Juni 2013 lesen: „Schwer ist es,<br />

die Erinnerungen, die teuren, zu bewahren<br />

vor dem Realen befremdender Erneuerungen.<br />

Und es beugt sich nicht das Neue ins<br />

Bewahrte, wenn’s nicht neues Leben hat<br />

durch Kunst. Die aber kann nur über die<br />

Grenzen gehen; und braucht Einsamkeiten,<br />

die der Welt abhandenkamen.“<br />

Unter solchen Prämissen findet Frank<br />

Castorfs Versuch, aus Wagners „Ring des<br />

Nibelungen“ in Bayreuth einen mythenentkleideten<br />

„Öl-Ring“ zu schmieden,<br />

keine Gnade: „Hier wird RW nicht aus genial<br />

unkenntlichem Gebrauch proletarisch<br />

neu geboren. Wer den mythischen Ansatz<br />

Wagners selbst nicht als Angebot annimmt,<br />

geht schon falsche Wege. Und Bayreuth<br />

geht als zentrale Werkstatt des Meisters verloren“,<br />

kommentiert er. „Es gilt, Richard<br />

Wagner nicht zu bedienen oder zu bekämpfen,<br />

sondern mit anderen Mitteln fortzusetzen.<br />

Es gilt, das nie Gesehene hörbar zu<br />

machen, wie das nie Gehörte sichtbar.“<br />

Syberberg findet nach seinem langen<br />

Weg von Nossendorf in die Welt und zurück<br />

also noch genügend Reibungsflächen,<br />

um seinen Kunstwitz zu entzünden. Täglich.<br />

Ein streitbarer Geisteskopf wird er<br />

wohl zeit seines Lebens bleiben.<br />

Ingo langner<br />

ist Filmregisseur, Publizist und<br />

kennt Hans-Jürgen Syberberg seit<br />

vielen Jahren<br />

Fotos: Stefan Sauer/Picture Alliance/DPA, Christoph Lerch (Autor)<br />

114 <strong>Cicero</strong> 9.2013


„Kunst aber<br />

kann nur<br />

über die<br />

Grenzen<br />

gehen“<br />

Hans-Jürgen Syberberg in<br />

seinem Nossendorfer Garten<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 115


| S a l o n | M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t<br />

Am Anfang ist immer<br />

ein Begehren<br />

Hilma af Klint begründete die abstrakte Malerei aus dem Geist<br />

der Theosophie und in Trance. Nun wird sie wiederentdeckt<br />

Von Beat Wyss<br />

S<br />

elten kommt es vor, dass ein<br />

Künstlergestirn aus dem Nachthimmel<br />

der Vergessenheit wieder<br />

aufglänzt. Leichter ist es mit vergessen<br />

gegangenen Texten. Die imaginative<br />

Unschärfe der Sprache verbindet sich fließend<br />

mit Leseinteressen einer Jetztzeit.<br />

Bildender Kunst hingegen sind die trennenden<br />

Jahrzehnte und Jahrhunderte zur<br />

Gegenwart auf den ersten Blick anzusehen.<br />

In der Kunstgeschichte gibt es keine<br />

verkannten Genies.<br />

Was Hilma af Klint betrifft, so trug<br />

sie selber zu ihrer verspäteten Anerkennung<br />

bei. Als die schwedische Malerin<br />

1944 starb, hatte sie testamentarisch bestimmt,<br />

ihre Werke seien 20 Jahre unter<br />

Verschluss zu halten. Af Klint hielt das<br />

Publikum für noch nicht reif, ihre Botschaft<br />

zu verstehen. Doch der gesetzte<br />

Zeitpunkt für einen Wiedereintritt in das<br />

Licht der Öffentlichkeit lag denkbar ungünstig.<br />

Wer wollte auf dem Höhepunkt<br />

von Pop-Art etwas wissen aus der Pionierzeit<br />

der Abstraktion, die inzwischen als<br />

altmodisch galt?<br />

Während Andy Warhol Triumphe feierte<br />

mit dem Porträtieren von Suppendosen,<br />

schien die Behauptung unerheblich,<br />

wonach eine unbekannte Malerin aus<br />

Stockholm ein Jahrfünft vor Kandinsky<br />

und Kupka, vor Malewitsch und Mondrian<br />

in die Welt der gegenstandslosen Malerei<br />

vorgestoßen sei.<br />

Hilma af Klint war Theosophin. Ihr<br />

Werk belegt die Bedeutung des Symbolismus<br />

für die Klassische Moderne. Nie zuvor<br />

und nie mehr danach war der Zeitgeist<br />

einer Epoche so tiefgreifend von<br />

starken Frauen geprägt. Die Intellektuellen<br />

um 1900 studierten die Geheimlehren<br />

von Madame Blavatsky, Vordenkerin<br />

der weltweit verbreiteten Theosophischen<br />

Gesellschaft. Deren Nachfolgerin wurde<br />

Annie Besant, die sich auch als anarchistische<br />

Gewerkschafterin, Frauenrechtlerin<br />

und Kämpferin für die nationale Unabhängigkeit<br />

Indiens verdient gemacht<br />

hatte. Besant entwickelte jene esoterische<br />

Gestalttheorie, an die af Klint anknüpft.<br />

Ihre frühen Werke entstanden unter<br />

mediumistischer Trance. Regelmäßig traf<br />

sich die Künstlerin mit vier Freundinnen.<br />

Sie bildeten „Die Fünf“, wobei im schwedischen<br />

Namen der Gruppe „De Fem“<br />

auch das Feminine mitschwingt. Während<br />

spiritistischer Séancen übertrugen<br />

sich die fünf Frauen gegenseitig Botschaften,<br />

empfangen von geistigen Führern.<br />

Unter diesem Einfluss entstand 1908 das<br />

Gemälde „Die Evolution, Nr. 13, Der<br />

Siebenstern“.<br />

Der Kreis im Bildzentrum symbolisiert<br />

den Umriss einer prallen Gebärmutter,<br />

begleitet von zwei seitlich ausschwingenden<br />

Baldachinen, die als Eierstöcke<br />

gedeutet werden können. Deren Farbfelder<br />

changieren in Gelb und Blau: nach<br />

Goethes Farbenlehre das vorstoßend<br />

männliche und das in die Weite weichende<br />

weibliche Prinzip verkörpernd.<br />

Die abstrakte Malerei der ersten<br />

Stunde bildet Kippfiguren zwischen Naturalismus<br />

und geometrischem Symbol.<br />

So wird die Kreisform begleitet von zwei<br />

Figuren, gezeichnet in realistischer Schraffurtechnik.<br />

Zur Linken die androgyne<br />

Mädchengestalt, in der Hand eine Schale;<br />

zur Rechten ein hockendes Wesen mit gedrungenem<br />

Köpfchen: eine aufgeweckte<br />

Klitoris, aber auch eine Eichel andeutend.<br />

Die geschlechtliche Symbolik, oszillierend<br />

zwischen weiblichem und männlichem<br />

Pol, steht für die polymorphe Natur<br />

des Geschlechts. Der Hort des Werdens<br />

und Gebärens sei umstellt vom ausgreifend<br />

schöpfenden und dem erwartenden<br />

Begehren – und das in ewiger Wiederkehr,<br />

wie uns die um sich selber kreisende<br />

Ouroboros-Schlange verkündet. Die fließende<br />

Polarität von Mann und Weib<br />

wiederholt sich auf abstrakter Stufe in<br />

116 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Hilma af Klint war Teil der Künstlerinnengruppe „Die Fünf“, die sich zu spiritistischen Sitzungen traf. Ihr Bild „Die Evolution, Nr. 13,<br />

Der Siebenstern“ entstand 1908 unter diesem Einfluss. Rudolf Steiner aber, dem sie sich verbunden fühlte, lehnte solche Praktiken ab<br />

Fotos: Albin Dahlström/Moderna Museet/© Hilma af Klint Foundation, artiamo (Autor)<br />

der Kreuzform im Kreis, verstanden als<br />

die Vereinigung des Hingelagerten und<br />

des Aufrechten. Nicht anders hat später<br />

Mondrian seine abstrakten Gitterkompositionen<br />

verstanden denn als dynamische<br />

Harmonie des Mannes in der Frau.<br />

Seit 1920 Mitglied der Anthroposophischen<br />

Gesellschaft, pilgerte af Klint<br />

jahrelang nach Dornach. Doch die Begegnung<br />

mit Rudolf Steiner schien der<br />

Künstlerin nicht gut zu bekommen. Der<br />

Patriarch war gegen mediumistische Praktiken,<br />

wie sie af Klint mit ihren Freundinnen<br />

betrieb. Nicht das Unbewusste sollte<br />

raunen, sondern strahlendes Bewusstsein,<br />

verkündet vom Meister persönlich.<br />

Dafür, dass Hilma af Klint vergessen<br />

ging, gibt es auch diskursgeschichtliche<br />

<strong>Grün</strong>de. In der Nachkriegszeit verlagerte<br />

sich das Zentrum des Kunstsystems nach<br />

New York, dessen Agenten nacheinander<br />

vom Formalismus, vom Neomarxismus<br />

und Poststrukturalismus beherrscht worden<br />

sind. Für Esoterik aus Old Europe<br />

war kein Platz. Die Geschichte der Avantgarde<br />

wurde aus amerikanozentrischem<br />

Blickwinkel bis an die Grenze der Geschichtsklitterung<br />

umgeschrieben.<br />

Zu dieser Einschätzung passt denn<br />

auch, dass die einzige große internationale<br />

Ausstellung, an der af Klint gezeigt<br />

wurde, 1986 vom Los Angeles County<br />

Museum zum Thema „Okkultismus und<br />

Avantgarde“ ausgerichtet wurde. Die Kalifornier<br />

haben ihre eigene Beziehungsgeschichte<br />

mit der Esoterik, die von den<br />

puristischen Diskursmandarinen der Ostküste<br />

stets abschätzig beäugt wurde.<br />

Gegenwärtig ist Hilma af Klint am<br />

Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen.<br />

Aufgehängt im Westflügel, halten die<br />

großformatigen Gemälde auf bemerkenswerte<br />

Weise den monumentalen Arbeiten<br />

von Joseph Beuys stand. Man spürt die<br />

Nähe beider zur Anthroposophie.<br />

Noch ist nicht ausgemacht, ob die<br />

nachträgliche Einschreibung von Hilma<br />

af Klint in den Königsweg der Moderne<br />

gelingt. Zu gegenwartsverliebt ist das<br />

Kunstpublikum heute. Die Bilder der<br />

theosophischen Schwedin aber verlangen<br />

dem Betrachter die Geduld historischen<br />

Verstehens ab.<br />

B e at W y s s<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt in Karlsruhe<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 117


| S a l o n | t w i t t e r a l s p o l i t i s c h e w a f f e<br />

zwitscher mIR dAS<br />

lIED VOm widerstand<br />

118 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Digitales Pfefferspray und Medium der Koordination, politische Waffe und zweiter<br />

Bildschirm: Twitter könnte die Kommunikation grundlegend verändern. Doch es<br />

ist auch anfällig für Propaganda und typisch deutsches Besserwissertum<br />

von alexander pschera<br />

Illustration: Daniel Ramirez Perez<br />

D<br />

ie menschlichen abgründe<br />

des Unternehmens Facebook<br />

hat der Film „The social network“<br />

ausgeleuchtet. Demnächst<br />

erscheint ein Buch, das<br />

ebenfalls von Geld, Macht, Freundschaft<br />

und Verrat im Innern eines aufstrebenden<br />

Kommunikationsunternehmens handelt –<br />

doch diesmal heißt es Twitter. Geschrieben<br />

hat „Hatching Twitter“ der wichtigste<br />

Technologiekolumnist der New York Times,<br />

Nick Bilton. Das Buch kommt für Twitter<br />

zur Unzeit, denn man plant den Börsengang.<br />

Zugleich zeigt es, dass Twitter relevanter<br />

wird. Es könnte ein Signal dafür sein,<br />

dass bei den sozialen Medien eine Wachablösung<br />

ansteht.<br />

In der Wirklichkeit kündigt sie sich<br />

längst an. Der Aufstand in der Türkei –<br />

im Internetjargon: resistanbul – klang nicht<br />

nach Polizeisirenen, war auch nicht facebookblau,<br />

sondern hatte den Sound von<br />

140 Zeichen: „Wir werden immer mehr und<br />

sind enthusiastisch. Wir sind in Alsancak. Wo<br />

seid ihr?“ „Der Internetzugang wird gesperrt.<br />

Ladet euch Programme herunter.“ „Kommt<br />

nicht in die Nähe der Polizeistation von Alsancak.<br />

Sie halten Autos an und verprügeln<br />

die Menschen.“ So klangen die Twitter-<br />

Nachrichten, die Tweets, für die türkische<br />

Demonstranten hinter Gitter wanderten.<br />

Twitter spielte bei der schnellen Verbreitung<br />

von Informationen aus den türkischen<br />

Krisenherden eine große Rolle. Viele<br />

dieser Tweets enthielten schockierende Bilder<br />

von Polizeigewalt. Doch Erdogan hatte<br />

nicht unrecht, als er sagte, man könne auf<br />

Twitter auch „die größten Lügen“ finden.<br />

Als Informationsquelle sind die sozialen<br />

Medien genauso manipulierbar, wie es ein<br />

staatlicher Fernsehsender sein kann. Das<br />

Risiko der Fehlinformation ist hoch: Ein<br />

Bild zeigte eine Menschenmenge auf der<br />

Bosporus-Brücke. Es wurde 500 Mal weitergeleitet<br />

– bis sich herausstellte, dass es<br />

nichts mit dem Aufstand zu tun hatte, sondern<br />

viel älter war.<br />

Nicht Authentizität macht Twitter<br />

stark. Es ist sein enormes Koordinationspotenzial.<br />

Wie im ägyptischen Frühling<br />

organisierte sich auch in der Türkei der<br />

Widerstand gegen das Regime über die sozialen<br />

Medien. Demonstrationen wurden<br />

über Themenschwerpunkte, sogenannte<br />

Hashtags wie #direngeziparki, #geziparki<br />

oder #occupygezi geplant. Twitter verfügt<br />

über die politische Macht der Raute, des<br />

Hashtags (#). Mit diesem Zeichen lassen<br />

sich beliebig viele einzelne Nachrichten zu<br />

einem einzigen politischen Bewusstseinsstrom<br />

koordinieren.<br />

Der Internettheoretiker Clay Shirky<br />

stellte folgende These auf: Politische<br />

Machthaber verfügen über definierte Kommunikationsstrukturen,<br />

die ihre Macht stabilisieren.<br />

Twitter stärkt Widerstandsgruppen,<br />

weil es den Koordinationsaufwand<br />

reduziert. Außerdem sorge Twitter für etwas,<br />

was bei militärischen Aktionen überlebenswichtig<br />

ist: für „geteilte Aufmerksamkeit“,<br />

„shared awareness“. Jeder Aktivist<br />

versteht die aktuelle Situation und weiß<br />

zugleich, dass die anderen seinen Wissensstand<br />

teilen. Das macht Gruppen stark.<br />

Auch im deutschen Wahlkampf wird<br />

Twitter eingesetzt. Einige Politiker nutzen<br />

es als Kampagnen-Plattform. Sascha Lobo<br />

rief jüngst das „Twitterbarometer“ ins Leben.<br />

Durch die Echtzeitmessung parteibezogener<br />

positiver oder negativer Schlagworte<br />

soll ein „stets aktuelles Bild der<br />

politischen Stimmung im Netz“ entstehen.<br />

Ob das gelingt, scheint fraglich. Ein<br />

Netzmeinungsbild kann nur dann repräsentativ<br />

sein, wenn Anhänger aller Parteien<br />

gleichmäßig das Internet nutzen würden,<br />

was aber nicht der Fall ist. Damit ist einer<br />

„Netzobjektivität“, wie sie Lobo anstrebt,<br />

die Grundlage entzogen. Außerdem vereinfacht<br />

das „Twitterbarometer“ den demokratischen<br />

Diskurs zu einem Klickspiel, in<br />

dem der Impuls das politische Nachdenken<br />

ersetzt. Wer auf Twitter seine Stimme für<br />

eine Partei abgibt, der darf sich politischer<br />

Surfer nennen, aber nicht Wähler.<br />

Im Frühsommer stieg Peer Steinbrück zum<br />

erfolgreichsten Twitter-Politiker auf. Mit<br />

44 000 Followern überholte er Twitter-König<br />

Peter Altmaier von der CDU (42 800)<br />

und Marina Weisband von der Piratenpartei<br />

(39 200). Aber es kam heraus, dass<br />

20 000 dieser Twitter-Follower gekauft waren<br />

– von wem, ist bis heute unklar. Man<br />

hatte sie dafür bezahlt, dem Kandidaten<br />

Steinbrück zu folgen, wozu bekanntlich<br />

nur ein Klick notwendig ist. Twitter-Zahlen<br />

lassen sich leicht manipulieren – und<br />

sie sagen wenig über die aktuelle politische<br />

Stimmung, noch weniger über den Wahlausgang<br />

aus. Ein Zusammenhang zwischen<br />

der Anzahl an Twitter-Followern und abgegebenen<br />

Stimmen an der Urne ließ sich in<br />

den USA, wo Twitter im Wahlkampf eine<br />

große Rolle spielt, trotz intensiver statistischer<br />

Erhebungen nicht nachweisen.<br />

Twitter transportiert keine eindeutigen<br />

Informationen und keine präzisen Absichten.<br />

Es ist ein Medium der Koordination.<br />

Seine Stärke besteht darin, Gleichzeitigkeit<br />

herzustellen. Twitter synchronisiert<br />

eine asynchron gewordene Gesellschaft.<br />

Um Twitter zu erklären, hat der dänische<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 119


| S a l o n | t w i t t e r a l s p o l i t i s c h e W a f f e<br />

Kommunikationsprofessor Jesper<br />

Taekke von der Århus University deshalb<br />

Niklas Luhmanns Systemtheorie zurate gezogen.<br />

Aus dem Blickwinkel Luhmanns betrachtet,<br />

koppelt Twitter Ich und Welt neu<br />

aneinander. Twitter schafft ein soziales Bewusstsein,<br />

wo Verrohung um sich greift.<br />

S-Bahn Berlin: Eine junge Frau wird<br />

belästigt. Niemand hilft. Verzweifelt zückt<br />

sie ihr Smartphone, setzt Tweets ab: „Ich<br />

werde von 4 Typen in der S-Bahn als Hure<br />

u Fotze beschimpft. Einer zündet ne Kippe<br />

an und sagt, er wird sie auf meiner Muschi<br />

ausdrücken.“ „Er holt seinen Schwanz raus,<br />

ich schreie ihn an. Die S-Bahn ist voll. Niemand<br />

geht dazwischen.“ „Er macht die Hose<br />

zu und geht auf mich zu. Seine Kumpels halten<br />

ihn ab. Ich steige an der nächsten Haltestelle<br />

aus und heule.“<br />

Twitter funktioniert wie digitales Pfefferspray.<br />

Das Bild des Aggressors, via Twitter<br />

ins Netz gewandert, hält ihn von Schlimmerem<br />

ab. Twitter kann leisten, was unsere<br />

Gesellschaft nötig hat: eine Ad-hoc-Synchronisation<br />

von Ich und Masse. Es schafft<br />

einen digitalen Raum, der eine in Subkulturen<br />

zerfallene Gesellschaft verklammert.<br />

Immer mehr junge Menschen kehren<br />

Zuckerbergs Netzwerk den Rücken. Im ersten<br />

Halbjahr 2013 hat Facebook in den<br />

USA 9 Prozentpunkte an Wertschätzung<br />

eingebüßt, wie eine Trendstudie herausfand.<br />

In einer neuen Harvard-Befragung<br />

gaben 40 Prozent der Jugendlichen an, wesentlich<br />

weniger Zeit auf Facebook zu verbringen<br />

als zuvor. 61 Prozent sagten sogar,<br />

sie würden sich immer häufiger längere Facebook-Auszeiten<br />

nehmen.<br />

Facebook hat ein Problem. Steckt dahinter<br />

eine generelle Unlust am digitalen Leben?<br />

Mitnichten. In den USA werden 2013,<br />

neuen Hochrechnungen zufolge, 164 Millionen<br />

Menschen soziale Netzwerke nutzen.<br />

Das entspricht einem Wachstum von<br />

4,2 Prozent. Immer neue Kommunikationsangebote<br />

locken ins Netz. Kanäle<br />

wie Instagram, Vine, Tumblr, Reddit und<br />

Happier buhlen um die Gunst der müden<br />

Facebooker.<br />

Der 2006 gegründete Microblogging-<br />

Dienst wurde erfunden als schlichte Internet-SMS,<br />

die darüber Auskunft gibt, wo<br />

man gerade ist und was man gerade tut.<br />

Dann wurde Twitter durch Obama zu einem<br />

öffentlichen Medium. „Thinking we’re<br />

only one signature away from ending the war<br />

in Iraq“. So lautete der erste Obama-Tweet<br />

am 29. April 2007, und er zeigt, was Twitter<br />

in der Politik leisten kann – eine gespaltene<br />

Gesellschaft mit einem einzigen Satz<br />

zu synchronisieren.<br />

In Deutschland hat Twitter im vergangenen<br />

Jahr seine Präsenz verdoppelt. Mittlerweile<br />

gibt es rund 825 000 aktive deutsche<br />

Twitter-Nutzer, mehr als die Hälfte<br />

davon nutzt Twitter mobil. Die mobile<br />

Qualität der Twitter-App mag einer der<br />

<strong>Grün</strong>de für den Aufwärtstrend sein. Denn<br />

bis heute hat Facebook es nicht geschafft,<br />

eine stabile Smartphone-Applikation auf<br />

den Markt zu bringen. Facebook auf dem<br />

Handy ist immer noch akut absturzgefährdete<br />

Fingergymnastik.<br />

Hinter der Migration<br />

zwischen den Kanälen stehen<br />

Vorlieben des Lebensstils, die<br />

nichts mit den Inhalten der<br />

Medien zu tun haben, sondern<br />

mit den Medien selbst,<br />

mit ihrer Ausstrahlung, ihrer<br />

Aura, ihrem Style. Wer soziale<br />

Medien nutzt, bewegt<br />

sich immer in der Sphäre<br />

der Ich-Repräsentation. Er<br />

gibt ein Bild von sich ab. Facebook<br />

verlangt von seinen<br />

Nutzern dafür viel Zeit. Damit<br />

das eigene Profil attraktiv<br />

bleibt und der eigenen Reputation<br />

entspricht, muss man<br />

es regelmäßig pflegen. Wer<br />

Facebook ernst nimmt – viele<br />

nehmen ihr digitales Gesicht<br />

sehr ernst –, für den ist es ein<br />

wichtiger Teil seiner Persönlichkeit<br />

wie Mode oder Frisur.<br />

Facebook erzeugt dadurch digitalen<br />

Repräsentationsstress. Dieser Druck<br />

wird von vielen nicht mehr als Herausforderung<br />

wahrgenommen, sondern als Belastung.<br />

Es droht der Facebook-Burnout.<br />

Die Migration zu Twitter ist dann eine<br />

Entlastung.<br />

Der Soziologe Jan-Hinrik Schmidt<br />

von der Universität Hamburg bestätigt<br />

den Trend, wenn er sagt, Twitter sei in<br />

Deutschland noch „Medium einer Minderheit“.<br />

Und er fügt hinzu: „Ich glaube,<br />

dass es einen gewissen Kern der deutschen<br />

Twitter-Nutzer gibt, der ein geteiltes, also<br />

gemeinsames Identitätsverständnis hat.<br />

Diese Gruppe ist füreinander und für andere<br />

Twitter-Nutzer sehr sichtbar, sodass<br />

Twitter<br />

verändert<br />

die Politik,<br />

die sozialen<br />

Milieus<br />

und das<br />

Fernsehen.<br />

Es macht<br />

aber auch<br />

vor der Kunst<br />

nicht halt.<br />

Es ist eine<br />

unendliche<br />

Schriftrolle<br />

sich das diffuse Gemeinschaftsgefühl und<br />

eben auch eine gewisse Übereinstimmung<br />

im Selbstverständnis herausbilden können.<br />

Aus meiner Sicht ist das eine kommunikative<br />

Avantgarde.“<br />

Twitter beschleunige, sagt Schmidt, die<br />

Herausbildung „alltagsästhetischer Communities“.<br />

So wie es früher die Hippies,<br />

die Punker und die Popper gab, so wird es<br />

bald die Facebooker, die Instagramer und<br />

die Twitterati geben, die sich einem jeweils<br />

anderen digitalen Lebensstil verschreiben.<br />

Fast nebenbei revolutioniert Twitter<br />

das Fernsehen – also genau dasjenige Medium,<br />

das für den ersten gemeinsamen virtuellen<br />

Erlebnisraum sorgte.<br />

Twitter beherrscht den Second<br />

Screen, den zweiten<br />

Bildschirm, der neben dem<br />

Fernsehprogramm läuft und<br />

auf dem sich die Zuschauer<br />

über ihre aktuellen Eindrücke<br />

austauschen. Twitter hat<br />

Facebook hier den Rang abgelaufen.<br />

Laut dem Bundesverband<br />

Digitale Wirtschaft<br />

ist heute jeder zweite Deutsche<br />

manchmal online, während<br />

er TV sieht; 2010 surfte<br />

nicht mal ein Fünftel parallel<br />

zum Fernsehen.<br />

Das diesjährige Champions-League-Finale<br />

wurde<br />

von 4,6 Millionen Tweets<br />

begleitet. „Twitter und TV<br />

passen zusammen wie Fred<br />

Astaire und Ginger Rogers –<br />

oder wie Jay Z und Beyoncé“,<br />

formulierte ein amerikanischer<br />

Medienanalyst.<br />

Aber warum? Weil Twitter sich mit seinem<br />

semantischen Stakkatostil – immer<br />

nur 140 Zeichen – für Spontankommentare<br />

(wenigstens eine szene mit den stadtmusikanten<br />

… bitte. #tatort) ebenso eignet wie<br />

für plötzliche Gefühlsausbrüche (Na, dann<br />

kann ich jetzt ja die Spülmaschine einräumen<br />

gehen #UCLfinal).<br />

So wird aus einer simplen Fernsehserie<br />

ein multimedialer Echtzeitevent mit<br />

Zuschauerbindung. Der Hokuspokus um<br />

die sonntäglichen Fernsehkrimis hat viel<br />

zu tun mit der eingeschworenen Twitter-<br />

Community, die sich um das Format herauskristallisiert.<br />

Fernseh-Tweets sind digitale<br />

Querschläger aus dem Hirn des<br />

120 <strong>Cicero</strong> 9.2013


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Foto: Privat<br />

Konsumenten. Das Gesendete prallt am<br />

Betrachter ab und kommt zurück – als<br />

Meinung, Stänkerei, Belehrung. Das Publikum<br />

weiß mittlerweile sehr genau, wie<br />

es sich den Ablauf einer Serie vorstellt: Die<br />

Schauspielkunst im heutigen #Tatort erinnert<br />

mich stark an Aktenzeichen XY – und die Innenaufnahmen<br />

an Ikea.<br />

Soziale Realität, auch wenn sie sich digital<br />

ereignet, ist zutiefst lokal verwurzelt.<br />

Wenn Twitter ein neues soziales Bewusstsein<br />

schafft, dann fühlt sich das in Detmold<br />

und Goslar anders an als in Wuhan und<br />

Nairobi. Twitter hat hierzulande durchaus<br />

einen strengdeutschen Geruch und verfällt<br />

nicht selten in einen Duktus des „Was ich<br />

schon immer mal sagen wollte …“<br />

Ein gut germanisches Beispiel für die<br />

Nutzung von Twitter ist der von den <strong>Grün</strong>en<br />

betriebene „Tatortwatch“ (Darf der<br />

Tatort das? @tatortwatch). Hier werden<br />

„Bürgerrechtsverletzungen“, die sich in die<br />

Krimiserie eingeschlichen haben, „live“<br />

per Twitter dokumentiert: das Überwachen<br />

von Wohnungen, Verhörpraktiken<br />

der Polizei, der Umgang mit Verdächtigen<br />

stehen auf dem Second Screen unter Beobachtung.<br />

Alles, was im „Tatort“ nicht ganz<br />

grün scheint, wird sofort festgenagelt und<br />

einer juristischen Prüfung anempfohlen.<br />

Twitter scheint auch deswegen in Deutschland<br />

beliebter zu werden, weil es sich für<br />

Gesinnungsschnüffelei und moralisches<br />

Besserwissertum eignet.<br />

Twitter verändert die Politik, die sozialen<br />

Milieus und das Fernsehen. Es macht<br />

aber auch vor der Kunst nicht halt. Ai Weiwei<br />

spielte kürzlich geschickt mit dem kalligrafischen<br />

Gestus von Twitter, als er in einer<br />

Videoinstallation für die Ausstellung<br />

„Freiheit!“ in Erlangen an seine ständige<br />

Überwachung durch die chinesischen Behörden<br />

erinnerte. Im Twitter-Kunstwerk<br />

zeigte er Überwachungsvideos von seinem<br />

Hausarrest, zugleich liefen seine aktuellen<br />

Tweets aus China unter dem Hashtag #weiweicam<br />

über einen riesigen Monitor. Das<br />

Twitter-Protokoll mutierte zu einer unendlichen<br />

Schriftrolle, zu einem meditativen<br />

Bewusstseinsstrom. Vielleicht ist Twitter<br />

also auch das: ein neues Yoga.<br />

alexander Pschera<br />

ist Medientheoretiker und<br />

schrieb soeben den Essay „Vom<br />

Schweben“, eine Handreichung<br />

zur digitalen Lebenskunst<br />

Ihre Abo-Vorteile:<br />

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Ausgabe mit. Verlagsgarantie: Sie gehen keine langfristige Verpflichtung ein und können das Abonnement jederzeit kündigen. <strong>Cicero</strong> ist<br />

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Wahlkampfs.


| S a l o n | 1 9 3 3 – u n t e r w e g s i n d i e D i k t a t u r<br />

es galt der Gunst,<br />

nicht der kunst<br />

Durch die Reichskulturkammer wurden sämtliche Künste gleichgeschaltet. Als besonders<br />

rückgratlos erwies sich der Komponist Richard Strauss. Achte Folge einer Serie<br />

von Philipp Blom<br />

D<br />

as zauberwort der nationalsozialistischen<br />

Politik war die<br />

Gleichschaltung aller Organe<br />

des Volkskörpers unter straffer<br />

staatlicher Leitung. Hierin hatten<br />

Hitler und Stalin viel gemein. Auch<br />

das kulturelle Leben blieb von dieser Welle<br />

nicht verschont. Auf energisches Betreiben<br />

von Goebbels wurde am 22. September<br />

1933 die Reichskulturkammer geschaffen,<br />

der Berufsverband aller Kulturschaffenden,<br />

dessen Mitgliedschaft verpflichtend war.<br />

Der Propagandaminister und Präsident<br />

der Reichskulturkammer kontrollierte damit<br />

die Werke und Aufträge von all jenen,<br />

die im Kulturbetrieb aktiv waren, von Architekten,<br />

Autoren, Verlegern und Komponisten<br />

bis hin zu Orchestermusikern,<br />

Pressestenografen, Zeitschriftenhändlern<br />

und Film-Garderobiers. Formal bestand<br />

Goebbels’ persönliches Reich aus vielen<br />

Kammern: der Reichsschrifttumskammer,<br />

Reichsfilmkammer, Reichsmusikkammer,<br />

Reichstheaterkammer, Reichspressekammer,<br />

Reichsrundfunkkammer und Reichskammer<br />

der bildenden Künste.<br />

Die Reichskulturkammer bestimmte,<br />

was geschrieben, gemalt, gedreht, gesendet,<br />

gespielt und gedruckt werden durfte – und<br />

wer es durfte. Jüdische Künstler wurden<br />

aus den Programmen gestrichen, jüdische<br />

Komponisten und Dramatiker nicht<br />

gespielt, Autoren nur verlegt, wenn ihre<br />

Werke als „artgemäß“ und „rassisch gesund“<br />

angesehen wurden, Mitglied wurde nur,<br />

wer die „für die Ausübung seiner Tätigkeit<br />

Joseph Goebbels war die treibende Kraft, als die Reichskulturkammer ins Leben gerufen<br />

wurde. Fortan mussten alle Werke, alle Künstler „rassisch gesund“ und „artgemäß“ sein.<br />

Wer in die Kammer nicht aufgenommen wurde, hatte praktisch ein Berufsverbot<br />

erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung“<br />

zeigte. Eine verweigerte Aufnahme war<br />

praktisch ein Berufsverbot.<br />

Die Politik der Reichskulturkammer<br />

richtete sich auch auf „rassisch gesunde“<br />

Inhalte. Deutsche Komponisten und Autoren<br />

sollten von arischen Künstlern interpretiert<br />

werden. „Niggerjazz“, Swing, atonale<br />

Musik, „entartete“ Kunst und „volkszersetzende“<br />

Schriften wurden verbannt.<br />

Viele Künstler waren vom Verbot betroffen,<br />

von Heinrich Mann bis hin zu<br />

Emil Nolde. Andere machten Karriere. Unter<br />

ihnen waren überzeugte Nazis wie der<br />

Bildhauer Arno Breker, Winifred Wagner<br />

und der Komponist Hans Pfitzner – und<br />

etablierte Namen wie Gustaf <strong>Grün</strong>dgens,<br />

Gerhart Hauptmann und Wilhelm Furtwängler,<br />

die hofften, unbehelligt von der<br />

Politik ihrer Kunst nachgehen zu können.<br />

122 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Fotos: Picture Alliance/DPA/Süddeutsche, Peter Rigaud (Autor); Grafik: <strong>Cicero</strong><br />

Wie die Forschungsarbeit des jungen<br />

Historikers Ben Urwand belegt, ließen<br />

sich sogar Hollywood-Produzenten, die<br />

nicht auf die Einnahmen aus dem deutschen<br />

Markt verzichten wollten, über Jahre<br />

hinweg freiwillig von der nationalsozialistischen<br />

Regierung in Berlin zensurieren, indem<br />

sie alle Filme erst einem Beamten des<br />

deutschen Konsulats in Los Angeles zeigten<br />

und seinen Anweisungen für Schnitte<br />

oder andere Änderungen folgten. Tatsächlich<br />

verschwinden Juden und jüdische Themen<br />

oder jüdischer Sprachgebrauch in den<br />

dreißiger Jahren bis zum Kriegseintritt der<br />

USA aus den Produkten der Traumfabrik.<br />

Deutsche Intellektuelle und Künstler<br />

reagierten entlang der gesamten<br />

Bandbreite menschlicher Charaktere.<br />

Ein rückgratloser und naiver<br />

Exot unter den ideologisch<br />

durchtrainierten arischen<br />

Kunstbürokraten war Richard<br />

Strauss, der sich aktiv<br />

und erfolgreich um das Amt<br />

des Präsidenten der Reichsmusikkammer<br />

bemüht hatte. In der<br />

Annahme, er könne in dieser Situation<br />

die deutsche Kultur gegen den Geschmack<br />

der von ihm verachteten Nazis verteidigen,<br />

machte er sich zum willigen Werkzeug und<br />

Aushängeschild des Regimes, arbeitete aber<br />

weiterhin mit seinem jüdischen Librettisten<br />

Stefan Zweig zusammen.<br />

In einem Brief an den Schriftsteller<br />

sollte Strauss 1935 seine Einstellung zusammenfassen:<br />

„Für mich gibt es nur zwei<br />

Kategorien Menschen; solche, die Talent<br />

haben, und solche, die keins haben, und<br />

für mich existiert das Volk erst in dem Moment,<br />

wo es Publikum wird. Ob dasselbe<br />

aus Chinesen, Oberbayern, Neuseeländern<br />

oder Berlinern besteht, ist mir ganz<br />

gleichgültig, wenn die Leute nur den vollen<br />

Kassenpreis bezahlt haben!“ Präsident<br />

der Reichsmusikkammer sei er nur geworden,<br />

„um Gutes zu tun und größeres Unglück<br />

zu verhüten. Einfach aus künstlerischem<br />

Pflichtbewusstsein!“<br />

Der Brief wurde abgefangen, Goebbels<br />

zwang den großen Musiker und moralischen<br />

Zwerg zum Rücktritt und strich die<br />

Reiseprivilegien. Strauss schrieb daraufhin<br />

einen atemberaubend unterwürfigen Brief<br />

an Hitler: „Im Vertrauen auf Ihren hohen<br />

Gerechtigkeitssinn bitte ich Sie, mein Führer,<br />

ergebenst, mich zu einer persönlichen<br />

Aussprache empfangen zu wollen.“ Hitler<br />

1933<br />

Anno<br />

Als Deutschland die<br />

Demokratie verlor<br />

antwortete nicht, warf dem Komponisten<br />

aber einen Knochen hin: 1936 erhielt<br />

Strauss den lukrativen Auftrag, die Hymne<br />

der Olympiade zu schreiben. An den bereits<br />

im Exil befindlichen Zweig schrieb<br />

er: „Ich vertreibe mir in der Adventslangeweile<br />

die Zeit damit, eine Olympiahymne<br />

für die Proleten zu componieren, ich, der<br />

ausgesprochene Feind und Verächter des<br />

Sports.“ Er hatte nichts begriffen.<br />

Andere bekannte Künstler sahen, was<br />

der Nationalsozialismus für sie selbst und<br />

ihr Land bedeutete. Der Dirigent Fritz<br />

Busch weigerte sich, auf Anfrage von<br />

Goebbels in Dresden zu dirigieren, solange<br />

er „jüdischen Kollegen die Stellung<br />

wegnehme“, und blieb in Großbritannien.<br />

Auch Marlene Dietrich<br />

gab dem Reichspropagandaminister<br />

einen Korb.<br />

Thomas Mann hatte während<br />

einer Auslandsreise beschlossen,<br />

nicht in seine Heimat<br />

zurückzukehren. „Die<br />

Rückkehr ist ausgeschlossen, unmöglich,<br />

absurd, unsinnig und voll<br />

wüster Gefahren für Freiheit und Leben“,<br />

notierte er und hatte recht. Ein „Schutzhaftbefehl“<br />

lag unterzeichnet in München.<br />

Die Reichskulturkammer förderte die<br />

leichten Künste. Das Neujahrskonzert der<br />

Wiener Philharmoniker war eine Erfindung<br />

von Nazi-Propagandisten, und auch<br />

sonst spielte das Orchester in diesen Jahren<br />

mehr „artgerechte“ Walzer als je zuvor.<br />

Schlagerstars wie Zarah Leander sorgten<br />

für gute Unterhaltung. An mehr Anspruch<br />

war den meisten Kulturgranden nicht gelegen.<br />

Hans Friedrich Blunck, der Präsident<br />

der Reichsschrifttumskammer, der sich für<br />

einen großen Autoren hielt und allein zwischen<br />

1933 und 1944 97 Bücher veröffentlichte,<br />

formulierte diese Haltung in einem<br />

seiner Theaterstücke: „Wenn ich ‚Kultur‘<br />

höre (...), entsichere ich meinen Browning.“<br />

Wir werden den Weg in die Diktatur von<br />

1933 weiterhin nachzeichnen. In der nächsten<br />

Ausgabe wenden wir uns dem Austritt<br />

Deutschlands aus dem Völkerbund zu.<br />

Philipp Blom ist Historiker<br />

und Autor. Seine Bücher „Der<br />

taumelnde Kontinent“ und<br />

„Böse Philosophen“ wurden<br />

mehrfach ausgezeichnet<br />

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9.2013 <strong>Cicero</strong> 123


| S a l o n | P l a g i a t e a n d e u t s c h e n U n i v e r s i t ä t e n<br />

Schluss mit<br />

der Willkür<br />

Die Universitäten haben<br />

den Kampf gegen Plagiate<br />

verschlafen. Ein Weckruf<br />

Von Heiner Barz<br />

B<br />

undestagspräsident Norbert Lammert wird nicht<br />

das letzte Opfer eines für die Wissenschaftskultur unwürdigen<br />

Schauspiels bleiben. Bald wird der nächste<br />

Doktortitel ins Zwielicht gerückt werden – etwa jener eines wissenschaftlichen<br />

Mitbewerbers (der österreichische Plagiatsinquisitor<br />

Stefan Weber hat 2012 erfolgreich Nina Haferkamp von<br />

der Professur verjagt, auf die er sich selbst erfolglos beworben<br />

hatte) oder eines wirtschaftlichen Konkurrenten (im Februar<br />

2013 verzichtete der Präsident der deutschen Wirtschaftsprüferkammer,<br />

Claus C. Securs, auf seinen Doktortitel, nachdem ihn<br />

ein Kollege angezeigt hatte), vielleicht auch der Titel eines Vorgesetzten<br />

(„Entweder ich kriege einen Job oder ich stelle Ihre<br />

Doktorarbeit ins Netz“: ein aktueller Fall von versuchter Erpressung<br />

in der Deutschen Bank Frankfurt) oder eben bei konservativen<br />

oder liberalen Politikern.<br />

Bei der Häufung von Plagiatsfällen der jüngsten Vergangenheit<br />

sollte man annehmen, dass es dafür eine eindeutige gesetzliche<br />

Grundlage gäbe. Zumal in einem Land, in dem selbst<br />

der „Überfall“ von Früchten auf ein Nachbargrundstück gesetzlich<br />

geregelt ist. Doch dem ist nicht so. Der Begriff Plagiat<br />

kommt in deutschen Gesetzestexten nicht vor. Vielmehr<br />

wird Plagiat als Variante wissenschaftlichen Fehlverhaltens oder<br />

als Täuschung geahndet. Jede Universität hat fast beliebige<br />

Ermessensspielräume.<br />

Die Uneinheitlichkeit, ja Willkür, die den universitären<br />

Umgang mit Plagiatsverdachtsfällen kennzeichnet, lässt<br />

sich erneut am Fall Lammert beobachten. Die Institution des<br />

in dieser Causa viel zitierten Bochumer „Ombudsmanns für<br />

wissenschaftliches Fehlverhalten“ etwa hat in der Plagiatsaffäre<br />

Annette Schavan keine erkennbare Rolle gespielt. Das Wissenschaftssystem<br />

wird es indessen nur unter Inkaufnahme eines<br />

massiven Verlusts an Reputation und Autonomie hinnehmen<br />

können, dass ihm Spielregeln und Fälle auf Dauer „von außen“,<br />

also von der anonymen Internet-Plagiatsjäger-Szene, aufgezwungen<br />

werden. Aktuell spielt die Wissenschaft nicht viel mehr als<br />

eine mehr oder weniger unglückliche Interimsrolle zwischen Internetpranger<br />

und Verwaltungsgerichten, die das letzte Wort haben.<br />

Es ist höchste Zeit, dass Maßnahmen sowohl der nachhaltigen<br />

Prävention als auch der regelgeleiteten Intervention in<br />

Verdachtsfällen entwickelt werden. Nur so können die Hochschulen<br />

ihre Handlungshoheit zurückerobern.<br />

Vergleicht man die Vorgehensweise der Universität Bayreuth<br />

im Fall Guttenberg mit den Abläufen an der Universität Düsseldorf<br />

im Fall Schavan, zeigen sich eklatante Unterschiede in fast<br />

jeder Hinsicht: vom Tempo – eine Woche in Bayreuth, neun<br />

Monate in Düsseldorf – über die Wahl der Gutachter – vom<br />

Fach in Bayreuth, fachfremd in Düsseldorf –, die Einbeziehung<br />

externer Expertise – in Bayreuth von Anfang an, in Düsseldorf<br />

nach acht Monaten –, die Anhörung des Doktorvaters – in Bayreuth<br />

erfolgt, in Düsseldorf nicht –, die Anhörung des Betroffenen<br />

– in Bayreuth angeboten, in Düsseldorf nicht – bis hin zur<br />

Qualifikation der Entscheidungsbefugten: in Bayreuth nur Professoren,<br />

in Düsseldorf auch nicht promovierte Mitarbeiter sowie<br />

Sekretärinnen und Studenten. Die Verfahren ähneln sich<br />

kaum.<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

124 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Foto: Werner Gabriel<br />

Noch eindrücklicher wäre die Konfrontation der Fälle von<br />

Bundesbildungsministerin a. D. Schavan und Niedersachsens Ex-<br />

Kultusminister Bernd Althusmann. Denn Letzterem wurde der<br />

Doktortitel nicht entzogen, trotz bestätigter gravierender Mängel.<br />

Die „Medieninformation der Universität Potsdam“ vom 1. Dezember<br />

2011 führt zur Dissertation von Althusmann aus: „Die<br />

Arbeit weist eine hohe Zahl von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche<br />

Praxis auf. Dazu zählt die wörtliche Wiedergabe fremder<br />

Textfragmente ohne Kenntlichmachung im eigenen Text (…).<br />

Insgesamt handelt es sich um Mängel von erheblichem Gewicht.“<br />

Und doch beließ es die Universität bei einer Rüge.<br />

Dass ausgerechnet der Bonner Jurist Wolfgang Löwer, Ombudsmann<br />

der Deutschen Forschungsgemeinschaft für wissenschaftliches<br />

Fehlverhalten und als solcher prominenter Plagiatskommentator,<br />

sich am 8. Februar 2013 in der taz mit den Worten<br />

zitieren lässt, dass die meisten Plagiatsfälle völlig evident und die<br />

Rücknahmeregelungen weitgehend einheitlich seien, muss angesichts<br />

der real existierenden Entscheidungswillkür verblüffen. Der<br />

Mann müsste es besser wissen. Löwer nämlich war 1991 beteiligt,<br />

als die Universität Bonn beschloss, Margarita Mathiopoulos ihren<br />

Doktortitel trotz Plagiatsvorwürfen nicht zu entziehen. 2012<br />

dann kam dieselbe Universität Bonn in anderer personeller Besetzung<br />

zum Schluss: Entzug. Bei Margarita Mathiopoulos hat einund<br />

dieselbe Universität also über ein- und dieselbe Dissertation<br />

aus dem Jahr 1986 zu zwei Zeitpunkten zwei unterschiedliche<br />

Urteile gefällt. Rechtssicherheit sieht anders aus.<br />

Übrigens hat es an der Universität Heidelberg nach dem Titelentzug<br />

der FDP-Abgeordneten im Europäischen Parlament<br />

Silvana Koch-Mehrin zwei weitere Plagiatsverdachtsfälle von<br />

weit erheblicherem Ausmaß gegeben, wenn man den Belegen<br />

auf Vroniplag.de glauben darf. In beiden Fällen wurde von der<br />

Medizinischen Fakultät eine Rüge wegen erheblichen wissenschaftlichen<br />

Fehlverhaltens ausgesprochen, der Doktortitel aber<br />

jeweils nicht entzogen. Auch das zeigt, dass es offenbar beträchtliche<br />

Ermessensspielräume gibt.<br />

Promotionsordnungen bringen es an den Tag: Die verschiedenen<br />

Fakultäten haben zum Teil ganz verschiedene Zuständigkeiten<br />

und Verfahrensweisen für den Entzug eines Doktortitels<br />

festgelegt. Gleichbehandlung findet nicht statt, im Gegenteil.<br />

Offenbar stellt gerade das Procedere der „Entdokterung“ einen<br />

eklatanten Fall von sogannter Accidental Discrimination dar.<br />

Man begegnet in ein- und demselben Fach großen Unterschieden,<br />

je nach Universität. Unter Umständen sind im selben Bundesland<br />

ganz unterschiedliche Zuständigkeiten und Verfahrensschritte<br />

vorgesehen. Mal gibt es einen Promotionsausschuss, mal<br />

nicht. Wo es ihn gibt, ist er mal ausschließlich mit promovierten<br />

Mitarbeitern besetzt und mal auch mit Studierenden und Mitarbeitern<br />

ohne Promotion.<br />

Mal sind Fakultätsräte für den Entzug des Doktorgrads zuständig,<br />

mal ist es direkt der Promotionsausschuss. Mal sind die<br />

Entscheidungen mit einfacher Mehrheit, mal mit Zweidrittel-,<br />

mal mit Dreiviertelmehrheit zu treffen. Mal ist der erweiterte<br />

Fakultätsrat, mal der engere zuständig. Mal entscheiden nur Professoren<br />

über einen Doktortitel und seinen Entzug, mal, wie<br />

im Fall Schavan, auch Studierende und nicht wissenschaftliches<br />

Personal. Mal werden fakultätsübergreifende Gremien, etwa in<br />

Bayreuth die „Kommission Selbstkontrolle in der Wissenschaft“<br />

oder in Bochum ein Ombudsmann, eingeschaltet, mal nicht.<br />

Und so weiter und so fort.<br />

Man kann heute niemandem, der diese Ordnungen vor Jahrzehnten<br />

verabschiedet hat, einen Vorwurf machen. Mit einer<br />

Plagiats- und dementsprechend mit einer Entzugswelle konnte<br />

tatsächlich keiner rechnen. Aber heute wissen wir, dass die Welle<br />

voraussichtlich anhalten wird. Das Universitätssystem als Ganzes<br />

ist es seinen Doktoranden schuldig, hier eindeutige, transparente<br />

und einheitliche Regeln zu installieren.<br />

Jurastudenten lernen im Studium eine Argumentationsfigur<br />

namens „Actus-Contrarius-Theorie“ kennen. Sie besagt:<br />

Für eine Maßnahme, die eine Entscheidung rückgängig macht,<br />

wird prinzipiell die Zuständigkeit jener Behörde angenommen,<br />

die den fraglichen Zustand ursprünglich hergestellt hat. Es sei<br />

denn, im Gesetz findet sich eine anderweitige ausdrückliche Regelung.<br />

Wer einen Zustand schafft, ist also auch zuständig für<br />

dessen Beseitigung, sollte diese erforderlich werden. Es muss<br />

überraschen, dass in den bisherigen juristischen Überlegungen<br />

zur Plagiatsthematik diese allgemein anerkannte Rechtsfigur<br />

nirgendwo herangezogen wurde. Auf die vorliegende Problematik<br />

übertragen bedeutete das Argument, dass die Entziehung des<br />

Doktorgrads sich in etwa genauso vollziehen müsste wie die Erteilung.<br />

Nur Personen, die selbst promoviert wurden und die<br />

zumindest teilweise aus dem entsprechenden Fachbereich stammen,<br />

dürften im Verfahren beteiligt werden, es müsste ein Erstund<br />

ein Zweitgutachten geben etc. pp.<br />

Die Hochschulautonomie wird als hohes Gut angesehen. In<br />

der Plagiatsfrage handeln, wie wir gesehen haben, die Universitäten<br />

alles andere als selbstständig und souverän, sondern wirken<br />

wie Getriebene. Dennoch wird der Verweis auf die Hochschulautonomie<br />

alle Vorschläge in Richtung auf eine zentralisierte<br />

Zuständigkeit aushebeln. Damit dürften auch die derzeit kursierenden<br />

Ideen einer Zentralstelle zur Plagiatsahndung nach österreichischem<br />

oder US-amerikanischem Muster wenig Chancen<br />

haben. Eher könnte ein Verhaltenskodex, den etwa der Wissenschaftsrat<br />

ausarbeitet und dem sich die Universitäten freiwillig<br />

anschließen, den Besonderheiten der deutschen föderalen Hochschullandschaft<br />

gerecht werden. Dabei wäre auch die kontroverse<br />

Frage der Verjährungsfrist einzubinden, für die auf diesem<br />

Wege ebenfalls Vorgaben formuliert werden könnten. Die deutsche<br />

Wissenschaftskultur ist sich eine Verständigung hierüber<br />

schuldig, will sie nicht weiter an Reputation einbüßen.<br />

In Geschichte und Selbstverständnis der Universitäten spielt<br />

der Begriff des Universellen eine bedeutende Rolle. Eine aktuelle<br />

Bestandsaufnahme der Promotionsordnungen zeigt, dass es zumindest<br />

für den Entzug von Doktortiteln alles andere als universelle<br />

Regularien gibt. Ein Wort von Rousseau variierend, könnte<br />

man fast sagen, das Überleben einer Plagiatsanschuldigung sei<br />

une affaire de géographie, eine Sache der Geografie. Das sollte<br />

sich ändern.<br />

Heiner barz<br />

ist Erziehungswissenschaftler und leitet die Abteilung<br />

für Bildungsforschung und Bildungsmanagement<br />

an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 125


| S a l o n | D a s G e s p r ä c h<br />

Zwei Mann in einem See:<br />

Unweit der „Fischerhütte<br />

am Schlachtensee“<br />

suchten Oskar Roehler<br />

(rechts) und Thor Kunkel<br />

festen Halt im nassen<br />

Element. Es gelang<br />

126 <strong>Cicero</strong> 9.2013


loss nicht<br />

Bequem sein<br />

Wie kommt Literatur auf die Leinwand? Und soll die<br />

Kunst das Leben bessern? oskar Roehler verfilmt einen<br />

Roman von thor kunkel. Am Berliner Schlachtensee<br />

reden die beiden Künstler über den Balsam der<br />

Sprache, die Unfähigkeit der Deutschen zur Satire<br />

und die Tücken der Vergangenheitsbewältigung<br />

Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

I<br />

n einer Buchbesprechung las<br />

ich, Thor Kunkel sei „der Oskar<br />

Roehler des Literaturbetriebs“.<br />

Sind Sie, Herr Roehler, der Thor Kunkel<br />

des Filmes?<br />

oskar roehler: Vielleicht ja. Wir haben<br />

unsere Schnittmengen noch nicht ausgelotet,<br />

glücklicherweise. Die Verfilmung<br />

des Romans „Subs“ wird die erste Zusammenarbeit<br />

sein.<br />

thor kunkel: Obwohl das „Schwarzlicht-<br />

Terrarium“, mein Romandebut, auch<br />

einmal zur Debatte stand.<br />

oskar roehler: Stimmt. Ich fand den<br />

Roman, als ich ihn vor zwölf Jahren gelesen<br />

hatte, einfach toll.<br />

Als Sie „Elementarteilchen“ verfilmten,<br />

sagten Sie, Sie seien bei Houellebecq auf<br />

die eigene Lebensgeschichte gestoßen –<br />

ein Aufwachsen fast ohne Mutter, eine<br />

Jugend im Zeichen frühreifer Libertinage,<br />

ambivalente Erlebnisse mit Kunst und<br />

Künstlern. Ihre Eltern waren die Schriftsteller<br />

Klaus Roehler und Gisela Elsner, die<br />

Sie in „Die Unberührbare“ und „Quellen<br />

des Lebens“ porträtierten. Bei „Subs“<br />

wird es einen anderen Zugang geben.<br />

roehler: An „Subs“ fasziniert mich eine<br />

Welt, die ich selber gar nicht hätte beschreiben<br />

können, eine modernistisch<br />

kalte Gegenwartswelt, mit Elementen der<br />

Zukunft durchsetzt.<br />

„Subs“ spielt in unmittelbarer Nähe<br />

unseres Treffens, in Berlin-Grunewald.<br />

Dort hält sich ein reiches Ehepaar, ein<br />

Schönheitschirurg und eine Anwältin, auf<br />

seinem Grundstück Arbeitssklaven und<br />

reaktiviert altrömische Sitten – angeblich<br />

zum Wohle aller Beteiligten.<br />

roehler: Das Buch zeigt, wie Menschen<br />

aus purer Bequemlichkeit über andere<br />

verfügen. Eine Aussage lautet: Bequemlichkeit<br />

ist der Tod.<br />

kunkel: Das ist der Preis der Wellness-<br />

Kultur, in der wir alle leben wollen.<br />

Am Ende von „Subs“ sind aus anfänglich<br />

zwei sage und schreibe 93 Sklaven geworden.<br />

Ein schwunghafter Handel entsteht.<br />

Ist das nicht, Herr Kunkel, für einen Gegenwartsroman<br />

weit hergeholt? Demokratie<br />

und Sklaverei schließen sich aus.<br />

kunkel: Weltweit betrachtet ist die Demokratie<br />

ein Auslaufmodell. „Subs“<br />

entstand aber aus einem anderen<br />

Grund: Mir missfällt eine Kultur, die<br />

nur die herrschende Politik absegnet.<br />

Aufgabe von Literatur wäre es, gesellschaftliche<br />

Veränderungen in den<br />

Blick zu nehmen. Stattdessen regiert<br />

ein anything goes, man ist blind für Veränderungen<br />

unterhalb der Oberfläche.<br />

Als ich noch in Berlin lebte, kannte<br />

ich eine Staatsanwältin, die keinerlei<br />

Skrupel hatte, von ihren rumänischen<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 127


| S a l o n | d a s G e s p r ä c h<br />

Thor Kunkel ist der letzte<br />

Grenzgänger, den sich der<br />

hiesige Literaturbetrieb<br />

gönnt. Seine Romane pendeln<br />

zwischen Unterhaltung,<br />

Phantastik und Daseinsernst.<br />

Ihr Thema ist die Zukunft des<br />

Menschen. Seit zwei Jahren<br />

lebt Kunkel auf einer Alm<br />

im schweizerischen Wallis.<br />

Dort entstand die poetische<br />

Selbst- und Naturbefragung<br />

„Wanderful“, aber auch<br />

das Drehbuch zu dem<br />

Abenteuerfilm „Trespasser“,<br />

mit dem Kunkel 2015 als<br />

Filmregisseur debütieren<br />

will. Seinen Erstling „Das<br />

Schwarzlicht-Terrarium“<br />

wird demnächst Christian<br />

Alvart verfilmen. Auch der<br />

Roman „Ein Brief an Hanny<br />

Porter“ soll zum Film werden<br />

Bediensteten zu reden, als wären es<br />

Sklaven.<br />

roehler: Hinzu kommt, dass „Subs“ ein<br />

in Deutschland sehr ungebräuchliches<br />

Genre bedient, die Satire. Es gibt deutsche<br />

Komödien, aber keine deutschen Satiren,<br />

denn Satiren müssen immer einen<br />

gesellschaftlichen Kontext beleuchten.<br />

Dem Roman steht als Motto einerseits das<br />

Diktum von Juvenal voran, „Es ist schwer,<br />

darüber keine Satire zu schreiben“. Und<br />

andererseits, darauf bezogen, das fast<br />

ebenso berühmte Diktum Guido Westerwelles<br />

von der „spätrömischen Dekadenz“.<br />

roehler: Mit „Jud Süß – Film ohne Gewissen“<br />

habe ich selbst versucht, auf satirische<br />

Weise einen bestimmten Typus<br />

von Politikern zu entlarven, den es durch<br />

die Zeitgeschichte hindurch bis heute<br />

immer gegeben hat. In seinem äußeren<br />

Auftreten unterscheidet sich zum Beispiel<br />

Silvio Berlusconi kaum von Joseph Goebbels,<br />

auch er ist ein Parvenü.<br />

Womit wir bei der Frage nach der politischen<br />

Relevanz von Kunst wären. Braucht<br />

Kunst immer einen Gegenwartsbezug?<br />

kunkel: Ich mag keine dogmatischen<br />

Sätze. Ich bin ein elendes Spielkind. Mir<br />

geht es beim Schreiben um die Kreativität,<br />

die sich da entfaltet. Ich will keine<br />

Parteiprogramme abarbeiten. Bei „Subs“<br />

stellte sich schreibend heraus, dass die<br />

Frage nach der Liebe auf einem von Geld<br />

und Wellness überwölbten Planeten zentral<br />

ist. Ich begann aus Ärger über die gesellschaftsblinde<br />

Gegenwartsliteratur und<br />

den heutigen Selbstoptimierungswahn<br />

und landete bei einer Liebesgeschichte.<br />

„Die Deutschen verfügen<br />

über bestimmte Kulturtechniken<br />

nicht. Es gibt<br />

ein profundes Misstrauen<br />

gegen die fiktionalen Möglichkeiten<br />

von Literatur“<br />

Thor Kunkel<br />

Die Anwältin, Evelyn, schreibt: „An die<br />

Stelle einer Kultur mit dem Herzenstakt<br />

einer menschlichen Zivilisation ist die<br />

reine Verwertungskette getreten, und<br />

die besteht nun einmal aus Herren und<br />

Knechten.“ Ist das Ihre Auffassung?<br />

kunkel: Der Autor spricht immer mit,<br />

wenn die Figuren reden. Letzten Endes<br />

sind meine Romane aber Versuchsanordnungen.<br />

Während Oskar Roehler<br />

wohl eher aus seiner eigenen Geschichte<br />

schöpft, bin ich eigentlich immer Beobachter.<br />

Mir ist es wichtig, dass Literatur<br />

auch den Menschen der Zukunft, vielleicht<br />

in 100 Jahren, noch ein Zeichen ist.<br />

roehler: „Subs“ ist ein Planspiel. Um<br />

Satiren schreiben zu können, muss man<br />

sich der Welt wie ein Reporter nähern.<br />

Du brauchst gar keine besondere emotionale<br />

Bindung, bist im Grunde vollkommen<br />

neutral.<br />

kunkel: Ich bin da wie eine Sonde.<br />

roehler: Wenn ich über meine Vergangenheit<br />

schreibe, sehe ich Personen vor<br />

mir, die ich liebe oder hasse. Als Satiriker<br />

müsste ich Vergnügen daran haben, die<br />

Menschen, die ich beobachte, kühl zu sezieren.<br />

Ich müsste deren Verkommenheit<br />

in maximaler Deutlichkeit formulieren.<br />

Insofern ist Thor Kunkel meiner Mutter<br />

wesentlich näher, als ich es bin. Auch Gisela<br />

Elsner blickte auf jene Aspekte der<br />

Gesellschaft, die sie ablehnte.<br />

War Verachtung ihr Schreibimpuls?<br />

roehler: Ihr Schreiben hatte tausend<br />

psychologische Ursachen, die sicherlich<br />

um ihren gekränkten Narzissmus kreisten.<br />

Das ist bei Kunkel nicht der Fall.<br />

kunkel: Ich hoffe. Zumindest hat mich<br />

meine Jugend in einer Plattenbausiedlung<br />

in Frankfurt gelehrt, das Widrige<br />

auszuhalten. Mir macht es nichts aus,<br />

Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

128 <strong>Cicero</strong> 9.2013


mich in ganz unterschiedlichen Milieus<br />

als Beobachter zu tummeln.<br />

„Nur unsere Leidenschaften tragen Wahrheit<br />

in sich“, heißt es in „Subs“. Muss<br />

man von Leidenschaften getrieben sein,<br />

um Kunst schaffen zu können? Oder von<br />

Leidenschaftslosigkeit, um alles beobachten<br />

zu können?<br />

kunkel: Die Leidenschaft des Schreibens<br />

ist vielleicht eine andere Leidenschaft als<br />

die Leidenschaft zu Personen. Natürlich<br />

schreibe ich leidenschaftlich. Deshalb<br />

ärgert es mich, dass Fantasie heute nur<br />

Schwarzarbeit ist. In der Literatur ist sie<br />

eigentlich verpönt, obwohl sie doch unser<br />

Handwerkszeug ist.<br />

Schuf die Leidenschaft zur Fantasie bei<br />

Ihrem umstrittenen Roman „Endstufe“,<br />

der im Dritten Reich spielt, auch Leiden?<br />

kunkel: Ich hatte damals das Gefühl,<br />

plötzlich von Volkspädagogen und Gedankenpolizisten<br />

umstellt zu sein. Ich<br />

würde den Roman heute vermutlich<br />

nicht mehr schreiben.<br />

Auch Sie, Herr Roehler, wagten sich in<br />

„Jud Süß“ an die Verbindung von Satire<br />

und Vergangenheitsbewältigung und kassierten<br />

Verrisse. Etwa für den Umstand,<br />

dass Sie aus der katholischen Ehefrau der<br />

Hauptfigur, des Schauspielers Ferdinand<br />

Marian, eine Jüdin machten.<br />

roehler: „Jud Süß“ ist ein gutes Beispiel<br />

für Fehler, die man machen kann. Was<br />

Sie ansprechen, war damals tatsächlich<br />

nicht genug durchdacht. Ich beugte mich<br />

dem Druck von Produzenten. Außerdem<br />

stammte das Drehbuch nicht von<br />

mir. Für eine wirkliche Satire bräuchte es<br />

eben totale Antifiguren, absolute Unsympathen.<br />

In Deutschland aber hat Vergangenheitsbewältigung<br />

immer dialektische<br />

Sprünge, moralische Volten. Es gibt auch<br />

kaum Schauspieler, die das eindeutig<br />

Böse spielen können. Deshalb ließ sich<br />

„Jud Süß“ nicht so auf die Spitze treiben,<br />

wie ich es mir gewünscht hätte.<br />

Standen Sie bei der Verfilmung der „Elementarteilchen“<br />

vor ähnlichen Problemen?<br />

roehler: Extrem problematisch war die<br />

destruktive Grundstruktur des Romans.<br />

Fast alle seine Figuren lässt Houellebecq<br />

sterben. Jeder erzählerische Faden endet<br />

in Tod und Desaster. Beim Lesen legt<br />

die Sprache den Balsam der Schönheit<br />

über alle Wunden. Im Film wäre eine solche<br />

Häufung in keiner Weise vorzeigbar,<br />

sondern nur depressiv. Der Dichter<br />

kann mit einem irrsinnigen Vergnügen<br />

in die abscheulichsten Abgründe hinabsteigen<br />

und Brillanten voller Schönheit<br />

zutage fördern. Ich denke da an zwei<br />

Lieblingsautoren, Curzio Malaparte und<br />

Jerzy Kosiński. Malaparte beschreibt, wie<br />

Leute in einem Phosphorbad verbrennen.<br />

Filmisch wäre das nicht umsetzbar.<br />

Bei Ihnen, Herr Kunkel, kann die Sprache<br />

einer heiteren Apokalypse dienen. Der<br />

Roman „Schaumschwester“ endet mit<br />

dem Verschwinden des Menschen, der die<br />

Fortpflanzung einstellt – eine biopolitische<br />

Brücke zu den „Elementarteilchen“,<br />

wo ein Genetiker die Zeugung ins Labor<br />

verlagern will. Das Ende von „Subs“ ist der<br />

Rückblick auf die „menschliche Zivilisation“.<br />

Schreiben Sie, damit es nicht so<br />

werde oder weil es so ist?<br />

kunkel: Ich bin da entspannt. Ich würde<br />

mich selbst nicht vermissen in der Welt.<br />

roehler: Du schreibst doch so gerne.<br />

kunkel: Ja, das schon.<br />

roehler: Man darf nie vergessen, dass<br />

Schreiben auch ein Stoffwechselvorgang<br />

ist. Wenn ich gut geschlafen, gut gegessen<br />

habe, kann ich schreiben. Film ist viel<br />

anstrengender, ständig ärgert man sich.<br />

kunkel: Die alte Hirnmühle ist besser als<br />

der stärkste Projektor.<br />

Sind Sie, Herr Roehler, momentan eher<br />

Schriftsteller als Regisseur? Ihr Roman<br />

„Herkunft“ wurde euphorisch besprochen,<br />

ein neuer ist in Arbeit.<br />

Roehler: Gerade habe ich das Drehbuch<br />

einer Fernsehserie geschrieben, nach Gustav<br />

Freytags „Soll und Haben“. Abends<br />

entstand die autobiografische Geschichte<br />

„Mein Leben als Affenarsch“ – komplett<br />

auf den Tasten eines Blackberry.<br />

Der Titel lässt auf ein Werk nicht ohne<br />

Humor schließen. Humor steht oft im<br />

Gegensatz zur seriösen Kunst. Diese muss<br />

bedeutungsvoll sein, griesgrämig. Warum?<br />

kunkel: Die Deutschen verfügen über<br />

bestimmte Kulturtechniken nicht. In<br />

Frankreich liebt man die große Geste,<br />

die Fantasie, den Überschwang. Ein<br />

Buch wie „Elementarteilchen“ wäre in<br />

Deutschland unmöglich gewesen. Es gibt<br />

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© Foto Peter Sloterdijk: Axel Heiter; Martin Walser: Philippe MATSAS/Opale<br />

Mehr als schön<br />

ist nichts<br />

Zwei Meinungen über den<br />

Zustand der Welt.<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer<br />

im Gespräch mit Peter Sloterdijk und<br />

Martin Walser.<br />

Sonntag, 29. September 2013, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

29. 9. 2013:<br />

Peter Sloterdijk<br />

& Martin Walser<br />

im Gespräch mit<br />

Frank A. Meyer<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 129


| S a l o n | d a s G e s p r ä c h<br />

Oskar Roehler ist<br />

Deutschlands vielseitigster<br />

Filmregisseur. „Die<br />

Unberührbare“, ein<br />

Porträt seiner Mutter, der<br />

Schriftstellerin Gisela Elsner,<br />

erhielt zahlreiche Preise. Für<br />

„Elementarteilchen“ nach<br />

Michel Houellebecq fand<br />

er eine unverwechselbare<br />

Bildsprache. Zuletzt<br />

verfilmte er die Geschichte<br />

seiner Familie unter<br />

dem Titel „Quellen des<br />

Lebens“. Das Drehbuch<br />

beruhte auf seinem Roman<br />

„Herkunft“. Gerade hat<br />

Roehler den autobiografisch<br />

gefärbten Roman „Mein<br />

Leben als Affenarsch“<br />

abgeschlossen und ein<br />

Drehbuch zu Gustav<br />

Freytags „Soll und Haben“<br />

hier ein Misstrauen gegen die fiktionalen<br />

Möglichkeiten von Literatur. Man beschneidet<br />

die Fantasie, indem man sich<br />

in gedanklichen Reservaten einrichtet<br />

und Maulkörbe trägt. Das hängt sicherlich<br />

auch mit der Geschichte zusammen.<br />

Bei uns waltet ein fürchterlicher Minimalismus,<br />

eine Scheu vor der Form. In den<br />

Romanen herrscht das ausgetrocknete<br />

Deutsch der Fußgänger …<br />

roehler: … und in den Filmen regieren<br />

die Sympathieträger. Daran ist „Jud Süß“<br />

ja gescheitert. Niemand will sich die<br />

Hände schmutzig machen am Bösen.<br />

Bei so viel Furor scheint es folgerichtig,<br />

Herr Kunkel, dass Sie vor zwei Jahren ins<br />

schweizerische Exil gezogen sind.<br />

kunkel: Ich wohne mit meiner Frau auf<br />

einer Alm, 2000 Meter hoch. Das ist<br />

kein Rückzug. Viele Schriftsteller sind in<br />

die Berge gegangen, Max Frisch, Golo<br />

Mann, Carl Zuckmayer. Ich wollte mich<br />

sammeln. Ich konnte Berlin nicht mehr<br />

ertragen. Dort sah ich viele Schriftsteller<br />

zwischen Leidensmiene und Wutanfall<br />

und wollte nicht so werden.<br />

roehler: Berlin ist schon sehr penetrant.<br />

Ich bin da auch nicht gerne und gehe<br />

kaum vor die Tür.<br />

Sie, Herr Roehler, zeichnen in „Herkunft“<br />

ein idyllisches Bild der fränkischen<br />

Provinz. „Es gab da etwas“, heißt es, „außerhalb<br />

von mir, das Schutz und Sicherheit<br />

bot. (…) Es hing mit dem Ursprung<br />

zusammen, mit der Landschaft, der Magie,<br />

dem Zusammenhalt.“ Das sind altväterliche<br />

Begriffe.<br />

„Wenn du abends in den Bergen<br />

sitzt und ein Gewitter bricht<br />

los, stiftet dich die Natur zu<br />

unendlich vielen Erwägungen<br />

an. Wenn man ein paar Dinge<br />

begriffen hat, muss man<br />

gar nichts mehr erleben“<br />

Oskar Roehler<br />

kunkel: Überhaupt nicht! Ich komme<br />

gerade aus einer solchen Gegend. In den<br />

Bergen wirst du auf dich selbst, auf den<br />

Ursprung zurückgeführt. Diese Landschaften<br />

öffnen in uns Landschaften. In<br />

der Stadt gibt es immer diesen Sound-<br />

Teppich. Dort droben sehe und höre ich<br />

viel mehr. Ich habe mich noch nie so lebendig<br />

gefühlt, noch nie so viel wahrgenommen<br />

wie in den Bergen.<br />

roehler: Entscheidend ist die innere<br />

Zeit. Es gibt Dilettanten, die irrsinnig<br />

viel erlebt haben, Drogen genommen,<br />

100 Millionen Partys gefeiert, aber nichts<br />

begriffen haben. Es ist alles eine Frage der<br />

Wahrnehmung. Ich bin jetzt öfter nach<br />

Bayern gefahren. Wenn du abends in Ettal<br />

sitzt, mitten in den Bergen, und ein<br />

Gewitter bricht los, stiftet dich die Natur<br />

zu unendlich vielen Erwägungen an.<br />

Wenn man ein paar Dinge begriffen hat,<br />

muss man gar nichts mehr erleben.<br />

Verdienen aber muss man immer. Der<br />

Film ist eine kommerzielle Branche. In ihr,<br />

sagten Sie einmal, gelten heute die gleichen<br />

Gesetzmäßigkeiten wie 1939.<br />

roehler: Die Anbiederung ans Publikum,<br />

wie sie ein Heinz Rühmann perfektionierte,<br />

gilt weiterhin. Die Amerikaner<br />

wollen in ihren Komödien die Gesellschaft<br />

im kapitalistischen Sinne verbessern.<br />

Ehen sollen halten, damit die Kinder<br />

versorgt sind. Die Deutschen lassen<br />

sich lieber ihre Blödheit bestätigen. Man<br />

lacht über das eigene Spießertum. Die<br />

Haltung ist eigentlich immer affirmativ.<br />

Welcher Film funktionierte kommerziell?<br />

roehler: „Elementarteilchen“. Weil er<br />

am besten vermarktet wurde. „Agnes<br />

und seine Brüder“ ist auch gut gelaufen,<br />

„Quellen des Lebens“ leider nicht. Er hat<br />

Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

130 <strong>Cicero</strong> 9.2013


sich allerdings in die Herzen eingebrannt<br />

und mir Respekt eingetragen.<br />

Denken Sie beim Schreiben ans Publikum?<br />

kunkel: Nein, ich habe meine Bücher<br />

nie als Waren begriffen, gerade weil ich<br />

aus der kommerziellen Ecke komme. Ich<br />

arbeitete zwischen 1986 und 1994 als<br />

Werbefilmer, in London und Amsterdam,<br />

war der jüngste Kreativ-Direktor Europas.<br />

Diese Welt löste sich eines Morgens<br />

in einer Züricher Praxis für Kokainsüchtige<br />

auf. Ich fing an zu schreiben und<br />

arbeitete vier Jahre am „Schwarzlicht-<br />

Terrarium“. Meine Distanz zum kommerziellen<br />

Betrieb habe ich nie abgelegt.<br />

Interessanterweise hat sich „Endstufe“ am<br />

besten verkauft, es gab viele Übersetzungen.<br />

Der Skandal, auf den ich hätte verzichten<br />

können, kurbelte den Absatz an.<br />

roehler: Ich habe in den beiden Jahren,<br />

da ich mit Bernd Eichinger zusammengearbeitet<br />

habe, gelernt: Um ein Erfolgsmensch<br />

zu werden wie er oder Til<br />

Schweiger, musst du zwei Voraussetzungen<br />

mitbringen. Du brauchst ein<br />

gut strukturiertes analytisches Denken.<br />

Und du musst aus der Mitte der Gesellschaft<br />

stammen, deren Werte teilen. Du<br />

musst mit dir und mit der Gesellschaft<br />

im Reinen sein. Nur dann können sich<br />

die Leute in dir und deinen Geschichten<br />

spiegeln. So einfach ist das. Ich kann<br />

mich mit diesen Mustern nicht anfreunden.<br />

Anfänglich dachte ich, „Lulu und<br />

Jimi“ könnte eine kommerzielle Sache<br />

werden, lustig und spannend. Herausgekommen<br />

ist mein schrägster Film.<br />

War das leicht zu akzeptieren?<br />

roehler: Es war schmerzhaft. Ich war<br />

neidisch auf die anderen, die feiern konnten,<br />

selbstbewusst waren, nicht so kompliziert.<br />

Der Roman „Herkunft“ hat<br />

mich dann mit mir ausgesöhnt.<br />

kunkel: Ich bin ganz froh, ein Heimatloser<br />

zu sein. Der Hochliteratur fühle<br />

ich mich nicht zugehörig. Ich verstehe<br />

Schrei ben eher als Untergruppe der Philosophie.<br />

Darum habe ich auch das Gefühl,<br />

dass es vielleicht in 100 Jahren<br />

Menschen geben wird, die diese Zeichen<br />

in den heutigen Geschichten wirklich<br />

brauchen werden.<br />

Das Gespräch führte Alexander Kissler<br />

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| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Im Gehäuse der Bücher atmet<br />

Michael Engelhard auf. Hier<br />

findet er Inspiration, hier<br />

schult er seine Sprache<br />

Goethe bitte<br />

einmal täglich<br />

132 <strong>Cicero</strong> 9.2013


Michael Engelhard schrieb Reden für Richard von<br />

Weizsäcker, Walter Scheel und Helmut Schmidt.<br />

Er besitzt die vermutlich größte private Bibliothek<br />

zu Goethe und übersetzte schon Puschkin<br />

Von bertram weiss<br />

Foto: Frank Schoepgens für <strong>Cicero</strong><br />

N<br />

och im Eingang zu seinem schmucklosen Flachbau in<br />

der Nähe von Bonn erzählt Michael Engelhard eine<br />

Anekdote: „An Goethes 80. Geburtstag fragte ein junger<br />

Franzose den Dichter, wofür er sich besonders interessiere.<br />

‚Ach, wissen Sie, junger Freund‘, sagte Goethe,<br />

‚ich beschränke mich eigentlich auf alles.‘“ Engelhard lacht.<br />

„Darin finde ich mich wieder.“ Genau das ist die Passion des pensionierten<br />

Diplomaten: die universale Bildung.<br />

Verborgen in den engen, verwinkelten Räumen des Souterrains<br />

hortet der 77-Jährige all jene Gedanken, die ihn inspirieren.<br />

Überall reichen Regale vom Boden bis zur niedrigen Decke; etwa<br />

18 000 Bände stehen darin, schätzt Engelhard, thematisch sortiert.<br />

Die meisten beschäftigen sich mit Johann Wolfgang von Goethe,<br />

der ihn nicht mehr loslässt, seit er mit zehn Jahren den „Faust“ las.<br />

Verschiedene Ausgaben des Dramas und Bücher über dessen<br />

Deutung füllen allein mehrere Regalbretter. Daneben gibt es Goethe<br />

und Italien, Goethe und Böhmen, Goethe und Frauen, Goethe<br />

und Zeitgenossen, Dramen, Gedichte, Essays, Almanache, Jahrbücher.<br />

„Es ist die größte private Goethe-Sammlung in Deutschland“,<br />

sagt Engelhard, der seit Jahrzehnten mit der renommierten<br />

Goethe-Forscherin Katharina Mommsen befreundet ist. Umfassender<br />

seien nur die institutionellen Goethe-Bibliotheken, etwa<br />

in Weimar, Düsseldorf oder Rom.<br />

Immerhin versteht Engelhard sich als einer der „letzten Universalgelehrten<br />

Europas“. Selbstzweifel und Bescheidenheit scheint<br />

er nicht zu kennen. Vielmehr tritt er einem mit der Ironie eines<br />

Mannes entgegen, der sich seiner Sache sicher ist. Lächelnd sagt<br />

er: „Ich kann es mir leisten, demütig zu sein.“<br />

Das musste er in seinem Leben auch. Bekannt und geehrt wurden<br />

stets andere, Engelhard blieb im Hintergrund. Über viele Jahre<br />

formulierte er als Redenschreiber Worte, die die Bundespräsidenten<br />

Richard von Weizsäcker und Walter Scheel der Öffentlichkeit<br />

vortrugen, aber auch Außenminister Hans-Dietrich Genscher<br />

und, einmal, Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die Frankfurter<br />

Allgemeine Zeitung bezeichnete Engelhard als „bedeutendsten Redenschreiber<br />

der Nachkriegszeit“, für den Spiegel war er der „originellste<br />

Redenschreiber“ der Bonner Republik.<br />

Engelhards Kunst war es, scharfsinnige und doch gefühlvolle<br />

Reden zu verfassen. Manche seiner Entwürfe, die freilich noch<br />

durch viele Hände gingen, entwickelten große Strahlkraft, beispielsweise<br />

Weizsäckers Ansprache am 8. Mai 1985 zur Kapitulation<br />

des Deutschen Reiches 40 Jahre zuvor. Er rief dem Bundestag<br />

zu: „Ehren wir die Freiheit, arbeiten wir für den Frieden, halten wir<br />

uns an das Recht.“ Worte, die Weizsäcker sprach, aber Engelhard<br />

ersann. Der Bundespräsident nannte sie später die „politischste<br />

und zugleich persönlichste Rede meiner Amtszeit“.<br />

Engelhard betont: Ein guter Redenschreiber beanspruche niemals,<br />

er habe einem Politiker seine Worte gleichsam eingeflößt.<br />

„Das Geheimnis guter Reden ist, dass Politiker und Redenschreiber<br />

die gleichen Ansichten, Wertvorstellungen und Ideen haben.“<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 133


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Schrittweise zu Goethe: Dem Dichterfürsten stellt Michael Engelhard gerne nach, ihm ist die Bibliothek<br />

gewidmet. Das eigene Konterfei taugte auch schon zur Büste. Doch wer reicht heran an den Olympier?<br />

Es sei, als würden sich zwei Kreise überschneiden: Je größer die<br />

Schnittmenge, desto bessere Reden könnten gelingen.<br />

„Das Kapital meiner Arbeit“, sagt Engelhard und weist ringsum<br />

auf seine Bücher, „war meine Liebe zu den Geistesgrößen der<br />

Menschheit.“ An diesen hat er seine Sprache und seine Gedanken<br />

geschliffen. Allen voran an Goethe, von dem er seit Jahrzehnten<br />

jeden Tag mindestens ein paar Zeilen liest. Aber auch an<br />

dessen jüngeren Zeitgenossen Alexander Sergejewitsch Puschkin.<br />

„Als ich das erste Mal Puschkin las, war das wie ein Blitzschlag“,<br />

erzählt Engelhard. „Von der Musik seiner Verse strahlte mich etwas<br />

an, das alles in den Schatten stellte, was ich bis dahin kannte.“<br />

Goethe und Puschkin sind für ihn Brüder im Geiste. Beide<br />

seien Menschen gewesen, deren Herz und Geist weiter und reicher<br />

waren als die der meisten anderen. Um seine Liebe zu Puschkin<br />

zu teilen, gründete Engelhard die deutsche Puschkin-Gesellschaft<br />

mit. Um die Verse im Original zu verstehen, nahm er ein russisches<br />

Grammatikbuch und ein russisch-deutsches Wörterbuch,<br />

den „Pawlowski“, zur Hand. Wort für Wort, Stunde um Stunde<br />

füllte er mehr als 200 Notizhefte. So hat er sich die Schönheit<br />

der Puschkin-Sprache erschlossen wie ein Eroberer ein fremdes<br />

Land: „Wenn man als Übersetzer die Sprache nicht kennt, ist jedes<br />

Wort eine Offenbarung.“ 1999 veröffentlichte er schließlich<br />

die erste vollständige deutsche Übertragung der Gedichte des russischen<br />

Poeten.<br />

Genauso hat er es mit anderen Fixsternen in seinem literarischen<br />

Universum gemacht, mit den italienischen Meistern Leopardi<br />

und Michelangelo, aber auch dem weniger bekannten Renaissancepoeten<br />

Niccolò Forteguerri. „Mitunter habe ich meine<br />

Vorgesetzten damit aufgebracht, dass ich in meinem Büro saß<br />

und Wörterbücher wälzte.“ Aber dann habe er gesagt: „Ein gutes<br />

Gedicht bietet mir so viel Nahrung, dass ich zehn Reden<br />

schrei ben kann.“<br />

Wie sehr ihn die Literatur nährt, entdeckte Engelhard bereits<br />

als Kind in Osnabrück. Sein Vater, ein Pianist und Opernsänger,<br />

besaß ein Regal, in dem er etwa Bücher von Cervantes oder Dickens<br />

aufbewahrte. Das Lesen glich einer Zeremonie. Der Junge<br />

musste sich die Hände waschen und an den Tisch setzen; erst<br />

dann holte der Vater einen Band und legte ihn vorsichtig vor das<br />

Kind. „Diese Erlebnisse voll Ehrfurcht haben in mir den Wunsch<br />

geweckt, selbst einmal eine Bibliothek zu besitzen.“<br />

Mit unbändiger Sammelwut trug der Jurist in seiner diplomatischen<br />

Laufbahn Buch um Buch zusammen, ob in London oder<br />

Chicago, Mailand oder Bonn. Heute ist sein Kindertraum Wirklichkeit.<br />

Auch wenn es nach einem Klischee klingen mag: Wenn<br />

Engelhard inmitten seiner Bücherwelt sitzt und raucht, scheinen<br />

seine Augen wie in Kindertagen zu leuchten. Eine Stunde dort ist<br />

ihm eine Reise zu den Sternstunden der Menschheit, denn „Dichtung<br />

bringt in wenigen Zeilen alles zusammen, was wichtig ist“.<br />

Mal deklamiert Engelhard Puschkin, „die Freiheit und den<br />

Wald vergessend, ein Zeisig aus dem Käfig sehnt, und Wasser spritzend<br />

Körner fressend, singt voller Leben er sein Lied.“ Dann wieder<br />

Goethe, seine Lieblingsstelle aus dem „West-östlichen Divan“,<br />

„das Leben ist die Liebe und des Lebens Leben Geist“. Mal zieht er<br />

Schätze aus den Regalen wie Hölderlins „Hyperion oder der Eremit<br />

in Griechenland“ von 1799. Dann persönliche Archivalien wie<br />

die „Landschaften der Freundschaft“ – eine fast 500 Seiten starke<br />

Denk- und Dankschrift vieler Menschen, die ihn in seinem Leben<br />

begleitet haben, Schauspieler, Diplomaten, Schriftsteller, Wissenschaftler<br />

und Journalisten. Wissen will geteilt sein.<br />

„Nur in der Freundschaft können wir sein, wie wir sind“, sagt<br />

er. Diese Haltung will er weitertragen in Essays und Reden, bei<br />

der Puschkin-Gesellschaft, vor Goethe-Kennern, an Rednerschulen.<br />

So hielt er eine Ansprache vor dem niedersächsischen Landtag<br />

in Hannover zur Einweihung des Denkmals der „Göttinger<br />

Sieben“, jener streitbaren Akademiker, die 1837 in Freundschaft<br />

vereint für Gerechtigkeit kämpften. Die Figuren zeigen nicht die<br />

Gesichtszüge der historischen Persönlichkeiten, sondern von Menschen,<br />

die den Geist der Sieben in der Gegenwart weitertragen. In<br />

Engelhards Bibliothek steht ein Abguss eines der sieben Antlitze.<br />

Es ist tatsächlich sein eigenes.<br />

Bertram weiss<br />

arbeitet als freier Autor in Hamburg. Die Macht<br />

der Rede lernte er beim Namensgeber dieses<br />

Magazins kennen – und sucht seither nach<br />

den wenigen Erben dieser großen Kunst<br />

Fotos: Frank Schoepgens für <strong>Cicero</strong>, Privat (Autor)<br />

134 <strong>Cicero</strong> 9.2013


erste wahl!<br />

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136 <strong>Cicero</strong> 9.2013


D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />

Seltsam wird’s am Ende<br />

Seinen letzten Tag will Aki Kaurismäki in der Heimat in einer<br />

Waldhütte verbringen. <strong>Rot</strong>wein muss dabei sein, um den Winter<br />

zu ertragen. Denn in Finnland ist fast immer Winter<br />

Foto: Nicolas Guerin/Contour by Getty Images<br />

I<br />

n meinem Film „I Hired A Contract<br />

Killer“ hat der legendäre<br />

Joe Strummer einen Gastauftritt.<br />

In einer Kneipenszene steht er allein<br />

auf der Bühne, spielt Gitarre und singt<br />

mit voller Inbrunst den Song „Burning<br />

Lights“. Dieser Song handelt von Einsamkeit<br />

und davon, wie schwierig es ist,<br />

Spuren zu hinterlassen und jemanden zu<br />

finden, der einen versteht. Ich glaube, um<br />

Letzteres geht es im Leben. Ich bin jetzt<br />

56 und werde auf dieser Welt wohl nicht<br />

mehr Vater werden und Kinder großziehen.<br />

Aber ich habe eine tolle Frau gefunden,<br />

die mich immerhin so gut ausstehen<br />

kann, dass sie offenbar wirklich dazu bereit<br />

ist, mit mir alt zu werden.<br />

An meinem letzten Tag wird sie sicher<br />

jede Sekunde an meiner Seite sein. Wir<br />

leben seit 20 Jahren in Portugal, aber es<br />

wäre schön, so kurz vor Schluss wieder in<br />

die Heimat zurückzukehren und dort zu<br />

sein, wo alles anfing. Ich bin in Südfinnland<br />

geboren und in einem Dorf namens<br />

Leitsamaa aufgewachsen. Die Seenlandschaften<br />

dort sind malerisch. Wenn ich<br />

das Glück hätte, das Zeitliche im Sommer<br />

segnen zu dürfen, dann würde ich<br />

mir mit meiner Frau in einer hellen Mittsommernacht<br />

ein Boot nehmen und raus<br />

aufs Wasser paddeln. Wir würden bloß<br />

schweigen und die Natur genießen, frei<br />

von Trauer oder Sentimentalität, die ich<br />

sowieso schlecht aushalte – das wäre das<br />

perfekte Ende.<br />

Große Kunst, weiß der Regisseur<br />

Aki Kaurismäki, braucht nicht viele<br />

Worte. Seine Filme sind skurrile Epen<br />

der Schweigsamkeit, Dramen voller<br />

Lakonie – ob „Ariel“, „Das Mädchen<br />

aus der Streichholzfabrik“, „Wolken<br />

ziehen vorüber“ oder „Lichter der<br />

Vorstadt“. Wer hier plappert, der<br />

verliert. Wer träumt, wird gerettet<br />

www.cicero.de/24stunden<br />

Aber wahrscheinlich habe ich Pech<br />

und sterbe im Winter, was sehr wahrscheinlich<br />

ist, da die finnischen Winter<br />

in der Regel zehn Monate dauern. Dann<br />

bliebe uns nichts anderes übrig, als uns in<br />

einer Waldhütte einzuschließen, ein paar<br />

Kerzen anzuzünden und uns mit gutem<br />

portugiesischen <strong>Rot</strong>wein hemmungslos<br />

zu betrinken. Die Trinkerei gehört zu den<br />

Dingen in meinem Leben, die ich bereue,<br />

aber so kurz vor dem Ende ergibt es keinen<br />

Sinn mehr, damit aufzuhören. Was<br />

ich noch mehr bereue, ist die Tatsache,<br />

dass ich nie das Spielen eines Musikinstruments<br />

erlernt habe. Im nächsten Leben<br />

werde ich meinen Freund Joe Strummer<br />

bitten, mir das bei ein paar Gläsern<br />

Wodka beizubringen.<br />

Joe ist schon seit etwa zehn Jahren tot.<br />

Er war kaum älter, als ich es heute bin, als<br />

er aus dem Nichts an einem Herzfehler<br />

starb. Der Sensenmann kam viel zu früh,<br />

doch manchmal denke ich: Vielleicht war<br />

es nicht der schlechteste aller Abtritte.<br />

Ich glaube, ich würde mir auch wünschen,<br />

dass es ganz überraschend mit einem<br />

Schlag vorbei ist. Sein eigenes Ende<br />

zu kennen und dabei zuzusehen, wie die<br />

verbleibenden Körner durch die Sanduhr<br />

rauschen, macht mir Angst und entspricht<br />

nicht meinem fatalistischen Naturell.<br />

Sollte man die letzte Zeit, die einem<br />

bleibt, wirklich planen?<br />

Der Film, in dem Joe in der Bar auftritt,<br />

handelt von einem Typ, der sich<br />

umbringen will, nachdem er seinen Job<br />

verloren hat. Weil er zu ungeschickt und<br />

feige ist, beauftragt er einen Profikiller,<br />

der den Job übernehmen soll. Ausgerechnet<br />

dann verliebt sich der Mann in eine<br />

Frau und fasst plötzlich wieder neuen Lebensmut.<br />

Das Dumme ist: Der Deal mit<br />

dem Killer steht bereits.<br />

Den eigenen Selbstmord durch einen<br />

Killer zu arrangieren, ist ähnlich kurios<br />

und unmöglich, wie die letzten 24 Stunden<br />

seines Lebens zu planen. Wer weiß<br />

denn, was einem selbst im letzten Moment<br />

noch widerfahren kann? Wenn<br />

ich eines in meinem Leben gelernt habe,<br />

dann dass die seltsamsten Dinge immer<br />

geschehen, wenn man am wenigsten damit<br />

rechnet. Der Tod macht da sicher<br />

keine Ausnahme.<br />

Aufgezeichnet von Claas Relotius<br />

9.2013 <strong>Cicero</strong> 137


C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />

Wahlboykott<br />

Von Alexander Marguier<br />

B<br />

esonders originell ist es wirklich nicht, sich über<br />

Wahlkämpfe zu mokieren. Es ist auch nicht besonders<br />

schwierig, denn Politiker neigen in ihrem Kampf um<br />

die Gunst der Wähler dazu, sich zu verstellen, um möglichst<br />

„volksnah“ zu wirken. Volksnähe ist in Wahlkampfzeiten der<br />

Goldstandard; wer auch nur den Anschein von Abgehobenheit<br />

erweckt, kann es eigentlich gleich sein lassen mit der Kandidatur.<br />

Dabei hat Politik, wenn wir ehrlich sind, ziemlich viel mit<br />

Abgehobenheit zu tun. Wer nicht abhebt und nur am Boden<br />

bleibt, verliert nämlich schnell den Überblick übers Große und<br />

Ganze. Also kommt es in einer Demokratie darauf an, dem eigenen<br />

Führungsanspruch zur Förderung der Verdaulichkeit eine<br />

hohe Dosis an Leutseligkeit beizumischen.<br />

Da Leutseligkeit nicht jedem Politiker liegt, erst recht nicht<br />

denen aus der ersten Reihe, wirken die Versuche einer Suggestion<br />

von Volksnähe oft ungelenk und tapsig, schlimmstenfalls<br />

sogar unauthentisch. Ein Kanzlerkandidat in Anzug und Krawatte<br />

auf Stimmenfang am Ostseestrand? Haha, wie bescheuert<br />

ist das denn! Weil es in Wahlkämpfen noch dazu und naturgemäß<br />

für die Parteien erforderlich ist, ihre programmatischen<br />

Ziele auf bündige und leicht verständliche Slogans einzudampfen,<br />

liegt stets der Vorwurf von Wählertäuschung (wenn nicht<br />

der Volksverdummung) in der Luft. Wahlkämpfe sind deswegen<br />

in einem demokratisch organisierten Gemeinwesen als Phasen<br />

der inhaltlichen Verdichtung und Verkürzung auch ein beliebtes<br />

Spielfeld für die Feinde der Demokratie. Zwar dürften sich<br />

die wenigsten Politikverächter und -verächtlichmacher selbst als<br />

Anti-Demokraten sehen. Dabei betreiben sie aber zumindest deren<br />

Geschäft.<br />

Der politikverachtende Impuls gehört in manchen linksintellektuellen<br />

Zirkeln inzwischen schon zum täglichen Sport. Da<br />

reicht es dann nicht mehr, einfach nur die bestehende Regierung<br />

zum Teufel zu wünschen; es wird – mal mehr, mal weniger<br />

unverhohlen – die Systemfrage aufgeworfen. Freitag-Herausgeber<br />

Jakob Augstein zum Beispiel stellt neuerdings ganz kokett<br />

das staatliche Gewaltmonopol infrage. Und Harald Welzer, Bestsellerautor,<br />

Professor für Sozialpsychologie und als Feuilleton-<br />

Darling bestens vertraut mit den entsprechenden publizistischen<br />

Verbreitungskanälen, durfte unlängst im Spiegel erklären, warum<br />

er die bevorstehende Bundestagswahl boykottieren wird. Kern<br />

dieses in seiner Arroganz maßlosen Pamphlets ist die Feststellung,<br />

dass keine der zur Wahl stehenden Parteien willens oder in<br />

der Lage sei, sich drängenden Zukunftsfragen zu stellen – ob auf<br />

wirtschaftlichem, sozialem oder ökologischem Gebiet. Das mag<br />

man Ignoranz nennen oder einfach nur professorales Stammtischgeschwätz.<br />

Eine Gefahr ist es allemal, wenn akademisch nobilitierten<br />

Feinden der Demokratie der Weg in den Medienmainstream<br />

geebnet wird. Dabei bemüht sich Welzer keineswegs,<br />

seine Gesinnung zu verbrämen: Politiker sind bei ihm „Politikdarsteller“,<br />

die Zustimmung der SPD zur Eurorettung bezeichnet<br />

er abschätzig als „eine Art Großsimulation staatsmännischer<br />

Verantwortung“. Und einzelne Parteien taugen nicht einmal<br />

mehr als das „kleinere Übel“, sondern werden von ihm unter<br />

dem Kampfbegriff „CDUFDPSPDGRÜNELINKE“ als amorphe<br />

Masse abgetan. Mehr Herablassung war selten.<br />

Was tut man eigentlich in einer Demokratie, wenn man sich<br />

von den bestehenden Parteien nicht vertreten fühlt? Eine neue<br />

Partei gründen beispielsweise, so wie die Piraten es getan haben.<br />

Oder eine existierende Partei von innen heraus verändern. In<br />

jedem Fall braucht es Engagement, um die Dinge zu bewegen.<br />

Wahlboykotte sind so ziemlich das Gegenteil davon. Dass Welzer<br />

mit seiner dümmlich-trotzigen Verweigerungshaltung auch<br />

noch glaubt, ein Signal gegen die „Indolenz gegenüber der Demokratiegefährdung“<br />

in diesem Land zu setzen, zeigt das ganze<br />

Ausmaß seiner Hybris. Oder ist es wirklich nur Naivität?<br />

Als Rechtsaußen-Partei werben „Die Republikaner“ derzeit<br />

übrigens mit einem Plakat, das vier entblößte Hinterteile in den<br />

Farben <strong>Rot</strong>, Gelb, <strong>Grün</strong> und Schwarz zeigt – garniert mit dem<br />

Spruch „Welchen A.... wählen Sie nächstes Mal?“ Das sind exakt<br />

jene Affekte, wie auch Harald Welzer sie bedient.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />

Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe erscheint aufgrund der Bundestagswahl erst am 26. September<br />

138 <strong>Cicero</strong> 9.2013


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