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Dezember 2012<br />
8 EUR / 12,50 CHF<br />
www.cicero.de<br />
<strong>Stille</strong><br />
<strong>Macht</strong><br />
Warum erfolgreiche Politiker uns<br />
das Wichtigste verschweigen<br />
Ist Gott ein Elefant?<br />
Über Sinn und<br />
Unsinn von Religion<br />
Die Kunst des Geldes<br />
Wie Millionäre den<br />
Museen Konkurrenz machen<br />
Sterben für Frankreich<br />
Was haben deutsche Soldaten in<br />
Mali zu suchen?<br />
Österreich: 8 EUR, Benelux: 9 EUR, Italien: 9 EUR<br />
Spanien: 9 EUR, Portugal (Cont.): 9 EUR, Finnland: 12 EUR
Barcelona, Dezember 1957.<br />
Die erste Seite<br />
In jenem Jahr brachen zur<br />
Weihnachtszeit alle Tage bleiern und raureifgetüncht<br />
an. Bläuliches Halbdunkel tönte die<br />
Stadt, und die bis zu den Ohren eingemummten<br />
Menschen zeichneten mit ihrem Atem Dampfspuren<br />
in die Kälte. In diesen Tagen blieben<br />
nur wenige vor dem Schaufenster von Sempere<br />
& Söhne stehen, um sich in seine Auslagen<br />
zu vertiefen, und noch weniger rafften sich<br />
dazu auf, einzutreten und nach dem verlorenen<br />
Buch zu fragen, das ein Leben lang auf sie<br />
gewartet hatte und dessen Verkauf, von<br />
seinem poetischen Rang einmal abgesehen,<br />
den misslichen Finanzen der Buchhandlung<br />
ein wenig hätte aufhelfen können.<br />
»Ich glaube, heute ist es so weit. Heute wird<br />
sich unser Schicksal wenden«, verkündete<br />
ich, beflügelt vom ersten Kaffee des Tages –<br />
reiner Optimismus in flüssiger Form. (…)<br />
Die Glocke über der Eingangstür klingelte<br />
träge. »Guten Tag«, hörte ich von der<br />
Schwelle her eine tiefe, schrundige Stimme.<br />
Im Gegenlicht glich seine Silhouette einem<br />
vom Wind gepeitschten Baumstamm. Er trug<br />
einen altmodisch geschnittenen dunklen<br />
Anzug und gab, wie er sich so auf einen Stock<br />
stützte, eine finstere Gestalt ab. Unübersehbar<br />
hinkend, tat er einen Schritt vorwärts. Im<br />
hellen Licht der Lampe über dem Ladentisch<br />
zeigte sich ein von der Zeit zerfurchtes Gesicht.<br />
Der Besucher musterte mich in aller Ruhe;<br />
sein geduldig berechnender<br />
Blick erinnerte an<br />
einen Raubvogel. »Sind<br />
Sie Señor Sempere?«<br />
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C i c e r o | A t t i c u s<br />
Von: <strong>Cicero</strong><br />
An: Atticus<br />
Datum: 22. November 2012<br />
Thema: Die <strong>Macht</strong> der <strong>Stille</strong><br />
Schwätzer und Schweiger<br />
Titelbild: Olaf Hajek; Illustration: Christoph Abbrederis<br />
E<br />
hrlich gesagt: Unsere Zunft lebt von den Schwätzern. Der politischpublizistische<br />
Betrieb belohnt das flotte Wort. Ganze Karrieren sind auf der<br />
Gabe aufgebaut, jederzeit das passende Bonmot ausstoßen zu können. Und<br />
das Phänomen ist beileibe nicht nur auf Politiker beschränkt.<br />
Auch wir journalistischen Wortarbeiter stehen immer in dieser Gefahr. <strong>Cicero</strong><br />
bemüht sich gleichwohl, jeden Monat das Geschwätz vom Gehalt zu trennen, wie<br />
den Dotter vom Eiweiß beim Plätzchenbacken. Zu Weihnachten, dem Fest der <strong>Stille</strong>,<br />
beschäftigen wir uns deshalb mit der Kunst des Schweigens in der Politik. Dafür<br />
hat der Illustrator unseres Titelbilds, Olaf Hajek, zwei, wie wir finden, bezaubernde<br />
Stillleben geschaffen, die in limitierter Auflage als <strong>Cicero</strong>-Kunstdruck erscheinen<br />
werden (Details Seite 27).<br />
Eines der beiden Motive Hajeks zeigt die Bundeskanzlerin als Schweigerin im<br />
Walde. Die Wahl des Künstlers ist kein Zufall. Niemand im politischen Betrieb<br />
hat das Konzept des kommunikativen Minimalismus so perfektioniert wie Angela<br />
Merkel. Das hat ihr den Tadel des Bundespräsidenten eingetragen, der von der<br />
Kanzlerin gefordert hat, sie müsse ihre Politik mehr erklären. Es stimmt ja auch:<br />
Merkel redet nicht gern, schon gar nicht pathetisch. Am Tag, als Barack Obama seine<br />
Wiederwahl als Präsident (ab Seite 58) mit einer fulminanten Rede selbst bejubelte,<br />
hielt Merkel einen ihrer öden Europa-Vorträge in Brüssel. Wieder keine „Erzählung“,<br />
wie sie einmal ihr Herausforderer Peer Steinbrück verlangt hat.<br />
Jetzt konkurrieren also zwei Modelle um das Amt des Kanzlers in Deutschland:<br />
Peer Steinbrück, flinkzüngiger Scharfredner, der keine Pointe auslässt, und Angela<br />
Merkel, die lieber einmal schlecht aussieht in einem Schlagabtausch, als sich zu<br />
einem unbedachten Wort hinreißen zu lassen. Thomas de Maizière, seit Jahren<br />
einer der engsten Vertrauten der Kanzlerin, bricht in <strong>Cicero</strong> sein Schweigen –<br />
und redet über die Vorzüge der Verschwiegenheit in der Politik (ab Seite 20),<br />
während Gertrud Höhler die demokratischen Schattenseiten des Merkel’schen<br />
Schweigekartells ausleuchtet.<br />
Georg Löwisch ruft Fälle in Erinnerung (ab Seite 36), in denen unbedachte Worte<br />
ganze Karrieren beendeten. „Si tacuisses …“, sagt der Lateiner in solchen Fällen.<br />
„Loose lips sink ships“, warnt der Angelsachse vor den Folgen der Geschwätzigkeit.<br />
Manchmal sinkt dabei eben sogar der eigene Kahn.<br />
In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />
der römische Politiker und Jurist<br />
Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />
Freund Titus Pomponius Atticus<br />
das Herz ausgeschüttet<br />
Mit besten Grüßen<br />
Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 5
C i c e r o | I n h a l t<br />
Titelthema<br />
20<br />
„Schweigen ist was schönes“<br />
Verteidigungsminister Thomas de Maizière über die Kunst der Diskretion<br />
Interview Georg Löwisch und Christoph Schwennicke<br />
28<br />
<strong>Stille</strong> <strong>Macht</strong><br />
In Angela Merkels Schweigekartell<br />
gelten zu viele Worte als Verrat<br />
von Gertrud Höhler<br />
36<br />
Fünf schlechte Schweiger<br />
Si tacuisses: Spitzenpolitiker, die sich<br />
selbst ins Verderben geredet haben<br />
von Georg Löwisch<br />
illustration: Olaf Hajek<br />
6 <strong>Cicero</strong> 12.2012
I n h a l t | C i c e r o<br />
50 Ende der Egopolitik<br />
90<br />
Öl in Brandenburg<br />
66<br />
Rebellen in Mali<br />
BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />
40 | Farblos mit Biss<br />
Der Sozialdemokrat Stephan Weil liegt<br />
im Rennen um Niedersachsen vorn<br />
Von Hartmut Palmer<br />
52 | rechtsaussen der Linken<br />
Frankreichs Innenminister Manuel Valls<br />
macht seinem Präsidenten Konkurrenz<br />
Von Stefan Brändle<br />
84 | Er setzt Energie frei<br />
Der Chemiker Robert Schlögl will mit<br />
Forschung das Energieproblem lösen<br />
Von Christian Schwägerl<br />
Fotos: Sebastien Dufour/DDP Images/SIPA, Jens Gyarmaty; Illustrationen: Jan Rieckhoff, Christoph Abbrederis<br />
42 | Der Mann fürs Atomklo<br />
Alt-Öko Michael Sailer kümmert sich für<br />
die Regierung um die Endlagerfrage<br />
Von Christian Schwägerl<br />
44 | Die Härte der Prinzessin<br />
Die künftige Mainzer Regierungschefin<br />
Malu Dreyer hat eine eiserne Disziplin<br />
Von Georg LÖwisch<br />
47 | Frau Fried fragt sich …<br />
… warum der Mythos von der guten<br />
Mutter noch solche Blüten treibt<br />
Von Amelie Fried<br />
48 | Braune Flecken<br />
Die Generalbundesanwälte Buback und<br />
Rebmann und ihre NS-Vergangenheit<br />
Von Michael Sontheimer<br />
50 | Vom ich zum wir<br />
Dem Höhenflug der Ich-Parteien folgt<br />
die Renaissance der Volksparteien<br />
Von Frank A. Meyer<br />
54 | Einzelkämpferin<br />
im Seidenkostüm<br />
Die Rebellin Mamphela Ramphele<br />
kritisiert die südafrikanische Regierung<br />
Von Claudia Bröll<br />
56 | geheimnisvoller Stratege<br />
Alex Salmond kämpft für ein<br />
unabhängiges Schottland<br />
Von Sebastian Borger<br />
58 | Die Welt sucht einen Manager<br />
Die außenpolitische Agenda des<br />
alten und neuen US-Präsidenten<br />
Von Jan Techau<br />
60 | Verhängnisvolle Affären<br />
Eine kurze Geschichte der US-Skandale<br />
66 | UNter Gangstern und Dschihadis<br />
Was geschieht wirklich in Mali?<br />
Von MArc Engelhardt<br />
74 | Die StraSSe der Götter<br />
Religiöse Vielfalt an der Soho Road<br />
im britischen Birmingham<br />
Von Liz Hingley<br />
82 | Mehr Religion Wagen<br />
Ein Loblied auf die Kraft des Glaubens<br />
Von Alexander Kissler<br />
83 | In die Schranken weisen<br />
Die Religionen müssen gezähmt werden<br />
Von Richard Herzinger<br />
86 | In Aller Munde<br />
Die Unternehmerin Margitta Siegel<br />
verkauft Zahnbürsten in die ganze Welt<br />
Von Steffen Uhlmann<br />
88 | Steinbrücks Gönner<br />
Bernd Wilmert, Bochums Stadtwerke-<br />
Chef, zahlte ein folgenreiches Honorar<br />
Von Stefan Laurin<br />
90 | Öl unterm Acker<br />
Nicht Texas, sondern Brandenburg:<br />
Ein Ort im Osten bohrt nach Erdöl<br />
Von Stefan Tillmann<br />
96 | Die verlorene Generation<br />
Radikalisiert sich Europas arbeitslose<br />
Jugend wie in der Weimarer Republik?<br />
Von Christoph Stölzl<br />
102 | Mathe mit Merkel<br />
Deutschland schurigelt Schuldner in<br />
Europa und gönnt sich selbst Wohltaten<br />
Von Eric Bonse<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 7
C i c e r o | I n h a l t<br />
cicero online<br />
116 Kunstsammler-Paar Boros<br />
Aktuell:<br />
CDU und SPD rüsten sich<br />
für den WahlkampF<br />
Erst trifft sich Anfang<br />
Dezember die CDU in<br />
Hannover zum Parteitag,<br />
anschließend die SPD. Lesen<br />
Sie bei <strong>Cicero</strong> Online, wie<br />
sich die beiden Parteien für<br />
das Wahljahr aufstellen.<br />
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Salon<br />
106 | Erfahren, um frei zu sein<br />
Achim Kaufmann ist einer der<br />
aufregendsten Jazzpianisten<br />
Von Tobias Lehmkuhl<br />
108 | Ein Clown fürs Leben<br />
Der Regisseur Herbert Fritsch ist mit<br />
60 Jahren ein großes Nachwuchstalent<br />
Von Irene Bazinger<br />
110 | „Lasst mich euer Monster sein“<br />
Emir Kusturica spricht im Interview über<br />
seine Verachtung für Hollywood<br />
Von Claas Relotius<br />
116 | Die <strong>Macht</strong> der Sammler<br />
Reiche Kunstliebhaber machen den<br />
Museen Konkurrenz<br />
Von Malte Herwig<br />
129 | Benotet<br />
Unser Kolumnist spürt seinem<br />
Instrument, der Geige, nach<br />
Von Daniel Hope<br />
130 | Man sieht nur, was man sucht<br />
Ghirlandaios Weihnachtsgemälde<br />
„Anbetung der Hirten“<br />
Von Beat Wyss<br />
132 | Europa sitzt im falschen Film<br />
Wie die Krise unseres Kontinents<br />
sich auf der Leinwand zeigt<br />
Von Christiane Peitz<br />
139 | Küchenkabinett<br />
Michelin-Sterne sagen wenig aus über<br />
den Zustand der Realgastwirtschaft<br />
Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />
140 | Bibliotheksporträt<br />
Die legendäre Sammlung des<br />
Kölner Verlegers Walther König<br />
Von Ulrich Clewing<br />
144 | Das Schwarze sind<br />
die Buchstaben<br />
Zwei Romane und ein Comic helfen<br />
dabei, die Orientierung zu verlieren<br />
Von Robin Detje<br />
146 | Die letzten 24 Stunden<br />
Sex in der Hängematte, aufrecht stehend<br />
Von Denis Scheck<br />
Standards<br />
Atticus —<br />
Von Christoph Schwennicke — seite 5<br />
Stadtgespräch — seite 10<br />
Forum — seite 14<br />
Impressum — seite 136<br />
Postscriptum —<br />
Von Alexander Marguier — seite 148<br />
Die nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />
erscheint am 20. Dezember 2012<br />
Debatte:<br />
Kommt jetzt das<br />
Öko-Bürgertum?<br />
Die Sehnsucht nach Werten<br />
in der Gesellschaft wächst.<br />
Doch das neue Bürgertum<br />
setzt auf Nachhaltigkeit<br />
und nicht auf Wachstum,<br />
auf ökologische Politik<br />
und nicht auf christliche.<br />
Sind die Grünen die<br />
neuen Konservativen?<br />
www.cicero.de/Dossier/<br />
Oekobuergertum<br />
Unterhaltsam:<br />
Karikaturen der Woche<br />
Jeden Samstag präsentieren<br />
wir Ihnen den heiteren<br />
Wochenrückblick aus der<br />
Feder von Burkhard Mohr<br />
und Heiko Sakurai.<br />
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Sache:<br />
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Fotos: Oliver Mark, Archiv; Illustration: Christoph Abbrederis<br />
8 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />
auch politiker erzählen gerne Märchen. Für Sinti und Roma gibt es ein neues<br />
Denkmal, sie werden aber weiter abgeschoben. Ein neues Gesetz schützt Pferde<br />
nicht vor dem Schenkelbrand, ein anderes warnt vor der Weihnachtspause<br />
NEUES VOM NEUBAU:<br />
BND-ZENTRALE FLOPPT<br />
A<br />
lle zerreissen sich das Maul über<br />
das Berliner Flughafen-Debakel<br />
und verspotten die lokalen Berliner<br />
Obrigkeiten, weil die es nicht geschafft<br />
haben, das Riesenbauwerk rechtzeitig fertigstellen<br />
zu lassen. Dass gleichzeitig das<br />
größte Bauvorhaben des Bundes, der Neubau<br />
des Bundesnachrichtendienstes BND<br />
an der Chausseestraße, floppt und immer<br />
teurer wird, geht im allgemeinen Gelächter<br />
über „die da oben“ unter.<br />
Nun aber ist es amtlich: Die neue Geheimdienstzentrale<br />
wird nicht nur später<br />
fertig als geplant, sondern auch deutlich<br />
teurer. Ursprünglich waren 720 Millionen<br />
Euro eingeplant, nun musste der Haushaltsausschuss<br />
des Bundestags – selbstverständlich<br />
in geheimer Sitzung – weitere<br />
100 Millionen bewilligen. Der Grund:<br />
Pfusch am Bau. Insgesamt zwölf Kilometer<br />
bereits eingebaute Lüftungskanäle müssen<br />
wieder herausgerissen und neu installiert<br />
werden, weil sie nicht fachgerecht verlegt<br />
worden sind.<br />
Dadurch verzögert sich natürlich auch<br />
die Fertigstellung. Nach neuesten Schätzungen<br />
werden die Geheimdienstleute<br />
nicht 2014, sondern frühestens 2015 dort<br />
einziehen können. Die Kosten für den Berliner<br />
Neubau und den Umzug aus dem<br />
bayerischen Pullach (bei München) werden<br />
inzwischen auf 1,4 Milliarden Euro geschätzt.<br />
Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach,<br />
Vorsitzender des Innenausschusses,<br />
rechnet sogar mit 1,5 Milliarden – mehr als<br />
doppelt so viel, wie ursprünglich geplant.<br />
Aber selbst wenn die Bauleute es schaffen,<br />
die neuen Termine einzuhalten: Von einer<br />
richtigen BND‐Zentrale kann dann immer<br />
noch nicht die Rede sein. 1000 der insgesamt<br />
4000 Agentenführer und Spione, die<br />
bislang weit abgelegen in einem eingezäunten<br />
Wald bei Pullach ihren Dienst versehen,<br />
bleiben auf jeden Fall in Bayern – Edmund<br />
Stoiber sei Dank.<br />
Der frühere Bayern-Premier setzte sich<br />
2006 nämlich mit seiner dringenden Bitte<br />
durch, nicht alle Beamten aus Bayern abzuziehen.<br />
Stoiber, der in Brüssel dafür sorgen<br />
soll, dass bei der EU überflüssige Bürokratie<br />
abgebaut und Kosten eingespart werden,<br />
verursachte dadurch Mehrkosten in Höhe<br />
von etwa 53 Millionen Euro. Denn der ursprüngliche<br />
Plan, die Baukosten durch den<br />
Verkauf der alten Pullacher Grundstücke<br />
zu mindern, ist dank seiner Intervention<br />
Makulatur. hp<br />
Mutiger Zwischenruf:<br />
Tränen und Taten<br />
E<br />
s wurden schöne Reden gehalten<br />
und auch Tränen vergossen bei der<br />
Einweihung des Berliner Denkmals<br />
für die vielen Hunderttausend Sinti,<br />
Roma und Jenische, die von den Nazis verfolgt,<br />
sterilisiert, deportiert und ermordet<br />
worden waren. Die Spitzen des Staates –<br />
Bundespräsident, Bundestagspräsident<br />
und Bundeskanzlerin – und der Stadt waren<br />
dabei, als in Anwesenheit von Überlebenden,<br />
Angehörigen und Nachkommen<br />
der Opfer das von dem israelischen<br />
Künstler Dani Karavan entworfene Mahnmal<br />
unweit des Reichstags feierlich seiner<br />
Bestimmung übergeben wurde. „Jedes einzelne<br />
Schicksal erfüllt uns mit tiefer Trauer<br />
und Scham“, sagte Angela Merkel. Dass ihr<br />
Innenminister gerade erst den „Asylmissbrauch“<br />
jener Roma beklagt hat, die aus<br />
Serbien und Mazedonien nach Deutschland<br />
eingewandert sind und massenweise<br />
wieder abgeschoben werden, kam in den<br />
illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />
10 <strong>Cicero</strong> 12.2012
C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />
Nachlese<br />
Tick + Tack = Text<br />
Wir gratulieren den Kollegen von Focus, die sich von <strong>Cicero</strong> zu einer sehr schönen<br />
Reportage über Berliner Spitzenpolitiker und deren Uhren inspirieren ließen<br />
„Metronome der <strong>Macht</strong>“ überschrieb <strong>Cicero</strong> die Uhrenreportage im Augustheft (Ausriss links). Im November zog Focus nach (rechts)<br />
Wir können den Kollegen nicht böse<br />
sein, dass sie sich von uns zu einer<br />
schönen Reportage über Berliner Spitzenpolitiker<br />
und deren Uhren haben<br />
inspirieren lassen. Schließlich<br />
sind wir keine Universität, die darüber<br />
wachen muss, dass jede bei ihr abgelieferte<br />
Doktorarbeit eine wissenschaftliche<br />
Eigenleistung und frei von<br />
Plagiaten ist. Wir sind ein Monatsmagazin,<br />
das gekauft und gelesen werden<br />
will. Deshalb haben wir uns gefreut,<br />
dass das Münchener Nachrichtenmagazin<br />
Focus sich in seiner Ausgabe<br />
vom 5. November 2012 der Frage zugewandt<br />
hat, welche Uhren Berliner Spitzenpolitiker<br />
tragen und was diese über<br />
ihre Chronometer sagen. Die gleiche<br />
Idee hatten wir im Sommer auch, und<br />
nahezu alle Politiker, mit denen wir<br />
damals über ihre Uhren gesprochen<br />
hatten, kamen jetzt im Focus zu Wort,<br />
sogar mit denselben Antworten, wobei<br />
Focus an einer Stelle tatsächlich <strong>Cicero</strong><br />
als Quelle erwähnte. Die Münchener<br />
Kollegen fanden offenbar auch unsere<br />
Überschrift „Metronome der <strong>Macht</strong>“<br />
so einleuchtend, dass sie diese gleich<br />
mit übernahmen. Wir betrachten das<br />
publizistische Duplikat als Kompliment<br />
und danken recht herzlich. Wer<br />
das Original nachlesen will:<br />
www.cicero.de/Metronome hp<br />
Prophetische Meisterleistung<br />
Wie Bild es schaffte, eine Prügelei vorherzusehen<br />
Ende Oktober speist Griechenlands ehemaliger Ministerpräsident<br />
Giorgos Andrea Papandreou mit seiner Frau<br />
Ada im Berliner Restaurant „ChénChè“. Plötzlich stürmen<br />
wütende griechische Studenten herein, beschimpfen<br />
den Ex-Premier lautstark, prügeln ihn fast aus dem Lokal.<br />
So liest sich der Artikel von Paul Ronzheimer, erschienen<br />
am 30. Oktober 2012 in der Bild-Zeitung. Bemerkenswert,<br />
wie Deutschlands Boulevardblatt Nummer eins dieser<br />
Scoop gelang: hellseherisch, zur rechten Zeit am rechten<br />
Ort und dann auch noch mit gezückter Kamera, die gestochen<br />
scharfe Bilder von dem flüchtenden Papandreou und<br />
seinen Verfolgern einfing. Eine Reporter-Meisterleistung.<br />
Dass der diensthabende Kellner den in Bild wiedergegebenen<br />
Dialog zwischen Papandreou und den Griechen nicht<br />
bestätigen kann – geschenkt. Dass er außerdem nichts vom<br />
„spontanen Applaus“ der Gäste mitbekam – egal. Dass es<br />
nicht etwa 15 Randalierer waren, sondern höchstens sieben<br />
– man will mal nicht kleinlich sein. Und dass sich der<br />
Autor der Zeilen gar nicht in Berlin aufhielt, sondern – wie<br />
er selbst auf Nachfrage erklärt – in Athen, lässt aufhorchen.<br />
Insgesamt also eine prophetische Meisterleistung wie nur<br />
Bild sie zustande bringt – preisverdächtig! jill<br />
In eigener SaChe<br />
Multiminister Söder<br />
Der bayerische CSU-Politiker Markus Söder ist ein umtriebiger<br />
Mann mit vielen Eigenschaften. Er hatte schon einige<br />
Ämter inne. Dass wir ihn im Novemberheft einmal (zutreffend)<br />
als Finanz- und einmal (fälschlich) als Kultusminister<br />
tituliert haben, war eine bedauerliche, aber erklärbare Fehlleistung:<br />
Wir trauen ihm einfach alles zu.<br />
Die Redaktion<br />
12 <strong>Cicero</strong> 12.2012
offiziellen Reden nicht vor – bis sich eine<br />
Frau zu Wort meldete, die gar nicht auf der<br />
Rednerliste stand: „Aufhören mit den Abschiebungen“,<br />
rief sie laut und vernehmlich,<br />
als Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />
ihre Ansprache beendet hatte.<br />
Der Zwischenruf war die kürzeste<br />
Rede des Tages. Und vielleicht die mutigste,<br />
weil plötzlich die Diskrepanz zwischen<br />
Tränen und Taten sichtbar wurde.<br />
„Die toten Sinti und Roma haben jetzt<br />
ein Denkmal“, schrieb auch die Süddeutsche<br />
Zeitung, „die lebenden Sinti und<br />
Roma haben fast nichts; sie haben keine<br />
Arbeit, keine Wohnung, keinen Schutz<br />
und keine Hilfe. In Ungarn, Rumänien<br />
und Bulgarien, Mazedonien und Serbien<br />
werden sie schikaniert und verfolgt, in<br />
Deutschland und Frankreich kaserniert<br />
und abgeschoben.“ hp<br />
bis sehr gut. Warum das so sei, wusste er<br />
auch: Zu Weihnachten, da sitzen die Menschen<br />
zusammen und reden. Schlecht über<br />
die, die schlecht dastehen, gut über die, die<br />
gut dastehen. Vor einem Wahljahr ist eben<br />
alles politisch – auch Weihnachten. swn<br />
Sieg der Pferdelobby:<br />
Das Brandzeichen bleibt<br />
Westerwelle sind bekennende Pferdeliebhaber<br />
und gern gesehene Gäste in einschlägigen<br />
Reiter- und Züchterzirkeln. Zwei<br />
Monate nach Westerwelles Intervention<br />
steht nun fest, dass sich die Pferdelobby<br />
im Kabinett durchgesetzt hat. Der Schenkelbrand<br />
wird nicht verboten. hp<br />
Politiker Erzählen:<br />
mein Lieblingsmärchen<br />
illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />
Kauders Gesetz:<br />
Raus wie rein<br />
W<br />
er im politischen Berlin mitreden<br />
möchte, muss das Struck’sche<br />
Gesetz kennen. Der damalige<br />
SPD-Fraktionschef Peter Struck bezeichnete<br />
damit einmal den Umstand, dass kein<br />
Gesetz den Bundestag so verlasse, wie es<br />
hineingehe. Das Parlament könne Gesetzesvorhaben<br />
der rot-grünen Bundesregierung<br />
unter Gerhard Schröder jederzeit modifizieren.<br />
„Wir sind nicht deine Abnicker,<br />
Gerd“, hieß das. Während der Großen Koalition<br />
freundete sich Struck mit Unions-<br />
Fraktionschef Volker Kauder an. Und der<br />
hat jetzt seinerseits eine Regel formuliert,<br />
die eigentlich das Gegenteil besagt: das<br />
Kauder’sche Gesetz. Es gehe auf Weihnachten<br />
zu, mahnte Kauder kürzlich seine Fraktionskollegen,<br />
und nach seiner Erfahrung<br />
gehe jeder so aus der Weihnachtspause heraus,<br />
wie er in sie hineingegangen sei. Wer<br />
schlecht reingehe, komme schlecht bis<br />
noch schlechter raus, wer gut reingehe, gut<br />
E<br />
s War Ja schon auffällig genug,<br />
dass Guido Westerwelle sich im<br />
Bundeskabinett plötzlich für einen<br />
Gesetzentwurf der Verbraucherschutzministerin<br />
Ilse Aigner interessierte.<br />
Es ging um den Tierschutz im Allgemeinen<br />
und um Pferde im Besonderen. Die<br />
CSU‐Ministerin wollte dem Drängen von<br />
Tierschützern und der EU-Kommission<br />
nachgeben und das Anbringen von Brandzeichen<br />
bei jungen Pferden verbieten.<br />
Statt mit dem heißen Eisen sollten die<br />
Fohlen künftig gemäß einer EU-Richtlinie<br />
nur noch mit einem Chip markiert<br />
werden, der unter der Haut implantiert<br />
wird. Das hatte die Pferdezüchter in Rage<br />
gebracht. „Ein Pferd ohne Brand ist wie<br />
nackt“, wetterte der Verbandsvorsitzende<br />
der 185 Hannoveraner Züchter aus dem<br />
Pferdeland Niedersachsen. Auch Westerwelle,<br />
eigentlich für die Außenpolitik<br />
zuständig, gab zu bedenken, dass das<br />
Chippen junger Fohlen keineswegs so unbedenklich<br />
sei, wie die Verbraucherschutzund<br />
Landwirtschaftsministerin glaube.<br />
Die Sache wurde nicht entschieden,<br />
sondern an das Ministerium zur weiteren<br />
Beratung zurückverwiesen. Eingeweihte<br />
wissen, weshalb der FDP-Außenminister<br />
sich am Kabinettstisch als Pferdeflüsterer<br />
engagierte: Sein Lebensgefährte Michael<br />
Mronz ist Geschäftsführer der Aachen<br />
Reitturnier GmbH, die den Concours<br />
Hippique International Officiel (CHIO)<br />
in Aachen ausrichtet, das größte Reit- und<br />
Springturnier in Deutschland. Mronz und<br />
P<br />
olitiker erzählen gerne Märchen<br />
– und zwar auch die echten<br />
der Gebrüder Grimm, wie eine<br />
Umfrage von <strong>Cicero</strong> Online ergab. Norbert<br />
Röttgen liebt das Rumpelstilzchen,<br />
Andrea Nahles geht mit Hänsel und Gretel<br />
am liebsten in den Wald, um die Hexe<br />
zu besiegen, und Thomas de Maizière fühlt<br />
sich zum tapferen Schneiderlein hingezogen.<br />
Den kleinen Edmund Stoiber faszinierten<br />
Dornröschen und die Frage: Wie<br />
ist es, hundert Jahre auszublenden? Linken-<br />
Chefin Katja Kipping identifiziert sich mit<br />
Hans im Glück, weil Glück über materiellen<br />
Besitz hinausgeht. Sagt sie.<br />
Die CSU-Abgeordnete Dorothee Bär<br />
erkennt sich im Schneewittchen wieder,<br />
die über Jahre hinweg einzige dunkelhaarige<br />
Disney-Prinzessin. Wolfgang Kubicki<br />
mag am liebsten Dornröschen, weil<br />
es von einem Prinzen wachgeküsst wird.<br />
Und Christine Haderthauer von der CSU<br />
liest besonders gern Allerleihrauh vor.<br />
Denn die Königstochter mit dem goldenen<br />
Haar war nicht nur schön, sondern,<br />
sagt Haderthauer, „auch klug und listig,<br />
hat, zugegeben, etwas getrickst, super Kleider<br />
getragen und am Ende den Richtigen<br />
bekommen.“ Da können wir nur hoffen,<br />
dass ein bisschen Fantasie aus den Kinderzimmern<br />
wieder zurückfließt in die Politik.<br />
Aber wirklich nur ein bisschen. Das ganze<br />
Märchen finden Sie unter: www.cicero.de/<br />
Maerchen. ts<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 13
C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />
Forum<br />
Über Hitlers Buch, <strong>Cicero</strong>s Kolumnen und Meckels Amerika<br />
Zum titelthema „Hitlers<br />
letzte Bombe – Warum ‚Mein<br />
Kampf‘ freigegeben werden<br />
muss“ / November 2012<br />
Nützliche<br />
Information<br />
Ihre Argumente für eine (möglichst gut kommentierte) Ausgabe von Hitlers „Mein<br />
Kampf“ ist völlig richtig, ich habe sie schon seit langem verlangt. Ein Beispiel für<br />
die nützliche Information, die eine Lektüre dieses Buches vermittelt, ist Hitlers<br />
völlig irrige Unterstellung, eine Eroberung von „Lebensraum“ auf Kosten<br />
Russlands sei durch die Oktoberrevolution und die Vertreibung der „nordischdeutschen<br />
Führungsschicht“ Russlands leicht geworden. Seit Jahrhunderten habe<br />
Russland „von diesem germanischen Kern seiner oberen leitenden Schichten“<br />
gezehrt. „An seine Stelle ist der Jude getreten.“ Sowenig Russland in der Lage<br />
sei, die Herrschaft des Juden abzuschütteln, so wenig sei der Jude in der Lage, das<br />
mächtige Reich auf Dauer zu erhalten. Deshalb sei Russland „reif zum Zusammenbruch“.<br />
Hitler nennt das einen „Fingerzeig des Schicksals“ und führt weiter aus:<br />
„Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die<br />
gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.“<br />
Schon allein diese Textpassagen sind ein gutes Beispiel für die irreführende Folge<br />
des antisemitischen Glaubens.<br />
Prof. Dr. Dr. h.c. Iring Fetscher, Frankfurt<br />
überflüssige diskussion<br />
Da kam Freude auf! Mein erster <strong>Cicero</strong><br />
im neuen Abonnement und dann das!<br />
Hitler auf dem Titelbild. Das erinnert<br />
mich sehr an den Spiegel: Wenn die Auflage<br />
sinkt, schnell Hitler aufs Titelbild.<br />
Jetzt ist die Freude dahin. Diese Diskussion<br />
braucht absolut niemand und am<br />
wenigsten ich.<br />
Wolfgang Strubel, Neu-Anspach<br />
wider das vergessen<br />
Meiner Meinung nach ist die rechtlich<br />
abgesicherte Veröffentlichung von „Mein<br />
Kampf“ auch die einzige und wichtigste<br />
Vorgehensweise wider das Vergessen der<br />
schrecklichsten Jahre Europas. Das krude<br />
Buch kann somit als immerwährende<br />
Warnung stehen, selbst dann, wenn es<br />
gar keine Holocaust-Überlebenden mehr<br />
gibt. Auch zur systematischen Judenver-<br />
nichtung müssen wir stehen, selbst wenn<br />
meine, die 1970er Generation, diese<br />
Politik nicht zu verantworten hat. Zu den<br />
Rechten und Neonationalisten kann ich<br />
nur sagen: Ihr seid und bleibt dumm!<br />
Giovanni Deriu jun., Schwäbisch Gmünd<br />
abstossendes bild<br />
Als ich das Titelbild sah, war ich verärgert.<br />
Mit Hitler lässt sich wohl Geld<br />
verdienen beziehungsweise die Auflage<br />
eines Magazins steigern. Anders kann<br />
ich es mir nicht erklären, dass Sie das<br />
Porträt eines der größten Verbrecher, die<br />
die Welt je sah, als Titelbild Ihres Magazins<br />
wählten, und auch innen springen<br />
einen alle paar Seiten Hitler‐Bilder und<br />
Hakenkreuze an. Erst kürzlich erhielt<br />
ich zudem die aufwendige Werbebroschüre<br />
einer renommierten Frankfurter<br />
Verlagsgruppe, in der sich ganzseitig<br />
ein gut aussehender hochadliger Herr<br />
zusammen mit einem geschönten<br />
Hitler‐Porträt ablichten ließ als Anreiz,<br />
sein kultur- oder rezeptionsgeschichtliches<br />
Werk über Adolf Hitler (mit einem<br />
Vorwort von Kardinal Meisner!) zu<br />
erwerben. Das alles berührt seltsam. Ich<br />
drücke mich nicht vor der Thematik,<br />
aber die Aufmachung Ihres Heftes hat<br />
mich einfach gestört. Wie intensiv ich<br />
mich mit den Beiträgen befassen will,<br />
werde ich sehen.<br />
Marianne Weinmann, Ludwigsburg<br />
reiSSerischer Titel<br />
Die Titelankündigung „Hitlers letzte<br />
Bombe“ wird dem Anspruch eines<br />
Magazins für politische Kultur in keiner<br />
Weise gerecht. Sie ist auf unangenehme<br />
Weise reißerisch.<br />
Wieland Becker, Berlin<br />
illustration: cornelia von seidlein<br />
14 <strong>Cicero</strong> 12.2012
EINE WEGBEREITERIN,<br />
DIE AUF ANDERE ZUGEHT.<br />
INTERKULTURELLE ZUSAMMENARBEIT FÖRDERN.<br />
Mehtap-Buesra Mut weiß aus eigener Erfahrung, dass das<br />
Leben und Arbeiten in einer fremden Kultur mit Herausforderungen<br />
verbunden ist. Als eine von über 45 freiwilligen<br />
Gesundheitsbotschaftern im BMW Werk in München, in dem<br />
Menschen aus mehr als 50 Nationen zusammenarbeiten,<br />
spricht Mehtap deshalb gezielt Kolleginnen und Kollegen<br />
aus anderen Kulturkreisen an. Denn ihr ist aufgefallen,<br />
dass gerade sie Angebote zur gesundheitlichen Vorsorge<br />
weniger nutzen. Das liegt zum Teil an unterschiedlichen<br />
kulturellen Mentalitäten, oder auch schlicht an Verständigungsproblemen.<br />
Der Erfolg gibt ihr recht: Seit Einführung<br />
der Gesundheitsbotschafter ist die Beteiligung an Aktionen<br />
des Gesundheitsmanagements und der BMW BKK um 20 %<br />
gestiegen. Mehr Gesundheit durch mehr Verständigung.<br />
Die BMW Group ist zum achten Mal in Folge<br />
nachhaltigster Automobilhersteller der Welt.<br />
Erfahren Sie mehr über den Branchenführer<br />
im Dow Jones Sustainability Index auf<br />
www.bmwgroup.com/whatsnext<br />
Jetzt Film ansehen.
C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />
zu den Kolumnen von Amelie<br />
Fried / September, Oktober und<br />
November 2012<br />
Absolut überflüssig<br />
Schon seit einigen Jahren bin ich treue<br />
Leserin Ihres Magazins, habe also auch<br />
den redaktionellen Wandel miterlebt.<br />
Grundsätzlich bin ich nach wie vor ganz<br />
angetan von diesem Monatsmagazin,<br />
finde auch die inzwischen gelungene<br />
Erweiterung des Literaturmagazins<br />
(als ehemalige Buchhändlerin) immer<br />
wieder überraschend und gut. Und es<br />
ist natürlich auch klar, dass nicht jedes<br />
Heft immer ein Volltreffer sein kann.<br />
Das hängt ja auch sehr von den persönlichen<br />
Interessen und Themen ab. Ein<br />
weiteres Lob gilt der dem Oktoberheft<br />
beigelegten CD. Das kann ruhig gern<br />
fortgesetzt werden. Allerdings gibt es<br />
auch etwas, das mir nicht sonderlich<br />
gefällt. Die Kolumnen von Amelie<br />
Fried finde ich in Ihrem Magazin – mit<br />
Verlaub – absolut überflüssig. Sie passen<br />
meines Erachtens nicht zum Anspruch<br />
des <strong>Cicero</strong> und kommen sehr plump<br />
daher. Sehr unangenehm empfand ich<br />
die Kolumne aus dem Septemberheft<br />
zu den Bibelworten. Frau Fried hat<br />
wohl völlig verkannt, was die biblischen<br />
Gebote (ich bin übrigens Atheistin)<br />
bedeuten und dass es durchaus angebracht<br />
wäre, sich dieser Gebote hin und<br />
wieder zu besinnen … Die Kolumne im<br />
Oktoberheft zum Thema Sex … Wer<br />
braucht denn so was? Die Leserschaft<br />
des <strong>Cicero</strong> doch wohl nicht.<br />
Daniela Rencker-Grau, Dresden<br />
zum beitrag „Krankenhaus im<br />
Ausverkauf“ von Petra Sorge /<br />
Oktober 2012<br />
Zeitgeist bedient<br />
Als Aufsichtsratsvorsitzender einer<br />
größeren privaten Klinikkette muss ich<br />
feststellen, dass Sie in Ihrem Artikel eher<br />
opportunistisch den Zeitgeist bedienen,<br />
wonach im Gesundheitswesen das Private<br />
stets von Übel ist, als sich objektiv<br />
mit den Effekten der Privatisierung<br />
auseinanderzusetzen. Wäre dies der Fall<br />
gewesen, dann hätten Sie zum Beispiel<br />
herausgefunden, dass<br />
• die Privatisierung die Abhängigkeit vieler<br />
Patienten von schlecht ausgestatteten<br />
und wenig effektiven kommunalen<br />
Monopolkrankenhäusern verringert hat,<br />
• die privaten Träger wesentliche Treiber<br />
der Innovation im Krankenhaus wesen<br />
sind,<br />
• der von den Privaten initiierte Wettbewerb<br />
die Wahlmöglichkeiten der Patienten<br />
zwischen verschiedenen medizinischen<br />
Konzepten erhöht hat,<br />
• dieser Wettbewerb in den letzten zehn<br />
Jahren zu einer Produktivitätssteigerung<br />
der Kliniken geführt hat,<br />
• private Krankenhausträger durch die<br />
Übernahme zahlreicher, von Schließung<br />
bedrohter, kommunaler Kliniken<br />
die wohnortnahe medizinische Versorgung<br />
im ländlichen Raum und Arbeitsplätze<br />
erhalten haben (unsere Gruppe<br />
allein in Baden-Wüttemberg in drei<br />
Fällen),<br />
• private Krankenhäuser als Erste ihre<br />
medizinischen Qualitätsdaten einschließlich<br />
der Mängel aus den Expertenkreisen<br />
heraus in die Öffentlichkeit<br />
verlagert haben, um damit die Qualitätsdiskussion<br />
zu „demokratisieren“,<br />
• der geschilderte sehr bedauerliche und<br />
tragische Einzelfall in Marburg kein<br />
Spezifikum privater Kliniken ist,<br />
• Helios und Rhön zwar große Träger<br />
sind und Herr Münch ein eigenwilliger<br />
Unternehmer, dass aber ihre Strategien,<br />
ihre Ansichten und Äußerungen nicht<br />
repräsentativ für die sehr pluralistische<br />
private Krankenhauslandschaft sind.<br />
Lassen Sie, auch gegenüber den Hunderttausenden<br />
von Beschäftigten der<br />
Privatkliniken, die sich die größte Mühe<br />
geben, eine optimale Versorgung zu<br />
bieten, Fairness walten.<br />
Prof. Klaus Hekking, Aufsichtsratsvorsitzender<br />
der SRH-Kliniken, Heidelberg<br />
Zu den Beiträgen über den<br />
US‐Präsidentschaftswahlkampf /<br />
Oktober 2012<br />
Beschämende Torheit<br />
Leider erkennt das Gros der US‐amerikanischen<br />
Bevölkerung nicht die<br />
Tatsache, dass sie seit Bestehen der USA<br />
in Barack Obama den bisher besten<br />
Präsidenten haben, der in seinem Amt<br />
schon viel Gutes und Wertvolles erreicht<br />
hat, insbesondere zum Nutzen des Volkes<br />
und des Weltfriedens und so weiter.<br />
Seine Feinde im eigenen Volk und Land<br />
sind in Bezug auf den Verstand und<br />
die Vernunft ebenso als unfähig zu<br />
bezeichnen, wie auch seine Feinde in<br />
der US‐Regierung, die mit allen Mitteln<br />
ihre <strong>Macht</strong> ausspielen und machtbesessen<br />
sind. Dem besten Mann, den die<br />
USA jemals an der Regierung hatten,<br />
werden Knüppel in den Weg geworfen,<br />
um all das wieder abzusägen, was<br />
er an Gutem erreicht hat. Dies, damit<br />
wieder unfähige Figuren ans Ruder<br />
kommen, wie diese in den USA immer<br />
wieder das Land missregiert haben<br />
und die Kriege vom Stapel ließen, was<br />
unzählige Menschenleben gekostet und<br />
ungeheure Zerstörungen hervorgerufen<br />
hat, auch an der Natur und am Klima.<br />
Die Armen und die hart Arbeitenden<br />
werden verhöhnt, wie zum Beispiel<br />
durch die Absicht, die erlangte Reform<br />
in Bezug auf die Krankenversicherung<br />
wieder rückgängig zu machen, und dies<br />
alles aus einer beschämenden Torheit,<br />
Unvernunft und Verantwortungslosigkeit<br />
heraus.<br />
Achim Wolf, Mannheim<br />
Verstörte Autorin<br />
Was Sie in diesem Artikel dem Leser<br />
zumuten, lässt weniger auf eine verstörte<br />
USA schließen als auf eine verstörte<br />
Autorin. Frau Meckel bewegt sich wohl<br />
nur im Ostküstenmainstream. Schon<br />
die Bildauswahl lässt vermuten, dass<br />
hier antiamerikanische Propaganda das<br />
Ziel dieses Artikels war. Was ist nur aus<br />
<strong>Cicero</strong> geworden? Ein weiteres politisch<br />
korrektes Mainstreamblatt.<br />
Detlef Orth, Köln<br />
illustrationen: cornelia von seidlein<br />
16 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Energiewende. Wir fördern das.<br />
Fokussierung auf erneuerbare Energien, Klimawandel, Ressourcenschonung und Risikominimierung – es gibt viele Motive für die Energiewende.<br />
Die KfW hat den Umwelt- und Klimaschutz im ersten Halbjahr 2012 bereits mit mehr als 12 Mrd. EUR gefördert und somit<br />
vielen Einzelnen ermöglicht, einen Beitrag zur Energiewende zu leisten. Ganz gleich, ob Sie die Steigerung der Energieeffizienz Ihres Hauses<br />
anstreben oder Ihr Beitrag im Bau einer Offshore-Anlage besteht: Wir fördern das.<br />
Mehr Informationen erhalten Sie unter www.kfw.de<br />
Bank aus Verantwortung
C i c e r o | L e s e r b r i e f e<br />
zum beitrag „Was der<br />
Bundespräsident jetzt tun<br />
sollte“ von Gesine Schwan /<br />
September 2012<br />
ABSURDE AUSSAGEN<br />
Erst seit kurzer Zeit habe ich von der<br />
Existenz Ihres Blattes erfahren und<br />
seitdem hocherfreut stets die Veröffentlichungen<br />
… zur Kenntnis genommen.<br />
Natürlich wissen Sie auch, dass es zu<br />
einer Vielzahl Ihrer Beiträge Ansätze zu<br />
einem regen Meinungsstreit gäbe, die<br />
weit über die kurzen Leserbriefe hinausgehen.<br />
Deshalb auch hier nur ein Wort<br />
zu einigen absurden Aussagen Gesine<br />
Schwans mit ihrem Paket an geballten<br />
Ladungen an Aufträgen für den Bundespräsidenten.<br />
Wenn die linksgerichtete<br />
Dame erklärt, dass „mit den Schulden<br />
der Nachbarn deutsche Exporte bezahlt<br />
wurden“, also meint, dass zum Beispiel<br />
Spaniens Niedergang seines Staatshaushalts<br />
und seine Bankenkrise der deutschen<br />
Wirtschaft anzulasten sind, und<br />
dazu … vom Bundespräsidenten fordert,<br />
dieser „könnte überdies auch die Positionen<br />
unserer europäischen Nachbarn fair<br />
erläutern“, so braucht sie nur allein die<br />
Aussagen Ludwig Poullains im gleichen<br />
Heft zur Kenntnis zu nehmen, um aus<br />
dessen Hinweisen auf die politischen<br />
Versäumnisse bei der Einführung des<br />
Euro ihre Schlüsse zu ziehen.<br />
Dr. Josef Kretschmer, Weimar<br />
zu den Kommentaren von<br />
Frank A. Meyer über die SPD<br />
(„Renaissance von Recht und<br />
Ordnung“) und über die banker<br />
(„Zwei deutsche Sittenbilder“) /<br />
Juli und September 2012<br />
schöner traum<br />
Ach, das könnte schön sein … Die SPD<br />
stellte ihre Werte vom Reparaturkopf auf<br />
Visionsfüße, wäre, statt Steigbügelhalter<br />
des Kapitals, Vorreiter für die Erneuerung<br />
des wohlverstandenen „Bürgerlichen“,<br />
nicht zuletzt im Interesse unseres<br />
wichtigsten Kulturguts, unserer Rechtsordnung.<br />
Einst von – darf man das so<br />
noch sagen? – Deutschen für Deutsche<br />
auf deutschem Staatsgebiet gedacht und<br />
gemacht. Unser Präsident träfe auf Mutbürger<br />
in der SPD. Welch ein schöner<br />
Traum … Ihr Beitrag war große Klasse!<br />
Jürgen Kessler, Mainz<br />
Verwalter unserer gier<br />
Vielen Dank für dieses klare Bild, das<br />
Sie hier zeichnen, Herr Meyer. Ich<br />
denke, dass es in der Gegenwart nichts<br />
Wichtigeres gibt, als sich genau diesen<br />
Zusammenhang zu vergegenwärtigen,<br />
den Sie herstellen. Vielleicht kommen<br />
aber auch die Geldmächtigen deshalb so<br />
gut davon, weil sie die Verwalter unserer<br />
kumulierten Gier sind.<br />
Cedric Rossdeutscher, Landshut<br />
zur Kolumne „Prechts Prolog“<br />
von Richard David Precht /<br />
September 2012<br />
Nicht unter Kontrolle<br />
Gern mögen Sie Herrn Precht einen<br />
schönen Gruß von mir bestellen.<br />
Im Artikel in <strong>Cicero</strong> Heft 9 hatte er<br />
augenscheinlich seine Meinungsfreude<br />
nicht unter Kontrolle. Nirgendwo<br />
auf der Welt geht ein junger Mensch<br />
„100 000 Stunden“ zur Schule. Vielleicht<br />
wollen Sie das dem äußerst meinungsfreudigen<br />
Herrn Precht mitteilen … Ich<br />
fand Prechts Auslassungen deutlich<br />
unter dem ansonsten noblen Niveau<br />
Ihres Magazins. Nehmen Sie mein Lob<br />
bitte auch zur Kenntnis, selbst wenn ich<br />
mich als langjähriger innerlich dankbarer<br />
Leser erst bei Ihnen gemeldet habe,<br />
als auch Ihr Magazin Precht ein Forum<br />
angeboten hat, obwohl er nicht einmal<br />
die Basisdaten seines Objekts kennt.<br />
Michael Marx, Garbsen<br />
Mathe geschwänzt<br />
Der Philosoph Precht ist mir natürlich<br />
kein Unbekannter, aber offensichtlich<br />
hat er den „Rechenunterricht“<br />
geschwänzt; denn 100 000 Stunden geht<br />
wohl ein Kind in zwölf Jahren nicht zur<br />
Schule. Selbst bei einer Wochenstundenzahl<br />
von 50 ergibt das nicht einmal<br />
(50 x 40 x 12 = 24 000) ein Viertel von<br />
100 000.<br />
Als autodidaktischer Philosoph,<br />
in jungen Jahren von Schopenhauer<br />
„geschult“, bin ich der Überzeugung,<br />
dass Philosophen wohl das Vernünftige<br />
lehren, aber die Mehrzahl von uns Menschen<br />
sich nicht daran hält. Was Lehrer<br />
anbelangt, sollte man sich an Fritz Klatt<br />
„Die schöpferische Pause“ halten, wo es<br />
heißt, dass ein Lehrer zwischen Popanz<br />
und Tyrann schwankt. Die Schule<br />
bedarf eines Faches „Kritisches Denken“,<br />
damit die jungen Menschen sich nicht<br />
von „Abzockern“ aller Couleurs „ausnehmen“<br />
lassen.<br />
Ihre Zeitschrift spricht trotz der<br />
Anzeigenfriedhöfe für Qualität, führt<br />
aber ein Schattendasein im Vergleich<br />
zu der Auflagenhöhe der Illustrierten.<br />
Spricht das nicht eine überzeugende<br />
Sprache?<br />
Otto Dietze, Bad Sulza<br />
Mainstreamgeplauder<br />
Was habe ich mich auf das neue Heft<br />
gefreut – beim Durchblättern genau<br />
bis Seite 122 (Precht fordert Bildungsrevolution!!!)<br />
Welch große Worte aus<br />
dem Mund eines „Mainstreamphilosophen“,<br />
der zwar über alles plaudert,<br />
aber auf nichts eine Antwort findet.<br />
Also geben Sie ihm doch einfach nicht<br />
mehr die Plattform in Ihrem Magazin.<br />
Sendeplätze, die dieses Niveau „einfordern“,<br />
finden sich in Hülle und Fülle in<br />
den Nachmittagsprogrammen einiger<br />
Privatsender!<br />
Uta Hopperdietzel, Lörrach<br />
(Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />
illustrationen: cornelia von seidlein<br />
18 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Du hast es in der Hand.<br />
Tetra Pak Getränkekartons liefern gute Gründe, warum sie zu den ökologisch<br />
vorteilhaften Verpackungen zählen: Schon bei den Rohstoffen setzen Tetra Pak<br />
Getränkekartons auf Nachhaltigkeit, denn sie bestehen überwiegend aus dem<br />
nachwachsenden Rohstoff Holz aus verantwortungsvoll bewirtschafteten Wäldern.<br />
Für die Herstellung der Tetra Pak Getränkekartons wird in Deutschland Öko strom<br />
genutzt und ihre platzsparende Form ermög licht effiziente Transporte. Werden<br />
Tetra Pak Getränke kartons nach dem Gebrauch in gelben Tonnen oder Säcken<br />
gesammelt, sind sie im nächsten Schritt vielseitig wiederverwertbar: als Rohstoff<br />
und Energieträger für weitere Industrien. Dies sind nur einige Vorteile, die für<br />
Tetra Pak Getränkekartons sprechen. Und für unsere Umwelt.<br />
tetrapak.de
T i t e l<br />
„Schweigen<br />
ist was<br />
Schönes“<br />
Berlin lärmt, er arbeitet leise. Seine<br />
Beamten testet Thomas de MaiziÈre<br />
sogar heimlich auf Diskretion.<br />
Georg Löwisch und Christoph<br />
Schwennicke sprachen mit dem<br />
Verteidigungsminister über<br />
schnatternde Kinder und Pausen<br />
in der Musik, über sein Scheitern<br />
als Pressesprecher und Merkels<br />
Vertrauen, über Geräuschlosigkeit<br />
als Arbeitsprinzip – und über<br />
die Kunst, nichts zu sagen<br />
20 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Thomas de Maizière zählt<br />
zu Merkels wichtigsten<br />
Vertrauten. Auch, weil<br />
er schweigen kann.<br />
Sie lernte ihn 1989<br />
über seinen Ostcousin<br />
Lothar kennen. 2005<br />
machte sie ihn zu<br />
ihrem Kanzleramtschef,<br />
2009 zum Innenund<br />
2011 zum<br />
Verteidigungsminister<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 21
T i t e l<br />
Sitz des Verteidigungsministeriums in Berlin:<br />
Stauffenbergstraße, der Bendlerblock, dicke<br />
Wände, auf den Fluren ist es ruhig. Vor Thomas<br />
de Maizières Büro hängen Porträts seiner<br />
Vorgänger, Theodor Blank, Franz Josef Strauß,<br />
Helmut Schmidt. Der rustikale Struck und<br />
der glitzernde Guttenberg. De Maizière erscheint<br />
in der Tür, er führt in sein Ministerbüro,<br />
am Konferenztisch nimmt noch ein Kapitän<br />
zur See aus dem Pressestab Platz, der<br />
das Interview schweigend beobachtet.<br />
H<br />
err de Maizière, wo haben Sie<br />
das Schweigen gelernt?<br />
Unter anderem bei Kindergeburtstagen.<br />
Es gab Topfschlagen und später<br />
Schnitzeljagden, aber was wir auch<br />
gerne gespielt haben, war: Schweigenkönnen.<br />
Da sitzen schnatternde Kinder<br />
in einer Runde, und wer am längsten den<br />
Schnabel halten kann, bekommt einen<br />
kleinen Preis.<br />
Was war der Rekord?<br />
Das ging dann so 15 Sekunden, bis einer<br />
was gesagt oder losgelacht hat. Wir waren<br />
Kinder …<br />
erst daraus zu entwickeln. Eine wunderbare<br />
Schule.<br />
Warum fällt Schweigen Politikern so<br />
schwer?<br />
Geschwätzigkeit wird auf den ersten<br />
Blick prämiert. Sich Sachkenntnis anzueignen,<br />
ist dagegen mühsam. Das sorgfältig<br />
vorgetragene Argument oder die<br />
kluge Beschreibung eines Sachverhalts,<br />
das ist etwas für einen kleinen Zuhörerkreis.<br />
Aber der Mechanismus zwischen<br />
Medien und Politik belohnt das flotte<br />
Wort. Herr Steinbrück ist so ein Meister<br />
des flotten Wortes, unabhängig davon,<br />
dass gerade er durchaus auch was von der<br />
Sache versteht.<br />
Er pflegt eben keine Bürokratensprache.<br />
Na ja, neulich ist ihm auch mal was<br />
schiefgegangen, als er gesagt hat, dass<br />
ihm der Vorwurf mit den Nebeneinkünften<br />
wie ein Stein an den Kopf fliegen<br />
sollte, und aus dem Stein werde dann<br />
ein Bumerang, der zurückfliegt. Wenn<br />
er ein bisschen überlegt hätte, wäre das<br />
Gutes sagen kann. Ehrlich gesagt wundert<br />
es mich, dass manchen in Berlin jeden<br />
Tag was Neues einfällt. Viele konzentrieren<br />
sich darauf: Wie kann ich<br />
jetzt eine Bemerkung machen, die Aufmerksamkeit<br />
erzielt? Wie produziere ich<br />
einen Aufreger?<br />
Und da ist Schweigen auch ein Auftritt?<br />
Wenn so viel an Informationen und Meinungen<br />
in die Welt gesetzt wird, dass<br />
es kein Mensch mehr aufnehmen kann,<br />
dann ist die Nichtbeteiligung an der Geschwätzigkeit<br />
Ausdruck von Stärke. Für<br />
viele Menschen ist die Welt heute so, dass<br />
es mehr Fragen als Antworten gibt. Da<br />
ist das Bedürfnis, jeden Tag einen neuen<br />
Vorschlag zu hören, schwach ausgeprägt.<br />
Zumal ja spürbar ist, dass die allermeisten<br />
dieser Vorschläge nie Wirklichkeit<br />
werden.<br />
Ist es Ihre Strategie, sich nicht in zu viele<br />
Themen öffentlich einzumischen, weil<br />
Sie dann nicht dafür haftbar gemacht<br />
werden?<br />
Foto: Laurence Chaperon [M] (Seiten 20 bis 21)<br />
Hat Ihr Vater, der General Ulrich de<br />
Maizière, Sie und Ihre Geschwister am<br />
Mittagstisch schweigen lassen?<br />
Im Gegenteil. Wir haben unentwegt diskutiert.<br />
Aber bei uns zu Hause waren<br />
Argumente gefragt, und die kann man<br />
nur anbringen, wenn man vorher zugehört<br />
hat. Zum Zuhören gehört das aktive<br />
Schweigen. Man darf nicht unterbrechen.<br />
Es geht auch nicht einfach nur darum abzuwarten,<br />
bis der andere fertig ist, und<br />
dann quasselt man, was man schon die<br />
ganze Zeit im Kopf hatte, ohne sich mit<br />
den Gedanken des Gegenübers befasst zu<br />
haben.<br />
Kann man das trainieren?<br />
Ja. Wir haben im Studium Nacherzählen<br />
geübt, das war in der Begabtenförderung<br />
der Konrad-Adenauer-Stiftung. Keine Inhaltsangabe,<br />
sondern eine richtige Nacherzählung<br />
von kurzen Stücken. Das ist<br />
ganz schön schwer. Wer etwas nacherzählen<br />
will, muss vorher zuhören können.<br />
Der muss schweigen können. Sie müssen<br />
sich voll auf den Vorleser und seinen<br />
Text konzentrieren. Eine andere Übung<br />
war, zunächst das gegnerische Argument<br />
zu wiederholen und das eigene Argument<br />
„1989 war ich Pressesprecher.<br />
Furchtbar war das. Niemand wollte<br />
ein Stück Brot von uns. Da hätten<br />
wir gleich schweigen können“<br />
mit dem Bumerang ohne den Stein vielleicht<br />
ein schönes, stimmiges Bild geworden.<br />
Denn eigentlich ist Steinbrück<br />
bildermächtig.<br />
Nach Ihrem Studium sind Sie 1983 als<br />
Beamter in die Berliner Landesregierung<br />
von Richard von Weizsäcker eingestiegen,<br />
einem Mann des Wortes. Was haben Sie<br />
damals übers Schweigen gelernt?<br />
Von seinem Regierungssprecher und<br />
auch später in der Regierung von Kurt<br />
Biedenkopf in Sachsen wurde mir Verknappung<br />
beigebracht. „Willst du etwas<br />
gelten, mach dich selten.“ Ich bin vermutlich<br />
der Spitzenpolitiker, der quantitativ<br />
gesehen am wenigsten Pressearbeit<br />
macht – aus diesem Grund. Natürlich<br />
auch, weil ich nicht jeden Tag etwas<br />
Man kann nicht wegtauchen, wenn es einen<br />
Skandal gibt, das wäre feige. Und<br />
ich höre, den Eindruck mache ich auch<br />
nicht. Ich rede aber selten zu Dingen außerhalb<br />
meiner Zuständigkeit. Es ist interessant,<br />
dass wir da im Deutschen zwei<br />
Begriffe haben: „zuständig“ und „kompetent“.<br />
Im Englischen bedeutet „kompetent“<br />
sowohl, dass man zuständig ist, als<br />
auch, dass man etwas zu sagen hat.<br />
Vergangenes Jahr haben Sie sich auf dem<br />
CDU-Bundesparteitag in Leipzig zu Wort<br />
gemeldet und definiert, was konservativ<br />
ist. Zu Ihrer Definition gehört auch, dass<br />
ein Konservativer nicht herumtrompetet.<br />
Darüber referieren Sie mittlerweile auch<br />
anderswo vor CDU-Mitgliedern.<br />
Ja.<br />
22 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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Lernen Sie in der Beziehung gerade das<br />
Sprechen?<br />
Nein. Ich habe mich immer mal über<br />
meinen Bereich hinaus geäußert, wenn es<br />
nicht zu sehr in andere Kompetenzbereiche<br />
eingreift. Ich äußere mich zum Beispiel<br />
zu Religion, zum Staatsverständnis.<br />
In letzter Zeit ist es ein bisschen mehr geworden,<br />
das stimmt.<br />
<strong>Macht</strong> Regierung schweigsam und Opposition<br />
geschwätzig, weil man sich erst an<br />
die <strong>Macht</strong> reden muss?<br />
Ja, das trifft wahrscheinlich zu. Die Opposition<br />
muss in höherem Maße um<br />
Aufmerksamkeit werben. Vor allem in<br />
der ersten Zeit einer Legislaturperiode,<br />
wenn sie überwiegend destruktiv arbeitet.<br />
Aber in der Endphase wird eine Opposition<br />
nicht gewählt, weil sie gut kritisiert,<br />
sondern weil sie den Eindruck<br />
erweckt, dass sie die bessere Regierung<br />
sein könnte.<br />
Sie waren eigentlich nie Opposition. Ihr<br />
ganzes Berufsleben saßen Sie in der<br />
Regierung: Beamter, Staatssekretär, Landesminister,<br />
Bundesminister. Nur einmal,<br />
1989 wurde die Diepgen-Regierung in<br />
Berlin abgewählt – und Sie waren auf<br />
einmal Pressesprecher der CDU.<br />
Furchtbar war das. Keiner wollte ein<br />
Stück Brot vom Pressesprecher einer abgewählten<br />
Partei. Wir haben einmal ein,<br />
wie wir fanden, gigantisches neues Verkehrskonzept<br />
für Westberlin erarbeitet<br />
und präsentiert. Niemanden hat das auch<br />
nur im Entferntesten interessiert. Da hätten<br />
wir gleich schweigen können.<br />
Imponieren Ihnen Oppositionspolitiker, die<br />
sich Gehör verschaffen können?<br />
Ich finde es gut, wenn einer alleine dadurch,<br />
weil er etwas sagt oder wie er etwas<br />
sagt, Einfluss gewinnt. Der Aufstieg<br />
der FDP hatte sicher auch mit den rednerischen<br />
Begabungen von Guido Westerwelle<br />
zu tun. Und Renate Künast als<br />
Landwirtschaftsministerin hat die Grünen<br />
belebt.<br />
Moment, Renate Künast regierte doch<br />
damals.<br />
Sie war in der Opposition zu der herrschenden<br />
Gruppe ihres Politikfelds, der<br />
Landwirtschaft. Da musste sie wortmächtig<br />
sein.<br />
Schweigen bedeutet nicht nur, nicht alles<br />
zu sagen, was einem einfällt, sondern<br />
auch vertrauliche Informationen bei sich<br />
zu behalten. Nicht so leicht in Berlin, oder?<br />
Kurz nachdem ich 2005 Chef des Bundeskanzleramts<br />
geworden bin, habe ich<br />
bei einem Hintergrundgespräch mit<br />
Journalisten einen Unionskollegen kritisiert.<br />
Kurz nach dem Termin kam der<br />
Kollege und hat mir mitgeteilt, dass ich<br />
im Hintergrund schlecht über ihn geredet<br />
habe. Das war mir eine Lehre. Eigentlich<br />
ist bei solchen Gesprächen ja<br />
die Geschäftsgrundlage, dass Journalisten<br />
nicht darüber schreiben und erst recht<br />
nicht tratschen.<br />
„Vertrauen und<br />
Loyalität sind<br />
Führungsprinzipien<br />
der<br />
Kanzlerin. Ich<br />
versuche es auch<br />
so zu machen“<br />
Politiker tratschen ja wohl mindestens<br />
genauso gern wie Journalisten.<br />
Könnte so sein. Aber in der Politik muss<br />
es Gremien geben, in denen man vertraulich<br />
miteinander redet. Die Unbefangenheit<br />
im Gespräch, auch Fragen zu stellen<br />
und eine Schwäche zuzugeben, eine Position<br />
zu räumen, wird durch das Durchstechen<br />
von Gesprächen aus vertraulichen<br />
Runden erschwert. Ich habe oft<br />
erlebt, dass ein Partei- oder Fraktionsvorsitzender<br />
gesagt hat, es kann sein, dass<br />
dieser Kompromiss vernünftig wäre, ich<br />
kriege ihn in meinem Laden aber nicht<br />
durch. Ein solcher Satz ist eine ziemliche<br />
Offenbarung für einen Parteivorsitzenden,<br />
aber es muss möglich sein, ihn in einer<br />
vertrauten Runde vorzutragen, weil<br />
man dann leichter einen Kompromiss<br />
findet, mit dem er leben kann.<br />
Hat Ihr Schweigekonzept nicht undemokratische<br />
Züge? Es ist doch gut, wenn die<br />
Bürger den Gang der Dinge erfahren, bevor<br />
alles verpackt und verschnürt ist.<br />
Natürlich muss man Ergebnisse begründen<br />
und rechtfertigen, man muss auch<br />
den sachlichen Entscheidungsgang darlegen.<br />
Aber ein Ergebnis muss auch mal<br />
vertraulich zustande kommen können.<br />
Da spricht ein Regierender. Machiavelli rät:<br />
„Man darf nie seine Absicht zeigen.“<br />
Demokratie und Vertraulichkeit sind<br />
kein Gegensatz. Ich werbe nur dafür,<br />
dass es auch in Berlin Vertraulichkeit<br />
gibt, weil sie die Qualität eines Gesprächs<br />
entscheidend erhöhen kann.<br />
Im Familienkreis wird man sich das<br />
schwarze Schaf auch erst einmal vertraulich<br />
zur Brust nehmen. Ein guter<br />
Lehrer wird einen besonders schlechten<br />
Schüler nicht vor der ganzen Klasse<br />
abmeiern. Schon die Tatsache, dass ein<br />
solches Gespräch stattfindet, sollte vertraulich<br />
sein.<br />
Wer sind denn die Top 3 in der deutschen<br />
Politik, die über das Richtige reden und<br />
über das Vertrauliche schweigen?<br />
Och, da verweigere ich mal die Antwort,<br />
was die Top 3 sind. Aber sicher gehört<br />
der Bundesfinanzminister dazu, sicher<br />
gehört die Bundeskanzlerin dazu.<br />
… na, da sind Sie ja schon drei.<br />
Über mich rede ich jetzt nicht in dem<br />
Zusammenhang. Auch Herr Steinmeier<br />
zählt dazu. Und, das sage ich zum ersten<br />
Mal öffentlich: Ich habe als Chef des<br />
Bundeskanzleramts in Krisenfällen wie<br />
Geiselnahmen Wert darauf gelegt, auch<br />
die Opposition zu unterrichten, und<br />
das waren damals im Besonderen Guido<br />
Westerwelle und Renate Künast. Beide,<br />
die ja auch ein freches Wort führen können,<br />
haben mich nie enttäuscht, da ist<br />
kein einziges Mal eine vertrauliche Information<br />
missbraucht worden. Das rechne<br />
ich beiden hoch an, und das ist die Basis<br />
für eine gute Zusammenarbeit, die heute<br />
noch trägt.<br />
Ist der Grund für die Vertrautheit zwischen<br />
Ihnen und der Kanzlerin, dass die<br />
Vertraulichkeit garantiert ist?<br />
Eine wichtige Bedingung unseres vertrauensvollen<br />
Zusammenarbeitens, ja.<br />
Dass sie von Anfang an wusste: Der<br />
schwätzt nicht rum.<br />
Und umgekehrt.<br />
24 <strong>Cicero</strong> 12.2012
T i t e l<br />
Merkel steht ja im Ruf, dass sie Tag und<br />
Nacht kommuniziert. Wie schafft sie<br />
es, dass davon relativ wenig nach außen<br />
dringt? Sind die Strafen so hoch?<br />
Nein. Aber Vertrauen, genau wie Loyalität,<br />
ist ein wichtiges Führungsprinzip der<br />
Kanzlerin. Ich versuche das auch so zu<br />
machen. Das beste Mittel dazu ist eine<br />
kluge Personalauswahl.<br />
Stellen Sie Leute auf die Probe, ob die<br />
gute Schweiger sind?<br />
Ja.<br />
Wie?<br />
Ich sage dem Betreffenden: Ich erwäge,<br />
Sie hier in die und die Position zu bringen.<br />
Dann vollziehe ich diese Entscheidung<br />
erst mal nicht, sondern schaue, was<br />
passiert und wie schnell das herumerzählt<br />
wird. Wenn der Betroffene in dieser Situation<br />
schweigen kann, hat er die Probe<br />
bestanden.<br />
Bevor Sie Innen- und dann Verteidigungsminister<br />
wurden, haben Sie als Chef des<br />
Kanzleramts eine stille Regierungsarbeit<br />
ohne Fingerabdrücke propagiert.<br />
Die Frage ist, wessen Fingerabdruck<br />
sichtbar wird. Ein Bundeskanzleramt hat<br />
so zu arbeiten, dass es keinen großen öffentlichen<br />
Fingerabdruck hinterlässt. Ich<br />
habe ganz wenige öffentliche Stellungnahmen<br />
abgegeben als Chef des Bundeskanzleramts,<br />
und das gilt für den jetzigen<br />
Chef des Bundeskanzleramts ganz genauso<br />
wie für alle vorherigen.<br />
Sie meinen jetzt nicht zufällig die Äußerungen<br />
Ihres Nachfolgers Ronald Pofalla,<br />
der zu seinem Parteifreund Wolfgang Bosbach<br />
gesagt hat, er könne dessen Fresse<br />
nicht mehr sehen?<br />
Das war ja keine Pressearbeit des Bundeskanzleramts.<br />
Im Übrigen hat sich Ronald<br />
Pofalla dazu geäußert, und die Sache ist<br />
erledigt.<br />
Woran liegt es, dass diese Bundesregierung<br />
dauernd so viel Getöse veranstaltet?<br />
Es ist nicht eine Frage der inhaltlichen<br />
Differenzen, sondern eine Frage des zu<br />
weit ausgeprägten Individualismus vieler<br />
Beteiligter. Es muss nicht jede Initiative<br />
von Einzelnen aus Fraktionen gleich<br />
öffentlich werden, bevor man sich abspricht,<br />
ob das Aussicht auf Erfolg hat.<br />
Es muss auch nicht jeder seine Meinung<br />
vortragen und die als die Meinung eines<br />
Koalitionspartners ausgeben. Diese Formen<br />
von Individualismus gibt es bei allen<br />
Koalitionspartnern zu viel. Da hätte<br />
Schweigen einen Mehrwert.<br />
Das müssen Sie uns näher erklären.<br />
Nein. Das war’s jetzt zu dem Thema.<br />
Warum?<br />
Ja, weil es schlecht ist, wenn man sich<br />
über die Vielstimmigkeit der Koalition<br />
beklagt, indem man sich über die Koalition<br />
beklagt.<br />
„Mit meiner<br />
Frau habe ich<br />
mal ein ganzes<br />
Wochenende<br />
geschwiegen“<br />
Sie charakterisieren die Berliner Republik<br />
als geschwätzig. Wie hat sich Bonn<br />
angehört?<br />
Bonn war dröhnender. Die persönliche<br />
Verunglimpfung hatte damals mehr Erfolg<br />
als heute. Das gefällt mir sehr an<br />
Berlin. Franz Josef Strauß hätte es heute<br />
schwerer und Herbert Wehner auch.<br />
Über welche Äußerung sagen Sie heute:<br />
Wenn ich bloß geschwiegen hätte?<br />
2004 ist mir Derartiges widerfahren. Ich<br />
war erst seit kurzem Innenminister in<br />
Sachsen. Da hat ein Einsatzkommando<br />
eine Wohnung in Dresden gestürmt, und<br />
dabei sind zwei Hunde erschossen worden.<br />
Auch im Nachhinein glaube ich,<br />
dass die Aktion richtig war.<br />
Ein einziges Desaster. In der Wohnung<br />
wohnten ein Polizist und seine Frau, die<br />
im Innenministerium beschäftigt war. Sie<br />
wurden wie Verbrecher behandelt. Das<br />
Einsatzkommando suchte aber eigentlich<br />
einen Rotlichtkönig, den Bruder der Frau,<br />
der oben drüber wohnte.<br />
Die Aktion war gerechtfertigt. Aber ich<br />
habe damals gesagt: „Sage mir, mit wem<br />
du umgehst, und ich sage dir, wer du<br />
bist.“ Das ist mir übel genommen worden<br />
nach dem Motto: Ja, wie? Werde ich<br />
jetzt für meinen Nachbarn in Haftung<br />
genommen? Das war falsch. Da hätte ich<br />
besser den Mund gehalten.<br />
Worüber wird denn zu wenig gesprochen?<br />
Ich versuche landauf, landab eine Debatte<br />
über Deutschlands sicherheitspolitische<br />
Rolle in der Welt zu führen: Wo ist<br />
unser Interesse in der Welt? Was haben<br />
deutsche Soldaten irgendwo in der Welt<br />
zu suchen? Eigentlich eine verständliche<br />
Frage. Sie abschlägig zu beantworten,<br />
hieße im Grunde, die Uno abzuschaffen.<br />
Die ist ja darauf angewiesen, dass Staaten<br />
Soldaten zur Verfügung stellen und<br />
vielleicht gerade aus dem Motiv, dass sie<br />
keine unmittelbaren Interessen haben,<br />
sondern das aus internationaler Verantwortung<br />
tun. Das hat auch mit Abgabe<br />
von Souveränität zu tun. Wir können das<br />
nicht von kleinen Ländern verlangen und<br />
für uns ablehnen.<br />
Wie ist Ihre Position?<br />
Selbst in Fragen, wo es um Krieg und<br />
Frieden geht, ist Souveränitätsverzicht<br />
nichts Ungewöhnliches. Es ist exakt im<br />
Grundgesetz geregelt, im Artikel 24. Ich<br />
sage es Ihnen gleich.<br />
De Maizière steht vom Tisch auf, geht zu seinem<br />
Bücherregal und holt einen schweren juristischen<br />
Kommentar heraus, kehrt an den<br />
Tisch zurück, während er schon blättert.<br />
24/2. So, der Bund: „Der Bund kann<br />
sich zur Wahrung des Friedens einem<br />
System gegenseitiger kollektiver Sicherheit<br />
einordnen; er wird hierbei in die Beschränkung<br />
seiner Hoheitsrechte einwilligen“<br />
– das steht sonst nirgendwo –, „die<br />
eine friedliche und dauerhafte Ordnung<br />
in Europa und zwischen den Völkern<br />
der Welt herbeiführen und sichern.“ Für<br />
die Soldaten, für die militärische Führung<br />
und den Verteidigungsminister ist<br />
es als Teil der Friedenssicherung in der<br />
Welt schon etwas ganz Normales, dass<br />
die nationalen Souveränitätsrechte eingeschränkt<br />
sind. Die deutschen Soldaten in<br />
Afghanistan unterstehen mir operativ gesehen<br />
nicht, obwohl ich der Inhaber der<br />
Befehls- und Kommandogewalt bin. Sie<br />
unterstehen dem Kommandeur von Isaf.<br />
Das ist eine ziemliche Einschränkung<br />
von Souveränität. Diesen Gedanken<br />
26 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Anzeige<br />
müssen wir auch für andere Politikfelder<br />
in Europa zulassen – sogar im Budgetrecht.<br />
Wenn der Verteidigungsminister<br />
und der Bundestag aus guten Gründen<br />
ihre Rechte mit Verbündeten teilen, dann<br />
können der Finanzminister und das Parlament<br />
das auch tun. Was in Fragen von<br />
Krieg und Frieden möglich ist, sollte<br />
doch beim Geld auch gehen.<br />
Ziemlich ausführlich in einem Interview<br />
übers Schweigen!<br />
Es ist eben nötig. Notfalls können Sie<br />
ja ein bisschen kürzen. Ich finde es aber<br />
einfach schade, dass in dieser Frage nicht<br />
genug geredet wird.<br />
Bei der Eurorettung sagt Merkel zu heiklen<br />
Punkten so wenig, dass der Bundespräsident<br />
mehr Erklärung von ihr gefordert hat.<br />
Natürlich ist es die Aufgabe politischer<br />
Führung, Debatten anzustoßen: die Ostpolitik,<br />
die Nachrüstungsdebatte, die<br />
Einführung des Euro. Die Kanzlerin<br />
sucht die Debatte über Europa. Aber es<br />
bleibt dennoch seltsam leise.<br />
Thomas de Maizière, der Mann der Exekutive,<br />
muss eben einsehen, dass sich die<br />
Debatte nicht oktroyieren lässt.<br />
Wenn es einmal nicht gelingt, eine Debatte<br />
anzuregen, dann ist es eben so. Man<br />
kann das nicht verordnen, da haben Sie<br />
völlig recht.<br />
Kann man Schweigen genießen?<br />
Ja, es wäre unehrlich, wenn ich jetzt Nein<br />
sagen würde. Zum Beispiel: Als die Fusion<br />
zwischen den Rüstungsunternehmen<br />
EADS und BAE schon gescheitert<br />
war, wurden den ganzen Tag Erfolgsmeldungen<br />
verbreitet, wie gut die Gespräche<br />
vorankämen.<br />
Da haben Sie lustvoll geschwiegen.<br />
Da habe ich schweigend gestaunt und<br />
abends den Kopf geschüttelt über das,<br />
was tagsüber erzählt worden ist.<br />
Wir wollten etwas probieren, aber es ist<br />
jetzt eigentlich ein ungünstiger Moment.<br />
Weil die Zeit fast um ist, weil Sie den<br />
nächsten Termin haben und wir noch<br />
viele Fragen. Trotzdem: Zum Thema<br />
passt ein Musikstück von John Cage, es<br />
heißt: 4’33’’ – Four minutes, thirty-three<br />
seconds. Kennen Sie das?<br />
Können wir machen, wir können es<br />
schnell auflegen, haben Sie es da?<br />
Nein, es ist eben ein Werk der <strong>Stille</strong>.<br />
Und da passiert nichts?<br />
Die Musiker lassen ihre Instrumente<br />
schweigen, ja. Wir würden mit Ihnen<br />
zumindest gern den ersten Satz …<br />
… ich wollte Ihnen aber, bevor wir das<br />
vielleicht machen, sagen, dass in der Musik,<br />
und ich liebe Musik, die Pausen nicht<br />
das Schönste sind, aber sehr wichtig. Bei<br />
Bach kann man das sehen, aber auch anderswo<br />
– eine Pause kann etwas sehr Lautes<br />
und Markantes in der Musik sein. Sie<br />
gestaltet jedes Stück. Und ohne Pausen<br />
wäre große Musik schrecklich, ich meine<br />
nicht die Pause zwischen dem ersten und<br />
dem zweiten Satz, sondern im Stück.<br />
Sie baut das Thema auf, die Dramatik.<br />
Nach meiner Erinnerung waren Helmut<br />
Schmidt und Willy Brandt Künstler der<br />
Pausen. Bevor der wichtige Satz kam, haben<br />
sie lange Pausen gemacht. Die Politik<br />
kann von der Musik lernen.<br />
4’33’’ – wir fragen uns, ob ein Politiker<br />
zumindest den ersten Satz aushält.<br />
De Maizière nickt.<br />
Als 4’33’’ 1952 uraufgeführt wurde, dauerte<br />
der erste Satz 33 Sekunden.<br />
De Maizière lehnt sich im Stuhl zurück. Wir<br />
lassen eine Handy-Stoppuhr laufen. Er sucht<br />
nicht den Blickkontakt, Hände ineinander,<br />
er wirkt, als wären wir nicht da.<br />
33’’. War’s schwer?<br />
Kein Problem. Schweigen ist ja etwas<br />
Schönes. Meine Frau und ich haben einmal<br />
ein ganzes Schweigewochenende gemacht,<br />
in Berlin-Halensee. Es wurde<br />
gebetet und gesungen, aber sonst nur geschwiegen.<br />
Bis auf eine Stunde am Tag,<br />
da wurde über das Schweigen geredet.<br />
Das fiel mir sehr schwer am ersten Tag,<br />
und dann war es schön. Aber auch 33 Sekunden<br />
tun mal gut.<br />
Sie schweigen wirklich gern.<br />
Übertreiben Sie nur nicht. Ein Mönch,<br />
der sein Leben lang schweigt, der<br />
möchte ich auch nicht sein, das wäre ja<br />
schrecklich.<br />
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<strong>Stille</strong><br />
<strong>Macht</strong><br />
Wer viel redet, macht sich angreifbar – diese<br />
Lektion hat Angela Merkel besser begriffen<br />
als alle anderen. Aber mit ihrem beharrlichen<br />
Schweigen untergräbt die Kanzlerin den<br />
demokratischen Diskurs. Und zwar mit voller<br />
Absicht. Wir erleben in Deutschland eine stille<br />
Revolution. Mit Folgen für ganz Europa<br />
von gertrud höhler<br />
W<br />
ann kommt das schweigen<br />
an die macht? Wenn Täter<br />
am Erfolg ihrer Taten<br />
zweifeln. Wenn Worte gefährlicher<br />
werden als unentdeckte<br />
Taten, wenn durchschlagender<br />
Erfolg vom Verstoß gegen die Spielregeln<br />
erwartet wird. Wenn „Aufklärung“ und<br />
„Transparenz“, zwei Grundmelodien der<br />
Demokratie, plötzlich brandgefährlich erscheinen.<br />
Im Stimmengewirr des politischen<br />
Basars geht es darum, Herrschaftswissen<br />
zu schützen. Im Schweigekartell der<br />
Mächtigen gelten Worte als Verrat.<br />
Der Kanzlerkandidat der SPD, Peer<br />
Steinbrück, gibt den Trendbrecher im<br />
Konsensdruck der schweigestarken Chefin.<br />
Sein Credo lautet: Regierung schweigt,<br />
Illustration: Olaf Hajek<br />
28 <strong>Cicero</strong> 12.2012
12.2012 <strong>Cicero</strong> 29
T i t e l<br />
Opposition redet. „Das wichtigste Handwerkszeug<br />
des Politikers ist das Wort“, sagt<br />
der Bewerber, der wegen virtuoser Erfolge<br />
als Wortunternehmer im Feuer steht. „Es<br />
ist geradezu die Mission des Politikers, sich<br />
zu erklären.“ Sich selbst, nicht seine Politik.<br />
Der Wortriese Steinbrück müsste als Rettungseuropäer<br />
das Schweigen lernen.<br />
Der deutsche Wahlkampf wird<br />
das Duell zweier Virtuosen bringen:<br />
die Kanzlerin auf dem Hochseil des<br />
Schweigens, vorsichtig einen Fuß vor<br />
den anderen setzend – und ihr Herausforderer<br />
unten in der Manege als<br />
Löwenbändiger mit dem blanken<br />
Wort unterwegs.<br />
Die Krise bringt das Schweigen<br />
an die <strong>Macht</strong>. Sie begünstigt Talente,<br />
die das Regelset des Nationalstaats<br />
ohne Anfälle von Heimweh versenken<br />
und das Regelwerk der europäischen<br />
Verträge situativ aushebeln.<br />
Führende Währungseuropäer sehen<br />
sich als Herolde eines Epochenwandels,<br />
der Verfassungsnormen außer<br />
Kraft setzt.<br />
<strong>Macht</strong> Schweigen mächtig? Der<br />
Amerikaner Robert Greene sagt: Es<br />
kommt auf die Dosierung an. Greenes<br />
Buch trägt den betörend schlichten<br />
Titel „Power“. Der Autor plädiert<br />
für strategische Sprachaskese: „Sage<br />
immer weniger als nötig.“ Und fügt<br />
an: „Versuchen Sie nicht, Menschen<br />
mit vielen Worten zu beeindrucken.<br />
Je mehr Sie reden, desto<br />
durchschnittlicher und machtloser<br />
wirken Sie.“ Greene geht noch weiter:<br />
„Glänze durch Abwesenheit, um<br />
Respekt und Ansehen zu erhöhen.“<br />
Damit ist das Partyhopping in der<br />
deutschen Hauptstadt als ein Irrtum von<br />
Mittelfeldspielern entlarvt. Greenes Rat:<br />
„Steigern Sie Ihren Wert durch Seltenheit.“<br />
Fast möchte man meinen, Robert<br />
Greene habe Angela Merkels Kunst des<br />
Schweigens studiert. „Wenn Sie sich deutlich<br />
konturieren und einen durchschaubaren<br />
Plan haben, machen Sie sich leichter<br />
angreifbar. (…) Am besten schützen Sie<br />
sich, indem sie so geschmeidig und formlos<br />
sind wie Wasser.“<br />
Schweigen ist das Understatement der<br />
Alphatiere. Es schafft Abstand und senkt<br />
die Kommunikationstemperatur. Steinbrücks<br />
neue Fotomimik – gewaltsam eingeklemmte<br />
Lippen – zeigt: Da will er hin,<br />
in den Olymp der Herrentiere, wo der<br />
Transparenzterror schweigt. Endlich wieder<br />
die Zähne fletschen: Vorsicht! Reißendes<br />
Raubtier!<br />
Schweigen ist die Rüstung der Erfolgreichen,<br />
mit der sie sich die Schwätzer vom<br />
Leibe halten.<br />
In totalitären<br />
Staaten kann man<br />
sich um Kopf und<br />
Kragen reden.<br />
Schweigen schützt<br />
Geheimnisse nicht bewegen, sondern<br />
bewahren: Das ist die Männerlektion, die<br />
weibliche Alphatiere widerwillig lernen.<br />
Angela Merkel hatte sie schon gelernt, als<br />
die Mauer fiel. Westfrauen üben heute<br />
noch: Immer wieder knacken sie den geheimnisarmen<br />
Smalltalk der Männer und<br />
erzwingen Nähe. Intimitätsterror, weiß jeder<br />
Manager, unterminiert die Glaubwürdigkeit.<br />
Hingegen öffnet die Fähigkeit, Geheimnisse<br />
zu bewahren, das Gatter zum<br />
Revier der Alphatiere.<br />
Warum macht Peer Steinbrück, was<br />
die Mädchen machen: „sich erklären“?<br />
Weil das Mädchen Angela den Männerpart<br />
okkupiert hat. Ihr Motto: Es spielt<br />
keine Rolle, was die anderen denken. Es<br />
spielt eine Rolle, wer die <strong>Macht</strong> hat. Im<br />
Transparenzterror der Quasselbude gefangen,<br />
kann Steinbrück die Schweigebastion<br />
der Kanzlerin nicht sprengen.<br />
Loose lips sink ships, sagen die Briten –<br />
Geschwätzigkeit versenkt Schiffe –, um<br />
den Transparenzterror zu entlarven.<br />
Der kluge Straßenjunge Peer hätte<br />
bei den Engländern vorbeischauen<br />
sollen, ehe er versuchte, gegen das<br />
Schweigen seiner Rivalin anzureden.<br />
Merkel kann sicher sein, dass er<br />
ihr wichtigstes Geheimnis nicht entdecken<br />
wird: dass auch in der Gemeinschaft<br />
der Staatschefs niemand<br />
ihr Geheimnis kennt. Keeping the<br />
secret heißt für Merkel: radikaler<br />
Alleingang. Genau diese Isolation<br />
könnte eines Tages die Glaubwürdigkeit<br />
der stählernen Königin<br />
zersetzen.<br />
Wenn Schweigen mächtig macht,<br />
was kostet dieser Zugang zur <strong>Macht</strong>?<br />
In totalitären Staaten kann man<br />
sich um Kopf und Kragen reden.<br />
Schweigen schützt, wo Meinungsfreiheit<br />
fehlt. Die Demokratie bietet<br />
Rede- und Meinungsfreiheit an.<br />
Sie garantiert eine freie Presse und<br />
lebt vom Wettbewerb der Meinungen<br />
und Märkte. Als soziale Marktwirtschaft<br />
ist sie mit diesen Zusagen<br />
nicht nur ab und zu, sondern<br />
„täglich von Entartung bedroht“, so<br />
Wilhelm Röpke, einer ihrer Väter.<br />
Solange das System gut läuft, haben<br />
Reden und Schweigen gleiche<br />
Chancen. Jeder kann sich durch Reden<br />
qualifizieren oder durch Schweigen.<br />
Auch Disqualifikation kann man in<br />
beiden Revieren holen: mit Schweigen,<br />
wo man reden sollte, oder mit Reden, wo<br />
man schweigen sollte. Reden und Schweigen<br />
sind scharfe Waffen. Sie treffen nicht<br />
nur andere – sie können auch den, der sie<br />
führt, verwunden. Beide Waffenkammern<br />
sind für Führungskräfte viel gefährlicher<br />
als für die Geführten.<br />
Helmut Kohl hat die Bedrohung in einem<br />
kurzen Satz beschrieben: „Werde nie<br />
von denen abhängig, die von dir abhängig<br />
sind.“ Was aber wäre geschehen, wenn<br />
der Schweiger Kohl 1999 seine Schweigebastion<br />
gesprengt und sein Ehrenwort gebrochen<br />
hätte? Seine spontane Antwort:<br />
Illustrationen: Olaf Hajek<br />
30 <strong>Cicero</strong> 12.2012
„Dann wäre ich ganz kaputt.“ Rainer Eppelmann,<br />
damals Chef der CDU-Sozialausschüsse,<br />
öffnete die tragische Bühne,<br />
um das Dilemma des Schweigers zu zeigen:<br />
„Der Ehrenvorsitzende“, so Eppelmann,<br />
„befindet sich in einer Situation, wie<br />
man sie aus griechischen Tragödien kennt:<br />
Wie immer der Held sich entscheidet,<br />
entscheidet er sich falsch.“ Wer<br />
so häufig das Schweigen wählt wie<br />
die deutsche Bundeskanzlerin, wird<br />
nicht nur diesen Gedanken, sondern<br />
die meisten anderen Argumente kennen,<br />
die das zweischneidige Schwert<br />
des Schweigens nicht unbedingt zur<br />
ersten Wahl für den <strong>Macht</strong>erhalt<br />
machen. Warum entscheidet sie<br />
sich trotzdem immer wieder dafür,<br />
schwer berechenbar zu bleiben, anstatt<br />
klare Positionen zu liefern?<br />
Selbst wenn sie redet, bleibt<br />
Merkel nah an der Auskunftsverweigerung.<br />
Ihr „Auf-Sicht-Fahren“<br />
strebt zur informationsfreien Wortbotschaft.<br />
Was die Kanzlerin damit<br />
beim Publikum erreicht, ist durchaus<br />
beachtlich für ihr Ziel des <strong>Macht</strong>erhalts:<br />
Die Erwartungen der Bürger<br />
haben sich längst dem nachrichtenlosen<br />
Gesamtbild angepasst. Das Publikum<br />
belohnt durch hohe Popularitätswerte,<br />
dass die Kanzlerin es nie<br />
erschreckt. Nicht allein Merkel, sondern<br />
die gesamte Rettungsbootscrew,<br />
die das Containerschiff Europa unsinkbar<br />
machen will, setzt auf die<br />
<strong>Macht</strong> des Schweigens. Niemand aus<br />
dem Publikum, die degradierten Parlamentarier<br />
eingeschlossen, springt<br />
auf die Bühne und fordert Auskunft<br />
zu dem Widerspruch. Während<br />
der Erklärungsbedarf steigt, wächst<br />
die Schweigezone mit, in der die Entscheider<br />
Deckung suchen. Die Währungseuropäer<br />
verzocken Kultur-Europa, so bemerken<br />
wir nebenbei. Ihr geheimbündlerisches<br />
Wirken macht sie zu Komplizen, die immer<br />
kühnere Abbrucharbeiten am europäischen<br />
Haus als Sanierungskonzept für das<br />
europäische Luftschloss der Zukunft ausgeben.<br />
Über solche Sprünge in rechtsfreie<br />
Räume muss strategisch geschwiegen werden,<br />
um den Einwänden der Verfassungsrechtler<br />
und Wettbewerbshüter zu entgehen.<br />
Rechtsunsicherheit muss uns das neue<br />
Europa schon wert sein, lautet die unausgesprochene<br />
Maxime.<br />
Die Kanzlerin hat<br />
viel dafür getan,<br />
um die Rechtsunsicherheit<br />
zu<br />
entdramatisieren<br />
Die Mutation der Europäischen Zentralbank<br />
zur multifunktionalen Megamachtzentrale<br />
mit widersprüchlichsten<br />
Befugnissen macht deutlich: Preisstabilität<br />
war gestern. Im europäischen Götterhimmel<br />
entsteht ein Edelcasino, das zugleich<br />
die Aufsicht im Circus Maximus der Gierigen<br />
und ihrer Gönner führt. Haftung und<br />
Kontrolle werden entkoppelt.<br />
Der „Europäische Stabilitätsmechanismus“,<br />
kurz und täuschend ESM genannt,<br />
leugnet seine destabilisierende Wirkung.<br />
ESM ist der Deus ex machina, der perfekte<br />
Maschinengott aus dem Casino der<br />
Retter, die keine demokratische Ermächtigung<br />
mehr benötigen. Die „Gouverneure“,<br />
Finanzminister aus 17 Ländern, sind von<br />
Anfang an strafimmun gestellt. Mit diesem<br />
Freibrief in der Tasche genehmigen sie<br />
sich enorme Durchgriffsrechte. Ihr Konstrukt,<br />
der ESM, ist in bester antidemokratischer<br />
Manier unkündbar, auf Ewigkeit<br />
angelegt. Die 17 schützen sich durch ein<br />
Schweigegebot vor Kontrolle. Die maximale<br />
Höhe der Geldtransfers, die sie auslösen,<br />
kann „gehebelt“ werden: Der EU-Rettungswortschatz<br />
segelt dicht am Schweigen.<br />
Die strukturelle Analogie des ESM zu Geheimbünden<br />
ist offenkundig: Ideologiefreie<br />
Mechanik statt Moral; Kartell des Schweigens;<br />
illegale Sickerströme zersetzen<br />
die legalen Strukturen. Stefan Homburg,<br />
Finanzwissenschaftler in Hannover,<br />
nennt den ESM „ein zutiefst<br />
korruptes Begünstigungssystem“.<br />
Er sieht die „Gefahr eines Systemwechsels“.<br />
Innovationen von dieser<br />
Dramatik können nur in einem<br />
Klima des konspirativen Schweigens<br />
durchgesetzt werden. Auch der Griff<br />
der Europäischen Zentralbank nach<br />
neuen Befugnissen, die im Rechtsstaat<br />
auf verschiedene Institutionen<br />
verteilt waren, und der Tausch ihrer<br />
Unabhängigkeit gegen eine Verstrickung<br />
in Widersprüche spiegelt eine<br />
bis dahin unbekannte <strong>Macht</strong>politik.<br />
Die Aufgabe der EZB, den Geldwert<br />
stabil zu halten, widerspricht nicht<br />
nur dem Kauf von Ramschanleihen,<br />
sie schließt auch die von den EU-<br />
Chefs beschlossene Aufsicht über<br />
immerhin 6000 europäische Banken<br />
aus. Das Schweigegelübde der EU-<br />
Spitzenpolitiker umfasst nun schon<br />
so viele Verstöße gegen EU-Recht,<br />
dass sich eine anmaßende Routine<br />
einstellt.<br />
Die deutsche Kanzlerin hat viel für<br />
die Entdramatisierung dieser neuen<br />
Rechtsunsicherheit in Europa getan.<br />
Relativierung ist ihre Stärke.<br />
Sie hat den Verlust von zwei deutschen<br />
Kandidaten für die Stabilitätspolitik<br />
von Internationalem Währungsfonds und<br />
Europäischer Zentralbank nicht nur billigend<br />
in Kauf genommen, sondern strategisch<br />
im Kalkül gehabt. Axel Weber kapitulierte<br />
als Präsident der Bundesbank vor<br />
ihrem Schweigen und wechselte über die<br />
USA in die Schweiz. Jürgen Stark, Chefvolkswirt<br />
der EZB, verließ die Zentralbank<br />
wegen der verdeckten Umpolung ihrer Aufgaben.<br />
Merkel entschleunigte die Prozesse,<br />
bis niemand mehr aufmerksam hinsah.<br />
Mit dem Verzicht auf Schlüsselstellungen<br />
für deutsche Kandidaten förderte sie den<br />
Glaubwürdigkeitsverlust der europäischen<br />
Institutionen. So kapert die Exekutive<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 31
T i t e l<br />
Entscheidungsräume der Parlamente. Das<br />
<strong>Macht</strong>mittel ist Schweigen. Konsensdruck<br />
treibt die Parteien über ihre bisher gehüteten<br />
Grenzen in ein Allparteiengelände,<br />
wo ein Lob der Kanzlerin für neue Mehrheiten<br />
die Preisgabe des eigenen Territoriums<br />
belohnt. Keine Deklaration propagiert<br />
diese autokratische Kurswende.<br />
Die verspätete Wahrnehmung garantiert<br />
Gefügigkeit. Der parlamentarische<br />
Wettbewerb, ein Verfassungsgebot,<br />
wird weggeschwiegen. Niemand<br />
weiß mehr, wann das angefangen hat.<br />
Und jeder will dabei sein, weil politische<br />
Karrieren neuerdings Jasagerlastig<br />
werden.<br />
Dominanz durch Schweigen<br />
knechtet wirksamer als autoritäre<br />
Reden der Führung. Wer schweigt,<br />
nährt die Vermutung, dass er oder<br />
sie mehr weiß und Gründe hat, das<br />
Reden aufzuschieben. Alle werden<br />
noch wachsamer, um dabei zu<br />
sein, wenn die Chefin ihr Schweigen<br />
bricht. Alle werden zugleich immer<br />
unsicherer, ob die Schweigerin<br />
bereits ein Urteil im Kopf hat, das<br />
sie zu Verlierern macht. Das Schweigen<br />
der Angela Merkel begleitet auch<br />
Untergebene, die, wie man später<br />
entdeckt, in ihrem Auftrag als Stimmungs-Scouts<br />
unterwegs sind. Merkel<br />
sorgt dafür, dass niemand weiß,<br />
ob ein Auftrag der Chefin einen Minister<br />
oder eine Ministerin in vermintes<br />
Gelände treibt, aus dem sie<br />
lädiert zurückkehren. Nur selten und<br />
meist viel später wird die Vermutung<br />
zur Gewissheit, dass da einer zum<br />
Prügelknaben wurde, weil die Vorsitzende<br />
eine Testfahrt ins Nachbarrevier<br />
oder ins Niemandsland angeordnet<br />
hatte. Die Prügelknaben schweigen mit;<br />
diese Garantie ist für schweigende Chefs<br />
immer verlässlich, weil niemand in die Loser-Ecke<br />
will. Vielleicht läuft’s beim nächsten<br />
Mal besser. So viel zum deutschen Spitzenplatz<br />
im Orden der Schweigebündler.<br />
Warum bricht keiner der Komplizen im<br />
Rettungsroulette das Schweigegelübde?<br />
Weil alle aus unterschiedlichen Gründen an<br />
der Bad Story von Europa festhalten müssen.<br />
Die einen, weil ihre Heimatländer die<br />
Hände schon tief in den Taschen der Geber‐Countrys<br />
haben, die anderen, weil sie<br />
nicht zugeben wollen, dass die europäische<br />
Währungsstory eine Bad Story bleiben wird.<br />
Alle miteinander schließlich, weil sie zu<br />
Komplizen geworden sind, die vertuschen<br />
müssen, wie viele Regeln sie gebrochen<br />
und wie viel Vertrauen sie verspielt haben.<br />
Wer einen Instabilitätsfonds wie den ESM<br />
als „Stabilitätsmechanismus“ verkauft und<br />
So kann der<br />
Systemwechsel<br />
sich anschleichen<br />
wie ein Dieb in der<br />
Nacht<br />
das demokratische Grundversprechen außer<br />
Kraft setzt, Irrtümer revidieren zu können,<br />
der steht auf schwankendem Boden.<br />
Der Bedarf an Verschwiegenheit wird jeden<br />
Tag größer.<br />
Angela Merkel hat, wie einige ihrer<br />
europäischen Mitspieler, die Vorläufigkeit<br />
von Systemen erlebt. Sie hat weniger<br />
Stress beim Systemwechsel unserer Tage als<br />
ihre Westkollegen, die nur Verluste sehen.<br />
Die Kanzlerin kann eine Gewinnerbilanz<br />
schrei ben, die neue Regeln setzt: immer<br />
mehr <strong>Macht</strong> für Merkel bei immer mehr<br />
Verlusten in Europa. Ihr Erfolgsmodell ist<br />
antizyklisch. Immer mehr Aufstiegspotenzial<br />
für die eigene Karriere – egal, wie das<br />
Rettungsroulette ausgeht. Nur auf eines<br />
muss sie achten, und dafür hat sie vorgesorgt:<br />
Wählbar muss sie bleiben. Zu diesem<br />
Zweck hat sie die Kernbotschaften<br />
der anderen Parteien auf CDU-Gelände<br />
angesammelt. Das Schweigen der Kanzlerin<br />
macht eine Ernte möglich, wie sie<br />
sonst keiner in Europa einfährt.<br />
Die grenzüberschreitend disponible<br />
Kanzlerin kann jedes europäische<br />
Amt übernehmen, weil sie für<br />
keine einzige Option einen Widerspruch<br />
mitbringt. Die multifunktionale<br />
Chefin von Deutschland ist<br />
grenzenlos vermittelbar. Ein schöner<br />
Lohn für einen Schweigemarsch der<br />
Sonderklasse.<br />
Die deutsche Kanzlerin erscheint<br />
der Mehrheit der Deutschen als „alternativlos“.<br />
Sie hat sich in die Köpfe<br />
der Bürger hineingeschwiegen und<br />
dieses Schweigen ab und zu kühl erklärt.<br />
Die Entscheidungen seien allesamt<br />
„alternativlos“ – was im Klartext<br />
heißt: Ihr braucht gar nicht<br />
nachzudenken, es gibt keine andere<br />
Lösung. <strong>Macht</strong> euch keine Sorgen,<br />
wir entscheiden für euch. Das Publikum<br />
atmet auf. Die meisten Deutschen<br />
glauben, dass ihre Kanzlerin<br />
nur das Unausweichliche mitmacht,<br />
und meistens stimmt das sogar. Nur<br />
die Fiskalunion, jene dem Privatleben<br />
entlehnte Idee, dass Sparkommandos<br />
und säckeweise transferierte<br />
Euros Investitionen begünstigen<br />
könnten, war ein Favorit der deutschen<br />
Kanzlerin. Dass die Zinslast<br />
der Schuldner die geliehenen Euros<br />
aufzehrt, wird nun seit Monaten als<br />
Überraschung diskutiert. Merkel<br />
profitiert von ihrer Schweigsamkeit mehr<br />
als die Wortgewandten von den Worten.<br />
Sie weiß, dass sie kein Wort zurückholen<br />
kann. Worte legen fest, Schweigen lässt alles<br />
offen. Schweigen liefert eine Aura, die<br />
der Sprecher kaum erreicht. Je mehr er redet,<br />
desto weniger bleibt offen. Der Redner<br />
konsumiert die Deutungsspielräume<br />
der Zuhörer. Wer ins Trommelfeuer von<br />
Peer Steinbrücks Wortsalven geraten ist,<br />
braucht Zeit, um mit dem Selberdenken<br />
wieder anzufangen.<br />
Angela Merkel hat einen Redestil entwickelt,<br />
der so nah am Schweigen liegt,<br />
dass die Spielräume fürs Selberdenken<br />
im Prinzip unermesslich bleiben. Aber<br />
Illustration: Olaf Hajek<br />
32 <strong>Cicero</strong> 12.2012
SEIT 1971 ÜBERZEUGT, DASS ES<br />
KEINE GESCHMACKVOLLERE<br />
FORTBEWEGUNG GIBT.<br />
NICHTS FÜR UNENTSCHLOSSENE. SEIT 1842.
T i t e l<br />
wer traut sich selbst schon zu, diese Spielräume<br />
kreativ zu füllen? Die Kanzlerin<br />
der kleinen Schritte stellt sicher, dass die<br />
Stürme der Epochenwende in Deutschland<br />
zur leichten Brise abflauen, sagt der<br />
Common Sense. So kann der Systemwechsel<br />
sich anschleichen wie ein Dieb<br />
in der Nacht.<br />
Die Strategie des Schweigens ist längst<br />
zur europäischen Infektion geworden. Die<br />
Statements nach den Konferenzen werden<br />
immer inhaltsärmer. Immerhin setzen die<br />
meisten „Retter“ auf das Geld der anderen,<br />
während das Risiko kaum vertretbar<br />
und der Erfolg sehr fraglich ist. Was alle<br />
in ein Kartell des Schweigens zwingt: Sie<br />
stehen auf der Bühne in einem Drama,<br />
dessen letzten Akt niemand zu entwerfen<br />
wagt. Keiner riskiert das Bekenntnis, das<br />
alle immer öfter zueinandertreibt: Wir haben<br />
keine Good Story für Europa. Wir kaufen<br />
Zeit und täuschen das Publikum. Wir<br />
brechen die Entscheidungsmacht der Parlamente,<br />
um Widerspruch zu zähmen. Wir<br />
lähmen den demokratischen Wettbewerb<br />
in Europa. Europa widerspricht dem Kanzler<br />
Willy Brandt mit einem eisigen neuen<br />
Slogan: „Weniger Demokratie wagen“.<br />
Genau dies sind die Voraussetzungen<br />
für das große planwirtschaftliche Abenteuer,<br />
das in Deutschland angezettelt wird.<br />
Nichts schützt einen Undercover-Umsturz<br />
besser als das Paradox: Eine quasi monarchische<br />
Rangordnung macht die deutsche<br />
Staatschefin zur „Königin von Europa“.<br />
Die Schmeichler setzen nach der berechnenden<br />
Nobilitierung der deutschen Wirtschaftskompetenz<br />
auf den Wertekanon<br />
der Demokraten und baggern Dukaten.<br />
Die königliche Chefin nutzt derweil den<br />
Schlagschatten des Eurodramas, um Schritt<br />
für Schritt die Grundlagen des ökonomischen<br />
Höhenflugs der Deutschen abzuräumen.<br />
Ein fast schrilles Paradox: Der gigantische<br />
internationale Marktplatz, auf den<br />
alle starren, zeigt die Epochensaga der Eurorettung<br />
– und alle wollen dabei sein. Der<br />
Hauptakteur Deutschland ist in Wahrheit<br />
ein zwiespältiger Mitläufer. Um das zu verdecken,<br />
wurde der Tarnanzug für die Herrin<br />
geliefert, der Hermelin für die Königin<br />
von Europa nach dem Motto: Schmeichle<br />
der Göttin, die du brauchst.<br />
Dieses Szenario der verdeckten Widersprüche<br />
liefert die beste Tarnung für<br />
das viel folgenreichere Drama, das die<br />
Meisterin des königlichen Schweigens nun<br />
im Aufmerksamkeitsschatten inszeniert: In<br />
Deutschland läuft der entschlossene Umbau<br />
einer erfolgreichen Marktwirtschaft in<br />
eine postdemokratische Staatswirtschaft.<br />
Dies ist das eigentliche revolutionäre Paradox<br />
dieser Jahre. Die Beweise häufen<br />
sich, aber die Bürger beharren auf politischer<br />
Arglosigkeit. Schlagartig begreifen<br />
wir, dass es „Erklärungen“ für diese Tarnkappenpolitik<br />
nicht geben kann. Schweigen<br />
als Mittel der <strong>Macht</strong> holt seine größten<br />
Erfolge nach der einfachen Regel: Handle,<br />
ohne die Ziele deines Handelns zu zeigen.<br />
Handle ohne Worte; Schweigen ist<br />
der zuverlässigste Schutzwall für revolutionäre<br />
Eingriffe in ein Konsenssystem. Demokratische<br />
Grundregeln lassen sich aushebeln,<br />
wenn sie ohne Kommentar außer<br />
Kraft gesetzt werden. Ist der Eingriff dramatisch,<br />
reichen Stichworte aus dem Wertekonsens<br />
der Demokraten. Drei Monate<br />
nach dem Tsunami in Japan reichte das<br />
Stichwort „Fukushima“ aus, kombiniert<br />
mit dem Griff in die Waffenkammer der<br />
Ethik, um die Verstaatlichung der Energiewirtschaft<br />
in Deutschland durchzusetzen.<br />
Kein Konzernchef, kein Wissenschaftler tadelte<br />
die Täuschungsmanöver der Kanzlerin<br />
bei den Begründungen. Dutzende Gesetze<br />
und Verfassungsgebote wurden vom<br />
Tisch gefegt. Subventionsversprechen garantierten<br />
das Schweigen der Enteigneten.<br />
Ehe der Willkürakt verstanden war, wurde<br />
er umgedeutet zur quasi metaphysischen<br />
Fügung: Die „Energiewende“ wurde mit<br />
dem Weihwasser der historischen „Wende“<br />
getauft und jeder Kritik entzogen. Die Erfinderin<br />
des Coups trat zurück ins Schweigen,<br />
und nach einem Jahr, während ihr Joker<br />
Peter Altmaier das Publikum anstelle<br />
des Sachkenners Norbert Röttgen unterhält,<br />
beruft die Schweigekönigin Versammlungen<br />
ein, in denen das Planungschaos anderen<br />
zur Last gelegt wird. Die Initiatorin<br />
des totalitären Alleingangs verschiebt die<br />
Verantwortung, und keiner widerspricht.<br />
Unterdessen nehmen die schweigenden<br />
Übernahmen in Deutschlands Wirtschaft<br />
Fahrt auf. Alle starren in Richtung Energie,<br />
nebenbei wird eine Megafusion im internationalen<br />
Rüstungsmarkt (EADS und<br />
BAE) verhindert: Die deutsche Staatsbeteiligung<br />
sei zu niedrig. Monatelang wurden<br />
Legenden gestreut, die andere Verhinderer<br />
benannten; die Kanzlerin erschien<br />
nicht auf der Bühne des groß inszenierten<br />
Scheiterns; sie diktierte und schwieg.<br />
Enteignung und Planwirtschaft bestimmen<br />
inzwischen das Bild in Deutschland. Die<br />
Nuklearwirtschaft wird über Jahre um minimale<br />
Entschädigungen für die Verletzung<br />
der Aktionärsrechte, der Eigentums- und<br />
Vertragsrechte kämpfen müssen: Rechtsunsicherheit<br />
wird national wie europäisch<br />
zum Alltagsklima. Der Staat tritt nicht nur<br />
als Superregulierer auf, er lähmt auch funktionierende<br />
Märkte, um seine <strong>Macht</strong> zu<br />
sichern: „Vater Staat als großer Monopolist,<br />
der alles regelt“, so das Handelsblatt am<br />
26. Oktober dieses Jahres. „Der Staat ist auf<br />
dem Vormarsch“, sagt der Vorsitzende der<br />
Monopol-Kommission, Daniel Zimmer.<br />
Eben erst haben staatliche Mitspieler in<br />
den Landesbanken den Beweis geliefert,<br />
dass sie keine Manager sind, schon sprengt<br />
die Selbstermächtigung der Politik die<br />
marktwirtschaftliche Arbeitsteilung weg.<br />
Mitten in der schwersten Krise des europäischen<br />
Projekts verspielt der deutsche Staat<br />
mit einer Serie von schweigenden Übernahmen<br />
die marktwirtschaftlichen Erfolge<br />
von Jahrzehnten. Wer will uns sagen, dieser<br />
Übernahmepoker hätte mit der politischen<br />
Führung dieses Landes nichts zu tun?<br />
Staatswirtschaft löst Fachkompetenz ab –<br />
das gilt für gute Unternehmensführung,<br />
für Flüge und Postsendungen, für Unisex-<br />
Versicherungen, Vorstandsqualifikationen,<br />
für Getreide im Tank und für Elektroautos,<br />
für Medikamente, Krankenkassen und Ladenöffnungszeiten.<br />
Ein heilloses Gemisch<br />
von Staatseingriffen mit ideologischer Einfärbung<br />
nimmt die Dynamik aus der Konjunktur<br />
und kostet Arbeitsplätze. Wo steht<br />
in diesem anmaßenden Zugriff der Politik<br />
auf marktwirtschaftliche Erfolge die<br />
Kanzlerin? Keiner soll es wissen. Wo etwas<br />
schiefgeht, war sie nicht dabei. Ihr Schweigen<br />
ermüdet die Führungskräfte der Wirtschaft,<br />
ihre Subventionsangebote legen die<br />
Kritiker an die Kette. Deutschland wird<br />
an Vorwärtsdrang verlieren, wenn immer<br />
mehr starke Players nur eine Hand zum<br />
Anpacken haben – und die andere zur Faust<br />
geballt in der Tasche.<br />
Gertrud Höhler ist Beraterin<br />
und Publizistin. Zuletzt<br />
erschien von ihr „Die Patin –<br />
Wie Angela Merkel Deutschland<br />
umbaut“ (Orell Füssli)<br />
Foto: Picture Alliance/DPA<br />
34 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Ihre Meinung zu „Ein Herz für Kinder“, Sabine Christiansen?<br />
Die Hilfsorganisation von BILD<br />
Große Spendengala am 15.12. live im ZDF.<br />
www.ein-herz-fuer-kinder.de
T i t e l<br />
Fünf schlechte<br />
Schweiger<br />
Wenn Sie nur geschwiegen hätten: Fünf Fallbeispiele aus der deutschen Politik, die zeigen, wie<br />
man sich ins Verderben stürzt – und wie viel <strong>Macht</strong> in der Dosierung der eigenen Worte liegt<br />
von Georg Löwisch<br />
Der Spruch geht auf den spätrömischen<br />
Gelehrten Boëthius zurück:<br />
„Si tacuisses, philosophus mansisses.“ –<br />
„Wenn du geschwiegen hättest, wärst<br />
du ein Philosoph geblieben.“ In<br />
Boëthius’ im 6. Jahrhundert verfassten<br />
Werk „Trost der Philosophie“ fragt<br />
ein Aufschneider sein Gegenüber:<br />
„Intellegis me esse philosophum?“ –<br />
„Siehst du ein, dass ich ein Philosoph<br />
bin?“ Die Antwort: „Intellexeram, si<br />
tacuisses.“ – „Ich hätte es erkannt,<br />
wenn du geschwiegen hättest.“ Daran<br />
werden in der heutigen Politik immer<br />
wieder Mächtige erinnert, die sich<br />
ins Abseits oder sogar um ihr Amt<br />
reden. Fünf Fälle aus den vergangenen<br />
Jahren haben wir uns genauer<br />
angesehen. Zudem haben wir – ziemlich<br />
erfolglos – die fünf Betreffenden um<br />
Stellungnahme gebeten. Von Boëthius’<br />
Sinnspruch existiert im Übrigen auch<br />
eine zeitgenössische Version des<br />
österreichischen Kabarettisten Josef<br />
Hader, die lautet: „Hätts’t die Pappn<br />
g’holtn, hätt kaner g’merkt, dass’d<br />
deppat bist.“<br />
„Spätrömische Dekadenz“<br />
G<br />
uido Westerwelles Artikel<br />
war kurz, aber heftig. Welt vom<br />
11. Februar 2010, Seite 6, sechs<br />
Absätze, Titel: „Vergesst die Mitte nicht“,<br />
Hinweis: „Der Autor ist Vizekanzler und<br />
FDP-Vorsitzender.“ Der Gastkommentar<br />
erschien nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts,<br />
das die Hartz‐IV‐Sätze<br />
für Kinder gekippt hatte. Schnell kam<br />
Westerwelle auf den Punkt, auf seine ewige<br />
Mehr-Netto-vom-Brutto-Botschaft. „Wie<br />
in einem pawlowschen Reflex wird gerufen,<br />
jetzt könne es erst recht keine Entlastung<br />
der Bürger mehr geben, das Geld<br />
brauche man für höhere Hartz‐IV‐Sätze.“<br />
Er kommentierte sich zum Anwalt der fleißigen<br />
Mitte und präsentierte dann den<br />
Hauptschlag: „Wer dem Volk anstrengungslosen<br />
Wohlstand verspricht, lädt zu<br />
spätrömischer Dekadenz ein.“<br />
Der Satz trägt eine seltsame Denkrichtung<br />
in sich, es geht von oben nach<br />
unten, vom Vorzeigen einer humanistischen<br />
Bildung direkt runter zu den<br />
Hartzern. Die Opposition hat das erkannt<br />
und sich den Satz gleich zur Empörung<br />
vorgenommen, die CSU hat ihn<br />
genutzt, um Westerwelle taktische Fehler<br />
vorzuwerfen, und Ursula von der Leyen<br />
hat sich auch noch ein bisschen profiliert.<br />
Die FDP tuschelte, was dieses Erdbeben<br />
bloß wieder bedeute.<br />
Zu besichtigen war hier ein Grundfehler,<br />
man kann sagen der Westerwelle‐Defekt.<br />
Eigentlich geht der Mechanismus<br />
so: Ein Oppositionsmann redet<br />
sich hoch. Oben angekommen, schaltet<br />
er um. Die Kraft liegt dann im Handeln,<br />
und ein guter Regierungspolitiker spart<br />
mit seinen Worten so, dass sogar Äußerungen<br />
wie Taten daherkommen.<br />
Westerwelle konnte nicht raus aus<br />
dem Oppositionsmodus, in dem er sich<br />
über ein Jahrzehnt befand, als er die Talkshows<br />
und Regionalzeitungen abgeklappert<br />
hat. Der Vizekanzler regierte nicht,<br />
er redete. Statt zu schweigen, hat er noch<br />
einmal das zelebriert, was er kannte und<br />
konnte. Und so bot er der Welt den Dekadenz-Kommentar<br />
an.<br />
Illustrationen: Olaf Hajek<br />
36 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Anzeige<br />
Es war nicht eine unmittelbare Folge,<br />
dass er die Ämter als Vizekanzler und<br />
FDP-Vorsitzender verlor, aber der Satz<br />
mit der spätrömischen Dekadenz ist der<br />
Moment, von dem sich eine Linie ziehen<br />
lässt, bis seine Parteifreunde ihn dann<br />
2011 vom Vorsitz verdrängt haben. Jetzt,<br />
am Ende seiner Amtszeit als Außenminister,<br />
bekommt er immer mal wieder gute<br />
Kritiken. Nicht, weil er viel tut. Weil er<br />
schweigt.<br />
Unsere Bitte um Stellungnahme beantwortet<br />
Westerwelles Ministerium so: „Vielen<br />
Dank für Ihre Anfrage, die wir leider absagen<br />
müssen. Mit freundlichen Grüßen<br />
Pressereferat“.<br />
„Der Bush macht das Gleiche,<br />
was der Adolf gemacht hat“<br />
E<br />
s kann schon sein, dass sie nicht<br />
nur dieses Zitat das Amt gekostet<br />
hat, sondern vor allem die<br />
furchtbare Rechthaberei danach. Am<br />
Ende hat es mindestens drei Grundversionen<br />
davon gegeben, was die damalige<br />
Bundesjustizministerin Herta Däubler-<br />
Gmelin über Hitler und Bush so geäußert<br />
hat an jenem 18. September, vier<br />
Tage vor der Bundestagswahl 2002, als<br />
sich Schröder und Stoiber ein knappes<br />
Rennen lieferten. Aber zunächst der<br />
Rahmen. Personen: die SPD-Politikerin<br />
Däubler-Gmelin; Michael Hahn, Wirtschaftsredakteur<br />
des Schwäbischen Tagblatts<br />
in Tübingen; Christoph Müller,<br />
Chefredakteur des Tagblatts. In Nebenrollen<br />
Gewerkschafter, Tagblatt-Redakteure,<br />
Berliner Journalisten. Szene eins:<br />
Mittagessen in der Sportgaststätte des<br />
TSV Derendingen, am Tisch Däubler-<br />
Gmelin, ihr gegenüber Hahn, dazu etwa<br />
30 Gewerkschafter. Diskussion über den<br />
deutschen Wahlkampf, die bösen USA,<br />
den Irakkonflikt, die sehr bösen USA,<br />
George W. Bush, die superbösen USA.<br />
Szene zwei: Hahn kommt in die Redaktion:<br />
Heilandsack, was er da im Block<br />
hat! Später telefoniert er mit einer aufgeregten<br />
Däubler-Gmelin. Noch später<br />
kommt Däubler-Gmelin in die Redaktion<br />
(noch aufgeregter). Szene drei:<br />
Däubler-Gmelin in der Bundespressekonferenz,<br />
Freitag vor der Wahl, Hitze<br />
des Gefechts.<br />
Nun die drei Versionen des Zitats.<br />
1. „Der Bush macht das Gleiche, was<br />
der Adolf auch gemacht hat. Er geht<br />
nach außen.“ So hat es der Redakteur<br />
Hahn nach eigenen Angaben in sein<br />
Notizbuch geschrieben.<br />
2. „Bush will von seinen innenpolitischen<br />
Problemen ablenken. Das ist eine beliebte<br />
Methode. Das hat auch Hitler<br />
schon gemacht.“ So hat es die Politikerin<br />
nach Darstellung des Redakteurs<br />
und seines Chefredakteurs während<br />
ihres aufgeregten Anrufs gesagt.<br />
3. Nachdem ein Teilnehmer darauf hingewiesen<br />
habe, dass Bush mit der<br />
Irakpolitik von innenpolitischen Problemen<br />
ablenken wolle, sagte sie:<br />
„Das kennen wir aus unserer Geschichte<br />
seit Adolf Nazi.“ So hat sie es<br />
am übernächsten Tag vor der Bundespressekonferenz<br />
erklärt.<br />
Im Laufe der Affäre hat Däubler-<br />
Gmelin noch viel mehr gesagt, grundsätzlich,<br />
aber auch zu den Details von<br />
den Details. Dass der Bericht Verleumdung<br />
sei. Dass sie nichts autorisiert habe.<br />
Dass sie gesagt habe, sie habe nicht Hitler<br />
mit Bush vergleichen wollen (was so<br />
auch im Tagblatt stand). Dass es ein internes<br />
Mittagessen war. Dass es sich um<br />
ein Wahlkampfmanöver handle. Dass der<br />
Fehler darin bestehe, dass hier nur Lokalreporter<br />
am Werk waren (wobei Pech<br />
war, dass Hahn Politologie in Washington<br />
studiert hat). Dass sie nicht zurücktreten<br />
werde.<br />
Däubler-Gmelin trägt einen Spitznamen.<br />
Schwäbische Schwertgosch. Das<br />
Bild führt in die Irre, wenn man sich darunter<br />
eine Kämpferin vorstellt, die das<br />
Schwert elegant führt, bevor sie zustößt.<br />
Däubler-Gmelin fuchtelte und stocherte<br />
herum. Sie hat sich nicht lösen können<br />
von ihrer Rechthaberei und nicht<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 37<br />
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erkannt, dass es in der Politik darauf ankommt,<br />
wie etwas ankommt. Auch wenn<br />
es im Detail nicht so gemeint war. So<br />
verpasste sie die Chance zu einer schnellen,<br />
klaren Entschuldigung.<br />
Wir haben im Übrigen noch einen<br />
Akteur vergessen. Gerhard Schröder. Als<br />
die Affäre aufkommt, sagt er, dass er einerseits<br />
seiner Ministerin glaube, nicht<br />
Bush mit Hitler verglichen zu haben.<br />
Und zweitens, dass jemand, der so einen<br />
Vergleich anstelle, nicht in seiner Regierung<br />
sitzen könne. Er schreibt noch einen<br />
Brief an Bush. Dann wartet er bis<br />
zur Schließung der Wahllokale. Däubler-<br />
Gmelin hat viel später einmal erzählt, sie<br />
habe erwartet, dass der Kanzler noch eine<br />
Ehrenerklärung für sie abgibt. Hat er<br />
nicht. Erst als Däubler-Gmelin am Montag<br />
nach der Wahl erklärt, sie wolle nicht<br />
mehr Ministerin sein, äußert sich der<br />
Kanzler. „Menschlich hochanständig“ sei<br />
der Schritt. „Und politisch unglaublich<br />
konsequent.“<br />
Die <strong>Cicero</strong>-Anfrage an Herta Däubler-<br />
Gmelin blieb unbeantwortet.<br />
„Dann machen wir’s halt so“<br />
I<br />
m Hamburger Ratskeller hat<br />
Kurt Beck gespeist und mit den<br />
Journalisten geredet. Montagabend,<br />
Michael Naumann war anwesend,<br />
der gerade als Bürgermeister kandidierte,<br />
und Günter Grass, der damals<br />
schweigsamer war als heute. Eine Runde<br />
Journalisten saß dabei, das Gespräch<br />
kam auf Hessen. Die SPD hatte eine Zusammenarbeit<br />
mit der Linkspartei ausgeschlossen,<br />
die dortige Spitzenkandidatin<br />
Andrea Ypsilanti hatte ihr Wort<br />
gegeben. Die FDP wollte nicht in eine<br />
Ampelkoalition einsteigen, und jetzt war<br />
die Frage, ob Ypsilanti einfach ohne Koalition<br />
kandidiert im Landtag von Wiesbaden<br />
und sich zur Ministerpräsidentin<br />
wählen lässt – egal, ob die Stimmen von<br />
der Linkspartei kommen. Die Stimmung<br />
war aufgeladen wie nur was. Rechte SPD<br />
gegen linke SPD. Koch gegen Ypsilanti.<br />
Ächtung der Linken gegen Annäherung<br />
an die Linke. Würde er so ein Wahlszenario<br />
gutheißen?, wurde Beck gefragt. Völlig<br />
überraschend sagte er Ja.<br />
Der Termin im Ratskeller war zwar<br />
ein Hintergrundgespräch, aus dem Journalisten<br />
nicht gleich zitieren dürfen, aber<br />
im Prinzip kapiert jeder kleine Abgeordnete<br />
recht schnell, dass trotzdem Informationen<br />
aus so einem Gespräch<br />
herausquellen, schließlich treffen sich<br />
Journalisten und Politiker ja abends nicht<br />
aus reiner Eitelkeit, sondern auch, weil<br />
die eine Seite Informationen loswerden<br />
will. Bei den Hintergrundgesprächen<br />
läuft es dann manchmal so, dass die anwesenden<br />
Journalisten Vertraulichkeit geloben,<br />
und kaum, dass sie die Veranstaltung<br />
verlassen haben, tratschen sie die<br />
Chose abwesenden Kollegen weiter, die<br />
ja rein gar nichts versprochen haben. Die<br />
berichten dann und revanchieren sich<br />
beim nächsten Mal.<br />
Vielleicht gehört das zu den Sitten,<br />
die Kurt Beck an Berlin so aufgeregt haben.<br />
Vielleicht hat er aber einfach die<br />
Kunst nicht beherrscht, Nähe herzustellen<br />
und trotzdem seine Worte zu dosieren:<br />
ein schlechter Schweiger.<br />
Am übernächsten Tag liefen Ticker-<br />
Meldungen der Neuen Presse aus Hannover<br />
und des Wiesbadener Kuriers. Der<br />
Kölner Stadtanzeiger zitierte Beck im Originalton.<br />
Ypsilanti mit Stimmen der Linken?<br />
„Dann machen wir’s halt so.“<br />
Die CDU jubelte: Die linksfixierte<br />
Wortbruch-SPD, was für ein Wahlkampfhit<br />
für Hamburg! Der SPD-Kandidat Michael<br />
Naumann war wütend über – so<br />
wurde er hinterher zitiert – den LKW aus<br />
Mainz, der seinen Wahlkampf platt walzte.<br />
In Teilen der SPD-Führung setzte sich in<br />
diesen Tagen die Überzeugung fest, dass<br />
Beck dem Job nicht gewachsen ist. Nicht<br />
unbedingt, weil er die Linken zu tolerieren<br />
bereit war. Sondern vor allem, weil er das<br />
Berliner Spiel nicht kapierte.<br />
Wie Kurt Beck die Sache heute sieht?<br />
Er schwieg.<br />
Wein, Grappa, Grippe<br />
W<br />
as kann man Rudolf Scharping<br />
zugutehalten? Dass er erkältet<br />
war? Dass er Wein getrunken<br />
hatte? Und Grappa? Dass ihm beim<br />
Dementi noch das schöne Worte „Schafscheiße“<br />
eingefallen ist?<br />
1999 ging es Rot‐Grün schlecht.<br />
Nichts klappte, die Hessenwahl war verloren,<br />
von der Troika Lafontaine, Scharping<br />
und Schröder waren im Herbst nur<br />
noch die letzten beiden übrig. Scharping,<br />
Bundesverteidigungsminister, reiste<br />
nach Sardinien zu einer Sicherheitstagung.<br />
Im Casino eines Nato-Stützpunkts<br />
namens Decimomannu speiste er mit seinem<br />
Tross, der aus Offizieren und Journalisten<br />
bestand. Nach dem Essen fing<br />
er an: Schröder, seine Eignung als Kanzler,<br />
sein distanziertes Verhältnis zur SPD.<br />
Die Journalisten versammelten sich um<br />
ihn. Ein Verteidigungsminister, der seinen<br />
Kanzler angreift? Toll.<br />
Die Sache ist berichtet worden, zuerst<br />
natürlich von Journalisten, die nicht mit<br />
dabei und deshalb nicht an die Kautelen<br />
eines Hintergrundgesprächs gebunden<br />
waren. Schröder hat ein paar Tage später<br />
darauf reagiert.<br />
„In dem Moment, wo wir beginnen,<br />
Erfolg zu haben, in einem solchen Moment<br />
darf auf gar keinen Fall eine kontroverse<br />
Personaldebatte geführt werden.“<br />
Leise, aber scharf, klang diese Warnung.<br />
Vielleicht war der Vorfall der Anfang<br />
von Scharpings Abstieg als Minister, obwohl<br />
er noch bis 2002 im Kabinett geblieben<br />
ist. Er prägte jedenfalls das Bild<br />
von einem Politiker, der sich selber nicht<br />
kennt. Denn man muss wissen, was man<br />
sich leisten kann, was zur eigenen Rolle<br />
passt und zur Stärke der eigenen Position.<br />
Illustrationen: Olaf Hajek<br />
38 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Zum guten Schweigen gehört die gute<br />
Selbstbeobachtung.<br />
„Meine Antwort ist, dass aus meiner Sicht<br />
kein Grund besteht, eine Verfälschung meiner<br />
damaligen Äußerungen (zudem unter<br />
Bruch journalistischer Regeln über ein Hintergrundgespräch)<br />
noch einmal zu kommentieren.<br />
Mit der Bitte um Verständnis<br />
und mit besten Grüßen. Rudolf Scharping“.<br />
„Militärischer Einsatz für<br />
freie Handelswege“<br />
H<br />
orst Köhler hatte in einem<br />
Ledersessel des Präsidentenflugzeugs<br />
gesessen, als er sich aus<br />
dem Amt redete. In einem fliegenden Besprechungsraum<br />
der „Theodor Heuss“<br />
fand das Interview mit einem Redakteur<br />
des Deutschlandradios statt – Thema abgesprochen,<br />
Pressesprecher dabei, alles<br />
hochoffiziell. Auf dem Band von damals<br />
hört man die Düsen der Maschine summen.<br />
Als der Redakteur fragt, ob ein neuer<br />
Diskurs über den Afghanistaneinsatz nötig<br />
sei, holt Köhler aus. Die Antwort dauert<br />
schon über eine Minute, als er diesen<br />
verschachtelten Satz sagt: „Meine Einschätzung<br />
ist aber, dass insgesamt wir auf<br />
dem Wege sind, doch auch in der Breite<br />
der Gesellschaft zu verstehen, dass ein<br />
Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung<br />
und damit auch Außenhandelsabhängigkeit<br />
auch wissen muss,<br />
dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer<br />
Einsatz notwendig ist, um unsere<br />
Interessen zu wahren, zum Beispiel freie<br />
Handels wege, zum Beispiel ganze regionale<br />
Instabilitäten zu verhindern, die mit<br />
Sicherheit dann auch auf unsere Chancen<br />
zurückschlagen negativ durch Handel,<br />
Arbeits plätze und Einkommen.“<br />
Deutschlandradio Kultur sendet das<br />
Interview am nächsten Morgen, es ist der<br />
22. Mai, ein Samstag. Im Berliner Betrieb<br />
wird das Zitat zunächst praktisch ignoriert.<br />
Eine einzige Nachrichtenagentur<br />
bringt den Satz im letzten Absatz einer<br />
müden Meldung. Und der Politbetrieb,<br />
auf dessen Kosten sich Köhler ganz gern<br />
profiliert hat, verschläft die Gelegenheit,<br />
es mal andersherum zu machen. Im<br />
Grunde bringen den selbst inszenierten<br />
Bürgerpräsidenten die Bürger zu Fall. Sie<br />
schicken jede Menge Mails ans Deutschlandradio.<br />
„Ist ja wirklich harter Tobak,<br />
was der Köhler da loslässt“, schimpft ein<br />
Hörer: „Wir bomben uns zum Exportweltmeister.“<br />
Es wird Sonntag, es wird<br />
Montag, keine Medienlawine. Nur Blogger<br />
greifen das Zitat auf, sozusagen die<br />
Netzbürger. Dienstag, Mittwoch. Am<br />
Donnerstagmorgen schließlich reagiert<br />
der Deutschlandfunk, der Kölner Bruder<br />
des Deutschlandradios, auf die ganze Hörerpost<br />
und befragt den CDU-Politiker<br />
Ruprecht Polenz. Der Präsident habe sich<br />
missverständlich ausgedrückt, sagt der.<br />
Und unglücklich.<br />
Erst dann ist die Hölle über Köhler<br />
hereingebrochen. SPD, Linke,<br />
Grüne spucken Feuer. Unkenntnis, Ungeschicklichkeit,<br />
Wirtschaftskriege,<br />
Kanonen bootpolitik, lose rhetorische<br />
Deckskanone. Parteichefs, Fraktionsgeschäftsführer<br />
und Fachpolitiker melden<br />
sich. Und das ist neu, denn bis zu diesem<br />
Zeitpunkt ist auch die Berliner Republik<br />
sanft mit ihren Bundespräsidenten<br />
umgegangen. Nun aber wollen alle<br />
mal, und vielleicht hat das ja daran gelegen,<br />
dass Köhler sich so gern auf Kosten<br />
der Berliner Politik profiliert hat. Nur<br />
die Bundeskanzlerin hat in diesen Tagen<br />
nichts gesagt, was Köhler auch nicht so<br />
besonders motiviert haben wird. Er selbst<br />
hat sich dann am Montagmorgen, zehn<br />
Tage nach dem Flugzeuginterview, noch<br />
mal zu Wort gemeldet. Er sprach in kurzen<br />
Hauptsätzen – von denen der wichtigste<br />
dieser war: „Ich erkläre hiermit<br />
meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten.“<br />
Köhlers Sicht? Das Büro des Altbundespräsidenten<br />
teilte <strong>Cicero</strong> mit: „Haben Sie herzlichen<br />
Dank für die Anfrage an Herrn Bundespräsidenten<br />
a. D. Köhler. Leider kann<br />
er zur nächsten Ausgabe des <strong>Cicero</strong> keinen<br />
Beitrag beisteuern.“<br />
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12.2012 <strong>Cicero</strong> 39
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Farblos mit Biss<br />
Stephan Weil von der SPD hat gute Chancen, im Januar die Landtagswahl in Niedersachsen zu gewinnen<br />
von Hartmut Palmer<br />
N<br />
ur der schwarze Mercedes, der<br />
dem roten Audi auf der Fahrt<br />
durch Niedersachsen folgt, lässt<br />
vermuten, dass ein wichtiger Mensch unterwegs<br />
sein muss. Bei jedem Überholmanöver<br />
klebt er ihm an der hinteren Stoßstange,<br />
und als der Audi auf dem Gelände<br />
der Siag-Nordseewerke in Emden hält,<br />
springen aus dem Mercedes zwei Männer<br />
mit Sprechfunk im Ohr und Pistole unter<br />
der Jacke und sichern die Umgebung.<br />
Dabei käme niemand auf die Idee, dem<br />
freundlich lächelnden Herrn mit der Aktentasche<br />
und dem schon etwas schütteren<br />
Haar etwas zuleide zu tun, der jetzt aus<br />
dem Auto steigt, sein Jackett zuknöpft, den<br />
Schlips und die Brille richtet und Hände<br />
schüttelt. Stephan Weil sieht aus wie ein<br />
farbloser Büroangestellter. Aber er wird beschützt,<br />
als sei er bereits Ministerpräsident.<br />
Manchmal redet er auch schon so.<br />
Der Firma geht es schlecht, 1000 Arbeitsplätze<br />
stehen auf dem Spiel, man sucht einen<br />
Investor, man braucht einen Massekredit.<br />
Den muss die Landesregierung in<br />
Brüssel beantragen. Weil sagt, was auch der<br />
CDU‐Ministerpräsident David McAllister<br />
gesagt hätte: Er freue sich, „dass es Investoren<br />
gibt, die diesem Unternehmen erst<br />
mal ein entsprechendes Potenzial zutrauen“<br />
und dass „wir diese Chance nutzen müssen“.<br />
Genauso wird es später der FDP-<br />
Wirtschaftsminister Jörg Bode im Landtag<br />
in Hannover vortragen.<br />
In Emden aber entlarvt Weil die schönen<br />
Worte als leere Versprechungen: Er<br />
höre, dass dieser Kredit in Brüssel noch<br />
gar nicht beantragt worden sei. „Es zeigt<br />
sich immer deutlicher, dass die Landesregierung<br />
nicht nur ohne Plan, sondern auch<br />
ohne Willen an der Rettung des Unternehmens<br />
arbeitet oder eben nicht arbeitet.“ Das<br />
sitzt. Die Lokalpresse hat ihren Aufmacher,<br />
die Fernsehkamerateams ihre Bilder – mit<br />
zwei Sätzen hat der freundliche Herr Weil<br />
Zähne gezeigt und Punkte gemacht.<br />
Er ist unterwegs, um sich in dem Land<br />
bekannt zu machen, das er demnächst regieren<br />
will. Man kennt ihn zwar in Hannover,<br />
wo er neun Jahre Stadtkämmerer<br />
war und seit sechs Jahren ein erfolgreicher<br />
Oberbürgermeister ist. Aber außerhalb<br />
der Landeshauptstadt sinkt sein Bekanntheitsgrad,<br />
und auf dem platten Lande<br />
ist er nahezu unbekannt. Trotzdem hat er<br />
gute Chancen, Ministerpräsident zu werden.<br />
FDP, Linkspartei, Piraten und Sonstige<br />
werden nach neuesten Umfragen auf<br />
jeweils 3 Prozent taxiert und kämen nicht<br />
mehr in den Landtag. Die CDU bekäme<br />
zwar 41 Prozent, aber SPD (34 Prozent)<br />
und Grüne (13 Prozent) hätten mit zusammen<br />
47 Prozent die Mehrheit der Sitze und<br />
könnten regieren. Was vor einem Jahr, als<br />
die SPD ihren Spitzenkandidaten kürte,<br />
keiner für möglich gehalten hätte, scheint<br />
also greifbar nahe: Der Unscheinbare aus<br />
dem Rathaus vertreibt den Hoffnungsträger<br />
aus der Staatskanzlei, Frosch wird Prinz,<br />
Nobody schlägt Superstar – Stoff für Hollywood,<br />
großes Kino.<br />
Weil „personifiziert wie kein Zweiter jenes<br />
Motto, das sozialdemokratische Kandidaten<br />
zuletzt erfolgreich gemacht hat: ordentliches<br />
Regieren, keine Experimente,<br />
Seriosität, Erfahrung, keine Versprechungen“,<br />
schrieb die Welt schon vor einem Jahr.<br />
„Wenn Olaf Scholz in Hamburg der Prototyp<br />
dieses Modells war, dann ist Stephan<br />
Weil in Niedersachsen die serienreife Fassung.“<br />
Als Nächsten in dieser Reihe könnte<br />
man sich durchaus den ebenso unbekannten<br />
hessischen SPD-Vorsitzenden Thorsten<br />
Schäfer-Gümbel vorstellen. Auch ihm prophezeihen<br />
die Demoskopen für den Herbst<br />
2013 eine klare rot-grüne Mehrheit.<br />
Stephan Weil hat keine typische SPD-<br />
Karriere hinter sich. Er kommt nicht aus<br />
einem Arbeiterhaushalt, hat sich nicht<br />
auf dem zweiten Bildungsweg nach oben<br />
gearbeitet, war keine große Nummer<br />
bei den Jusos. Die Privatisierungs- und<br />
Steuersenkungsbeschlüsse der rot-grünen<br />
Schröder-Regierung hat er heftig kritisiert,<br />
aber er ist kein Linker, sondern bezeichnet<br />
sich selbst als „bekennenden Pragmatiker“.<br />
Er ist im Hindenburgviertel von Hannover<br />
aufgewachsen, wo die etwas besser Verdienenden<br />
wohnen, hat ein humanistisches<br />
Gymnasium besucht, Latein und Griechisch<br />
gelernt und ist dann Jurist geworden.<br />
Richter war er und Staatsanwalt auch, bevor<br />
er Sachbearbeiter im Justizministerium<br />
und später Stadtkämmerer wurde. Als der<br />
Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg<br />
2006 nach 36 Amtsjahren aufhörte, war<br />
Weil wie selbstverständlich sein Nachfolger.<br />
Und heute ist er, wie Ex-Kanzler Gerhard<br />
Schröder anerkennend urteilt, „ganz<br />
eindeutig der Boss in der Stadt“.<br />
Dass die Leute ihn für farblos halten,<br />
wundert Weil zwar, aber er hält es nicht<br />
für einen Nachteil: „Ich glaube sogar, dass<br />
das in Niedersachsen besser ankommt. Wir<br />
Niedersachsen sind eher nüchtern und mögen<br />
es nicht, wenn einer sich spreizt wie<br />
ein Pfau.“ Er hat sich nicht gedrängt, er<br />
wurde gedrängt. Wolfgang Jüttner, der einige<br />
Jahre die Partei führte, hat ihn geschoben,<br />
und auch Sigmar Gabriel ermunterte<br />
ihn, den Aufstieg in die Bundesliga zu wagen.<br />
Er hat sich kein Hintertürchen offen<br />
gehalten: Wenn es nicht klappt am 20. Januar,<br />
wird er Oppositionsführer werden.<br />
Eine Rückkehr ins Rathaus schließt er aus:<br />
„Ich habe ganz bewusst alle Brücken hinter<br />
mir abgerissen.“ Erschrickt ihn die Aussicht,<br />
demnächst vielleicht Ministerpräsident<br />
zu sein? Stephan Weil blickt aus dem<br />
Auto auf das flache Land, durch das er fährt.<br />
„Nein“, sagt er dann. „Ich habe mich an den<br />
Gedanken gewöhnt.“<br />
Hartmut Palmer<br />
ist politischer Chefkorrespondent<br />
von <strong>Cicero</strong>. Er lebt und arbeitet<br />
in Bonn und in Berlin<br />
Foto: Stefan Kröger, Privat (Autor)<br />
40 <strong>Cicero</strong> 12.2012
„Ich habe mich<br />
an den Gedanken<br />
gewöhnt, demnächst<br />
Ministerpräsident<br />
zu sein“<br />
Stephan Weil<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 41
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Der Mann fürs AtomklO<br />
Für die Regierung bearbeitet Michael Sailer die Endlagerfrage. Die Sache stockt, da rechnet er jetzt mal ab<br />
von CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />
M<br />
ichael Sailer hat Einiges unternommen,<br />
um sich von der beängstigenden<br />
Last abzulenken:<br />
Er hat sein Zuhause von Büchern gesäubert,<br />
die von Atomkraft handeln. Er hat<br />
eine Modelleisenbahn gebaut, die – so erzählt<br />
er es – eine historische Kulturlandschaft<br />
zeigt. Sailers kleine Flucht ist das,<br />
er beamt sich in eine Zeit ohne Kernkraft.<br />
„Das Atomthema hält man eigentlich nur<br />
aus, wenn man sich auch mit anderen Sachen<br />
beschäftigt“, sagt er.<br />
Doch trotz aller Bemühungen schafft<br />
Sailer es nie lange, jene verflixten Reizwörter<br />
aus dem Kopf zu kriegen, die die<br />
meisten Deutschen so effektiv verdrängen:<br />
Atommüll, Entsorgung, Gorleben. Während<br />
Umweltschützer, Stromerzeuger und<br />
Verbraucher über erneuerbare Energien<br />
diskutieren, gerät die Hinterlassenschaft<br />
der Kernkraft-Ära aus dem Blick. Knapp<br />
18 000 Tonnen stark strahlenden Mülls<br />
werden in provisorischen Zwischenlagern<br />
verstaut sein, wenn 2022 der letzte Reaktor<br />
vom Netz geht. 225 Gramm pro Bundesbürger.<br />
Ob der Salzstock in Gorleben zum<br />
Endlager taugt, bleibt umstritten. Und die<br />
Öffentlichkeit entsorgt ihre Sorgen bei Sailer,<br />
denn er leitet die „Entsorgungskommission“<br />
der Bundesregierung, eine Expertengruppe,<br />
und die soll es richten.<br />
An Sailer fallen die langen, wallenden<br />
Haare auf. Andere Umweltbewegte mögen<br />
mittlerweile im glatten Businesslook<br />
unterwegs sein, er tritt mit seinen 59 Jahren<br />
noch auf, als käme er gerade aus dem<br />
Tipi. Es ist eine Reminiszenz daran, dass<br />
sein Leben, privat und in seinem Beruf als<br />
technischer Chemiker, untrennbar mit der<br />
ökologischen Subkultur verbunden ist. Er<br />
war früher einer der schärfsten Atomkritiker,<br />
später machte er sich als Forscher im<br />
Darmstädter Öko-Institut einen Namen,<br />
das einst als wissenschaftlicher Flügel der<br />
deutschen Umweltbewegung entstand. Inzwischen<br />
leitet er das Institut mit knapp<br />
150 Mitarbeitern, die ihr Geld mit Gutachten<br />
und Beratungsarbeit verdienen.<br />
Im Februar 2011 berief ihn der damalige<br />
Bundesumweltminister Norbert<br />
Röttgen zum Chef der Entsorgungskommission.<br />
Es war – noch vor Fukushima –<br />
ein Friedensangebot des CDU-Politikers<br />
an die Anti-Atom-Bewegung. „Wissenschaftlich,<br />
unabhängig, effizient“, sagt<br />
Sailer, wolle er den Weg für ein deutsches<br />
Endlager ebnen. Wenn nur die Politik mitmachen<br />
würde. SPD und Grüne haben im<br />
Oktober eine parteienübergreifende Einigung<br />
darüber verhindert, wie die Suche<br />
nach einem Endlager ablaufen soll.<br />
Eigentlich waren die Chancen auf einen<br />
Konsens hoch wie nie. Den Boden bereitet<br />
hatten der Grüne Wilfried Kretschmann<br />
für Baden-Württemberg und der<br />
Schwarze Horst Seehofer für Bayern, als<br />
sie einwilligten, dass auch in ihren Ländern<br />
nach einem Endlagerstandort gesucht<br />
wird. Die Fixierung auf Gorleben<br />
wäre beendet gewesen. Dann blockierten<br />
SPD-Chef Sigmar Gabriel und Grünen-<br />
Fraktionschef Jürgen Trittin. Beide haben<br />
als Bundesumweltminister keinen Konsens<br />
gefunden. Nun wollten sie ihrem Nachfolger<br />
Peter Altmaier von der CDU den Erfolg<br />
kurz vor der Wahl im Gorleben-Land<br />
Niedersachsen wohl nicht gönnen.<br />
Sailer spricht darüber in einem ruhigen,<br />
fast gemächlichen Ton. Aber der äußere<br />
Eindruck täuscht. Gerade weil es um<br />
Jahrmillionen geht, über die der Müll sicher<br />
im Untergrund eingeschlossen sein<br />
muss, geht er ungeduldig an das Thema<br />
heran. „Dass nun politische Manöver von<br />
SPD und Grünen dazwischenkamen, hätte<br />
aus meiner Sicht nicht sein müssen.“ Die<br />
Fragen, deretwegen die Verhandlungen gestoppt<br />
sind, würden in einigen Jahren nur<br />
Kopfschütteln auslösen. Seine Analyse fällt<br />
hart aus: „Manche leben und denken zu<br />
sehr von einem Tag auf den anderen und<br />
sind zu sehr darauf konzentriert, was ihnen<br />
kurzfristig zum Beispiel vor Wahlen nützt.“<br />
Die deutschen Zwischenlager seien „völlig<br />
ungeeignet“. An der Erdoberfläche sei das<br />
Risiko am höchsten: „Jeder Umweltpolitiker,<br />
der sich nicht darum kümmert, dass es<br />
zu einer guten Lösung kommt, macht sich<br />
schuldig, wenn die Abfälle irgendwann in<br />
der Umgebung verstreut sind.“<br />
Er schlägt sich also auf die Seite des<br />
Umweltministers von der Union. Dessen<br />
Gesetzentwurf zur Endlagersuche hält er<br />
für eine gute Grundlage. Die Kritik von<br />
Gabriel und Trittin, Gorleben werde darin<br />
fokussiert, weist Sailer zurück. Am Anfang<br />
werde die ganze Republik gescannt, dann<br />
würden die besten Standorte in Ton-, Granit‐<br />
und Salzgestein vom Schreibtisch aus<br />
untersucht, und schließlich werde an wenigen<br />
Standorten gebohrt. „Gorleben ist mit<br />
im Pool, aber es kann in der ersten, zweiten<br />
oder dritten Runde rausfliegen“, sagt<br />
er. Für den zweiten Entsorgungs-Hotspot,<br />
das havarierte Lager Asse, fordert er Vorbereitungen<br />
dafür, den Müll unter Tage zu<br />
lassen, statt ihn zu bergen.<br />
Mit diesen Positionen erzürnt er die<br />
Anti-Atom-Szene. „Bei der Entsorgung<br />
trennen uns Welten“, sagt Jochen Stay, einer<br />
der Wortführer der Szene. Das Altmaier-Papier<br />
gebe Gorleben faktisch<br />
Vorrang. Der frühere Mitstreiter bei Anti-<br />
Atom-Protesten? Das kann Stay sich nicht<br />
mehr vorstellen. „Der würde ausgepfiffen.“<br />
Sailer sitzt zwischen allen Stühlen. „Irgendwann<br />
wird man sich bei der Entsorgung<br />
einigen müssen“, sagt er, „ich will auf<br />
jeden Fall noch miterleben, dass es eine vernünftige<br />
Lösung gibt.“<br />
Es muss eine Lösung sein, die eine Million<br />
Jahre trägt.<br />
Christian Schwägerl<br />
ist freier Journalist in Berlin und<br />
Autor der Bücher „Menschenzeit“<br />
und „11 drohende Kriege“<br />
Fotos: Edgar Schöpal, Maurice Weiss (Autor)<br />
42 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Michael Sailer, Chef der<br />
Entsorgungskommission:<br />
„Wer sich nicht kümmert,<br />
macht sich schuldig“<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 43
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Die HärtE der Prinzessin<br />
Hinter dem Lächeln der künftigen Ministerpräsidentin Malu Dreyer stecken Methodik und Disziplin<br />
von GEORG LÖWISCH<br />
D<br />
ie Ministerin kommt aus der<br />
Wand. Ganz plötzlich, die Tür<br />
gehört zum Wandschrank hinter<br />
dem Schreibtisch, sie ist leicht zu übersehen,<br />
grau wie die Fächer und Regale, wie<br />
der Teppich des Amtszimmers, das Malu<br />
Dreyer, gestützt auf ihre Pressesprecherin,<br />
nun betritt. Sie nimmt den ganzen Raum<br />
ein. Ihre Wirkung entsteht aus der tastenden<br />
Behutsamkeit, mit der sie zum Konferenztisch<br />
geht und dem sicheren Auftritt<br />
einer Frau, die seit zehn Jahren Ministerin<br />
ist und in wenigen Wochen Ministerpräsidentin<br />
von Rheinland-Pfalz. Man fragt<br />
sich, was hinter diesem Wandschrank liegt,<br />
wie groß der Raum ist, ob er eine Couch<br />
hat, vielleicht ein Bad?<br />
Sie übergeht die Frage und lächelt. Eine<br />
Fotografin will Bilder machen. Während<br />
sich die Politikerin auf die Kante des Konferenztischs<br />
setzt und posiert, wechselt sie<br />
Kontrollblicke mit der Pressesprecherin:<br />
okay so?<br />
Seit Kurt Beck Ende September verkündet<br />
hat, dass er geht und seine 51 Jahre<br />
alte Sozialministerin Dreyer als Nachfolgerin<br />
benannt hat, ist sie eine Geschichte geworden.<br />
Die Fotos von ihr hoben sich sofort<br />
ab vom alten Regierungschef, den die<br />
Millionen aus der Pleite des Freizeitparks<br />
am Nürburgring herunterziehen und der in<br />
der Fußgängerzone ausrastet, wenn ihm einer<br />
dumm kommt. Angesichts all der Anwärter<br />
auf Becks Erbe in der SPD hatte<br />
keiner mit ihr gerechnet. Sie war plötzlich<br />
da, so wie sie gerade eben aus der Wand<br />
gekommen ist. Weiblich, gut aussehend,<br />
unbelastet. Der Landtagspräsident von der<br />
SPD hat sie gleich die „Königin der Herzen“<br />
genannt.<br />
Dreyer leidet an Multipler Sklerose.<br />
Das macht ihren Fall für viele zu einer Art<br />
Märchen. Von Politikern wird verlangt,<br />
dass sie perfekt sind, unbestechliche, starke<br />
Helden. Wenn so eine dann noch mit einer<br />
Krankheit fertig wird, wird sie zur Prinzessin:<br />
Die schöne Malu, zart, aber mutig, die<br />
„Sie ringen darum: Werden Sie als<br />
gute Ministerin wahrgenommen<br />
oder als Frau mit Erkrankung?“<br />
Malu Dreyer über die Politik und ihre Multiple Sklerose<br />
im Mehrgenerationendorf wohnt und für<br />
Gerechtigkeit eintritt. Es ist eine Zuschreibung,<br />
eine Rolle. Das Besondere an Malu<br />
Dreyer ist etwas anderes: Sie vermag es,<br />
Schwächen wegzuorganisieren und Härte<br />
mit Liebenswürdigkeit zu überspielen. Sie<br />
ist keine Illusionistin, sie spielt nicht falsch.<br />
Sie will die Dinge beherrschen. Vor allem<br />
beherrscht diese Frau sich selbst.<br />
Wie sie jetzt am Konferenztisch ihres<br />
Büros sitzt, wirkt sie nicht mächtig. Fast<br />
das ganze Gespräch hindurch lächelt sie.<br />
Ihre Gesichtszüge wirken dabei offen und<br />
unverstellt, aber dieses Lächeln macht auch<br />
etwas zu. Sie sagt kaum etwas, das sie nicht<br />
durchdacht hat. Die Pressesprecherin sitzt<br />
neben ihr und beobachtet die Chefin.<br />
Man kann versuchen, die Freundlichkeit<br />
zu durchbrechen, indem man sie angeht.<br />
Gefallen Sie sich in der Rolle der<br />
Prinzessin, die König Kurt auf seinen<br />
Thron setzt? „Erstens bin ich keine Prinzessin.<br />
Zweitens hat mich die SPD nominiert.“<br />
Keine Spur von Schärfe. Wäre es nicht eine<br />
größere Leistung, wenn sie sich den Job<br />
erkämpft hätte, statt ihn zu erben? Becks<br />
Vorschlag sei eine große Ehre. „Ob ich Erfolg<br />
habe, hat nichts mit dieser Ehre zu tun.<br />
Sondern mit der Frage, ob ich das gut oder<br />
schlecht mache.“ Das Lächeln ist die ganze<br />
Zeit im Gesicht geblieben.<br />
Ulla Schmidt kennt Malu Dreyer lange.<br />
Schmidt war Bundesgesundheitsministerin,<br />
gemeinsam verhandelten sie für die SPD<br />
die Gesundheitsreformen. Ihr Ressort ist<br />
vielleicht das härteste der Politik. Für die<br />
Bürger geht es um Gesundheit, für die Interessenvertreter<br />
geht es um Geld. „In dem<br />
Geschäft gibt’s keine Beißhemmung“, sagt<br />
Ulla Schmidt. Sie muss darauf eigentlich<br />
nicht hinweisen, sie hat Jahre des Beißens<br />
und Bellens ertragen, sie hat zurückgeschnappt.<br />
Schmidt würde eine durchinszenierte<br />
Prinzessin niemals ernst nehmen.<br />
Über Dreyer sagt sie anerkennend: „Sie arbeitet<br />
hart und gibt nie auf.“<br />
In den Verhandlungsrunden haben sie<br />
sich unterschieden. Der Ton wurde immer<br />
mal rau, erzählt Schmidt, da konnte<br />
sie selbst ausflippen. Dreyer dagegen habe<br />
stets ausgeglichen reagiert und werde nie jemanden<br />
persönlich angreifen. „Auf sie passt<br />
das Aachener Sprichwort: ‚Willst du jemandem<br />
die Zähne zeigen, dann lächele.‘“<br />
Julia Klöckner muss damit klarkommen.<br />
Die CDU-Landeschefin hat ihrer Partei in<br />
Rheinland-Pfalz eine Grundreinigung verpasst.<br />
Geschwindigkeit hoch, Sprache knallig.<br />
Mit ihrer Aggressivität hatte sie es sogar<br />
geschafft, den alten Beck in Bedrängnis zu<br />
bringen. Sie war fast am Ziel. Dann präsentierte<br />
Beck Malu Dreyer. Wie soll Klöckner<br />
bloß eine Konkurrentin angreifen, die<br />
selbst gar nicht angreift?<br />
Klöckner ist schon jetzt vorsichtig, als<br />
wäre sie hinter einem Fairnesspreis her.<br />
Es werde nicht schwieriger, sondern nur<br />
Foto: Angelika Zinzow<br />
44 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Malu Dreyer: Sagt, was sie<br />
durchdacht hat. Bewegt sich in<br />
Strukturen, die sie organisiert hat<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 45
| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />
Ihn nannten sie „König Kurt“. Sie sagt: „Ich bin keine Prinzessin.“<br />
Im Januar übergibt Beck das Ministerpräsidentenamt an Dreyer<br />
anders. Für sie selbst ergebe sich sogar die<br />
Möglichkeit, eine andere Facette zu zeigen:<br />
Menschen und Meinungen an einen Tisch<br />
holen, wie in Berlin, als sie Staatssekretärin<br />
für Verbraucherschutz war, fair im Umgang<br />
und klar in der Sache. Für eine Herausforderin<br />
hört sich das ganz schön brav<br />
an. Vielleicht findet sie das selbst, denn sie<br />
stichelt wenigstens indirekt gegen die Konkurrentin.<br />
„Kommende Generationen interessiert<br />
es nicht, ob immer schön gelächelt<br />
und sich gut verstanden wurde, sondern<br />
was bei Problemstellungen rauskam.“<br />
Es wird schwer für die Gegner der<br />
künftigen Ministerpräsidentin. Eine Frau<br />
mit Behinderung ist fast unberührbar.<br />
Harte Attacken gelten da schnell als fies.<br />
Auch wenn Dreyer sagt, dass sie nicht anders<br />
behandelt werden will wegen ihrer<br />
Erkrankung.<br />
Multiple Sklerose greift das zentrale<br />
Nervensystem an. Die Ursache ist nicht<br />
erforscht. Ein Teil des Immunsystems arbeitet<br />
falsch, die Abwehr richtet sich gegen<br />
den eigenen Körper. In Gehirn und<br />
Rückenmark kommt es zu Entzündungen.<br />
Die Krankheit variiert, es heißt, dass sie<br />
1000 Gesichter hat. Die Sehkraft kann gestört<br />
werden, oder die Muskeln geben nach,<br />
oder der Körper fühlt sich geschwächt an.<br />
Mal verläuft die Krankheit in Schüben,<br />
mal schleichend, aber hier gibt es ebenso<br />
Mischformen der MS. Die Erkrankten belastet<br />
auch, dass kaum vorhersehbar ist, wie<br />
die Krankheit verläuft.<br />
Vom ersten Kribbeln, von den ersten<br />
Sehstörungen kann es Jahre dauern, bis die<br />
ärztliche Diagnose feststeht. Malu Dreyer<br />
bekam sie 1996, sie war damals 35, gerade<br />
erst in die SPD eingetreten und zur Bürgermeisterin<br />
der Stadt Bad Kreuznach gewählt<br />
worden. Sie hat eine schleichende MS, es<br />
kommt nicht zu Schüben.<br />
Lange erzählte sie nur Vertrauten von<br />
der Krankheit und machte weiter, wurde<br />
Sozialdezernentin in Mainz, dann Sozialministerin.<br />
Zehn Jahre lang schwieg sie in<br />
der Öffentlichkeit. Die Krankheit ist ja<br />
erst sichtbar geworden, als ihr das Gehen<br />
schwerfiel.<br />
Nicht über eine Behinderung zu sprechen,<br />
kann schwierig werden für einen Politiker.<br />
Wer über seine Schwächen selbst<br />
redet, über den wird vielleicht weniger<br />
schlecht geredet. Wie diese Mechanik funktioniert,<br />
kann man an Wolfgang Schäuble<br />
sehen. Nachdem der Minister nach dem<br />
Attentat querschnittsgelähmt war, hat<br />
er sich konsequent geöffnet, hat die Reporter<br />
ins Krankenhaus bestellt und später<br />
berichtet, wie ihn sein Hund im Rollstuhl<br />
nicht erkannte, als er an Weihnachten<br />
nach Hause kam. Wie er im Rollstuhl friert,<br />
wie bei Stehempfängen Bier auf ihn runterschwappt,<br />
wie es war, als er umgekippt ist,<br />
was er träumt. Er gibt viel preis, aber dafür<br />
wird ihm auch Sympathie entgegengebracht.<br />
Weil er so radikal in die Offensive<br />
geht mit der Behinderung und auch mit<br />
seinen politischen Forderungen als Minister,<br />
wird er aber auch nicht geschont. Vielleicht<br />
wird das Dreyer genauso passieren,<br />
wenn sie sich stärker exponiert.<br />
Bei Schäuble hat ein Kommentator<br />
einmal eine Verbindung zwischen der Sicherheitspolitik<br />
des damaligen Innenministers<br />
und der Behinderung hergestellt.<br />
Die These galt damals als unfair. Trotzdem<br />
erzählt Schäuble auch gegen solche<br />
Geschichten an, gegen die Schwäche, gegen<br />
ein Raunen vom bitteren Alten.<br />
2006 hat sich Malu Dreyer entschieden,<br />
dass es klug ist zu reden. „Es ist eine<br />
Gratwanderung, wenn man eine chronische<br />
Erkrankung hat, die nicht so sichtbar<br />
ist“, sagt sie. „Weil Sie immer darum<br />
ringen: Werden Sie als gute Ministerin<br />
wahrgenommen oder als Frau mit einer<br />
Erkrankung?“<br />
Über die Krankheit, sagt sie, habe sie<br />
geredet, als sie sich stark genug fühlte. Dort<br />
musste sie erst hinkommen. 2002 hat Kurt<br />
Beck sie eines Tages angerufen, er gab ihr<br />
30 Minuten, um zu entscheiden, ob sie den<br />
Job will. Aber man steigt nicht so leicht auf<br />
von der Sozialdezernentin zur Ministerin.<br />
Die ersten Jahre waren hart.<br />
Im November 2003 brachen Jugendliche<br />
aus einem Erziehungsheim in Rodalben<br />
in der Pfalz aus und erstachen dabei eine<br />
junge Erzieherin. Es war eine neue Einrichtung,<br />
ein neues Konzept des Justiz- und<br />
des Sozialministeriums: Heim statt U-Haft.<br />
Die CDU machte Dreyer für den Tod der<br />
Erzieherin verantwortlich, ein Untersuchungsausschuss<br />
wurde eingerichtet. Nun<br />
flocht die Union ein Netz aus Zeitdruck,<br />
konzeptionellen Fragen, Aufsichtspflichten<br />
zwischen den Ministerien, dem Landesjugendamt<br />
und dem Träger des Heimes. Im<br />
Juni 2005 im Landtag verlangte sie Dreyers<br />
Rücktritt. Sie übernahm die politische Verantwortung,<br />
aber sie trat nicht zurück. Sie<br />
erklärte, die Sicherheit des Personals liege<br />
in der Verantwortung des Trägers.<br />
Im Protokoll von damals liest sich ihre<br />
Argumentation sperrig, Subsidiaritätsprinzip,<br />
Ablaufverantwortung: Eine Juristin<br />
kämpft um ihr Amt. Spricht man sie heute<br />
Foto: Torsten Selz/DDP Images/DAPD
Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Andrej Dallmann<br />
auf die Ereignisse an, bricht die Selbstkontrolle<br />
für einen Moment auf. „Das war eine<br />
unglaublich tragische Geschichte mit dieser<br />
jungen Frau, die mir persönlich sehr<br />
nahegegangen ist. Und das Zweite ist: Es<br />
war die größte Sauerei von der damaligen<br />
CDU-Opposition zu versuchen, mich dafür<br />
verantwortlich zu machen.“<br />
2006 wird die SPD wiedergewählt, sogar<br />
mit absoluter Mehrheit. Dreyer ist in<br />
einer sicheren Position. Am 4. Oktober gibt<br />
sie eine Pressekonferenz, sie sagt es im Kabinett,<br />
ihren Mitarbeitern, der SPD-Fraktion,<br />
alles an einem Tag. Die Kommunikation<br />
hat sie bestimmt. „Das war gut<br />
organisiert“, sagt sie heute zufrieden.<br />
Dreyer ist eine Systematikerin geworden.<br />
Die SPD in Trier hat sie umgebaut,<br />
Nervensägen schaltete sie aus, ihr Mann<br />
wurde Oberbürgermeister: Bloß nicht ohne<br />
<strong>Macht</strong>basis dastehen. Sie hat reiflich überlegt,<br />
ob sie das Amt der Regierungschefin<br />
übernehmen würde, seit im Sommer Kurt<br />
Beck das erste Mal gefragt hat: nie mehr<br />
so eine Entscheidung in nur 30 Minuten<br />
treffen. In ihrem Ministerium hat sie dafür<br />
gesorgt, dass Mitarbeiter Probleme früh erkennen<br />
und keine Angst haben, Fehler ihren<br />
Chefs zu gestehen: Nur nicht noch mal<br />
einer Katastrophe begegnen wie 2003, als<br />
in Rodalben die Erzieherin starb.<br />
Die vermeintliche Prinzessin arbeitet<br />
methodisch und diszipliniert. Alles gut organisiert.<br />
Aber sie schafft es dabei, ihr Handeln<br />
nach Leichtigkeit aussehen zu lassen.<br />
Sie will die Dinge im Griff haben. In<br />
den Wochen bis zur Wahl im Januar führt<br />
sie ein Fachgespräch nach dem nächsten,<br />
eine Ministerpräsidentin muss von allen<br />
Ressorts Ahnung haben. Sie bereitet sich<br />
vor, sichert sich ab. Sie hat früher ihre Juraexamen<br />
mit Prädikat gemacht, warum<br />
soll sie den neuen Aufgaben nicht gewachsen<br />
sein? Sie will ja sogar ihre Krankheit<br />
kontrollieren.<br />
Die MS sei nicht das Thema, das im<br />
Mittelpunkt ihres Lebens stehe, sagt sie.<br />
„Die Krankheit tritt zurück.“ Der Satz ist<br />
formuliert wie ein Befehl. Aber natürlich<br />
ist sofort das Lächeln da.<br />
... warum der Mythos von der<br />
guten Mutter bei uns immer<br />
noch solche Blüten treibt<br />
I<br />
ch Bin eine Egoistische, kaltherzige<br />
Rabenmutter, denn ich bin<br />
nicht rund um die Uhr für meine<br />
Kinder da, sondern übe einen Beruf aus.<br />
Ich besitze außerdem die Unverfrorenheit,<br />
dies angesichts einer Scheidungsrate von<br />
40 Prozent und des neuen Unterhaltsrechts<br />
für vernünftig zu halten und<br />
diese Meinung auch noch öffentlich<br />
kundzutun. Damit diffamiere<br />
ich all die selbstlosen, warmherzigen<br />
Mütter, die ihren Kindern zuliebe<br />
auf einen Beruf verzichten –<br />
in Deutschland immerhin fast<br />
30 Prozent. Dieses Vergehens bezichtigte<br />
mich eine Frau während<br />
einer Lesung meines neuen Buches, in<br />
dem das Thema gestreift wird. Sie stand<br />
auf, holte Luft und richtete mich.<br />
Der heftigste Kulturkampf in unserem Land tobt zwischen Vollzeit- und berufstätigen<br />
Müttern. Alle Waffen sind erlaubt, keine Gefangenen. Es treten an:<br />
trutschige Hausfrauen mit sandkastengroßem Horizont, die Fortpflanzung für die<br />
einzig wahre Bestimmung halten und parasitär vom Gehalt ihres Mannes leben,<br />
gegen ehrgeizige Karriereweiber, die ihre Kinder drei Stunden nach der Geburt in<br />
eine Krippe stecken und dort bis zur Volljährigkeit fremdbetreuen lassen, während<br />
sie sich rücksichtslos selbst verwirklichen.<br />
Die Blauhelme in diesem Krieg sagen: Jede Frau sollte das für sich selbst<br />
entscheiden.<br />
Ich sage: Rennt doch in euer Unglück, ihr tollen Supermütter. Aber beklagt<br />
euch später nicht, wenn die Kinder aus dem Haus sind, euer Mann mit einer Jüngeren<br />
durchgegangen ist und die nette Dame in der Arbeitsagentur vor Lachen<br />
Schluckauf bekommt, wenn ihr nach einem Job fragt. Wenn euer Rentenbescheid<br />
bei ungefähr 70 Euro liegt – so viel könnt ihr nach der Scheidung mit Minijobs<br />
nämlich noch erwirtschaften. Ach stimmt, ihr habt ja den Versorgungsausgleich.<br />
Vorausgesetzt, ihr wart verheiratet, hattet keinen Ehevertrag und keinen Mann, der<br />
vor der Trennung schnell seine Altersversorgung auflöst und eine Immobilie davon<br />
erwirbt. Alles schon da gewesen.<br />
Vielleicht schießen eure Kinder ja ein bisschen Geld zu, schließlich habt ihr<br />
euch jahrelang für sie aufgeopfert. Vielleicht fragen die euch aber auch, warum ihr<br />
ihnen ständig gute Schulnoten abverlangt habt, damit sie Chancen im Beruf haben,<br />
während ihr als Hausmütterchen all eure beruflichen Chancen verspielt habt.<br />
Stirbt dieser verdammte Gute-Mutter-Mythos in diesem Lande denn nie<br />
aus? Warum wollen so viele junge Frauen in der gleichen Abhängigkeit leben wie<br />
ihre Mütter und Großmütter? Und warum wird als egoistisch und kaltherzig beschimpft,<br />
wer sie vor dieser Idiotie bewahren will?<br />
Georg Löwisch<br />
ist Textchef von <strong>Cicero</strong><br />
Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />
Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 47
| B e r l i n e r R e p u b l i k | J u s t i z G E S C H I C H T E<br />
Braune Flecken<br />
Die Generalbundesanwälte Siegfried Buback und Kurt Rebmann waren in jungen Jahren<br />
NSDAP-Mitglieder. Ihre Personalakten zeigen, wie beide Ermittler das verbargen<br />
von Michael Sontheimer<br />
A<br />
ls Stefan Wisniewski im März<br />
vergangenen Jahres als Zeuge<br />
vor das Oberlandesgericht Stuttgart<br />
trat, verweigerte er jegliche<br />
Aussage. Eine Botschaft jedoch<br />
wollte das einstige Mitglied der Roten Armee<br />
Fraktion übermitteln, auch wenn er<br />
sie ziemlich kryptisch formulierte. Auf der<br />
Rückseite seines dunklen Kapuzenpullovers<br />
stand der polnische Satz: „Scigajcie<br />
ten slad“, – „verfolgt diese Spur“ –, und<br />
die Zahl 8179469.<br />
Wisniewskis Vater war Pole und wurde<br />
von Deutschen bei der Zwangsarbeit und<br />
im Konzentrationslager derart misshandelt,<br />
dass er bald nach dem Krieg starb.<br />
Generalbundesanwalt Siegfried Buback<br />
trug als junger Mann die Mitgliedsnummer<br />
8179469 der NSDAP.<br />
Um die Ermordung von Buback und<br />
seiner beiden Begleiter im April 1977 aufzuklären,<br />
war Wisniewski in Stuttgart als<br />
Zeuge vorgeladen; gegen den 59-Jährigen<br />
selbst ermittelt die Bundesanwaltschaft<br />
bis heute wegen des Attentats auf den<br />
Generalbundesanwalt.<br />
Der Versuch des einstigen Terroristen,<br />
den Mord der RAF zu legitimieren, ist absurd<br />
und zynisch, doch die Fakten stimmen.<br />
Buback war Mitglied der Nazi-Partei.<br />
Und nicht nur er, auch sein Nachfolger,<br />
Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, war<br />
als junger Mann der NSDAP beigetreten.<br />
Die braunen Flecken in der Vergangenheit<br />
der beiden obersten Strafverfolger der Republik<br />
waren zu ihren Lebzeiten nicht bekannt.<br />
Sie zogen es vor, sie zu beschweigen.<br />
Jetzt lassen sich, dank des seit 2006 geltenden<br />
Informationsfreiheitsgesetzes, die<br />
Personalakten der beiden einsehen. Aus ihnen<br />
geht hervor, dass sie gegenüber ihren<br />
Dienstherren mit ihrer NS-Vergangenheit<br />
unterschiedlich umgingen.<br />
Zwei Generalbundesanwälte – und zwei, die ihre Vergangenheit als<br />
NSDAP‐Mitglieder beschwiegen: Kurt Rebmann (links) und Siegfried Buback<br />
Buback, der als Student zur Wehrmacht<br />
eingezogen worden war und es bis zum<br />
Leutnant gebracht hatte, spielte zunächst<br />
mit offenen Karten. Einem Gesuch, mit<br />
dem er sich beim Oberlandesgerichtspräsidenten<br />
in Celle um die Übernahme in den<br />
Justizdienst bewarb, legte er im Juni 1947<br />
einen Lebenslauf bei. Handschriftlich<br />
führte er darin aus: „Im April 1934 trat<br />
ich in die Hitler-Jugend ein. Am 1. 1. 1937<br />
erfolgte meine Ernennung zum Rottenführer.“<br />
Im November 1938 sei er Mitglied<br />
des NSDStB geworden, des Nationalsozialistischen<br />
Deutschen Studentenbunds.<br />
„1943 erhielt ich in Frankreich die Mitteilung,<br />
dass ich seit dem 1. 7. 1940 in die<br />
NSDAP übernommen worden sei.“<br />
Die Übernahme in die Partei ohne eigenes<br />
Zutun ist allerdings äußerst fraglich.<br />
Laut den Parteistatuten war ein eigenhändig<br />
unterschriebener Antrag für die Aufnahme<br />
in die NSDAP erforderlich.<br />
Buback hatte, nach zwei Jahren aus<br />
der Kriegsgefangenschaft entlassen, erlebt,<br />
dass sein Vorleben als Parteigenosse<br />
seiner Karriere nicht mehr förderlich war.<br />
„Nur aufgrund der Tatsache, dass ich automatisch<br />
aus der HJ 1940 in die ehemalige<br />
NSDAP übernommen wurde“, klagte<br />
er im Juni 1948, könne er in seiner sächsischen<br />
Heimat, die nun in der sowjetischen<br />
Besatzungszone lag, seine Juristenausbildung<br />
nicht fortsetzen. Deshalb habe<br />
er sich entschlossen, „mich mit meiner<br />
Fotos: Darchinger Archiv/Friedrich Ebert Stiftung, DDP Images/AP<br />
48 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Foto: Sabine Sauer (Autor)<br />
Familie später in Niedersachsen anzusiedeln“.<br />
Die britischen Besatzer gingen bei<br />
der „Denazification“ weniger streng vor als<br />
die Russen.<br />
Bubacks Nachfolger Rebmann musste<br />
im Mai 1950 als junger Gerichtsassessor<br />
beim Landgericht Heilbronn einen Personalbogen<br />
ausfüllen. Der promovierte Jurist<br />
listete penibel sämtliche Stationen seines<br />
Referendariats auf, vom Amtsgericht<br />
Öhringen bis zur Landesstrafanstalt Hohenasperg.<br />
Auch was seinen Militärdienst<br />
betraf, ging der spätere Generalbundesanwalt<br />
ins Detail: „Stammkompanie II, Gebirgsjäger-Ersatz-Bataillon<br />
98, Garmisch;<br />
Frankreich, Kroatien, Bulgarien, Albanien.<br />
Am 12. 9. 1943 Oberschenkelschussbruch.“<br />
Was Rebmann allerdings seinem<br />
Dienstherrn lieber nicht mitteilte: Er hatte<br />
am 30. März 1942, kurz vor dem Abschluss<br />
der Oberschule, in Heilbronn<br />
die Aufnahme in die Nationalsozialistische<br />
Deutsche Arbeiterpartei<br />
beantragt. So lässt<br />
es sich in der Mitgliedskartei<br />
der NSDAP nachlesen, über<br />
die das Bundesarchiv verfügt.<br />
Die Ortsgruppe Heilbronn,<br />
Gau Württemberg-Hohenzollern,<br />
nahm ihn am 1. September<br />
1942 auf.<br />
In Rebmanns Personalakte<br />
ist das nicht zu finden.<br />
Unter dem Stichwort „Ergebnis<br />
der politischen Prüfung“<br />
ist nur vermerkt, das Verfahren<br />
sei entsprechend der „Jugendamnestieverordnung<br />
vom<br />
6. 8. 1946“ eingestellt worden.<br />
Diese Verordnung sah vor, dass nach dem<br />
1. Januar 1919 geborene Personen nur mit<br />
„Sühnemaßnahmen“ bestraft werden können,<br />
„wenn sie Hauptbeschuldigte, Belastete<br />
oder Minderbelastete sind“.<br />
Als Rebmanns Vorgänger Buback<br />
1959 zur Bundesanwaltschaft abgeordnet<br />
wurde, fanden die neuen Dienstherren<br />
seine NS‐Vergangenheit in der Personalakte<br />
dokumentiert. Auch das Bundesjustizministerium<br />
erwähnte sie 1974 in seinem<br />
Vorschlag für die Ernennung Bubacks zum<br />
Generalbundesanwalt. Doch dann wurde<br />
wohl auch intern wieder geschwiegen.<br />
Der Sozialdemokrat Hans-Jochen Vogel<br />
wurde kurz darauf Bundesjustizminister<br />
und damit Bubacks Vorgesetzter. Heute<br />
Gerhart<br />
Baum, damals<br />
Innenminister,<br />
sagt heute,<br />
er hätte<br />
Rebmanns<br />
Ernennung<br />
blockiert,<br />
wenn er von<br />
dessen Nazi-<br />
Vergangenheit<br />
gewusst hätte<br />
kann er sich nicht erinnern, jemals von der<br />
NSDAP-Mitgliedschaft seines obersten<br />
Strafverfolgers gehört zu haben. Auch Michael<br />
Buback, das einzige Kind des Generalbundesanwalts,<br />
wollte es zunächst nicht<br />
glauben, als er vor zehn Jahren im Spiegel<br />
las, dass sein Vater Mitglied der Nazi-Partei<br />
war. Der Generalbundesanwalt hatte<br />
auch zu Hause in der Familie über diesen<br />
Punkt in seiner Vergangenheit kein Wort<br />
verloren.<br />
Mit ihrem Vorleben fallen Buback und<br />
Rebmann bei der Bundesanwaltschaft allerdings<br />
nicht aus dem Rahmen, im Gegenteil.<br />
Der erste Oberbundesanwalt Carl<br />
Wiechmann hatte in den Nazi-Jahren am<br />
Berliner Kammergericht NS‐Recht gesprochen.<br />
Sein Nachfolger Max Güde war ein<br />
vormaliges NSDAP-Mitglied.<br />
Ihm folgte Wolfgang Fränkel, der abtreten<br />
musste, weil Beweise für seine Beteiligung<br />
an Todesurteilen<br />
als Reichsanwalt veröffentlicht<br />
wurden. Sein Nachfolger<br />
und Bubacks direkter<br />
Vorgänger im Amt, Ludwig<br />
Martin, hatte der Reichsanwaltschaft<br />
vor 1945 als wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter<br />
gedient und blieb nach dem<br />
Ende der NS‐Zeit ein Anhänger<br />
der Todesstrafe.<br />
„Die Suche nach einem<br />
Nachfolger für Buback im<br />
Sommer 1977 war quälend“,<br />
erinnert sich Hans-Jochen<br />
Vogel. Als Ressortchef gelang<br />
es ihm nach der Ermordung<br />
des Generalbundesanwalts<br />
nur schwer, Interessenten für<br />
den lebensgefährlichen Job zu finden.<br />
Kurt Rebmann war dazu bereit und mit<br />
dem Hauptfeind der Bundesanwaltschaft<br />
vertraut. Als Ministerialdirektor im Justizministerium<br />
Baden-Württembergs war er<br />
für die RAF‐Gefangenen in Stammheim<br />
zuständig.<br />
Er habe erst jetzt erfahren, sagt Hans-<br />
Jochen Vogel, dass der neue oberste Ankläger<br />
NSDAP-Mitglied gewesen sei.<br />
Gerhart Baum war damals Bundesinnenminister<br />
von der FDP und somit Vogels<br />
Kabinettskollege in der sozialliberalen Koalition.<br />
Er wusste zu jener Zeit auch nichts<br />
von der NS‐Vergangenheit Rebmanns.<br />
„Mich wundert allerdings gar nichts mehr<br />
in dieser Beziehung“, sagt Baum heute.<br />
Regierungschef Konrad Adenauer habe<br />
mit Hans Globke einen Kommentator der<br />
Nürnberger Rassegesetze zum Chef seines<br />
Kanzleramts ernannt. Der Bundeskanzler<br />
und CDU-Bundesvorsitzende Kurt Georg<br />
Kiesinger sei schon 1933 in die NSDAP<br />
eingetreten.<br />
War deshalb die Ernennung einstiger<br />
Nationalsozialisten als führende Vertreter<br />
des demokratischen Rechtsstaats folgerichtig<br />
oder gar zwangsläufig? Wenn er von der<br />
NSDAP-Mitgliedschaft von Rebmann gewusst<br />
hätte, sagt Gerhart Baum, hätte er<br />
seiner Ernennung nicht zugestimmt. „Der<br />
Vertrauensverlust der Strafverfolger, besonders<br />
bei der jungen Generation, wäre zu<br />
groß gewesen“, sagt er.<br />
Hans-Jochen Vogel dagegen sieht als<br />
entscheidendes Kriterium, ob Buback<br />
und Rebmann nur einfache Parteimitglieder<br />
waren, oder ob sie in der NSDAP<br />
oder anderen NS-Organisationen Ämter<br />
innehatten. Davon aber ist in den Akten<br />
nichts zu finden: Buback brachte es in<br />
der Hitler-Jugend nur zum „Rottenführer“,<br />
dem zweitniedrigsten Rang in der Organisation;<br />
Rebmann war 18, als er in die<br />
Nazi-Partei eintrat, und 21, als sie 1945<br />
zugrunde ging.<br />
Schweigen erschien den beiden Generalbundesanwälten<br />
offenbar als beste Option –<br />
für die obersten Ermittler, deren wichtigste<br />
Aufgabe das Finden der Wahrheit ist, eine<br />
moralisch zweifelhafte Entscheidung. Pragmatisch<br />
betrachtet hat ihr Schweigen die<br />
von ihnen beabsichtigte Wirkung erzielt<br />
und ihnen Ärger erspart.<br />
Wenn zu ihrer Zeit in Amt und Würden<br />
bekannt gewesen wäre, dass sie als<br />
junge Männer Nazis waren, hätte die DDR<br />
einmal mehr die personelle Kontinuität<br />
vom „Dritten Reich“ zur Bundesrepublik<br />
anprangern und propagandistisch nutzen<br />
können; jüdische Organisationen hätten<br />
möglicherweise protestiert. Solches Ungemach<br />
ersparten die beiden Juristen lieber<br />
sich und den ihnen vorgesetzten Politikern.<br />
Sie bekamen beide ein Bundesverdienstkreuz<br />
mit Stern.<br />
Michael Sontheimer<br />
ist Journalist und Historiker.<br />
Zuletzt erschien von ihm das<br />
Buch „Natürlich kann geschossen<br />
werden“ zur Geschichte der RAF<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 49
| B e r l i n e r R e p u b l i k | K o m m e n t a r<br />
Vom Ich zum Wir<br />
Dem Höhenflug der Ego-Parteien folgt eine Renaissance der<br />
Volksparteien. Das ist eine gute Nachricht für die Demokratie<br />
Von Frank A. Meyer<br />
V<br />
or einem Jahr zogen die Piraten mit 9 Prozent Wähleranteil<br />
ins Berliner Abgeordnetenhaus. Welch ein<br />
Sieg! Welch ein Bohei um die neue Partei!<br />
Dann die Erfolge in Nordrhein-Westfalen, in Schleswig-Holstein,<br />
im Saarland! Die Neuen aus dem Nichts pflügten im Nu<br />
die Parteienlandschaft um. Mühelos, wie es scheint.<br />
War da was?<br />
Nach neueren Umfragen dümpeln die Piraten unter der parlamentarischen<br />
Wahrnehmungsschwelle von 5 Prozent: in Niedersachsen<br />
bei 3 Prozent, in Hessen wie auf Bundesebene bei 4.<br />
Aus solcher Untiefe kriegt man kein Schiff mehr flott.<br />
Also nichts gewesen, nicht einmal Spesen?<br />
Doch, denn das Wiederabtauchen der Piraten hinter ihre<br />
Laptops ist bedeutender als ihr unerwartetes Auftauchen vor<br />
Jahresfrist. Es signalisiert das Ende der Schimäre von einer<br />
Ich-Gesellschaft.<br />
1968 schmachteten radikale Bürgersöhnchen noch nach Revolution.<br />
2012 wollen die Piraten nur spielen: Kita-Kids des<br />
World Wide Web, das die Welt per Mausklick als Game auf ihren<br />
Bildschirm zaubert, gegenstandslos, geräuschlos, geruchlos<br />
und gratis.<br />
Angeblich geht es in diesem Reich ohne Sonnenuntergang<br />
um „communities“, „social networking“ und „liquid democracy“,<br />
um virtuelle Gesellschaften also. In Wirklichkeit geht es nur um<br />
den vereinzelten Einen, der mit all den anderen Vereinzelten<br />
nichts gemeinsam hat als das verspielte Herumpalavern im Netz.<br />
Die britische Premierministerin Margaret Thatcher hat es –<br />
lang vor Internet und Piraten – so formuliert: „Es gibt keine<br />
Gesellschaft, es gibt nur Einzelne.“ Damit beschrieb die kalte<br />
Königin des Marktradikalismus ziemlich präzis die Kommunikationskakophonie,<br />
die heute der wirklichen Welt aus den binären<br />
Gefilden des Shitstorms entgegenschwappt.<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
50 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Foto: privat<br />
Die Piraten verkörpern die deutsche Vollendung der fatalen<br />
Vision: Nerds nennen sie sich, Narzissten sind sie – „Ich, ich,<br />
ich!“ lautet ihr Schlachtruf.<br />
Die Flüchtigkeit ihrer politischen Existenz ist Folge dieses<br />
Narzissmus. Die Piratenpartei besteht aus Parteien, und zwar<br />
aus exakt gleich vielen, wie sie Mitglieder hat: jeder Pirat seine<br />
eigene Partei – Auflösung als Lösung.<br />
Ihr Pech, sie operieren in einer Phase des globalen Paradigmenwechsels:<br />
vom Ich zum Wir, vom egoistisch getrimmten<br />
Homo oeconomicus hin zur solidarischen Gesellschaft.<br />
In den USA siegte gerade der Präsident, dem Gemeinsinn<br />
und Gemeinschaft zentrales Anliegen sind. Barack Obama behauptete<br />
seinen Wertekanon gegen einen Kandidaten, der die<br />
47 Prozent sozial schwächerer Amerikaner als Staatsschmarotzer<br />
verunglimpfte.<br />
Und in Deutschland? Hier wendet sich das Volk wieder verstärkt<br />
den Parteien zu, deren Mitglieder die ganze Gesellschaft<br />
abdecken. Seien sie nun sozial oder christlich oder grün: Volksparteien<br />
mit Flügeln links und rechts.<br />
Parteien dagegen, die auf Egozentrik und Egoismus fokussieren,<br />
verlieren an Boden: neben den Piraten auch die Steuersenkungspartei<br />
FDP, die ihr einst sozialliberales Credo auf den<br />
marktradikalen Liberalismus verengt hat.<br />
Amerika verändert sich. Deutschland verändert sich. Die demokratische<br />
Welt wird von einer Wende erfasst.<br />
Die Mär vom üppig gedeckten Tisch der Reichen, deren<br />
Brotkrumen auch das einfache Volk darunter nähren, hat ihren<br />
Zauber verloren. Sie ist entlarvt als das perverse Abendmahl neoliberaler<br />
Apostel.<br />
Gleichzeitig erleben wir eine Renaissance der Politik, eine<br />
Wiedergeburt der Demokratie. Bürgerinnen und Bürger, angewidert<br />
vom <strong>Macht</strong>gebaren der Marktfetischisten, nehmen ihr<br />
Schicksal in die eigenen Hände: Gesellschaft statt Markt.<br />
Ja, es wird ein mühseliges Unterfangen. Besonders angesichts<br />
einer Zeit, die geradezu rast, da das Netz die Lichtgeschwindigkeit<br />
bereitstellt, mit der finanzwirtschaftliche Fakten vor allen<br />
anderen geschaffen werden können – und die Demokratie zeitaufwendig<br />
ihre dicken Bretter bohren muss.<br />
Der Spekulant ist schnell, netzschnell – der Bürger ist<br />
langsam.<br />
Doch die Entschleunigung gehört zum Wesen des Wertewandels.<br />
Die bewährten demokratischen Institutionen repräsentieren<br />
das große Ganze in all seinen Widersprüchen. Und sie funktionieren<br />
nach der Vorstellung des Philosophen Karl Popper von der<br />
offenen Gesellschaft: Versuch und Irrtum und Entscheidung und<br />
erneuter Versuch und erneuter Irrtum. Aufwendig ist dieses Verfahren,<br />
aber auch lustvoll, sogar unterhaltend, Demokratietheater<br />
wie aus der Feder des Dramatikers Friedrich Dürrenmatt.<br />
Das Erwachen der Gesellschaft ist das Ende der Täuschung,<br />
wonach ein jeder seines Glückes Schmied sei, also auch seines<br />
Unglückes Schmied – und daher selber schuld an Bedürftigkeit<br />
und Armut.<br />
Es ist das Ende der Täuschung, wonach eine Zivilisation der<br />
Vereinzelung keine Parteien der Versammlung mehr benötige.<br />
Die klassischen Parteien der bürgerlichen Demokratie –<br />
gibt’s eine unbürgerliche? – bilden nach wie vor die Agora der<br />
modernen Gesellschaft, auch der computergestützten.<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 51<br />
Zwar versuchen die Illusionskünstler der elektronischen Medien<br />
mit ihren Talks und Chats und Blogs diese Rolle zu substituieren.<br />
Doch das Parlieren vor der Kamera oder auf der Tastatur<br />
ist noch lange nicht die politische Arbeit. Selbst wenn sich<br />
das Publikum nur allzu gern dem Trugschluss hingibt, geredet<br />
sei gehandelt, gesagt sei getan.<br />
Auch hier naht das Ende der Täuschung, der zufolge die rhetorischen<br />
Regatten auf Schaumkrönchen der elektronischen<br />
Windmacher bereits reine, weil unmittelbare Politik seien. Was<br />
Hand und Fuß hat, wird in Parteigremien entworfen, auf Parteitagen<br />
debattiert und vom Parlament beschlossen, diesem Stiefkind<br />
journalistischer Aufmerksamkeit.<br />
Angela Merkel sehnte sich völlig demokratievergessen nach<br />
„marktkonformer Demokratie“. Die Piraten sehnen sich nach<br />
laptopkonformer, nach „flüssiger“ Demokratie. Aus all dem aber<br />
wird wohl nichts.<br />
Denn die Bürgerinnen und Bürger sehnen sich nach etwas<br />
ganz und gar anderem – nach Demokratie.<br />
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Frank A. Meyer<br />
ist Journalist und Gastgeber der politischen<br />
Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />
»Selten hat man eine derartig gut<br />
geschriebene historische Biographie<br />
gelesen.« literarische welt<br />
Gebunden mit Schutzumschlag<br />
752 Seiten mit 16 Seiten s/w-Abbildungen<br />
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ISBN 978-3-549-07416-9<br />
ProP yläen<br />
www.propylaeen-verlag.de
| W e l t b ü h n e<br />
Rechtsaussen der Linken<br />
Frankreichs Innenminister Manuel Valls hat sich zum beliebtesten Politiker seines Landes entwickelt<br />
von Stefan Brändle<br />
F<br />
rankreich ist konservativ, wählt<br />
aber gerne links. Dieses „french<br />
paradox“ geht zurück bis ins<br />
18. Jahrhundert, als die Revolution das betuliche<br />
Ancien Régime ablöste. Im 21. Jahrhundert<br />
verkörpert Manuel Valls dieses<br />
Paradoxon; er ist die Lichtgestalt der französischen<br />
Linken.<br />
Während die Zustimmung für Präsident<br />
François Hollande und Premierminister<br />
Jean-Marc Ayrault schwindet, steigen Valls<br />
Zustimmungswerte kontinuierlich. Mittlerweile<br />
ist der 50 Jahre alte Innenminister der<br />
populärste Politiker der Franzosen.<br />
Wer nach dem Erfolgsrezept des stets<br />
grimmig dreinblickenden und zum rechten<br />
Flügel seiner Partei zählenden Sozialisten<br />
fragt, bekommt zur Antwort: Sicherheit,<br />
Autorität, republikanische Ordnung.<br />
Und Valls greift hart durch – gegen islamistische<br />
Terrornetze, gegen illegal errichtete<br />
Roma-Lager, gegen Drogenbanden in<br />
den Banlieues.<br />
Viele seiner Gegner, vor allem am linken<br />
politischen Rand, sehen in ihm in erster<br />
Linie einen neuen Nicolas Sarkozy. Der<br />
war schließlich vor seinem Einzug in den<br />
Élysée-Palast auch aus dem Innenministerium<br />
gestartet. Dennoch hinkt der Vergleich.<br />
Während Valls elf Jahre als Bürgermeister<br />
von Évry amtierte, einer farbigen,<br />
aber enorm diffizilen Immigrantenvorstadt<br />
im Süden von Paris, verwaltete Sarkozy den<br />
Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine, wo die<br />
Bourgeoisie der Nation lebt.<br />
Valls sei „kein linker Sarkozy“, sagt<br />
daher der bekannte französische Journalist<br />
Hervé Gattegno. Der medienbewusste<br />
Valls trete zwar wie einst Sarkozy gerne an<br />
Verbrechensschauplätzen vor die Kameras.<br />
„Aber Valls kündigt nicht jedes Mal gleich<br />
ein neues Gesetz an; er poltert nicht gegen<br />
die laschen Richter, er überbietet sich nicht<br />
mit dem Thema Sicherheit.“<br />
Und er lästert nicht – wie einst Sarkozy<br />
– über den „Abschaum“ in der Banlieue.<br />
Valls ist politisch konsequenter als<br />
der ehemalige französische Präsident, aber<br />
auch differenzierter. Er lehnt das von den<br />
Sozialisten versprochene Ausländerstimmrecht<br />
auf Gemeindeebene als politische<br />
Dummheit ab – gleichzeitig plädiert er für<br />
eine erleichterte Einbürgerung.<br />
Als Valls jüngst eine Razzia unter Islamisten<br />
anordnete, warnte er gleichzeitig<br />
vor jeder „Gleichsetzung“ von Islam und<br />
„Valls kündigt nicht jedes Mal<br />
gleich ein neues Gesetz an“<br />
Hervé Gattegno, französischer Journalist<br />
Terror. „Sie (die Terroristen) kommen<br />
nicht aus dem Ausland, sie kommen aus<br />
unseren Vorstädten“, hält Valls der französischen<br />
Gesellschaft den Spiegel vor. „Es<br />
sind keine Ausländer, es sind konvertierte<br />
Franzosen!“<br />
Valls sieht die Probleme Frankreichs<br />
präziser und zugleich distanzierter als<br />
viele Politiker. Vielleicht weil er von außen<br />
kommt? 1962 in Barcelona geboren,<br />
ist er erst im Alter von 20 Jahren Franzose<br />
geworden. Der Sohn eines spanischen Malers<br />
und einer Schweizer Architektentochter<br />
spricht außer Spanisch und Italienisch<br />
auch fließend Katalanisch. Vor allem aber<br />
Klartext. Kompromisslos klar prangert er<br />
auch die Korruption in der eigenen Polizei<br />
an, vor der Sarkozy stets die Augen<br />
verschlossen hatte. In Marseille löste er<br />
eine Banlieue-Brigade kurzerhand auf, als<br />
bekannt wurde, dass einige der Beamten<br />
selbst mit Drogen gedealt hatten.<br />
Viele Franzosen erinnern sich auch<br />
an Valls’ zornrotes Gesicht, als seine<br />
Parteifreundin Ségolène Royal 2008 mutmaßlich<br />
Opfer eines parteiinternen Wahlbetrugs<br />
wurde, der sie um den Parteivorsitz<br />
brachte. Während die meisten Genossen<br />
nur die Schultern zuckten, wollte Valls<br />
Klage gegen die eigene Parteiführung einreichen.<br />
Erst im letzten Moment machte<br />
der Sozialist einen Rückzieher, um es sich<br />
nicht mit der neuen Parteichefin Martine<br />
Aubry zu verscherzen. Auch das ist Valls:<br />
Sein Temperament hindert ihn nicht, an<br />
seine Karriere zu denken.<br />
Aubry vergaß den Zwischenfall ebenso<br />
wenig und forderte Valls 2009 auf, die Partei<br />
zu verlassen, nachdem er sich seinen<br />
bisher einzigen Schnitzer leistete: In Évry<br />
forderte er bei einem Auftritt einen Mitarbeiter<br />
auf, „ein paar Weiße“ ins Publikum<br />
zu stellen – nicht wissend, dass er gerade<br />
gefilmt wurde.<br />
Valls blieb in der Partei. 2011 kandidierte<br />
er gar bei den Vorwahlen des Parti<br />
Socialiste für die Präsidentschaftswahl<br />
2012. Doch die Zeit war noch nicht reif<br />
für ihn: Mit 6 Prozent der Stimmen schied<br />
er bereits nach dem ersten Wahlgang aus.<br />
Der interne Sieger Hollande aber erkannte<br />
Valls Talente und machte ihn zu<br />
seinem Kampagnensprecher. Der hatte<br />
maßgeblichen Anteil am späteren Wahlsieg<br />
des blassen Sozialisten, und dieser<br />
belohnte ihn wiederum mit dem<br />
Innenministerposten.<br />
Das hätte der Präsident vielleicht besser<br />
gelassen. Fünf Monate später sieht es<br />
für Hollande düster aus – Valls hingegen<br />
wird als zukünftiger Premierminister gehandelt,<br />
zumal der steife Regierungschef<br />
Ayrault immer mehr zu einer Hypothek<br />
wird. Und auch diesen Posten betrachtet<br />
Valls wohl lediglich als Zwischenstation –<br />
auf seinem Weg in den Élysée.<br />
Stefan Brändle<br />
arbeitet in Paris als Frankreichkorrespondent<br />
unter anderem für<br />
die Schweizer Weltwoche und<br />
den Standard aus Wien<br />
Foto: Lea Crespi/LUZphoto/fotogloria, Privat (Autor)<br />
52 <strong>Cicero</strong> 12.2012
1962 in Barcelona<br />
geboren, ist Manuel<br />
Valls erst im Alter<br />
von 20 Jahren<br />
Franzose geworden<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 53
| W e l t b ü h n e<br />
Einzelkämpferin im<br />
Seidenkostüm<br />
Die Südafrikanerin Mamphela Ramphele rebelliert gegen die Politik ihrer einstigen Weggefährten<br />
von Claudia Bröll<br />
E<br />
iNen solchen ansturm hat der<br />
kleine Buchladen in Kapstadts<br />
Zentrum nicht oft erlebt. Bis auf<br />
die Straße hinaus stehen die Besucher, argwöhnisch<br />
beäugt von zwei Bodyguards im<br />
Innern. Angekündigt ist Mamphela Ramphele.<br />
Ehemalige Kämpferin gegen das<br />
Apartheidsregime und heute eine der angesehensten<br />
Intellektuellen im Land. Eine<br />
moralische Autorität, von Weißen wie von<br />
Schwarzen geschätzt. Sie ist bekannt dafür,<br />
Missstände anzuprangern und mit den<br />
Verantwortlichen schonungslos ins Gericht<br />
zu gehen. Auch sich mit dem Staatspräsidenten<br />
anzulegen, schreckt sie nicht. Das<br />
kommt bei den Mächtigen im Land nicht<br />
immer gut an. Womöglich hat sie auch deswegen<br />
die Bodyguards dabei.<br />
In einem eleganten türkisfarbenen Seidenkostüm<br />
sitzt sie auf dem Podium, eine<br />
zierliche ältere Dame mit einem freundlichen<br />
Lächeln. Schnell aber wird klar, dass<br />
sie nicht jedem freundlich zugetan ist. „Wir<br />
haben eine Regierung, die auf jedem Gebiet,<br />
an dem demokratische Regierungen<br />
gemessen werden, versagt hat: im Bildungswesen,<br />
im Gesundheitswesen, in der<br />
Sicherheit, dem Arbeitsmarkt“, wettert sie<br />
mit einer durchdringenden Stimme. „Dennoch<br />
ist diese Regierung davon überzeugt,<br />
wiedergewählt zu werden. Warum? Weil in<br />
diesem Land die Parteibosse und nicht die<br />
Bürger regieren.“<br />
Ramphele ist 64 Jahre alt und hat in<br />
ihrem Leben eigentlich genug gekämpft.<br />
In den siebziger Jahren gründete sie an<br />
der Seite des noch heute als Held verehrten<br />
Bürgerrechtlers Steve Biko die „Black<br />
Consciousness Bewegung“ mit. Mehrere<br />
Jahre wurde sie deswegen in ein Dorf<br />
verbannt. Sie brachte Bikos Sohn auf die<br />
Welt, kurz nachdem der Aktivist an den<br />
Folgen von Folterung im Gefängnis ums<br />
Leben gekommen war.<br />
Die Großmutter, die sich weigert, einer<br />
Partei beizutreten, wird nicht müde. Es<br />
geht wieder um den alten Traum. Doch<br />
diesmal zieht sie nicht gegen eine weiße<br />
Minderheitsregierung zu Felde. Es sind<br />
die eigenen früheren Genossen, von denen<br />
viele vergessen zu haben scheinen,<br />
wofür sie einst ihr Leben aufs Spiel setzten.<br />
„Unser Fehler war es, die <strong>Macht</strong> an<br />
unsere Freiheitskämpfer zu übergeben, statt<br />
die Dinge selbst in die Hand zu nehmen“,<br />
sagt sie, „so sind wir in der Rolle der Almosenempfänger<br />
geblieben, abhängig, ohne<br />
Selbstbewusstsein.“<br />
Nach solchen deutlichen Worten lechzen<br />
viele Menschen in Südafrika. 18 Jahre<br />
seit dem Ende der Rassentrennung ist die<br />
Frustration über die enorme Einkommensungleichheit<br />
groß. Fast täglich finden in<br />
Armenvierteln Proteste wegen schlechter<br />
staatlicher Leistungen statt. Gleichzeitig<br />
ist von immer neuen Skandalen zu lesen<br />
– ob sich Staatspräsident Jacob Zuma<br />
eine Luxusresidenz bauen lässt, oder der<br />
frühere Chef der ANC-Jugendliga, Julius<br />
Malema, sich an öffentlichen Aufträgen in<br />
seiner Heimatprovinz bereichert.<br />
„Für die normalen Leute hat sich nicht<br />
viel geändert, nur haben die Weißen immer<br />
mehr Schuldgefühle, und die Schwarzen<br />
empfinden immer mehr Wut“, bilanziert<br />
Ramphele. „Die meisten von uns sind<br />
nicht frei. Warum? Weil wir eine Regierung<br />
haben, die zwar aus der Freiheitsbewegung<br />
hervorgegangen ist, aber in die Fußstapfen<br />
ihrer Vorgänger tritt.“<br />
Ramphele selbst wuchs in armen Verhältnissen<br />
mit sechs Geschwistern auf.<br />
Die Mutter spornte die Kinder frühzeitig<br />
zu Leistung an. Die junge schwarze Frau<br />
studierte Medizin, arbeitete auch in der<br />
Verbannung als Ärztin. Nach der Wende<br />
erlebte sie eine steile Karriere, wurde zur<br />
Rektorin der Universität in Kapstadt und<br />
gehörte später als erste Südafrikanerin dem<br />
Direktorium der Weltbank an. Heute sitzt<br />
sie in den Aufsichtsräten von Rohstoffkonzernen,<br />
schreibt Bücher, tritt in der Öffentlichkeit<br />
auf.<br />
Die Medizinerin belässt es jedoch nicht<br />
bei der Diagnose. Vor kurzem hat Ramphele<br />
die Organisation „Citizens Movement<br />
for Social Change“ gegründet, welche<br />
die junge konstitutionelle Demokratie<br />
Südafrika „aus den Teenagerjahren“ ins Erwachsenenalter<br />
befördern soll. „Wir haben<br />
in diesem Land Bürger ohne <strong>Macht</strong>, weil<br />
sie ihre Rechte nicht kennen und ihnen<br />
nie jemand beigebracht hat, diese Rechte<br />
auszuüben.“<br />
Viele aber wünschen sich mehr. Immer<br />
wieder wird sie gefragt, ob sie für das Präsidentenamt<br />
kandidieren will. Doch immer<br />
wieder lehnt sie ab. „Was soll das bewirken?<br />
Wir suchen wieder einen Messias, anstatt<br />
dass sich jeder selbst fragt, was er heute tun<br />
kann, damit dieses Land wirklich frei ist.“<br />
Gut 1000 Kilometer von dem Buchladen<br />
entfernt gehen die außer Kontrolle geratenen<br />
Arbeitskämpfe weiter, auch in den<br />
Minen eines Goldförderers, dem Ramphele<br />
vorsteht. Streikbrecher werden systematisch<br />
verfolgt und gelyncht. Ihre Beschreibung<br />
einer wohlgeordneten Demokratie<br />
könnte kaum gegensätzlicher sein. Doch<br />
die Einzelkämpferin im Seidenkostüm lässt<br />
sich die Zuversicht nicht nehmen. „Ich<br />
glaube an diese Nation, es ist eine großartige<br />
Nation“, ruft sie zum Abschied. „Und<br />
eine Krise ist eine wertvolle Gelegenheit,<br />
die man nie ungenutzt verstreichen lassen<br />
sollte.“<br />
Claudia Bröll<br />
ist Journalistin und lebt seit fünf<br />
Jahren in Südafrika<br />
Fotos: JAMES OATWAY, privat (Autorin)<br />
54 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Gemeinsam mit dem<br />
Bürgerrechtler Steve Biko<br />
gründete Mamphela Ramphele<br />
in den Siebzigern die<br />
„Black‐Consciousness‐Bewegung“ –<br />
ihr Kampf ist immer<br />
noch nicht zu Ende<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 55
| W e l t b ü h n e<br />
Geheimnisvoller Stratege<br />
Alex Salmond will Schottland von Englands Joch befreien. Dafür hat er ein Referendum durchgesetzt<br />
von Sebastian Borger<br />
N<br />
eulich reiste David Cameron<br />
nach Edinburgh. In der schottischen<br />
Hauptstadt galt es zu besiegeln,<br />
was der Londoner Premierminister<br />
eigentlich hatte vermeiden wollen: Per Unterschrift<br />
stimmte der Konservative offiziell<br />
der Abstimmung über Schottlands Unabhängigkeit<br />
zu, dem größten verfassungspolitischen<br />
Wagnis Großbritanniens seit Bildung<br />
der Republik Irland vor 90 Jahren.<br />
Dass es so weit gekommen ist, geht vor<br />
allem auf das Konto eines Mannes: Alex<br />
Salmond, den Ministerpräsidenten der britischen<br />
Nordprovinz, zählen selbst eingefleischte<br />
Gegner zur Handvoll herausragender<br />
Politiker auf der Insel. In mittlerweile<br />
18 Jahren als Vorsitzender hat der 57-Jährige<br />
seine kleine, belächelte und unterfinanzierte<br />
schottische Nationalpartei SNP<br />
zur bestimmenden Kraft der stolzen Nation<br />
gemacht. Das hat Auswirkungen auf<br />
das ganze Land, in dem normalerweise<br />
die Interessen der Regionen keine wichtige<br />
Rolle spielen.<br />
Bei der Zeremonie in St. Andrews<br />
House, dem Sitz der schottischen Regionalregierung,<br />
erinnerte der Gastgeber seinen<br />
Besucher David Cameron ebenso subtil<br />
wie boshaft an die politische Realität nördlich<br />
des Hadrianwalls: An der Wand über<br />
den beiden Politikern hing eine Schottlandkarte,<br />
weitgehend in Gelb, mit einigen<br />
roten und blauen Tupfern: Sie stellt<br />
das Ergebnis der Landtagswahl 2011 dar,<br />
bei der die SNP (gelb) einen Erdrutschsieg<br />
errang über Labour (rot) und die Konservativen<br />
(blau).<br />
Seither regiert Salmond mit absoluter<br />
Mehrheit im Edinburgher Parlament und<br />
verfügt über das Mandat, seiner 1934 gegründeten<br />
Partei ihren uralten Wunsch zu<br />
erfüllen: Im Herbst 2014 sollen die Schotten<br />
den 1707 freiwillig geschlossenen Bund<br />
mit England auflösen und ihren eigenen<br />
Weg gehen. „Wir wollen lieber guter Nachbar<br />
sein als mürrischer Mieter“, beschreibt<br />
der Chef das Ziel.<br />
Der Sohn zweier Verwaltungsbeamter<br />
trat als Student der SNP bei. Anfang der<br />
achtziger Jahre wurde er wegen seiner Propaganda<br />
für „die schottische sozialistische<br />
Republik“ kurzzeitig aus der Partei ausgeschlossen.<br />
1987 zog Salmond ins Unterhaus<br />
ein, 1990 übernahm er den Parteivorsitz,<br />
den er seither – mit einer vierjährigen<br />
Unterbrechung – innehat. In dieser Zeit ist<br />
aus dem Linksaußen längst ein national gesinnter<br />
Sozialdemokrat geworden, der die<br />
Eroberung der <strong>Macht</strong> vor das Ziel rascher<br />
Unabhängigkeit setzte. Auch die Monarchie<br />
will er neuerdings erhalten. Dieser<br />
Kurswechsel liegt an der hohen Popularität<br />
der Amtsinhaberin Elizabeth II, mit der<br />
Salmond zudem eine Leidenschaft verbindet:<br />
Wie die Königin ist auch der Ministerpräsident<br />
ein Pferdenarr, einer kleinen<br />
Wette auf der Rennbahn nicht abgeneigt.<br />
Es gehört zu Salmonds Qualitäten, dass<br />
ihn die Aura des Geheimnisvollen umgibt.<br />
Auch von seinem Biografen David Torrance<br />
ließ sich der begeisterte Bridgespieler<br />
nicht in die Karten sehen. Dass er sich<br />
für Poesie und Geschichte begeistert, seine<br />
eigenen Memoiren schreiben will, Asthmatiker<br />
und stark übergewichtig, aber mit einem<br />
hervorragenden Schneider gesegnet ist,<br />
gehört in Edinburgh fast schon zum Allgemeinwissen.<br />
Der Regierungschef hatte<br />
denn auch, außer einem Telefonat „im Stil<br />
eines enttäuschten Oberlehrers“ (Torrance),<br />
nur Spott übrig für den Biografen und dessen<br />
Buch: „Mir war gar nicht klar, wie langweilig<br />
ich bin.“<br />
Selbstironie kommt immer gut an auf<br />
der Insel – mehr jedenfalls als die Arroganz<br />
und Launenhaftigkeit, für die Salmond<br />
auch bekannt ist. Für sein breites,<br />
selbstgefälliges Grinsen wollte ihm die konservative<br />
Sunday Times vor Wut gar „ein<br />
paar Ohrfeigen mit einem feuchten Fisch<br />
verpassen“. In den vier Jahren als Chef einer<br />
Minderheitsregierung in Edinburgh<br />
von 2007 bis 2011 musste der frühere<br />
Ökonom bei der Royal Bank of Scotland<br />
stets auf Kompromisssuche gehen. Dabei<br />
hat Salmond entscheidend dazugelernt –<br />
und Eigenschaften wie Verhandlungsgeschick<br />
und Einfühlungsvermögen gezeigt,<br />
die man dem gelegentlich allzu selbstbewussten<br />
SNP-Chef nicht zugetraut hatte.<br />
Zu Salmonds Erfolg trägt bei, dass er<br />
sich als national gesinnter Sozialdemokrat<br />
geriert und damit dem schottischen<br />
Mainstream entspricht. Sein Nationalismus<br />
gibt sich modern und weltoffen. Fotos<br />
des kinderlosen, seit 31 Jahren mit seiner<br />
17 Jahre älteren Frau Moira verheirateten<br />
SNP-Chefs im Kilt sucht man vergeblich –<br />
solch traditionelle Auftritte überlässt der<br />
Politiker lieber dem telegenen James-Bond-<br />
Darsteller Sean Connery, der die SNP von<br />
seinem Wohnsitz auf den Bahamas aus unterstützt.<br />
Von Moira, die einst im schottischen<br />
Agraramt Salmonds Chefin war, gibt<br />
es hingegen kaum Fotos. Dabei werde sie<br />
sicher zu allen wichtigen Entscheidungen<br />
konsultiert, mutmaßt man im Politbetrieb.<br />
Genau weiß man das aber nicht. Wie es<br />
sich für eine frühere Spitzenbeamtin gehört,<br />
hält sich Salmonds Frau stets diskret<br />
im Hintergrund.<br />
Von dort aus dürfte sie die Kampagne<br />
über „die wichtigste politische Entscheidung<br />
seit 300 Jahren“, zu der Salmond<br />
die Volksabstimmung hochjazzt,<br />
begleiten. Einstweilen liegen in den Umfragen<br />
die Gegner der Unabhängigkeit<br />
(53 Prozent) deutlich vor den Befürwortern<br />
(28 Prozent), der Rest der Schotten<br />
ist unentschlossen. Alex Salmond wird alles<br />
daransetzen, dass sich dieses Verhältnis<br />
in den kommenden zwei Jahren umkehrt<br />
und aus Großbritannien ein kleineres Britannien<br />
wird.<br />
Sebastian BoRger<br />
schreibt als freier Korrespondent<br />
aus London, unter anderem für<br />
Financial Times Deutschland<br />
und die Basler Zeitung<br />
Foto: Martin Hunter/Camera Press/Picture Press, Privat (Autor)<br />
56 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Eine frühere Chefin<br />
hat er geheiratet.<br />
Vom jetzigen Chef<br />
will er sich scheiden<br />
lassen. Zielstrebig<br />
arbeitet Schottlands<br />
Ministerpräsident<br />
Alex Salmond an<br />
der Unabhängigkeit<br />
für Großbritanniens<br />
Nordprovinz<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 57
| W e l t b ü h n e | A m e r i k a s A u s s e n p o l i t i k<br />
Das Lächeln könnte<br />
Barack Obama<br />
schnell vergehen<br />
angesichts der<br />
schier nicht zu<br />
bewältigenden<br />
Aufgaben<br />
58 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Die Welt sucht<br />
einen Manager<br />
In Syrien herrscht Bürgerkrieg, China erhebt Weltmachtansprüche, Afghanistan<br />
ist unsicherer denn je, und Amerikas Beziehungen zu Russland sind auch nicht die<br />
besten. Es gibt reichlich zu tun für den wiedergewählten US-Präsidenten<br />
von Jan Techau<br />
W<br />
ie nach der Sommerpause<br />
am Stadttheater kommt<br />
in diesen Tagen das geneigte<br />
außenpolitische<br />
Publikum der Welt zusammen.<br />
Nach dem Ende der schier endlosen<br />
Wahlkampfzeit in den USA wartet<br />
es gespannt auf den globalen Spielplan<br />
der neuen Saison. Nachdem die internationale<br />
Öffentlichkeit innerlich zu weiten<br />
Teilen Barack Obama gewissermaßen<br />
mitgewählt hat, will sie nun wissen,<br />
was der Commander in Chief mit seiner<br />
zweiten Amtszeit anfangen will.<br />
Wie selbstverständlich wird angenommen,<br />
dass es vor allem am US-Präsidenten<br />
liegt, welche Themen global<br />
angepackt werden. Diese Annahme hat<br />
mit der Realität zwar weniger zu tun als<br />
früher, sie zeigt aber, wie sehr die Vereinigten<br />
Staaten trotz aller <strong>Macht</strong>verschiebungen<br />
weiterhin als die einzige<br />
Supermacht und als Schlüssel zu internationalem<br />
Wohl oder Wehe angesehen<br />
werden. Sie zeigt auch, dass das Publikum<br />
einen guten Instinkt dafür hat, dass<br />
trotz der relativen Schwächung Amerikas<br />
durch den „Aufstieg der anderen“ nach<br />
wie vor nur die USA international unentbehrlich<br />
sind. Solange die angeblich so<br />
aufstrebenden Mächte der Zukunft sich<br />
nicht nur als instabil erweisen, wie dies<br />
derzeit immer mehr offenbar wird, und<br />
solange sie auch den Schritt in die Verantwortung<br />
eines globalen Stabilitätsgaranten<br />
verweigern, wie dies vor allem<br />
Russland und China mit Entschlossenheit<br />
tun, wird sich daran auch nicht viel<br />
ändern. Zwar beginnen nicht mehr alle<br />
globalen politischen Debatten mit Amerika,<br />
aber fast alle enden mit dem fragenden<br />
Blick nach Washington: Can you please<br />
do something?<br />
Die Frage, was der Präsident sich<br />
vornehmen wird, ist dabei fast müßig.<br />
Obamas außenpolitischer Aufgabenzettel<br />
schreibt sich angesichts der Weltlage praktisch<br />
von allein. Neben den Dauerkrisen<br />
und anderen Hauptaufgaben – Syrien,<br />
Iran, China, Afghanistan, Nordkorea, Al<br />
Qaida, Eurokrise, Israel-Palästina, „Pivot“<br />
nach Asien – wird die außenpolitische<br />
Agenda seit jeher vor allem vom<br />
improvisierten Reagieren auf „Breaking<br />
News“ bestimmt. Ob da Zeit für die Kür<br />
bleibt, also ein selbst gewähltes Projekt,<br />
wie es sich beispielsweise Amtsvorgänger<br />
George W. Bush mit der Bekämpfung von<br />
Aids in Afrika gesucht hatte, ist zweifelhaft.<br />
Dies umso mehr, als das Hauptaugenmerk<br />
Obamas ohnehin auf der Bewältigung<br />
der hauseigenen amerikanischen<br />
Wirtschafts-, Schulden-, Arbeitsmarkt-,<br />
Politsklerose-, Strukturwandelkrise liegen<br />
wird. Und ob der wiedergewählte<br />
Präsident sich das außenpolitische Feld<br />
vornehmen wird, um ein „legacy project“,<br />
ein politisches Vermächtnis zu hinterlassen,<br />
wie es Bill Clinton mit der Lösung<br />
des Nahostkonflikts versucht hatte, ist<br />
nicht abzusehen. Bleibt also vor allem<br />
das, was getan werden muss.<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 59
| W e l t b ü h n e | A m e r i k a s A u s s e n p o l i t i k<br />
Skandale<br />
Verhängnisvolle Affären<br />
Der Fall des David Petraeus ist das jüngste Kapitel einer<br />
langen Reihe von Skandalen, die die USA erschütterten.<br />
Eine kurze Übersicht<br />
Filmreif ist gar kein Ausdruck.<br />
Was sich in diesen<br />
Tagen rund um den<br />
hochdekorierten Ex-General<br />
David Petraeus abspielt, hätte sich<br />
kein Hollywood-Drehbuchautor ausdenken<br />
können. Der zurückgetretene<br />
CIA‐Chef stürzte über eine Affäre mit<br />
seiner Biografin, die wiederum eifersüchtig<br />
gewesen sein soll auf eine vermeintliche<br />
Konkurrentin, die sie mit<br />
E-Mails bedroht habe. Mit der wiederum<br />
habe der Kommandant der internationalen<br />
Isaf-Schutztruppe in Afghanistan,<br />
General John R. Allen, einen<br />
„unangemessenen“ E-Mail-Verkehr unterhalten.<br />
FBI und Pentagon ermitteln.<br />
Bereits Präsident Thomas<br />
Jefferson (1801 bis 1809)<br />
strauchelte über den Vorwurf<br />
einer außerehelichen<br />
Beziehung. 1802 wurde der dritte Präsident<br />
der USA beschuldigt, eine Affäre<br />
und ein uneheliches Kind mit seiner<br />
Sklavin Sally Hemings zu haben.<br />
Jefferson stritt alles ab und blieb im<br />
Amt. Rund 200 Jahre später brachte<br />
eine DNA-Analyse Klarheit: Die Vaterschaft<br />
Jeffersons gilt bei mindestens<br />
einem der Hemings-Kinder als mehr<br />
als wahrscheinlich.<br />
Nicht immer war bei den<br />
Skandalen Sex im Spiel.<br />
Gegen Abraham Lincolns<br />
Nachfolger Andrew<br />
Johnson (1865 bis 1869) etwa wurde<br />
1868 wegen Missachtung der Rechte<br />
des Kongresses ein – erfolgloses –<br />
Amtsenthebungsverfahren eingeleitet.<br />
Johnson wollte Pläne des Kongresses<br />
vereiteln, die von Lincoln erweiterte<br />
<strong>Macht</strong> des Präsidenten wieder einzuschränken.<br />
Außerdem wurde ihm Alkoholmissbrauch<br />
vorgeworfen.<br />
1867, erschütterte der erste<br />
große Korruptionsskandal<br />
die Nation. Zahlreiche republikanische<br />
Kongressabgeordnete<br />
erhielten oder kauften Aktien<br />
von „Credit Mobilier of America“<br />
zu besseren Konditionen als marktüblich.<br />
Die Politiker bekamen aber auch<br />
andere Zuwendungen der Tarnfirma,<br />
die an der Gründung und dem Ausbau<br />
der Union Pacific Railroad beteiligt<br />
war. Besonders pikant wurde die Angelegenheit,<br />
weil die Abgeordneten aus<br />
dem Kreis zweier späterer Präsidenten<br />
stammten: Ulysses S. Grant (1869 bis<br />
1877) und James A. Garfield (4. März<br />
1881 bis 19 September 1881).<br />
Grover Cleveland (1893<br />
bis 1897) geriet in Verruf,<br />
weil seine Gegner während<br />
des Wahlkampfs verbreiteten,<br />
er habe zehn Jahre zuvor die Vaterschaft<br />
für ein uneheliches Kind angenommen.<br />
Cleveland begegnete den<br />
Anfeindungen mit Ehrlichkeit, gab die<br />
Vaterschaft zu und gewann die Wahl.<br />
Warren G. Harding (1921<br />
bis 1923) gilt vielen Amerikanern<br />
als schlechtester<br />
Präsident der USA. Zum einen<br />
wegen seiner Frauenaffären. Zum<br />
anderen steht seine Amtszeit im Ruf,<br />
eine der korruptesten in der Geschichte<br />
der Vereinigten Staaten zu sein. Harding<br />
hatte gleich mehrere langjährige<br />
Liebschaften mit Freundinnen der Familie.<br />
Eine unterhielt er sogar zu Carrie<br />
Fulton Phillips, der Ehefrau eines<br />
alten Freundes. Um einen Skandal im<br />
Vorfeld der Präsidentschaftswahlen zu<br />
verhindern, spendierte er der Geliebten<br />
nebst deren Gatten eine ausgedehnte<br />
Urlaubsreise, zusätzlich zahlte die Republikanische<br />
Partei Frau Phillips mehrere<br />
Jahre lang ein monatliches „Gehalt“.<br />
Schwerwiegender dürfte aber sein, dass<br />
Harding nach seiner Amtseinführung<br />
unter anderem Freunden einträgliche<br />
Ämter zuschanzte.<br />
Watergate schließlich ist<br />
zum Inbegriff des Polit-<br />
Skandals geworden. Einer<br />
der am Einbruch in<br />
die Wahlkampfzentrale der Demokratischen<br />
Partei Beteiligten stellte sich<br />
als Mitarbeiter der CIA und als Leiter<br />
des „Komitees für die Wiederwahl<br />
des Präsidenten“ heraus. Der Einbruch<br />
war nur ein winziger Teil des groß angelegten<br />
Versuchs, die politische Konkurrenz<br />
in Misskredit zu bringen. Die<br />
Spuren führten direkt ins Weiße Haus,<br />
der amtierende republikanische Präsident<br />
Richard Nixon (1969 bis 1974)<br />
musste zurücktreten.<br />
Ronald Reagan (1981 bis<br />
1989) kam ins Schleudern,<br />
als bekannt wurde, dass die<br />
CIA jahrelang tatenlos zugesehen<br />
hatte, wie sich die Contras in<br />
Nicaragua durch Kokainschmuggel in<br />
die USA finanziert hatten. Während der<br />
Anhörungen vor dem US-Kongress kam<br />
heraus, dass die Reagan-Regierung nicht<br />
nur Waffen an den Iran verkauft, sondern<br />
die Gewinne aus diesen Geschäften<br />
dazu verwendet hatte, die Contra-<br />
Rebellen in Nicaragua zu unterstützen.<br />
Inwieweit Reagan darin verwickelt war,<br />
konnte nie ganz geklärt werden.<br />
Wenn es einen Satz von<br />
Bill Clinton (1993 bis<br />
2001) gibt, der Geschichte<br />
gemacht hat, so ist das neben<br />
„It’s the economy, stupid“ sicherlich<br />
der Ausspruch: „I did not have sexual<br />
relations with that woman.“ Wie<br />
jeder heute weiß, war das eine faustdicke<br />
Lüge, die der Präsident schließlich<br />
mit der Bemerkung einräumte, die Beziehung<br />
zu der Praktikantin Monica<br />
Lewinsky sei „nicht angemessen“ gewesen.<br />
Einem Amtsenthebungsverfahren<br />
konnte Clinton durch dieses Eingeständnis<br />
zwar nicht entgehen, er überstand<br />
die Affäre aber dennoch. jh<br />
Fotos: Action Press/Zuma Press, Inc. (Seiten 58 bis 59), Picture Alliance/DPA/Abaca (2),White House Historical Association, Picture Alliance/Everett Collection (4), Library of Congress (2),<br />
60 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Zu allem Unglück muss der Präsident<br />
gleich zu Beginn der neuen Amtszeit sein<br />
außenpolitisches Kernteam neu zusammenstellen.<br />
In Europa, in dem starke und<br />
beharrliche Verwaltungen einen großen Teil<br />
des Politikbetriebs absorbieren, wird oft unterschätzt,<br />
wie entscheidend die Personalauswahl<br />
in den USA fürs Funktionieren<br />
der Regierung ist – und wie lange dieser<br />
Prozess dauern kann. Obama muss nicht<br />
nur auf absehbare Zeit einen Ersatz für<br />
die scheidende Außenministerin Hillary<br />
Clinton finden. Auch Verteidigungsminister<br />
Leon Panetta, eine Schlüsselfigur beim<br />
höchst ambitionierten und höchst komplexen<br />
Umbau der amerikanischen Streitkräfte<br />
(auch dies ein Kernprojekt), gilt als<br />
amtsmüde. Hinzu kommt, dass der Präsident<br />
nur Tage nach seiner Wiederwahl<br />
Je brutaler die<br />
Nachrichten aus<br />
Syrien werden, desto<br />
größer könnte die<br />
Versuchung werden,<br />
doch einzugreifen<br />
einen seiner fähigsten, loyalsten und über<br />
Partei grenzen hinweg anerkannten Berater<br />
in einer Schlüsselposition eingebüßt hat.<br />
CIA-Chef David Petraeus, vormals Vier-<br />
Sterne-General und Amerikas militärischintellektueller<br />
Vorzeigefeuerwehrmann für<br />
die harten Fälle im Irak und in Afghanistan,<br />
trat nach einer Liebesaffäre von seinem Amt<br />
zurück. Gleich drei der vier Hauptfiguren<br />
seines Außenpolitikteams zu verlieren (der<br />
vierte ist der nationale Sicherheitsberater),<br />
ist ein schwerer Schlag für Obama. Die Personalien<br />
werden intensiv beobachtet werden,<br />
denn Neubesetzungen bedürfen der<br />
Zustimmung des Senats, was sich bei manchem<br />
Kandidaten als höhere Hürde herausstellen<br />
könnte, als vorher geahnt.<br />
Grundsätzlich wird es wohl eine gewisse<br />
Kontinuität in der US-Außenpolitik<br />
geben, aber neue Personen werden neue<br />
Akzente setzen wollen. Unklar ist auch, ob<br />
alle zukünftigen Spitzenleute einem Präsidenten,<br />
der nicht wiedergewählt werden<br />
kann, so loyal dienen werden, wie dies<br />
Clinton, Panetta und Petraeus getan haben.<br />
Während all dies noch nicht entschieden<br />
ist, können die eigentlichen Themen<br />
kaum warten. An erster Stelle steht die Entwicklung<br />
rund um das iranische Atomprogramm.<br />
Während die offiziellen Verhandlungen<br />
der fünf ständigen Mitglieder des<br />
UN-Sicherheitsrats und Deutschlands mit<br />
Iran wegen der US-Präsidentenwahl mehr<br />
oder weniger auf Eis lagen (das europäische<br />
Verhandlungsteam um die EU-Beauftragte<br />
Catherine Ashton hatte in der Zwischenzeit<br />
die Aufgabe, die Tür nicht ganz zufallen<br />
zu lassen, was auch gelang), gab es hinter<br />
den Kulissen fieberhafte Aktivitäten. Die<br />
Amerikaner haben es mit enormem Druck<br />
(und weil der israelische Regierungschef<br />
Benjamin Netanjahu sein Blatt überreizt<br />
hatte) geschafft, Israel von einem militärischen<br />
Alleingang gegen Teheran abzuhalten.<br />
Gleichzeitig streckten Obamas Diplomaten<br />
die Fühler Richtung Iran aus, um die Möglichkeiten<br />
direkter Verhandlungen auszuloten.<br />
Mit den kommenden Wahlen in Israel<br />
(Januar) und in Iran (Juni) ist die Lage zwar<br />
politisch aufgeladen. Dennoch wird erwartet,<br />
dass die Amerikaner den Mullahs ein<br />
neues Angebot machen werden, um zu einer<br />
friedlichen Lösung im Atomstreit zu<br />
kommen. So ein Angebot könnte den Iranern<br />
die Anreicherung von zivil nutzbarem<br />
atomarem Brennstoff bis zu einer gewissen<br />
Obergrenze zugestehen und dafür<br />
im Gegenzug den Verzicht auf weiter gehende<br />
Anreicherung und Ausrüstung einfordern,<br />
vor allem aber echte internationale<br />
Inspektionen iranischer Anlagen. Gegner<br />
einer diplomatischen Lösung würden das<br />
zwar als Einknicken des Westens werten,<br />
doch ein solches Angebot hätte zwei wichtige<br />
Nebenaspekte. Erstens würde es enormen<br />
innenpolitischen Druck auf Iran ausüben,<br />
wo hinter den Kulissen ein erbitterter<br />
interner Kampf um den richtigen Kurs des<br />
Landes entbrannt ist. Zweitens würde das<br />
Ausschlagen eines ernst gemeinten und substanziellen<br />
Angebots durch die Führung in<br />
Teheran die Psychologie in der Nuklearfrage<br />
deutlich verändern. Ein militärisches<br />
Eingreifen würde dann vermutlich auf weitaus<br />
weniger weltweiten Widerstand treffen,<br />
als dies derzeit der Fall wäre.<br />
Mindestens so dringlich, und mit der<br />
Iranfrage auf ungute Art verwoben, ist das<br />
Thema Syrien. Obama sah sich im Wahlkampf<br />
dem Vorwurf ausgesetzt, auf die entsetzliche<br />
Lage im Bürgerkriegsland nicht<br />
entschieden genug reagiert zu haben. Lange<br />
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12.2012 <strong>Cicero</strong> 61
| W e l t b ü h n e | A m e r i k a s A u s s e n p o l i t i k<br />
Die Taliban, die sich für die wahren <strong>Macht</strong>haber im Land<br />
halten, warten nur auf den Abzug der westlichen Truppen<br />
Amerikas wirtschaftliche Verknüpfung mit China ist so existenziell,<br />
dass es für die USA keine Alternative zu guten Beziehungen gibt<br />
Zeit setzte Washington darauf, dass Syriens<br />
Präsident Baschar al Assad eher früher<br />
als später fallen müsse, und versuchte vor<br />
allem diplomatisch, die Exil opposition zu<br />
unterstützen. Nachdem klar wurde, dass<br />
diese bei den Gruppierungen, die in Syrien<br />
selbst den militärischen Kampf gegen<br />
das Regime führten, kaum über Legitimation<br />
verfügt, vollzog Washington eine<br />
Kehrtwende. Nun will man sich intensiver<br />
direkt mit den Rebellen koordinieren, obwohl<br />
dies ein extrem heikles Unterfangen<br />
ist, da die kämpfende Opposition multipel<br />
gespalten ist, teils dubiose Ziele verfolgt,<br />
mit sehr unterschiedlichen (und oft inakzeptablen)<br />
Methoden zu Werke geht und<br />
über Unterstützer im Ausland verfügt, mit<br />
denen man sich nicht gemeinmachen will.<br />
Eine „reguläre“ militärische Intervention<br />
auf der Basis eines Mandats des UN-Sicherheitsrats<br />
scheint wegen der starren Haltung<br />
Moskaus und Pekings derzeit nicht möglich<br />
und wird von den westlichen Mächten insgeheim<br />
auch nicht herbeigesehnt.<br />
So bleibt als praktische Option nur das<br />
Eingreifen an der Peripherie des Konflikts,<br />
beispielsweise durch Einrichten von Flugverbotszonen<br />
im türkisch-syrischen Grenzgebiet.<br />
Diese müssten dann allerdings auch<br />
durchgesetzt werden, was die Schutzmacht<br />
automatisch zum Kombattanten in einem<br />
höchst diffizilen Konfliktgemenge machen<br />
würde. Bisher schrecken vor allem westliche<br />
Militärs vor einem solchen Szenario<br />
zurück, weil sie eine unübersichtliche<br />
Lage mit unkalkulierbarem Ausgang fürchten.<br />
Nicht zuletzt auch, weil man bei Flugverbotszonen<br />
nie weiß, wen genau man<br />
da eigentlich schützt, und wer dann unter<br />
westlichem Schutzschirm welche Politik<br />
verfolgt.<br />
Je brutaler die Nachrichten aus Syrien<br />
aber werden, und je größer die Gefahr eines<br />
Flächenbrands in der Region wird, der<br />
die ohnehin fragilen Staaten Libanons und<br />
Jordaniens sowie Israel, Iran, die Palästinensergebiete<br />
und vielleicht sogar Ägypten<br />
und den Golf erfassen könnte, desto größer<br />
könnte die Versuchung werden, doch<br />
einzugreifen. Hier wird Obama schwere<br />
Entscheidungen treffen müssen, die auch<br />
für Europa von Bedeutung sein werden,<br />
nicht zuletzt über die enge Verflechtung<br />
und Allianz mit der Türkei. Viel wird davon<br />
abhängen, ob eine weitere Eskalation<br />
in Syrien als Gesichts- und Prestigeverlust<br />
Amerikas gedeutet würde. Schon jetzt aber<br />
Fotos: Bulls Press/Mirrorpix, DDP Images/AP/Imaginechina<br />
62 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Hello<br />
my name is<br />
Crunchy<br />
NOUGAT<br />
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| W e l t b ü h n e | A m e r i k a s A u s s e n p o l i t i k<br />
ist eins deutlich: Amerikas hat in der Region<br />
weniger Gewicht als noch vor zehn<br />
Jahren.<br />
Auf niedrigerer Flamme, aber mit dem<br />
Potenzial für extrem negative Entwicklungen,<br />
kocht das Dauerthema Afghanistan.<br />
Barack Obama hat sich bereits vor einiger<br />
Zeit auf einen Abzug der verbliebenen<br />
68 000 US-Soldaten bis Ende 2014 festgelegt<br />
und diesen Termin auch gegen alle<br />
Kritik verteidigt. Nun muss dieser Abzug<br />
gestaltet werden. Zum einen müssen die<br />
Etappen, in denen das nicht nur logistisch<br />
äußerst anspruchsvolle Unterfangen vollzogen<br />
werden soll, festgelegt werden. Dies<br />
muss eng mit den Partnern der Isaf-Mission<br />
abgestimmt sein. Zum anderen muss<br />
zusammen mit dem afghanischen Präsidenten<br />
Hamid Karzai das Sicherheitskonzept<br />
für die Zeit nach dem Abzug erarbeitet<br />
werden. Daraus wird sich ergeben, wie<br />
viele amerikanische Soldaten als Berater,<br />
Ausbilder und als Notfallreserve im Land<br />
verbleiben sollen.<br />
Das Ganze spielt sich ab vor dem Hintergrund<br />
einer sich zusehends verschlechternden<br />
Sicherheitslage in Kabul und im<br />
Rest des Landes. Die Taliban warten nur<br />
auf den Abzug der westlichen Truppen,<br />
und das äußerst selbstbewusste Auftreten<br />
ihrer Guerillakämpfer zeigt deutlich, wer<br />
sich für die wahren <strong>Macht</strong>haber im Land<br />
hält. Die Übergabe der Verantwortung an<br />
die afghanischen Sicherheitskräfte gestaltet<br />
sich mühsam, zuletzt zusätzlich erschwert<br />
durch die zunehmende Zahl von Angriffen<br />
afghanischer Soldaten auf ihre westlichen<br />
Ausbilder.<br />
Während Obama und Amerikas Alliierten<br />
die Erbmasse ihres mehr als zehn Jahre<br />
dauernden Einsatzes am Hindukusch sortieren,<br />
positionieren sich im Hintergrund<br />
die Anrainer. Vor allem Pakistan, formal<br />
Partner des Westens, spielt sein eigenes<br />
Spiel. Dabei geht es vor allem darum, den<br />
möglichen Einfluss des Erbfeinds Indien in<br />
einem Post-Isaf-Afghanistan klein zu halten.<br />
Natürlicher Partner Pakistans sind dabei<br />
die Taliban, die seit jeher enge Bande<br />
zu Teilen der pakistanischen Regierung<br />
pflegen. Islamabad hat ein Interesse am<br />
Erstarken der Gotteskrieger. Der Westen<br />
fürchtet nichts mehr als das. Im Grunde<br />
hat sich Afghanistan schon jetzt von einem<br />
gut begründbaren Waffengang zu einem<br />
Verlustspiel des Westens gewandelt. Zwar<br />
wurde das ursprüngliche Ziel, das Land als<br />
Barack Obama<br />
möchte mit den<br />
Russen vor allem<br />
bei der nuklearen<br />
Abrüstung<br />
vorankommen<br />
Rückzugsort islamischer Terroristen zu säubern,<br />
leidlich erreicht. Der dann draufgesattelte<br />
Auftrag, aus Afghanistan ein selbsttragendes,<br />
stabiles Gebilde zu machen, das<br />
den Rückfall in alte Zeiten selbst verhindern<br />
kann, ist hingegen gescheitert. Von<br />
Obamas Entscheidungen hängt nun „nur<br />
noch“ ab, ob der Rückzug ohne Gesichtsverlust<br />
erfolgen kann oder zum Fanal westlicher<br />
<strong>Macht</strong>losigkeit wird.<br />
Solch ein Fanal würde auch – und vor<br />
allem – in China genau zur Kenntnis genommen<br />
werden. Das Verhältnis Amerikas<br />
zur Volksrepublik ist von tief sitzender<br />
Schizophrenie geprägt. Zum einen sieht ein<br />
verunsichertes Amerika in 1,3 Milliarden<br />
Chinesen einen geopolitischen Rivalen, andererseits<br />
ist die wirtschaftliche Verknüpfung<br />
der beiden größten Volkswirtschaften<br />
der Erde so existenziell, dass es für beide<br />
Seiten zu guten Beziehungen keine Alternative<br />
gibt.<br />
Es wird viel vom diplomatischen Geschick<br />
des Präsidenten und seines neuen<br />
Teams abhängen, ob Amerika einen Mittelweg<br />
findet zwischen seiner Rolle als Sicherheitsgarant<br />
im Pazifik und seinen wirtschaftlichen<br />
Interessen. Noch viel mehr<br />
wird allerdings wohl davon abhängen, wie<br />
sich die neue chinesische Partei- und Staatsführung<br />
politisch ausrichten wird. Obwohl<br />
die Personen, die in China dieser Tage das<br />
Ruder übernehmen, bekannt sind, ist unklar,<br />
wie sie die durchaus heikle interne Situation<br />
der Kommunistischen Partei, den<br />
zunehmenden Druck aus der Bevölkerung<br />
und die Rivalität zwischen Partei- und Armeeführung<br />
in praktische Politik umsetzen<br />
werden. Obama wird sich, nach der<br />
von ihm eingeleiteten strategischen Neuausrichtung<br />
Amerikas nach Asien, die in<br />
Peking nicht als freundlicher Akt aufgenommen<br />
wurde, sehr intensiv mit asiatischer<br />
Diplomatie (auch im Verhältnis zu<br />
Korea, Japan, den Philippinen und nicht<br />
zuletzt Taiwan) auseinandersetzen müssen.<br />
Und auch Russland steht auf der To‐do-<br />
Liste des Präsidenten. Hier hatte sich Obama<br />
von dem durch ihn eingeläuteten<br />
„Reset“ der – durch Misstrauen gekennzeichneten<br />
– Beziehungen hervorgetan.<br />
Doch trotz einiger praktischer Kooperationsvorhaben<br />
zu Afghanistan und zur Rüstungsbegrenzung<br />
ist kein grundlegender<br />
Schwenk im Verhältnis der beiden Altrivalen<br />
eingetreten. Was Beobachter in erster<br />
Linie der russischen Seite anlasten. Ob<br />
ein geschwächter russischer Präsident die<br />
Kraft aufbringt, in den russisch-amerikanischen<br />
Beziehungen in Vorleistung zu gehen<br />
oder ob das Feindbild Amerika für Wladimir<br />
Putin an der Heimatfront allzu nützlich<br />
ist, bleibt bislang eine offene Frage. Barack<br />
Obama jedenfalls möchte mit den Russen<br />
vor allem bei der nuklearen Abrüstung vorankommen<br />
und ist dafür unter Umständen<br />
bereit, beim geplanten Raketenabwehrsystem<br />
in Europa Abstriche zu machen.<br />
Womit das Zauberwort gefallen ist:<br />
Europa. Was hat der alte Kontinent von<br />
Obama II zu erwarten? Die Antwort ist klar:<br />
Obama erwartet von den Europäern, dass<br />
sie schnellstmöglich ihre Wirtschaftskrise<br />
in den Griff bekommen, die Sicherheit in<br />
ihren geografischen Hinterhöfen auf dem<br />
Balkan und in Nordafrika selbst garantieren<br />
und im Nato-Bündnis größeres Engagement<br />
zeigen. Auf keiner dieser Baustellen<br />
sind schnell Fortschritte zu erwarten.<br />
Ein echtes Gewinnerthema könnte<br />
hingegen die transatlantische Freihandelszone<br />
werden. Ein Bericht mit Empfehlungen<br />
dazu wird noch vor Jahresfrist erwartet,<br />
Verhandlungen sollen schon im kommenden<br />
Jahr beginnen. Sie könnten bis zu<br />
zwei Jahre dauern – sofern der US-Kongress<br />
dem Präsidenten das entsprechende<br />
Mandat erteilt. Sollte das Vorhaben gelingen,<br />
wäre dies ein Paukenschlag im heraufziehenden<br />
pazifischen Jahrhundert.<br />
Es wäre nicht ohne Ironie, wenn es ausgerechnet<br />
das von vielen in Washington<br />
schon abgeschriebene Europa wäre, das dem<br />
Präsidenten und den USA einen so substanziellen<br />
geopolitischen Triumph bescherte.<br />
Jan techau<br />
ist Direktor von Carnegie<br />
Europe, einem außenpolitischen<br />
Forschungsinstitut in Brüssel<br />
Foto: privat<br />
64 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Unter Gangstern<br />
und Dschihadis<br />
Hinter der Fassade islamistischer Gruppen, die den Norden Malis besetzt haben, bündeln<br />
sich widersprüchliche Interessen. Es geht um Drogenhandel, Öl und die Vormacht im Sahel.<br />
Ausgerechnet hier soll die Bundeswehr für Ordnung sorgen?<br />
von Marc Engelhardt<br />
66 <strong>Cicero</strong> 12.2012
W a s g e s c h i e h t i n M a l i ? | W e l t b ü h n e |<br />
Milizionäre der Bewegung für die<br />
Einheit und den heiligen Krieg in<br />
Westafrika haben sich in Gao festgesetzt<br />
M A U R E T A N I E N<br />
A L G E R I E N<br />
Von Rebellen<br />
k ontrolliertes Gebiet<br />
Aguelhok<br />
Timbuktu<br />
Kidal<br />
Gao<br />
S E N E G A L<br />
G U I N E A<br />
M A L I<br />
Bamako<br />
Niger<br />
Douentza<br />
Mopti<br />
B U R K I N A F A S O<br />
G H A N A<br />
N I G E R<br />
B E N I N<br />
N I G E R I A<br />
E L F E N B E I N K Ü S T E<br />
T O G O<br />
Foto: SEBASTIEN DUFOUR/DDP Images/SIPA; Grafik: Mick Klaack<br />
D<br />
ie Männer, jeder von Ihnen mit<br />
langem, buschigem Bart, trugen<br />
Kalaschnikow-Gewehre<br />
und Schaufeln. Um kurz nach<br />
fünf am Sonntagmorgen, der<br />
Himmel färbte sich hellblau, führten sie<br />
den Mann und die Frau zu den ausgehobenen<br />
Löchern mitten in Aguelhok, einem<br />
Marktflecken im Norden Malis, nicht weit<br />
von der Grenze zu Algerien entfernt. Bis zu<br />
den Schultern wurde das Paar eingegraben.<br />
Dann erhob einer der Männer die Stimme.<br />
„Er sagte, Allah habe diese Strafe befohlen“,<br />
berichtet später ein Augenzeuge. Andere<br />
sprechen davon, wie sie vor Angst versteinert<br />
zusahen, als die Islamisten mit Steinbrocken<br />
nach den beiden Köpfen warfen.<br />
„Die Frau hat laut geschrien, aber schon<br />
bald hing sie nur noch da – beim Mann<br />
hat es 15 Minuten gedauert, bis er tot war.“<br />
Viele der 2000 Einwohner Aguel hoks flohen<br />
nach dem Exempel, das die neuen Herren<br />
im Norden Malis Ende Juli statuierten<br />
– aus Angst davor, die nächsten Opfer<br />
zu sein. Wer blieb, gehorchte.<br />
Seit einem Militärputsch im März dieses<br />
Jahres ist der Norden Malis in der Hand<br />
von Rebellen und radikalen Islamisten. Die<br />
Autorität der neuen Übergangsregierung in<br />
der Hauptstadt Bamako beschränkt sich<br />
auf den Süden des Landes. Ein militärischer<br />
Einsatz der Europäischen Union<br />
könnte für Ordnung sorgen. Frankreich<br />
drängt zur Eile, will französische Sicherheitsinteressen<br />
in seinem „afrikanischen<br />
Hinterhof“ wahren. Die Bundesregierung<br />
versichert, es gehe nicht um einen Kampfeinsatz,<br />
sondern um eine Ausbildungsmission,<br />
an der sich Bundeswehrsoldaten<br />
beteiligen sollen. Eine militärische Intervention<br />
im Norden Malis obliege den Regierungstruppen<br />
und Soldaten der Westafrikanischen<br />
Wirtschaftsgemeinschaft<br />
Ecowas.<br />
Vor drei Jahren galt Mali noch als<br />
westafrikanische Vorzeigedemokratie, die<br />
Hauptstadt Bamako als Boomtown im Sahel.<br />
Überall wird gebaut, mit chinesischem<br />
Geld und auch mit Einnahmen aus dem<br />
Goldexport – Mali ist nach Südafrika und<br />
Ghana der drittgrößte Produzent des Edelmetalls.<br />
Die Stimmung in den Bars über<br />
dem träge dahinfließenden Niger-Fluss ist<br />
in dieser Zeit noch gut: Uranfunde und<br />
jüngst entdeckte Ölvorkommen lassen Geschäftsleute<br />
auf einen lang anhaltenden<br />
Aufschwung hoffen, und auch das Tourismusgeschäft<br />
wächst. In einem der pompösen<br />
Hotelneubauten aus Beton, Stahl und<br />
Glas treffe ich Mohamud al Faroukh. Er<br />
stammt aus dem Norden Malis, ein Tuareg.<br />
„Wir Tuareg bekommen vom neuen<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 70<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 67
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| W e l t b ü h n e | w a s g e s c h i e h t i n M a l i ?<br />
„Die Terroristen haben immer<br />
mehr an Stärke gewonnen: Sie<br />
haben Leute entführt, Lösegelder<br />
kassiert und sich damit Kapital<br />
für ihren Kampf beschafft“<br />
Gilles Olakounlé Yabi, International Crisis Group<br />
Extremisten der Ansar Dine haben im Norden Malis die „göttliche Ordnung“<br />
ausgerufen und setzen mit allen Mitteln islamisches Recht durch<br />
Mehr als 200 000 Malier sind vor den Kämpfen im Norden des Landes in den<br />
Süden geflohen, fast ebenso viele Menschen haben sich in Nachbarländer gerettet<br />
Reichtum Malis nichts ab“, erzählt er verbittert.<br />
„Unter dem Wüstensand liegen die<br />
Reichtümer, die die Politiker hier in Bamako<br />
verschachern, aber wir leben in absoluter<br />
Armut.“ Sosehr al Faroukh in dieser<br />
warmen Nacht von der Sahara schwärmt,<br />
so desillusioniert ist er von Malis politischer<br />
Klasse. „Das Einzige, was etwas ändern<br />
kann, ist eine Revolution“, sagt er.<br />
Anfang 2012 ist es so weit. Die Zeichen<br />
für einen Aufstand der Tuareg stehen<br />
so günstig wie nie. „Nach dem Fall<br />
Gaddafis sind militärisch gut ausgebildete<br />
Tuaregkämpfer aus Libyen nach Mali zurückgekehrt“,<br />
erklärt Gilles Olakounlé<br />
Yabi, Westafrika-Direktor der International<br />
Crisis Group. „Sie kamen mit sehr vielen<br />
Waffen, mit Munition und Fahrzeugen<br />
– für die Tuareg im Norden Malis war<br />
das das entscheidende Signal.“ Als die Armee<br />
in Bamako den scheidenden Präsidenten<br />
Amadou Touré Ende März aus dem<br />
Amt putscht, besetzen die Tuaregkämpfer<br />
der Nationalen Bewegung für die Befreiung<br />
Azawads innerhalb eines langen Wochenendes<br />
den Norden Malis und rufen<br />
ihren eigenen Staat aus. „Azawad“ beginnt<br />
nördlich der Stadt Mopti und ist größer als<br />
der verbleibende Rest Malis. Eine Fluchtwelle<br />
setzt ein. Mehr als 200 000 Vertriebene<br />
innerhalb des Landes zählt die<br />
Uno, fast ebenso viele Malier fliehen in<br />
Nachbarländer.<br />
Doch selbst Sympathisanten der Tuaregbewegung,<br />
die in den Städten Timbuktu,<br />
Gao und Kidal und den spärlich besiedelten<br />
Landstrichen dazwischen die Rebellion<br />
begrüßt haben, feiern nicht lange. Gaddafis<br />
Ex-Söldner erwerben sich schnell einen<br />
Ruf als Diebe, Plünderer und Vergewaltiger.<br />
Andere Tuaregverbündete agieren disziplinierter,<br />
etwa jene islamistischen Gruppen,<br />
die mit der Al Qaida im Islamischen Maghreb<br />
verbandelt sind. Seit gut zehn Jahren<br />
haben es sich die aus den algerischen Salafisten<br />
hervorgegangenen Al‐Qaida‐Zellen<br />
im Norden Malis eingerichtet. „Im malischen<br />
Exil haben die Terroristen, deren Anführer<br />
zum ganz überwiegenden Teil aus<br />
Algerien stammen, immer mehr an Stärke<br />
gewonnen: Sie haben Leute entführt, Lösegelder<br />
kassiert und sich damit Kapital für<br />
ihren Kampf beschafft“, sagt Gilles Olakounlé<br />
Yabi. „Zudem profitieren sie vom<br />
Schmuggel von Drogen, Waffen und Menschen<br />
durch die Sahara – wenn sie das Geschäft<br />
nicht selbst betreiben, verlangen sie<br />
Fotos: Reuters<br />
70 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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zumindest Schutzgelder.“ Die im Bürgerkrieg<br />
in Algerien gestählten Terroristen<br />
nutzen die erste Chance, die sich ihnen<br />
bietet, um die vermeintlich siegreichen<br />
Tuareg zurück in die Wüste zu schicken.<br />
Nach nicht einmal einem Vierteljahr ist der<br />
Traum vom Tuaregstaat ausgeträumt.<br />
Was seitdem genau im Norden Malis<br />
geschieht, ist schwer herauszufinden. Nur<br />
wenige Journalisten, die meisten von ihnen<br />
Malier, trauen sich noch in den von<br />
Islamisten kontrollierten Norden. Einer<br />
von ihnen pendelt zwischen Bamako und<br />
Gao, aus Sicherheitsgründen nennen wir<br />
ihn Yusuf. Mit SMS-Kurznachrichten und<br />
E-Mails über seinen französischen Yahoo-<br />
Account schickt er Nachrichten aus der<br />
größten Stadt im Norden Malis. Knapp<br />
70 000 Menschen lebten hier bis zum<br />
Einmarsch der Rebellen; heute ist es noch<br />
knapp die Hälfte.<br />
Gao gilt heute als Basis der Bewegung<br />
für die Einheit und den heiligen Krieg in<br />
Westafrika, kurz Mujao. Ihre Kämpfer sind<br />
es, die die letzten Tuareg‐Truppen der Nationalen<br />
Bewegung für die Befreiung Azawads<br />
Ende Juni endgültig aus der Stadt<br />
gejagt haben. Seitdem beherrschen die Islamisten<br />
Gao. „Vor zwei Monaten hat ein<br />
Scharia-Gericht eine Bande von Straßenräubern<br />
verurteilt“, berichtet Yusuf. „Sie<br />
haben den fünf Männern je einen Fuß und<br />
eine Hand amputiert, einem davon öffentlich<br />
auf dem Marktplatz.“<br />
Danach brachten die neuen Herrscher<br />
die Straßenräuber in eine Klinik, um Beinund<br />
Armstümpfe behandeln zu lassen.<br />
„Wir haben ihnen neue Kleider gegeben,<br />
und wenn sie entlassen werden, geben wir<br />
ihnen Geld, weil sie unsere Brüder sind“,<br />
wird der Kommandant der neuen Religionspolizei<br />
zitiert, die in die Wachen der<br />
staatlichen Sicherheitskräfte eingezogen ist.<br />
Bei weitem nicht alle der strengen Sittenwächter<br />
(und der Kämpfer) sind Malier:<br />
Nigerianer sollen unter ihnen sein, Mitglieder<br />
der islamistischen Terrorbewegung<br />
Boko Haram; Mauretanier, Nigerer, Senegalesen<br />
und nicht zuletzt Männer aus<br />
der Westsahara, die seit Mitte der siebziger<br />
Jahre gegen die marokkanische Besatzung<br />
kämpfen – weitgehend unbeachtet<br />
von der Welt.<br />
Gut 300 Westsaharer sollen in den<br />
Reihen der malischen Islamisten kämpfen,<br />
die meisten für die Bewegung für die Einheit<br />
und den heiligen Krieg in Westafrika.<br />
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W a s g e s c h i e h t i n M a l i ? | W e l t b ü h n e |<br />
Foto: Privat<br />
„Viele Westsaharer sind im Flüchtlingslager<br />
geboren und dort aufgewachsen“, beschreibt<br />
der westsaharische Lyriker Limam<br />
Boisha die Lebensbedingungen seines Volkes<br />
nach fast vier Jahrzehnten Vertreibung.<br />
Mehr als 110 000 Flüchtlinge leben alleine<br />
in den Wüstenlagern rund um die algerische<br />
Stadt Tindouf. „Wir Saharer pflegen<br />
traditionell einen toleranten Islam“, sagt<br />
Boisha. „Aber in den Lagern gibt es nichts<br />
zu tun, die Männer wissen nicht, was sie<br />
mit sich anfangen sollen.“ Aus Frust und<br />
Perspektivlosigkeit schließen vor allem<br />
junge Männer sich Al Qaida an.<br />
Islamismus ist unter den Westsaharern<br />
kein neues Phänomen: Schon in den neunziger<br />
Jahren rekrutierten algerische Salafisten<br />
in den Lagern rund um Tindouf. Sowohl<br />
in Mauretanien als auch im Norden<br />
Malis wurden seit 2007 Westsaharer, die<br />
der Al Qaida im Islamischen Maghreb nahe<br />
standen, als mutmaßliche Terroristen verhaftet.<br />
Im Oktober 2011 schließlich wurden<br />
humanitäre Helfer – zwei Spanier und<br />
ein Italiener – in einem westsaharischen<br />
Flüchtlingslager entführt. Als sie im Juli dieses<br />
Jahres freigelassen werden, wird in Gao<br />
ausgelassen gefeiert. „Angeblich soll die Bewegung<br />
für die Einheit und den heiligen<br />
Krieg in Westafrika 15 Millionen Euro Lösegeld<br />
erhalten haben“, sagt Yusuf.<br />
Es ist Geld, das die Islamisten klug investieren.<br />
„Die Leute fliehen nicht mehr,<br />
viele kommen sogar zurück“, beobachtet<br />
Yusuf. „Die Angst hat nachgelassen, mit ihrem<br />
Geld kauft die Mujao nicht nur neue<br />
Rekruten, sondern auch Unterstützung<br />
in der Bevölkerung.“ Statt mit der Peitsche,<br />
herrschen die Islamisten in Gao inzwischen<br />
mit viel Zuckerbrot. „Die Mujao<br />
achtet zum Beispiel genau darauf, dass<br />
die Krankenhäuser offen sind und funktionieren“,<br />
berichtet Hannes Stegemann,<br />
Afrika experte der Caritas. Stegemann, der<br />
mit Bewohnern von Gao, Timbuktu und<br />
Kidal in Verbindung steht, sieht auch sonst<br />
eine weitgehende Rückkehr von Normalität<br />
im Alltag. „Die Märkte sind voll, frische<br />
Lebensmittel und Benzin werden aus Algerien<br />
importiert. Die Islamisten bemühen<br />
sich erfolgreich um Rückhalt in der Bevölkerung,<br />
und die Bevölkerung hat sich mit<br />
den neuen <strong>Macht</strong>habern weitgehend arrangiert.“<br />
Zwar gelten nach wie vor drakonische<br />
Strafen für jeden, der raucht, Alkohol<br />
trinkt oder auch nur Musik hört. Dafür<br />
gibt es praktisch keine Kriminalität mehr.<br />
Offiziell sind es drei Gruppen, die<br />
heute den Norden unter sich aufgeteilt<br />
haben: Die Bewegung für die Einheit und<br />
den heiligen Krieg in Westafrika hält Gao,<br />
Al Qaida im islamischen Maghreb Timbuktu,<br />
und Kidal im Nordosten Malis wird<br />
von der Ansar Dine-Miliz kontrolliert. Die<br />
Miliz bezeichnet sich selbst als islamistische<br />
Abspaltung der Nationalen Bewegung zur<br />
Im Norden<br />
Malis liegt ein<br />
großer Abschnitt<br />
des Taoudeni-<br />
Beckens, in dem<br />
reiche Öl- und<br />
Gasvorkommen<br />
vermutet werden<br />
Befreiung Azawads. Was und wer genau<br />
hinter diesen Gruppen steckt, ist unklar.<br />
Nicht wenige glauben, dass die Bewegung<br />
für die Einheit und den heiligen Krieg in<br />
Westafrika in Wirklichkeit eine Zelle von<br />
Al Qaida im Islamischen Maghreb ist. Ansar<br />
Dine betont unterdessen immer wieder<br />
seine engen Verflechtungen nach Algerien,<br />
das nach Gaddafis Sturz im Sahel die neue<br />
Vormacht werden will. „Algerien kennt uns<br />
gut und weiß, dass wir keine terroristische<br />
Gruppe sind“, sagt etwa der Ansar Dine-<br />
Unterhändler Scheikh Awisa. Der Sprecher<br />
der Miliz, Sanda Ould Bouamama, betont<br />
dagegen: „Wir sind eine islamistische Bewegung<br />
und pflegen eine brüderliche Beziehung<br />
zu Al Qaida.“<br />
Der Anführer von Ansar Dine, Iyad Ag<br />
Ghaly, hat den Ruf eines Wüsten-Wendehalses.<br />
Welchen Bestand die Verhandlungen<br />
haben, die er im November in Burkina<br />
Faso begonnen hat, ist unklar. Viele<br />
glauben, dass Ansar Dine eher einen neuen<br />
Führer bekommt, als dass die Gruppe ein<br />
Friedensabkommen mitträgt. Außerhalb<br />
der Städte sind die Kämpfer vor allem denjenigen<br />
verpflichtet, die am besten zahlen.<br />
Doch woher stammt das Geld, mit dem<br />
die Islamisten um sich werfen? Manche<br />
Analysten wie Gilles Olakounlé Yabi glauben,<br />
dass sich die Kämpfer am ehesten als<br />
„Gangster-Dschihadis“ charakterisieren lassen<br />
– Kriminelle, die mit dem Putsch ihre<br />
illegalen Geschäfte fördern wollen. Hannes<br />
Stegemann, der 17 Jahre in Afrika gelebt<br />
hat, hält das kriminelle Geschäft dagegen<br />
für nebensächlich. „Es gibt viel logischere<br />
Drogenrouten von Südamerika nach Europa<br />
als den Weg durch die Sahara –, und<br />
bisher habe ich noch keinen Beleg dafür gesehen,<br />
dass in der Sahara Drogenschmuggel<br />
im großen Stil stattfindet.“<br />
Für stichhaltiger hält Stegemann Gerüchte<br />
über Geld, das aus dem Emirat Katar<br />
in den Norden Malis fließen soll. Auch<br />
Yusuf hat Gerüchte über Waffen und Millionen<br />
in bar gehört, die an alle drei islamistischen<br />
Bewegungen geflossen sein sollen.<br />
Das Motiv: Öl. Im Norden Malis liegt ein<br />
großer Abschnitt des Taoudeni-Beckens, in<br />
dem reiche Öl- und Gasvorkommen vermutet<br />
werden. Angebliche Vorabsprachen<br />
mit dem französischen Staatskonzern Total<br />
wären gegenstandslos, wenn der Norden<br />
Malis unter Kontrolle der Rebellen bliebe –<br />
was seinerseits das Interesse Frankreichs an<br />
einer militärischen Intervention erklärt. Interessen<br />
am Öl hat auch Algerien, das über<br />
seinen Staatskonzern Sonatrach an der Exploration<br />
beteiligt ist. Paris ist zudem sehr<br />
an möglichen Uranvorkommen interessiert:<br />
Die Ausbeute im Norden des Nachbarlands<br />
Niger reicht dem französischen<br />
Konzern Areva nicht aus.<br />
Einer europäischen Einmischung sieht<br />
man in Mali eher skeptisch entgegen – sicher<br />
auch, weil die aus dem Putsch hervorgegangene<br />
Regierung in Bamako nur wenig<br />
Vertrauen in der Bevölkerung genießt.<br />
„In Mopti sammeln sich bereits Freiwillige,<br />
um selber den Norden zu befreien“, sagt<br />
Yusuf. Die „Ganda Koy“ ist eine traditionelle<br />
Miliz der Songhai, einer der bedeutendsten<br />
Ethnien im Norden Malis. Es sind<br />
Männer und Frauen, die ihre Heimatstädte<br />
von den Islamisten befreien wollen. Ob sie<br />
nach einem Sieg bereit sein werden, die<br />
<strong>Macht</strong> wieder an Bamako abzugeben, ist<br />
fraglich. „In der Vergangenheit hat ihnen<br />
das nichts Gutes gebracht“, sagt Yusuf.<br />
Marc Engelhardt<br />
ist langjähriger Afrikakorrespondent<br />
und Autor zahlreicher Bücher.<br />
Zuletzt erschien: „Somalia –<br />
Piraten, Warlords, Islamisten“<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 73
| W e l t b ü h n e | V i e l f a l t u n d E i n t r a c h t<br />
Die Straße der Götter<br />
Rat der Religionen<br />
Alljährlich treffen sich Vertreter aller<br />
Konfessionen zu einem Abendmahl<br />
74 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Soho Road, Birmingham, Großbritannien. Menschen aus<br />
90 Nationen mit unterschiedlichsten Religionen leben hier.<br />
Liz Hingley hat diese Vielfalt in ihren Fotos festgehalten<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 75
| W e l t b ü h n e | V i e l f a l t u n d E i n t r a c h t<br />
Katholiken<br />
In der Weihnachtszeit proben<br />
polnischstämmige junge Katholiken<br />
für ihren Auftritt als Sternsinger<br />
Sikhs<br />
Mit Turban und Trainingsanzug<br />
konzentrieren sich Sikhs auf<br />
ihre Atemübungen beim Yoga<br />
76 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Hare Krishna<br />
Manchem Hare-<br />
Krishna-Anhänger<br />
dient der Körper als<br />
Glaubensbekenntnis,<br />
und er lässt sich<br />
religiöse Texte in<br />
Sanskrit auf den<br />
Körper tätowieren<br />
Muslime<br />
Der erste Gebetsteppich ist für<br />
Muslime etwas Besonderes –<br />
egal wie jung man ist<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 77
| W e l t b ü h n e | V i e l f a l t u n d E i n t r a c h t<br />
Jain<br />
Anhänger des Jainismus beten mit<br />
einem Mundschutz, damit sie<br />
dabei nicht versehentlich einen<br />
lebenden Organismus töten<br />
Anglikaner<br />
Hausbesuche sind für<br />
den anglikanischen<br />
Geistlichen Reverend Greg<br />
eine Herzensangelegenheit<br />
78 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Baptisten<br />
Zweimal im Jahr werden<br />
die Gläubigen dieser<br />
Baptistengemeinde in<br />
einem „Pool“ getauft<br />
Rastafaris<br />
In den Siebzigern hatten die<br />
Rastafaris ihre Hochzeit. Durch die<br />
Zuwanderung aus Asien wurden sie<br />
seither mehr und mehr verdrängt<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 79
| W e l t b ü h n e | V i e l f a l t u n d E i n t r a c h t<br />
G<br />
ibt es das wirklich? Menschen unterschiedlicher Herkunft<br />
und Religion leben Tür an Tür, und es kommt<br />
nicht regelmäßig zu gegenseitigen Anfeindungen? An<br />
der Soho Road im britischen Birmingham ist das gelebte Realität.<br />
Auf etwa drei Kilometern erstreckt sich die Straße der Religionen,<br />
die Muslime und Buddhisten, Rastafaris und Christen,<br />
Sikhs und Hare-Krishna-Anhänger und viele andere ihr Zuhause<br />
nennen.<br />
Ein Hort des friedlichen Mit- und Nebeneinanders ausgerechnet<br />
in Birmingham, mag man sich fragen? Ausgerechnet<br />
die ehemals schmutzige Kohle- und Stahlstadt, die Zentrum<br />
der industriellen Revolution war, die in den achtziger Jahren<br />
des vergangenen Jahrhunderts zum Mittelpunkt gewalttätiger<br />
Rassenunruhen wurde und sich heute rühmt, ein Dienstleistungszentrum<br />
zu sein?<br />
Ja, gerade da, sagt die Fotografin Liz Hingley über die Straße<br />
ihrer Kindheit: „Ich bin als Tochter zweier anglikanischer Geistlicher<br />
in Birmingham aufgewachsen, eine der buntesten Städte<br />
Großbritanniens, wo Menschen aus 90 Nationen leben. Ich war<br />
das einzige weiße Mädchen in meinem Kindergarten, ich aß indische<br />
Süßigkeiten auf den Geburtstagsfeiern meiner Freunde<br />
und besuchte Sikh-Festivals im Gemeindepark.“ Erst Jahre später,<br />
nachdem sie ihre Heimat längst verlassen und an unterschiedlichen<br />
Orten gelebt hatte, wurde ihr die Besonderheit ihrer<br />
Kindheit in Birmingham bewusst. Hingley kehrte mit ihrer<br />
Kamera zurück, um die reiche Vielfalt der Religionen zu dokumentieren.<br />
In einer Zeit, da der Glaube auch dazu benutzt<br />
werde, um Ängste und Vorurteile zu schüren, hofft die Fotografin<br />
zeigen zu können, welche Bereicherung unterschiedliche<br />
Glaubensrichtungen für den Alltag einer Stadt bedeuten können.<br />
80 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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One of a kind<br />
Entspannen Sie im belebenden Spa,<br />
Buddhisten<br />
Tagtäglich kocht Preacher für<br />
die thaistämmigen Mönche<br />
des Buddhisten-Tempels<br />
Also ein Paradies auf Erden? Nicht ganz. Auch<br />
hier kommt es durchaus zu Spannungen – beispielsweise<br />
zwischen Sikhs und muslimischen<br />
Gruppen. Doch die unterschiedlichen Ethnien und<br />
Religionen finden auch wieder einen Weg, aufeinander<br />
zuzugehen – manchmal unter der Vermittlung<br />
von buddhistischen Mönchen. „Das hier ist<br />
weder Pakistan noch Indien, weder Kaschmir noch<br />
Bangladesch“, sagt der Vorsitzende einer Moschee,<br />
„wir leben in England, und hier sind wir viel friedlicher.“<br />
In der Soho Road von Birmingham sind die<br />
Sikhs, Muslime, Hindus, die Christen, Buddhisten<br />
und Rastafaris, die alteingesessenen Briten und<br />
zugewanderten Pakistanis am Ende doch alle auch:<br />
Engländer. jh<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 81<br />
schlendern Sie durch den angrenzenden Park<br />
oder genießen Sie einfach erlesene Gaumenfreuden<br />
in unserem mit zwei Michelin-Sternen<br />
ausgezeichneten Park-Restaurant. Wer stilvolle<br />
Entspannung in einer eleganten Umgebung sucht,<br />
ist hier genau am richtigen Ort.<br />
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| W e l t b ü h n e | G l a u b e g i b t O r i e n t i e r u n g<br />
Mehr Religion wagen<br />
Ein gottgefälliges Leben heißt, vernünftig zu denken und dem Gewissen gemäß zu handeln<br />
von Alexander Kissler<br />
R<br />
eligionen sind das gedächtnis<br />
der Menschheit, Schulen der<br />
Demut, Räume der Selbstvergewisserung,<br />
sind Wissensspeicher<br />
und Trostmaschine zugleich. Sie<br />
reißen das Individuum heraus aus den Bedingungen<br />
der Gegenwart, die es mal nach<br />
dieser, mal nach jener Pfeife tanzen lassen<br />
will. Sie machen Monaden zu Menschen,<br />
machen die berühmten „kohlenstoffbasierten<br />
Entitäten“ zu Personen, denn Religion<br />
gibt es nie nur für mich. Sie ist das<br />
Band, das für Spannkraft sorgt in senkrechter<br />
wie waagerechter Richtung. Wer glaubt,<br />
steht in der langen Reihe derer, die vor ihm<br />
waren und die neben ihm sind – und hat<br />
Tuchfühlung mit dem, was kommen wird,<br />
dem, was er erhofft am Ende seiner Tage.<br />
Es ist modisch geworden in unseren<br />
Breitengraden, den Religiösen als einen<br />
„Religioten“ zu verspotten. Wer noch<br />
glaube, der denke nicht und sei also ein<br />
Idiot. Dieses auf Auguste Comte zurückgehende<br />
Vorurteil erinnert an den Geisterfahrer,<br />
der sich auf der richtigen Spur wähnt<br />
und alle anderen für Geisterfahrer hält. Die<br />
große Mehrheit nämlich der Weltbevölkerung<br />
ist gläubig – aus guten Gründen. Den<br />
allermeisten Menschen ist es unmittelbar<br />
einsichtig, dass das Universum eine Schöpfung<br />
ist und dass es einen Schöpfer geben<br />
muss. Dass diese ganze wunderbare Erzählung<br />
namens Leben einen Erzähler braucht,<br />
einen Gott. Ebenso mehrheitsfähig ist die<br />
Auffassung, dass in den heiligen Schriften<br />
alles Wesentliche über den Homo sapiens<br />
ausgesagt ist. Dort und nicht bei den<br />
„Vollstreckern des Zeitgeists“ (Feridun Zaimoglu)<br />
mit ihrer Jenseitsphobie wird der<br />
Sinnsucher Zuflucht finden. Man lese zum<br />
Vergleich die furchtbar bitteren, lichtlosen,<br />
in sich gekrümmten Philippiken, die der<br />
Neoatheismus hervorbringt. Die Freude<br />
wohnt dort nicht und nicht die Hoffnung<br />
und der Trost. Was aber bräuchten wir<br />
dringender denn diese drei?<br />
Die heiligen Schriften enthalten die<br />
farbigsten Erzählungen vom Los des Menschen<br />
überhaupt. Grau und traurig wäre<br />
die Welt ohne Eschu, den Narrengott Nigerias,<br />
ohne den hinduistischen Elefantengott<br />
Ganesha, der Süßigkeiten mag,<br />
Hindernisse aus dem Weg räumt und die<br />
Gelehrsamkeit verkörpert, ohne die Veden<br />
und die Upanishaden und das Rad des Lebens,<br />
ohne Altes und Neues<br />
Testament, ohne den Talmud<br />
und die Hadithe. Immer ist<br />
der Mensch in diesen Erzählungen<br />
ein unvollkommenes,<br />
vielfach angefochtenes<br />
Wesen, das der Barmherzigkeit<br />
bedarf und das sich eines<br />
Tages für seine Taten<br />
wird rechtfertigen müssen.<br />
Religionen haben im Gegensatz<br />
zum Aberglauben und<br />
zum Fundamentalismus der<br />
Atheisten einen realistischen Blick. Sie wissen,<br />
dass im Menschen unfassbar Großes<br />
wohnt – und dass diese Größe jederzeit zuschanden<br />
gehen kann.<br />
Darum sind Religionen der beste<br />
Schutz vor der Selbstüberhebung des gegenwärtigen<br />
Menschen, wie sie die Spätmoderne<br />
kennzeichnet. Bekanntlich glaubt,<br />
wer an nichts glaubt, nicht nichts, sondern<br />
alles Mögliche. Das berühmte Wort Gilbert<br />
Keith Chestertons entfaltet heute<br />
seine volle Wahrheit. Alles Mögliche bedeutet<br />
2012 ff.: den Irrglauben an die Ökonomisierbarkeit<br />
aller Lebensbezüge, die<br />
Ausrufung des Ichs zum unumschränkten<br />
Herrscher, dessen Willen sich die Welt zu<br />
fügen habe, den Trugschluss, die Zukunft<br />
sei komplett berechenbar, das ganze Leben<br />
ein einziges Projekt, der Staat ein Agent des<br />
Glücks und jede Beziehung von Mensch<br />
zu Mensch ein interessenpolitisches Kräftemessen.<br />
Der gläubige Mensch wird immer<br />
eine innere Reserve haben gegenüber allen<br />
diesseitigen Heilsversprechungen. Er weiß:<br />
„Es gibt<br />
keinen Gott<br />
außer in der<br />
Freiheit, wie<br />
es keine<br />
Freiheit gibt<br />
außer in Gott“<br />
Alle Politik, alle Wirtschaft, alle Staatlichkeit<br />
behandelt nur vorletzte Dinge.<br />
Gewiss, Religionen können erkranken.<br />
Der militante Islam und der militante Hinduismus,<br />
diese durch und durch modernen<br />
Erscheinungen, sind faule Früchte am<br />
Baum der Religion. Papst Benedikt XVI<br />
wird deshalb nicht müde, vor einem Abdriften<br />
der Religion ins Irrationale zu warnen.<br />
Wenn Gott den Menschen<br />
mit Vernunft begabt<br />
und mit einem Gewissen<br />
ausgestattet hat, dann bedeutet<br />
ein gottgefälliges Leben<br />
genau das: vernünftig zu<br />
denken und gemäß dem Gewissen,<br />
dem „hörenden Herzen“,<br />
zu handeln.<br />
Von „Menschen mit jenseitigen<br />
Idealen“, so abermals<br />
Chesterton, geht „in der Tat<br />
eine Fanatismusgefahr“ aus –<br />
„von Menschen mit diesseitigen Idealen hingegen<br />
die ununterbrochene und nie nachlassende<br />
Fanatismusgefahr“. Wir sehen den<br />
Fanatismus der „Glaubensfeinde“, folgen<br />
wir noch einmal Zaimoglu, am „giftgeifernden<br />
Wort“, an „der Unterstellung, der<br />
bloßen Behauptung, der Selbstbesoffenheit.<br />
Die heutigen Akteure der Religionskritik<br />
sind Profilneurotiker. Sie wollen abschaffen,<br />
verfolgen, zerstören, verunglimpfen, zensieren.“<br />
Natürlich sind die Gläubigen dieser<br />
Erde vor dieser wie vor jeder Versuchung<br />
ebenso wenig gefeit. Sie aber wissen, dass<br />
sie darauf nicht stolz sein dürfen, ja, dass sie<br />
fehlen. Sie wissen, was Hugo Ball an Heiligabend<br />
1918 niederschrieb: „Es gibt keinen<br />
Gott außer in der Freiheit, wie es keine<br />
Freiheit gibt außer in Gott.“<br />
Alexander Kissler<br />
ist Publizist und Sachbuchautor.<br />
Er schrieb unter anderem: „Der<br />
aufgeklärte Gott. Wie die Religion<br />
zur Vernunft kam“<br />
Foto: Privat<br />
82 <strong>Cicero</strong> 12.2012
G l a u b e v e r w i r r t d i e S i n n e | W e l t b ü h n e |<br />
In die Schranken weisen<br />
Die Konfessionen haben nichts verloren im politischen und rechtsstaatlichen Raum<br />
Foto: privat<br />
von Richard Herzinger<br />
R<br />
eligion sei das Opium des Volkes,<br />
schrieb Karl Marx in seiner<br />
„Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“.<br />
Dahinter steckte<br />
die Vorstellung, dass, herrschten<br />
erst einmal rationale gesellschaftliche Verhältnisse,<br />
die Menschen des Rausches und<br />
der Betäubung nicht mehr bedürften. Mit<br />
diesem Gedanken aber legte Marx bereits<br />
den Keim für die totalitäre Entwicklung<br />
des Kommunismus. War der doch von der<br />
Idee besessen, den Menschen alle Einbildungen,<br />
Selbsttäuschungen, Wunsch- und<br />
Traumbilder austreiben zu können, die sie<br />
von der Erkenntnis einer vermeintlich objektiven<br />
Wirklichkeit ablenkten.<br />
Als Marx den Kommunismus „das aufgelöste<br />
Rätsel der Geschichte“ nannte, entging<br />
dem selbst ernannten Meisterdialektiker<br />
freilich die Pointe, damit seinerseits<br />
religiösem Denken verfallen zu sein. Nur<br />
dass der sich am jüngsten Tag zu offenbarende<br />
und alle Rätsel lösende Gott bei ihm<br />
„die Geschichte“ hieß. Indem der „materialistische“<br />
Religionskritiker dergestalt selbst<br />
zum Religionsstifter wurde, bewies er wider<br />
Willen die anhaltende <strong>Macht</strong> religiöser<br />
Bedürfnisse über das Bewusstsein auch des<br />
modernen, aufgeklärten Menschen.<br />
Was an Marxens Urteil über die Religion<br />
gleichwohl zutrifft, ist die Beobachtung,<br />
dass es sich bei ihr um eine Art intellektuelles<br />
Rauschmittel handelt. Es soll<br />
dem Bewusstsein die Kluft zwischen dem<br />
menschlichen Erkenntnisstreben und der<br />
Einsicht in die Unergründlichkeit alles Seienden<br />
erträglich machen.<br />
Diese Kluft wird auch die Wissenschaft<br />
nie schließen können – im Gegenteil, sie<br />
führt uns in immer gewaltigere Dimensionen<br />
des Unvorstellbaren. Selbst wenn wir<br />
den Urknall als Anfang des unfassbar weit<br />
ausgedehnten Universums bestimmen und<br />
berechnen können, wann und wie es dereinst<br />
enden wird, scheitern wir doch an<br />
der Frage, was denn gewesen sein könnte,<br />
bevor es Raum, Zeit und Materie gab. Die<br />
Religion erzählt uns dazu eine Geschichte,<br />
die alles rationale Grübeln verscheuchen<br />
soll, wenn man sich nur in<br />
ihre Wahrheit fallen lässt<br />
wie ein Kind in die Wirklichkeit<br />
des Märchens. Menschen<br />
diesen Halt in einer Illusion<br />
von Sinn nehmen zu<br />
wollen, wäre ein ebenso vergebliches<br />
wie anmaßendes<br />
Unterfangen.<br />
Wie bei jedem Gift<br />
kommt es bei der Religion<br />
jedoch auf die Dosierung an.<br />
In Maßen genossen, kann<br />
sie eine heilsame, beruhigende<br />
Wirkung haben, überdosiert<br />
entfaltet sie ihre aufputschende,<br />
zerstörerische<br />
Kraft. Die moderne westliche<br />
Zivilisation beruht auf<br />
der Kunst, die Wirkung der<br />
Religion zu begrenzen und<br />
sie sich als Sedativum gegen<br />
ausufernde politisch-ideologische<br />
Leidenschaften nutzbar zu machen.<br />
Nicht aus der Religion sind freiheitliche<br />
Errungenschaften wie die Menschenrechte,<br />
die Herrschaft des unparteiischen<br />
Gesetzes, die Trennung von Staat und Kirche,<br />
der Pluralismus des Glaubens und der<br />
Überzeugungen erwachsen, sondern aus ihrer<br />
Zähmung. Die Unterwerfung der Kirche<br />
unter die weltliche <strong>Macht</strong>, die Beendigung<br />
blutiger Religionskriege durch die<br />
Aufgabe des Alleingültigkeitsanspruchs eines<br />
einzigen Glaubens, und schließlich die<br />
säkulare, pluralistische Ordnung, wie sie<br />
die Gründerväter der amerikanischen Demokratie<br />
vorgezeichnet haben, waren Meilensteine<br />
auf diesem Weg.<br />
Ihr geniales Konzept, die Vielfalt der<br />
Religionen zu schützen, indem man sie allesamt<br />
aus dem Raum der allen gemeinsamen<br />
öffentlichen Institutionen heraushält,<br />
Religion<br />
lässt sich mit<br />
humanen,<br />
freiheitlichen<br />
Zuständen<br />
nur<br />
vereinbaren,<br />
wenn ihr der<br />
Giftzahn des<br />
Anspruchs<br />
auf das<br />
Absolute<br />
gezogen ist<br />
leiteten die amerikanischen Gründungsväter<br />
nicht aus ihrem eigenen christlichen<br />
Glauben ab, sondern aus den Idealen<br />
der Freimaurerei. Wer<br />
den Tempel der Freimaurer<br />
betritt, gibt seinen jeweiligen<br />
Glauben nicht auf, lässt<br />
ihn aber für die Dauer der rituellen<br />
Exerzitien gleichsam<br />
an der Garderobe zurück. Er<br />
tritt dann in einen Raum, in<br />
dem sich Gleiche unter Gleichen,<br />
gewissermaßen in ihrem<br />
bloßen Menschsein begegnen.<br />
Das ist ein Sinnbild<br />
für die Sphäre des von religiösen<br />
Einflüssen abgeschirmten<br />
politischen und rechtsstaatlichen<br />
Raumes, wie er<br />
sich als Kernstück der pluralistischen<br />
Demokratie bewährt<br />
hat.<br />
Wer heute suggeriert, ein<br />
stärkerer Einfluss der Religion<br />
auf Staat und Gesellschaft<br />
sei notwendig, um deren<br />
Zusammenhalt zu sichern, legt Hand an<br />
dieses Wunderwerk säkularer Ausbalancierung<br />
getrennter Sphären. In der islamischen<br />
Welt liefert die Religion gegenwärtig den<br />
Treibstoff für einen Aufstand gegen die fragmentierte,<br />
entsubstanzialisierte Moderne.<br />
Wenn sich nun auch in anderen Konfessionen<br />
Kräfte regen, die sich mit der Einhegung<br />
der Religion ins Private nicht mehr<br />
zufriedengeben wollen, ist das alarmierend.<br />
Denn Religion lässt sich mit humanen,<br />
freiheitlichen Zuständen nur vereinbaren,<br />
wenn ihr der Giftzahn des Anspruchs<br />
auf das Absolute gezogen ist.<br />
Richard Herzinger<br />
ist politischer Korrespondent der<br />
Welt-Gruppe<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 83
| K a p i t a l<br />
Er Setzt Energie Frei<br />
Der Chemiker Robert Schlögl will mit Spitzenforschung das deutsche Energieproblem lösen<br />
von Christian Schwägerl<br />
A<br />
ls junger Mann hatte Robert<br />
Schlögl nur einen Berufswunsch:<br />
Förster im heimatlichen Oberbayern<br />
zu werden. Seine Abiturnote war<br />
aber zu schlecht, als dass er sofort mit dem<br />
Studium der Forstwissenschaft hätte beginnen<br />
können. Um die Wartezeit zu nutzen,<br />
wollte er ein Fach belegen, das er ohnehin<br />
brauchen würde. Biologie oder Chemie?<br />
„Ich war mir nicht sicher und habe gewürfelt“,<br />
sagt Schlögl.<br />
Heute zieht es den 58-Jährigen noch<br />
immer in den Wald und in seine geliebten<br />
bayerischen Alpen. Und aus dem Würfelergebnis<br />
ist eine steile Karriere in der Chemie<br />
geworden. Inzwischen zählt Schlögl zu<br />
den renommiertesten Wissenschaftlern in<br />
Deutschland, die Liste seiner Patente und<br />
Publikationen ist lang. Zu seinen Erfindungen<br />
zählt ein Verfahren, mit dem sich mithilfe<br />
von Kohlenstoff-Nanomaterialien der<br />
Energieverbrauch in der Chemieindustrie<br />
deutlich senken ließe.<br />
Schlögl ist in der elitären Max-Planck-<br />
Gesellschaft gleich an zwei Instituten Direktor,<br />
und das ist absolut ungewöhnlich.<br />
In Berlin-Dahlem gehört er zur Spitze des<br />
traditionsreichen Fritz-Haber-Instituts und<br />
in Mülheim an der Ruhr baut er das neue<br />
Max-Planck-Institut für chemische Energiekonversion<br />
auf.<br />
Neuerdings ist Schlögl auf der energiepolitischen<br />
Bühne zu sehen. Schon als<br />
Jungforscher spezialisierte er sich darauf,<br />
wie bestimmte Stoffe chemische Reaktionen<br />
beschleunigen und wie Energie in chemischen<br />
Verbindungen gespeichert wird.<br />
Mit diesem Spezialgebiet sieht der Professor<br />
sich nun in einer Schlüsselposition für<br />
die deutsche Energiewende.<br />
Der Max-Planck-Direktor wirkt unprätentiös.<br />
Er verabschiedet sich auch<br />
im tiefsten Preußen am Telefon mit einem<br />
geschmetterten „Servus“. Sein Markenzeichen<br />
ist ein leicht schäbiger Beutel,<br />
den er stets um den Bauch geschnallt hat.<br />
Er trägt darin Geldbörse, Handy, Kleinkram.<br />
„Ich werde dafür belächelt, aber so<br />
habe ich immer beide Hände zum Reden<br />
frei“, sagt er. Auf Podien und im Gespräch<br />
mit Politikern nutzt Schlögl die Hände vor<br />
allem für warnende Gesten. Die Energiewende<br />
findet er goldrichtig. Er ist überzeugt,<br />
dass das Projekt langfristig den deutschen<br />
Wohlstand mit Technologieexporten<br />
sichert. „Wenn ein Land in der Welt vormachen<br />
und davon leben kann, wie die<br />
Energieversorgung nachhaltig wird, dann<br />
ist es Deutschland, weil wir zugleich reich<br />
sind und stark in der Wissenschaft.“<br />
Doch der Forscher macht sich Sorgen.<br />
Wenn er über die Energiewende spricht,<br />
wird er unruhig. Er knetet seine Hände,<br />
legt sie wie zum Gebet zusammen, dann<br />
reißt er sie plötzlich in die Höhe. Der deutsche<br />
Öko-Alleingang werde ohne wissenschaftliche<br />
Durchbrüche scheitern. „Die<br />
heutigen Ziele beim Ausbau erneuerbarer<br />
Energien sind derzeit technisch nicht<br />
machbar.“ Als oberste Priorität sieht er es<br />
an, die starken Schwankungen im Angebot<br />
von Wind- und Sonnenstrom durch neuartige<br />
Energiespeicher auszugleichen, doch<br />
noch gebe es keinen Aufbruch zur Entwicklung<br />
dieser neuen Technologien: „Umweltschützer<br />
reden die Lage schön, in der Politik<br />
erlebe ich viel Naivität, und die Lobby<br />
der Gegner nutzt die Probleme weidlich<br />
aus, um das Vorhaben zu sabotieren.“<br />
Die Energiewende beschreibt er als einen<br />
ähnlich tief greifenden und positiven<br />
Prozess „wie den Übergang von der Diktatur<br />
zur Demokratie“. Spricht er über die<br />
Gegner erneuerbarer Energien, gerät er in<br />
Rage. „Wenn wir in den Ölpreis die Kosten<br />
der Kriege im Nahen Osten und bei der<br />
Kohle die Kosten des Meeresspiegelanstiegs<br />
einrechnen würden, wird klar, dass Sonnenenergie<br />
nicht wirklich teuer ist.“ Die<br />
Energiewende werde später gigantische<br />
Ersparnisse bei den Brennstoffen bringen,<br />
„das ist eben ein Generationenvertrag“.<br />
Hier will Schlögl etwas bewegen. Zum<br />
einen hat er in den vergangenen Monaten<br />
für die Nationalakademie Leopoldina,<br />
die Technikakademie acatech und<br />
die Berlin-Brandenburgische Akademie<br />
der Wissenschaften eine Tafelrunde von<br />
Top-Forschern zusammengestellt, die bis<br />
zum Frühjahr 2013 einen Fahrplan für die<br />
Energiewende ausarbeiten sollen. Zum anderen<br />
richtet er die Arbeit seiner beiden<br />
Max-Planck-Institute auf die Energiespeicherung<br />
aus. Dort entwickelt er Verfahren,<br />
wie sich überschüssiger Wind- und Solarstrom<br />
in Wasserstoff, Methanol oder Methan<br />
speichern lassen und wie CO 2<br />
als Rohstoff<br />
genutzt werden kann.<br />
Allerdings hat er bei seiner letzten Entwicklung<br />
eine ernüchternde Erfahrung gemacht:<br />
Sein neues Verfahren, mit dem sich<br />
der allgegenwärtige Chemiegrundstoff Styrol<br />
mithilfe von Nanotechnologie deutlich<br />
energiesparender produzieren lässt als bisher,<br />
hat die deutsche Chemie-Industrie<br />
nicht gewollt. Dafür verwenden die Chinesen<br />
die Methode, während in Deutschland<br />
die Branche lieber über hohe Energiepreise<br />
klagt. „Wenn wir nicht aufpassen, kaufen<br />
wir künftig Technologien aus China ein<br />
und nicht umgekehrt“, warnt der Forscher.<br />
Schlögl sagt, er sei „kein Öko-Mensch“.<br />
Von einem Chemiker erwartet man das irgendwie.<br />
Dann aber stellt sich heraus, dass<br />
er in der Stadt die meisten Wege radelt,<br />
zwischen seinen beiden Arbeitsplätzen<br />
in Berlin und Mülheim mit seiner Bahncard<br />
100 unterwegs ist, und ein Auto besitzt<br />
er auch nicht. Aus Überzeugung. Da<br />
ist er immer noch der Naturliebhaber, der<br />
früher Förster werden wollte und heute die<br />
deutsche Energiewende vorantreibt.<br />
Christian Schwägerl<br />
ist freier Journalist in Berlin und<br />
Autor der Bücher „Menschenzeit“<br />
und „11 drohende Kriege“<br />
Fotos: Julia Zimmermann, Maurice Weiss (Autor)<br />
84 <strong>Cicero</strong> 12.2012
„Wie der<br />
Übergang von<br />
Diktatur zu<br />
Demokratie“<br />
Der Chemiker Robert Schlögl<br />
über die Energiewende<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 85
| K a p i t a l<br />
In aller Munde<br />
Zahnbürsten von Margitta Siegel aus Stützengrün im Erzgebirge werden in der ganzen Welt verkauft<br />
von Steffen Uhlmann<br />
E<br />
ine Bürste ist eine Bürste, und<br />
Kehrschaufeln, Schrubber oder<br />
Besen sind schlichte Handwerkszeuge<br />
für den Hausgebrauch, die sich in<br />
Form, Funktion und Fertigung über Jahrhunderte<br />
hinweg dem technologischen<br />
Zeitgeist verweigern. „Von wegen“, sagt<br />
Margitta Siegel. „Wir fertigen hier intelligente<br />
Reinigungssysteme auf hochmodernen<br />
Anlagen.“<br />
Man glaubt es der Chefin der Bürstenmann<br />
GmbH aus dem kleinen erzgebirgischen<br />
Ort Stützengrün, wenn man mit<br />
ihr durch den blitzsauberen Betrieb geht.<br />
Hier läuft fast alles vollautomatisch, computergestützt<br />
und präzise. Eine Massenfertigung,<br />
die dennoch individuelle Wünsche<br />
der Kunden berücksichtigt. Selbst<br />
Form und Farbe der Verpackung können<br />
sie sich aussuchen. Und das bei einer Auswahl<br />
von über 1500 Artikeln, darunter<br />
auch Zahnbürsten.<br />
Die gibt es inzwischen in unzähligen<br />
Varianten: als Kurzkopf- oder Reisezahnbürsten,<br />
als Vier-Komponenten-Bürste<br />
in drei Borstenstärken oder als Sonderanfertigung<br />
für interdentale Pflegesets – in<br />
den verschiedensten Farben und Formen.<br />
Deutsche und internationale Kunden lassen<br />
in Stützengrün in Klein- bis Großserie<br />
Kunststoffgriffe spritzen, Borsten ein- und<br />
ihren Markennamen aufbringen. Selbst<br />
Bayern München ist Kunde bei Bürstenmann.<br />
Über 50 000 Zahnbürsten in den<br />
Farben Rot‐Weiß ordert der Fußballclub<br />
jedes Jahr für sein Fanartikelsortiment.<br />
„Trotz der unterschiedlichen Aufträge<br />
und Wünsche produzieren wir die Zahnbürsten<br />
vollautomatisch“, erklärt die Bürstenmann-Chefin<br />
und zeigt auf drei neue<br />
Fertigungsstraßen, in der Roboter Spritzguss-,<br />
Beborstungs- und Verpackungsmaschinen<br />
miteinander verbinden: „Vorne<br />
kommt das Kunststoffgranulat rein und<br />
hinten die verpackte Zahnbürste raus. So<br />
einfach ist die Bürstenmacherei.“<br />
So einfach ist sie natürlich nicht. Dahinter<br />
steckt nicht nur viel Erfindergeist,<br />
sondern auch der Behauptungswille eines<br />
ganzen Teams. Als der Genossenschaftsbetrieb<br />
mit damals noch fast 900 Beschäftigten<br />
in die Marktwirtschaft zog, schien<br />
sein Schicksal besiegelt. Die Traditionsfirma,<br />
die in den zwanziger<br />
Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />
im „Bürstenland“<br />
Erzgebirge gegründet worden<br />
war, stand vor dem Aus.<br />
„Beinahe über Nacht hatten<br />
wir kaum noch Kunden<br />
und Märkte.“<br />
Siegel ist Betriebswirtin.<br />
Sie hat schon 1974<br />
bei Bürstenmann als Assistentin<br />
angefangen. 1994<br />
wurde sie Geschäftsführerin.<br />
„Wir Erzgebirgler sind<br />
zäh und bisweilen trotzig“,<br />
sagt sie. „Und wir haben<br />
uns durchgesetzt.“<br />
Das aber hatte Bürstenmann<br />
kurz nach der Wende<br />
fast niemand mehr zugetraut.<br />
Schon 1991 empfahl<br />
die Münchner Unternehmensberatung<br />
Roland Berger,<br />
den Genossenschaftsbetrieb<br />
für eine D‐Mark zu verkaufen<br />
oder gleich ganz dichtzumachen. Genau<br />
das aber hat der ostdeutsche Konsumverband<br />
nicht getan. Martin Bergner, Vorstandssprecher<br />
der Berliner Zentralkonsum<br />
eG, zu der Stützengrün nun gehört,<br />
ist heute noch froh über diese „waghalsige<br />
wie sentimentale“ Entscheidung, den Betrieb<br />
weiterzuführen. „Bürstenmann ist<br />
eine Erfolgsgeschichte geworden“, sagt<br />
er. „Für den Zentralkonsum, den Osten<br />
überhaupt und auch für das im Aufwind<br />
befindliche gesamtdeutsche Genossenschaftsmodell.“<br />
Zur erfolgreichen Neuausrichtung<br />
von Bürstenmann gehört auch der<br />
MYTHOS<br />
MITTELSTAND<br />
„Was hat Deutschland,<br />
was andere nicht<br />
haben? Den<br />
Mittelstand!“, sagt jetzt<br />
auch der Deutsche-<br />
Bank-Chef Anshu<br />
Jain. <strong>Cicero</strong> weiß das<br />
schon länger und stellt<br />
den Mittelstand in<br />
einer Serie vor. Die<br />
bisherigen Porträts aus<br />
der Serie unter:<br />
www.cicero.de/mittelstand<br />
Betrieb Denta Bross, den man schon Anfang<br />
der neunziger Jahre mit dem westdeutschen<br />
Bürstenmulti M + C Schiffer, Neustadt/Wied,<br />
gegründet hat und der nun in<br />
Stützengrün für die Zahnbürstenproduktion<br />
zuständig ist.<br />
Über Schiffer habe die gemeinsame<br />
Tochter 2011 den<br />
Großauftrag vom britischen<br />
Pharma-Konzern<br />
Glaxo Smith Kline erhalten,<br />
erzählt Siegel. Das<br />
sei für Bürstenmann der<br />
„Ritterschlag“.<br />
Glaxo Smith Kline,<br />
eine der größten Arzneimittelfirmen<br />
der Welt, lässt<br />
nun jährlich 40 Millionen<br />
Zahnbürsten seiner Marke<br />
„Dr. Best“ in Stützengrün<br />
fertigen. Statt 70 Millionen<br />
Zahnbürsten, rechnet<br />
die Geschäftsführerin<br />
hoch, fertigt das Unternehmen<br />
nun 110 Millionen<br />
pro Jahr an. „Das ist schon<br />
ein gewaltiger Sprung, wir<br />
sind jetzt die Nummer<br />
zwei unter Deutschlands<br />
Zahnbürstenherstellern.“<br />
Margitta Siegel, inzwischen<br />
62, denkt nicht daran, die Zügel bei<br />
Bürstenmann schleifen oder gar ganz loszulassen.<br />
Dabei liegt sie gern mal in der<br />
Sonne und sucht sich dafür Plätze, wo sie<br />
beinahe immer scheint. Und kommt auch<br />
dort nicht von ihrer Arbeit los. „Unlängst“,<br />
sagt sie, „habe ich doch tatsächlich Bürsten<br />
und Besen von uns in einem Laden auf<br />
Mauritius entdeckt.“<br />
Steffen Uhlmann<br />
ist freier Wirtschaftsjournalist.<br />
Er lebt und arbeitet in Berlin<br />
Fotos: Christoph Busse, Privat (Autor)<br />
86 <strong>Cicero</strong> 12.2012
„Wir Erzgebirgler<br />
sind zäh und<br />
zuweilen trotzig“ –<br />
„Bürstenmann“‐<br />
Geschäftsführerin<br />
Margitta Siegel<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 87
| K a p i t a l<br />
Steinbrücks Gönner<br />
Bochums Stadtwerke-Chef Bernd Wilmert muss das Honorar für den SPD-Kanzlerkandidaten verantworten<br />
von Stefan Laurin<br />
D<br />
er 16. Februar 2012 war für Bernd<br />
Wilmert, den Chef der Bochumer<br />
Stadtwerke, ein ganz besonderer<br />
Tag. Wilmert feierte in der Jahrhunderthalle<br />
Bochum, einem Industriedenkmal, in<br />
dem sonst Veranstaltungen wie das Kulturfestival<br />
Ruhr-Triennale stattfinden, seine<br />
Auszeichnung als „Energiemanager des Jahres“<br />
durch die Zeitschrift Energie & Management.<br />
Oberbürgermeisterin Ottilie<br />
Scholz (SPD) und weitere sozialdemokratische<br />
Granden der Ruhrgebietsstadt ließen<br />
Wilmert hochleben, die Kapelle „Kölscher<br />
Klüngel“ spielte Karnevalsschlager, die für<br />
diese Ehrung eigens umgedichtet wurden.<br />
Statt „Wir lassä dä Dom in Kölle“ sang<br />
die feucht-fröhliche Runde „Wir lassä dä<br />
Bernd in Bochum“ und intonierte voller<br />
Begeisterung „Die Karawane zieht weiter,<br />
der Bernd, der, der bleibt hier.“ Um die<br />
Textsicherheit der in der Regel mit dem<br />
rheinischen Frohsinn fremdelnden Bochumer<br />
zu gewährleisten, waren die Texte<br />
vorher verteilt worden. Es gibt ein Video<br />
der Feierstunde, heimlich gedreht und<br />
unscharf. Es zeigt Bernd Wilmert, wie er<br />
sich gerne sieht: jovial, großzügig, umgeben<br />
von Freunden.<br />
Wilmert tritt ansonsten meist bescheiden<br />
auf, ist ein freundlicher Mann. Jemand,<br />
der ungern aneckt und der in Bochum geschätzt<br />
wird. Seine Beliebtheit ist sein Kapital,<br />
und er weiß es zu mehren. 4,5 Millionen<br />
Euro geben die Bochumer Stadtwerke<br />
jedes Jahr für die Unterstützung von Schulen,<br />
Kindergärten und Vereinen in Bochum<br />
aus. Das ist viel Geld in einer Stadt, die<br />
von Nothaushalt zu Nothaushalt schlingert,<br />
Schulen und Schwimmbäder schließen<br />
muss. Auch der marode städtische<br />
Haushalt profitiert in Millionenhöhe von<br />
den Gewinnen der Stadtwerke.<br />
Viele von Wilmerts Freunden gehören<br />
wie er selbst der SPD an. Sein eigener Aufstieg<br />
begann in den achtziger Jahren nach<br />
einem Wirtschaftsstudium in Herten; die<br />
Wahl zum „Energiemanager des Jahres“<br />
dürfte er als beruflichen Höhepunkt erlebt<br />
haben. Wilmert machte eine typische SPD-<br />
Karriere im Ruhrgebiet. Sie begann bei den<br />
Jusos und führte ihn später stets in Jobs, die<br />
im Ruhrgebiet nach Parteibuch vergeben<br />
werden. Mit einem Jahresgehalt von weit<br />
über 200 000 Euro verdient Wilmert nun<br />
mehr als die Kanzlerin; die Oberbürgermeisterin<br />
von Bochum bekommt knapp<br />
die Hälfte. „Die guten Leute gehen nicht<br />
mehr in die Politik, die gehen in die städtischen<br />
Betriebe, da verdienen sie mehr“,<br />
sagen Kommunalpolitiker im Ruhrgebiet.<br />
Wilmert hatte nie politische Ambitionen,<br />
hielt sich aus den Ränkespielen der Politik<br />
heraus und hatte nur ein Zeil: sein Unternehmen<br />
auszubauen. Unter ihm beteiligten<br />
sich die Stadtwerke an Gelsenwasser, einem<br />
der größten Trinkwasserversorgungsunternehmen<br />
Deutschlands, sowie am Energieunternehmen<br />
Steag. Die Politik ließ ihn<br />
gewähren, im Gegenzug half er mit dem<br />
Geld der Stadtwerke aus, wenn in Bochum<br />
die Kassen leer waren.<br />
Als Wilmert im November vor den Rat<br />
der Stadt Bochum tritt, um sich für die Affäre<br />
um den 25 000 Euro teuren Atrium-<br />
Talk mit Peer Steinbrück zu entschuldigen,<br />
und gleichzeitig erklärt, nicht streng genug<br />
alle Abmachungen kontrolliert zu haben,<br />
wirkt seine Betroffenheit echt. Wilmert<br />
weiß, dass er der Stadt, den Stadtwerken<br />
und seiner Partei mit den Promitalks geschadet<br />
hat. Denn nicht die Auftritte von<br />
Senta Berger, Uli Hoeneß und Joachim<br />
Gauck brachten die üppigen Plauderei-Honorare<br />
von 20 000 Euro und mehr in die<br />
Schlagzeilen; es war der Auftritt des späteren<br />
SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück,<br />
der das Geld kassierte und erst spendete,<br />
als die Sache publik wurde – und er<br />
kurze Zeit später in den Umfragen einbrach.<br />
Wilmert hat also durchaus seinen<br />
Anteil daran, dass der Start Steinbrücks<br />
als Merkel-Herausforderer zum Flop geriet.<br />
Reden möchte er darüber nicht. Eine<br />
Interviewanfrage lehnte er ab. Auch die<br />
Bochumer SPD-Spitze will sich zu dem<br />
Thema nicht äußern. So gern die Sozialdemokraten<br />
in Bochum gemeinsam bei Feiern<br />
singen – gegenüber der Presse halten<br />
sich die Genossen zuweilen lieber an das<br />
Gesetz des Schweigens.<br />
An der Basis ist man gesprächiger.<br />
Der Ortsverein Bochum-Ehrenfeld trifft<br />
sich Anfang November in der Melanchthon-Kirche<br />
in der Nähe des Schauspielhauses.<br />
Steinbrück und dessen kostspieliger<br />
Atrium-Talk bei den Stadtwerken sind<br />
kein Thema an diesem Abend, zumindest<br />
nicht offiziell. Wie so oft in Bochum geht<br />
es um Opel, ein Betriebsratsmitglied wird<br />
von den Verhandlungen über die Zukunft<br />
des Standorts berichten – es sieht nicht gut<br />
aus. Später am Abend, in den Kneipen der<br />
Stadt, trifft man Genossen, die namentlich<br />
lieber nicht zitiert werden wollen. Sie sind<br />
verärgert – aber nicht so sehr wegen Steinbrück.<br />
Sondern vielmehr wegen der Stadtwerke<br />
und wegen ihres Genossen Bernd<br />
Wilmert, der das Geld mit beiden Händen<br />
aus dem Fenster geworfen hat für all die<br />
Prominenten, damit ein wenig von deren<br />
Glanz auf ihn abfällt. Berlin, die Bundestagswahl,<br />
das ist alles weit weg. „Wir regieren<br />
in Bochum und erklären den Bürgern<br />
seit Jahren, dass gespart werden muss.<br />
Wie sollen wir das machen, wenn für so<br />
einen Quatsch wie den Atrium-Talk das<br />
Geld verblasen wird?“<br />
Peinlich sei das alles, fürchterlich peinlich.<br />
Stefan Laurin<br />
ist freier Journalist und lebt in<br />
Bochum. Er betreibt den Blog<br />
ruhrbarone.de<br />
Foto: Stadtwerke Bochum, Privat (Autor)<br />
88 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Mit einem Jahresgehalt<br />
von weit über<br />
200 000 Euro verdient<br />
Bernd Wilmert mehr<br />
als die Kanzlerin; die<br />
Oberbürgermeisterin<br />
von Bochum bekommt<br />
knapp die Hälfte<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 89
| K a p i t a l | Ö l B o h r u n g i n B r a n d e n b u r g<br />
Öl Unterm Acker<br />
Energiewende? Weg vom Öl? Von wegen. Auf einem Brandenburger Feld wird<br />
nach Erdöl gebohrt. Zwei Männer treiben die Suche nach dem Rohstoff voran<br />
von Stefan Tillmann<br />
B<br />
ürgermeister Wolfgang Gliese<br />
fährt zum Bohrturm, parkt seinen<br />
Jeep, postiert sich hinter<br />
der rot-weißen Schranke und<br />
besichtigt seinen Traum. Zweimal<br />
die Woche ist er hier, während die<br />
Probebohrungen laufen. Natürlich weiß<br />
er, dass der Bohrturm bald verschwindet,<br />
dass er vielleicht nie wiederkommt. Aber<br />
jetzt will er nichts verpassen, er möchte sichergehen,<br />
dass das hier läuft, auch wenn<br />
er nicht genau weiß wie. Gliese ist kein<br />
Mann von Welt, neben dem Bürgermeisteramt<br />
arbeitet er als Versicherungsmakler.<br />
Er sagt: „Das hier ist ein Sechser im<br />
Lotto, kommunal gesehen.“<br />
Wolfgang Gliese, Oberhaupt der Gemeinde<br />
Schwielochsee im Südosten Brandenburgs,<br />
träumt vom schwarzen Gold.<br />
Auf einem Acker am Waldrand, zwischen<br />
den Ortsteilen Guhlen und Ressen, hat<br />
die kanadische Ölfirma Central European<br />
Petroleum – kurz CEP – Anfang des Jahres<br />
eine Betonwanne asphaltiert, groß wie<br />
ein Fußballfeld. Im August haben Arbeiter<br />
den Bohrturm aufgebaut, 54 Meter, ein<br />
Stück hinter der Schranke, vor der Gliese<br />
steht. Ein Bohringenieur sagt gerade, dass<br />
der Bohrkopf auf „über 2000 Meter Teufe“<br />
sei. Er sagt „Teufe“, nicht Tiefe, Bergmannsprache.<br />
Ab dieser Tiefe könnte Gas austreten,<br />
Betreten verboten. Gliese blickt auf die<br />
Männer, die Helme tragen, rote und blaue<br />
Overalls. In den Beintaschen stecken rote<br />
Gasmasken. Bohringenieure und Bohrgeologen,<br />
Klempner und Elektriker. Auf den<br />
Helmen haben sie bunte Aufkleber aus<br />
den Ländern, in denen sie waren: Venezuela,<br />
Nigeria, Kanada.<br />
Die Probebohrungen sind inzwischen<br />
abgeschlossen. Bis auf 2830 Meter Tiefe<br />
gingen sie runter. Seit November wertet<br />
CEP die Daten aus, ein Jahr lang. Die<br />
Firma hat keine Zweifel mehr, dass da unten<br />
Öl ist. Grob kalkuliert, könnte es drei<br />
Milliarden Euro wert sein, auf Jahrzehnte<br />
verteilt. Die Frage ist, ob es sich auch fördern<br />
lässt, ob das Gestein passt, und ob all<br />
90 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Der Bohrturm von Guhlen. Bis<br />
in 2830 Meter Tiefe ging es<br />
runter. Probebohrungen, vorerst<br />
Foto: Jens Gyarmaty<br />
die Behörden die neue Bohrung und den<br />
Transport genehmigen. All das weiß noch<br />
niemand. So lange müssen in Guhlen vor<br />
allem zwei Männer bangen: Bürgermeister<br />
Gliese und Thomas Schröter, der Leiter des<br />
Projekts, ein Ölveteran.<br />
Es sind diese beiden Männer, die aus<br />
dem 230-Einwohner-Dorf Guhlen eine<br />
deutsche Erdölmetropole machen wollen.<br />
Und die zum Schrecken von Umweltaktivisten<br />
geworden sind. Zwei Männer, sehr<br />
unterschiedlich und doch verbindet sie<br />
viel. Thomas Schröter, 56 Jahre alt, Berliner,<br />
seit 30 Jahren ist er unterwegs, fünf<br />
Kontinente, zwölf Mal Geschäftsführer in<br />
acht verschiedenen Ländern. Wolfgang<br />
Gliese, auch 56, Brandenburger, ist in seinem<br />
Leben erst einmal umgezogen, 1979<br />
für seine Frau von Beeskow nach Siegadel,<br />
30 Kilometer.<br />
Gliese gehört der CDU an, er will den<br />
Erfolg für sich und seine Kommune. Die<br />
blüht nicht gerade – und da ist das Öl eine<br />
Chance. Schröter geht es vor allem um Anerkennung.<br />
Der promovierte Bohrgeologe<br />
will zeigen, dass sich auch in Deutschland<br />
Öl fördern lässt, und dass seine Profession<br />
noch gebraucht wird in einer Zeit, in der<br />
das Land weg will von fossilen Rohstoffen<br />
und kein Mensch mehr von Ölförderung<br />
spricht.<br />
An den Wänden von Schröters Büro in<br />
Berlin-Mitte hängen Karten von Ölfeldern<br />
aus der ganzen Welt, hinter der Tür stehen<br />
Sicherheitsschuhe, am nächsten Tag will er<br />
wieder raus nach Guhlen. Mit dem Zeigefinger<br />
fährt er über eine Karte und schildert<br />
seine Ölkarriere: Golf von Louisiana,<br />
Libyen, Kasachstan, Venezuela, parallel Indonesien,<br />
irgendwann Kuwait und Aserbaidschan.<br />
Auf dem Schreibtisch stehen drei<br />
Schnapsflaschen, gefüllt mit leichtem und<br />
schwerem Öl. „Von meinen chinesischen<br />
und ukrainischen Abenteuern“, sagt er.<br />
Schröter wollte ein Geologenleben: zerbeulte<br />
Jeans tragen, in Jeeps durch die Wüsten<br />
dieser Erde fahren. Er hat seine Ehe<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 91
| K a p i t a l | Ö l B o h r u n g i n B r a n d e n b u r g<br />
Venezuela, Indonesien,<br />
Libyen, Brandenburg.<br />
Thomas Schröter hat<br />
auf der ganzen Welt<br />
nach Öl gebohrt. Jetzt<br />
will er es in seiner<br />
Heimat fördern<br />
Öl? Bürgermeister<br />
Wolfgang Gliese war<br />
erst skeptisch. „Was<br />
springt da für uns<br />
raus?“, fragte er.<br />
Inzwischen träumt<br />
auch er vom Ölboom<br />
strapaziert, der Sohn wurde in den USA geboren,<br />
erst kurz vor der Geburt der Tochter<br />
haben sie Libyen verlassen. Und jetzt soll<br />
ausgerechnet in Brandenburg ein Ölfeld<br />
liegen. 100 Kilometer entfernt von seiner<br />
Geburtsstadt Berlin. Es hat beinahe etwas<br />
Tragisches.<br />
Die Geschichte vom Brandenburger Öl begann<br />
vor Schröters Zeit bei CEP. Sie klingt<br />
fast wie ein Witz: Ein Äthiopier und ein<br />
Kanadier gehen zu einem Holländer, das<br />
war im Jahr 2005. Der Holländer, Jacobus<br />
Bouwman, war deutscher Honorarkonsul<br />
im kanadischen Calgary. Die anderen<br />
kamen von der Ölfirma CEP und<br />
hatten eine Karte dabei: mit geophysikalischen<br />
Daten und Ölvorkommen, in Polen<br />
und der Nordsee. Bouwman sollte den weißen<br />
Fleck in der Mitte erklären und sagte<br />
sofort: Es gibt keine geologischen Gründe,<br />
es ist das alte DDR-Gebiet, da fehlen einfach<br />
die Daten – 20 Jahre Lücke.<br />
Bouwman heuerte bei CEP an, er<br />
fragte den Geologen Schröter zum ersten<br />
Mal 2010, ob in seiner Heimat nicht vielleicht<br />
Öl liegen könnte. „Da ist doch jeder<br />
Stein umgedreht und ausgewertet, da<br />
finden sie nichts mehr“, sagte Schröter damals.<br />
Heute sagt er: „Öl wird im Kopf gefunden.“<br />
Er ist Vice-President von CEP,<br />
die Firma hat 35 Mitarbeiter, zwölf davon<br />
in Berlin. Er leitet die Probebohrung in<br />
Guhlen und drei weitere in Mecklenburg.<br />
„Es gibt überhaupt keinen Zweifel. Brandenburg<br />
schwimmt auf Öl, Mecklenburg<br />
auch.“ Er habe keine befriedigende Erklärung<br />
gefunden, warum 20 Jahre lang keine<br />
Firma gebohrt hat, auch keine deutsche. Er<br />
hat einen Atlas, herausgegeben vom Brandenburger<br />
Landesamt für Bergbau, Geologie<br />
und Rohstoffe. „Trebatsch-Mittweide:<br />
Ölfeld, Schlepzig: Ölfeld, Tauer: Öl, die<br />
Wellmitzer Lagune: voll mit Öl, Pilgram:<br />
Öl – ringsherum bekannte Ölfelder.“ Dass<br />
die DDR die Erkundung und Förderung<br />
in den achtziger Jahren fast einstellte, habe<br />
wohl eher politische Gründe gehabt.<br />
Das Ölfeld in Guhlen könnte rund fünf<br />
Millionen Tonnen liefern, das ist fünfmal<br />
Es geht um<br />
Milliarden für<br />
die Ölfirma<br />
und Millionen<br />
für den Ort<br />
mehr als der durchschnittliche Fund in Europa<br />
in den vergangenen Jahren. Auf 30,<br />
40 Jahre verteilt, könnte doppelt so viel gefördert<br />
werden wie im Jahr 2011 in ganz<br />
Deutschland, wo vor allem in der Nordsee<br />
gebohrt wird. Es geht um Milliarden für<br />
CEP – und um zig Millionen an Gewerbesteuer<br />
für Bürgermeister Glieses Gemeinde.<br />
Es war ein langer Weg, bis der Ölveteran<br />
Schröter und der Bürgermeister Gliese<br />
merkten, was sie verbindet: Beide mögen<br />
es, wenn Dinge funktionieren, Schröter<br />
aus wissenschaftlicher Sicht, Gliese auf<br />
der menschlichen Ebene. Schröter rechnet<br />
gerne um, spricht von „aufmetern“, Glieses<br />
Lieblingswort ist „richtig“. Schröter<br />
kann lange über salziges Formationswasser<br />
sprechen, über Sporen- und Kluftspeicher.<br />
Gliese sagt Sätze wie: „Natürlich gibt es immer<br />
Betroffene, das bleibt nicht aus, aber<br />
sie müssen das so machen, dass der größte<br />
Teil nicht betroffen ist, und dass der größte<br />
finanzielle Nutzen rauskommt.“<br />
Wolfgang Glieses Büro liegt versteckt<br />
im Gemeindehaus, ein Schild ist notdürftig<br />
an die Tür geklebt: „Bürgermeister“.<br />
Gliese erzählt Geschichten aus seiner Gemeinde:<br />
Dass früher die Kleinbahn aus<br />
Cottbus kam, in Goyatz die Kähne belud<br />
und dann über die Spree Berlin versorgte.<br />
Dass zu DDR-Zeiten Sachsen in den Ferien<br />
kamen, weil sie hier Westfernsehen<br />
gucken konnten. Heute leben 1700 Menschen<br />
in seiner Gemeinde, verteilt auf elf<br />
Ortschaften, zu weit von Berlin. „Nur vom<br />
Tourismus können sie die Region nicht unterhalten.<br />
Wirtschaftlich ist hier überhaupt<br />
nichts, ein Landwirtschaftsbetrieb, kleine<br />
Handwerker, sonst nichts.“<br />
Von einem möglichen Ölfeld hörte Gliese<br />
noch vor Schröter. Vor rund vier Jahren<br />
landete eine Einladung zu einer CEP-Veranstaltung<br />
in seinem Briefkasten. Jacobus<br />
Bouwman, da schon in Diensten von CEP,<br />
stellte seine Pläne vor. An jenem Abend<br />
im Café am See ging es um Seismik, um<br />
die Vermessung des Bodens mithilfe von<br />
Signalen. Die einen dachten an unterirdische<br />
CO 2<br />
‐Speicher und ans Grundwasser,<br />
andere an Bilder von schlammigen Ölraffinerien<br />
in Texas. Gliese fragte nur: „Was<br />
springt da für uns raus?“<br />
Fotos: Patrick Raczek<br />
92 <strong>Cicero</strong> 12.2012
| K a p i t a l | Ö l B o h r u n g i n B r a n d e n b u r g<br />
Die Auskunft war ernüchternd. Dem<br />
Land Brandenburg stünden 10 Prozent<br />
der Förderquote zu, immer am Fördertag<br />
zum aktuellen Marktpreis. Die Gemeinde<br />
hätte nur auf Umwegen etwas davon.<br />
Gliese war dagegen. Er hatte gerade<br />
als Bürgermeister angefangen und sich viel<br />
vorgenommen. Er dachte an erneuerbare<br />
Energien. In der Umgebung sind bis zu<br />
38 Windräder geplant, bis zu 140 Meter<br />
hoch. Die Windräder bringen Geld,<br />
aber auch Ärger mit den Anwohnern. Was<br />
würde erst Öl für ein Theater geben, einen<br />
Lärm, einen Schmutz?<br />
So blieb Gliese stur, wie Brandenburger<br />
eben stur bleiben können. Jahrelang.<br />
Auch später, als er Thomas Schröter kennenlernte.<br />
Der war inzwischen an Bord<br />
und hatte ihm einen Aktenordner geschickt,<br />
den „Hauptbetriebsplan“, Hunderte<br />
Seiten voller Daten und Tabellen.<br />
CEP hatte eine sogenannte Aufsuchungserlaubnis<br />
für Guhlen beantragt. Alle Träger<br />
öffentlicher Belange mussten befragt<br />
werden: jede Gemeinde, jeder Kreis, jedes<br />
Amt, egal ob Umwelt, Bundeswehr, Wasserschutz.<br />
Gliese verstand nichts aus dem<br />
Aktenordner und sagte: „Wozu sollen wir<br />
zustimmen?“ Antrag abgelehnt. Für einen<br />
Moment war das Projekt gestorben.<br />
Doch Schröter gab den Traum vom Öl<br />
in Brandenburg nicht so schnell auf, drei<br />
Tage später rief er Gliese an. Er lud ihn<br />
und zehn Gemeindevertreter nach Usedom-Lütow<br />
ein, wo CEP bereits bohrte.<br />
Kein Lärm, kein Schmutz, weil die Pumpe<br />
ein geschlossenes System ist. Damals ließ<br />
Schröter auch die Zahl fallen, um die es gehen<br />
sollte: rund drei Milliarden Euro. Als<br />
er Gliese versprach, dass CEP im Erfolgsfall<br />
eine Niederlassung in Guhlen eröffnen<br />
würde und die Gemeinde die ganzen Gewerbesteuern<br />
bekäme, da hatten sich die<br />
zwei gefunden. Heute sagt Gliese, die Zusammenarbeit<br />
sei „inzwischen, wie man es<br />
sich wünscht“, und Schröter sagt, dass man<br />
sich erst finden musste. Heute steht der<br />
„Hauptbetriebsplan“ im Regal von Glieses<br />
Büro. Er ist nur ehrenamtlicher Bürgermeister,<br />
die „Bestandskundenprovision“<br />
in seinem Job als Versicherungsmakler sichert<br />
ihm das Einkommen. So kann er viel<br />
Zeit für Schwielochsee aufwenden. Er redet<br />
schon vom Straßennetz, das er sanieren<br />
würde, von Radwegen, der Ganztagsschule,<br />
der Strandpromenade – ja, wenn die Probebohrung<br />
ein Erfolg wird und alle Genehmigungen<br />
klappen.<br />
Das ist noch ein weiter Weg. Öl hat<br />
keinen guten Ruf. Deutschland war ein<br />
Land der Kohle, des Stahls, heute soll es<br />
das Land der erneuerbaren Energien werden,<br />
auch Erdgas wird zu 16 Prozent im<br />
Inland produziert. Ein Land des Öls ist es<br />
In Brandenburg Öl fördern?<br />
Greenpeace hält das Projekt für<br />
verrückt, sogar für gefährlich<br />
nie gewesen, 2,6 Prozent seines Erdölbedarfs<br />
produziert Deutschland selbst. Der<br />
Rest kommt vielfach aus politisch heiklen<br />
Ländern wie Venezuela, Libyen, Nigeria<br />
oder Saudi-Arabien.<br />
Umweltorganisationen wollen die Abhängigkeit<br />
vom Öl überwinden. Christoph<br />
Lieven, Energieexperte bei Greenpeace,<br />
hält es angesichts des Klimawandels „für<br />
verrückt, weiter auf fossile Energieträger zu<br />
setzen“. Ölförderung sei riskant. Bei einer<br />
Bohrung müsse eine Gasblase angestochen<br />
werden, die sich über dem Öl befindet, sagt<br />
er. Dabei könne es sogar zum Blowout<br />
kommen, bei dem Gas und Öl unkontrolliert<br />
austreten. „Es gibt weltweit nur sehr<br />
wenige Ölbohrungen, bei denen es nicht<br />
zu Umweltverschmutzung durch Öl oder<br />
Produktionswasser kommt.“ Zudem findet<br />
es der Greenpeace-Mann unverantwortlich,<br />
eine kleine Firma wie CEP bohren zu lassen.<br />
„Die hat gar nicht ausreichend Substanz,<br />
um für eventuell entstehende Schäden<br />
auch geradezustehen.“ Schröter räumt<br />
ein, CEP sei „in der Tat überschuldet“, aber<br />
das sei normal, schließlich sei in Deutschland<br />
noch kein Öl geflossen. Dass sie für<br />
Schäden aufkommen könnten, hätten sie<br />
beim Bergamt nachweisen müssen.<br />
Wenn Schröter über Öl redet, ist es immer<br />
ein bisschen so, als müsste er sein Leben<br />
verteidigen. In seinem Büro zeigt er auf<br />
den Stuhl und den Teppichboden. „In fast<br />
allen Sachen aus Plastik steckt Erdöl drin“,<br />
sagt er, „auch in Windradrotoren“. Öl als<br />
Energieträger? Dummes Zeug, das Öl sei<br />
eigentlich viel zu schade zum Verbrennen.<br />
Menschen, die den Stoff für nicht mehr<br />
zeitgemäß halten, solle man die Weihnachtskerzen<br />
wegnehmen.<br />
Schröter sagt, es sei ein Riesenvorteil,<br />
in Deutschland zu bohren. Es gebe<br />
Rechtssicherheit, die führende Umweltgesetzgebung.<br />
„Und keine durchgeknallten<br />
Scheichs.“ So musste CEP einige Dinge regeln,<br />
bevor dieses Jahr die Probebohrungen<br />
begannen. Bereits 2009 räumten Spezialfahrzeuge<br />
Panzergranaten, Fliegerbomben<br />
und Tellerminen weg, dafür brauchten sie<br />
keine Genehmigung. Ein Biologe suchte<br />
nach Fledermauskolonien und Ameisenhaufen.<br />
Und in einer alten Windmühle<br />
wohnt die Familie Müller, nur 700 Meter<br />
neben der Bohrstelle. Sie wollte nicht, dass<br />
insgesamt 1200 Lkw vorbeifahren. Ihr kleiner<br />
Hund würde hinter jedem Wagen hinterherlaufen<br />
und irgendwann totgefahren<br />
werden. Schröter und Gliese haben einen<br />
alten Waldweg ausfindig gemacht und so<br />
ausgebaut, dass die Transporter kein Haus<br />
passieren mussten.<br />
Schließlich, im August, hat CEP innerhalb<br />
von zwölf Tagen einen Bohrturm<br />
in Usedom abgebaut, auf 150 Lkw geladen<br />
und in Brandenburg wieder aufgebaut.<br />
Zwölf Millionen Euro hat das Projekt<br />
bislang gekostet. Einiges bleibt in der<br />
Region, 34 der 40 Arbeiter schlafen in Pensionen,<br />
der Rest in Containern am Turm,<br />
30 Handwerker aus der Gemeinde waren<br />
im Einsatz. Was wäre erst los, wenn es<br />
klappt. Wenn der Rohstoff sprudelt, wenn<br />
die alte Bahnlinie Lübben-Beeskow wieder<br />
eröffnet, wenn eine Pipeline gebaut wird<br />
und wenn dann das Öl zu den Raffinerien<br />
strömt. Weltweit führt im Schnitt nur jede<br />
zehnte Probebohrung zum Erfolg. Thommas<br />
Schröter sieht für Guhlen die Wahrscheinlichkeit<br />
bei 30 Prozent, die Chance,<br />
dass sich der Traum erfüllt.<br />
Stefan TillmAnn<br />
ist Redakteur beim<br />
Berlin‐Magazin Zitty und freier<br />
Autor für Wirtschaftsthemen<br />
Foto: Privat<br />
94 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Elegant durch das Jahr 2013<br />
Der <strong>Cicero</strong>-Kalender<br />
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Unterschrift
| K a p i t a l | j u g e n d o h n e a r b e i t<br />
Die verlorene<br />
Generation<br />
In der EU sind fast 25 Prozent aller Jugendlichen arbeitslos,<br />
in manchen Ländern sogar die Hälfte. Drohen Verhältnisse<br />
wie in der Weimarer Republik? Ein historischer Vergleich<br />
von Christoph Stölzl<br />
W<br />
ie man die Statistik auch<br />
dreht und wendet, es sieht<br />
so aus, als sei in der Europäischen<br />
Union fast ein<br />
Viertel aller Jugendlichen<br />
zwischen 14 und 25 arbeitslos. Von einer<br />
„verlorenen Generation“ ist deshalb<br />
die Rede. In Griechenland und Spanien<br />
ist jeder zweite ohne Job. Aber selbst in<br />
einem traditionellen Musterland gerechter<br />
Arbeitswelt wie Schweden ist die Jugendarbeitslosigkeit<br />
dreimal so hoch wie<br />
die allgemeine.<br />
Schon 2008, also noch vor der Finanzkrise,<br />
warnte die Europäische Zentralbank,<br />
Jugendarbeitslosigkeit sei ein Menetekel für<br />
die langfristigen Perspektiven jeder betroffenen<br />
Volkswirtschaft. Nur in Deutschland<br />
steht die Sache anders: Hier sank die Jugendarbeitslosigkeit<br />
im Frühjahr auf erstaunlich<br />
niedrige 5,4 Prozent. Das liegt<br />
an der Stabilität der deutschen Konjunktur,<br />
aber auch an Besonderheiten der deutschen<br />
Ausbildungstraditionen – allem voran am<br />
deutschen System der gleichzeitigen („dualen“)<br />
Berufsausbildung in Betrieben und<br />
Schulen, wodurch vor allem Jüngere zwischen<br />
15 und 19 Jahren selten arbeitslos<br />
sind (3,2 Prozent). Die EU-Kommission<br />
hat deshalb im Sommer 2012 eine Initiative<br />
gestartet, um die Vermittlung junger<br />
Menschen europaweit in Schwung zu bringen;<br />
das bisherige Netzwerk nationaler Arbeitsagenturen<br />
soll zu einer neuen gesamteuropäischen<br />
Arbeitsverwaltung ausgebaut<br />
werden.<br />
Wegen der Misere am Arbeitsmarkt verändert<br />
sich auch die politische Stimmung<br />
unter den jungen Europäern. Dass die Akzeptanz<br />
demokratischer Institutionen gerade<br />
bei den Jungen davon abhängt, ob<br />
die Gesellschaft ihnen die Aussicht auf<br />
Arbeit, Wohlstand und ein erfülltes Leben<br />
Illustration: Otto<br />
96 <strong>Cicero</strong> 12.2012
12.2012 <strong>Cicero</strong> 97
| K a p i t a l | j u g e n d o h n e a r b e i t<br />
bieten kann, ist eine der einschneidenden<br />
Erfahrungen europäischer Geschichte. In<br />
der Bundesrepublik etwa waren der ökonomische<br />
Erfolg der sozialen Marktwirtschaft<br />
und die parlamentarische Demokratie<br />
zwei Seiten derselben Medaille. Das<br />
erschreckende Gegenbeispiel zeigt sich<br />
beim Blick auf die Weimarer Republik,<br />
der es gerade in der jungen Generation an<br />
Rückhalt fehlte.<br />
Das deutsche Kaiserreich, seit seiner<br />
Gründung demografisch ungebremst<br />
wachsend, schien um das Jahr 1914 in<br />
Sachen Vitalität und Altersstruktur „der“<br />
junge europäische Staat zu werden. Dass<br />
eine derartige Generationendynamik tiefe<br />
gesellschaftliche Konflikte nach sich zieht,<br />
versteht sich von selbst. Die<br />
„Jugendbewegung“ und die<br />
Krise des Patriarchats wurden<br />
gerade in Deutschland<br />
besonders dramatisch erlebt.<br />
Mit dem Ersten Weltkrieg<br />
und der Niederlage<br />
folgte ein radikaler Bruch.<br />
Herrschte im kaiserlichen<br />
Deutschland die Gewissheit,<br />
„herrlichen Zeiten“ (so die<br />
Formulierung Wilhelms II)<br />
entgegenzugehen, erwies sich<br />
die Weimarer Republik als<br />
das genaue Gegenteil: Nachkriegsnot-,<br />
Bürgerkriegs-,<br />
Krisen- und Inflationsjahre,<br />
eine kurze Erholung zwischen<br />
1924 und 1929, danach die katastrophische<br />
Depression von 1930 an. In der<br />
Weimarer Republik hat es nie „Vollbeschäftigung“<br />
gegeben, auch nicht während der<br />
kurzen Erholungsphase nach 1924. In all<br />
den Jahren bis 1931 lag die Arbeitslosigkeit<br />
nur vier Monate lang unter einer halben<br />
Million – aber 48 Monate zwischen einer<br />
Million und drei Millionen. So die akribische<br />
Bestandsaufnahme in Hans-Ulrich<br />
Wehlers monumentaler „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“(2003),<br />
in der Statistiken<br />
zu aufregenden Momentaufnahmen<br />
werden.<br />
Die geburtenstarken Jahrgänge der Vorkriegsjahre<br />
erlebten die Weimarer Republik<br />
als schicksalhaft; es waren die früh desillusionierten<br />
Kinder jener Eltern, die in der<br />
„guten alten Zeit“ des Kaiserreichs noch<br />
besonders optimistisch in die Zukunft geblickt<br />
hatten. Zahlen sind abstrakt, man<br />
muss sich die Biografien dazudenken: 1926<br />
Die Weimarer<br />
Republik<br />
stand der<br />
Großen Krise<br />
mit ihren<br />
Instrumenten<br />
des<br />
Sozialstaats<br />
völlig hilflos<br />
gegenüber<br />
strömten 503 000 Berufsanfänger in den<br />
Markt, 1929 bis 1932 zwischen 358 000<br />
und 406 000. Sie trafen auf eine Wirtschaft,<br />
die wenig Einstiegschancen zu bieten<br />
hatte. Die neue Republik musste den<br />
jungen Arbeitssuchenden als ein abweisendes,<br />
vielleicht sogar feindseliges System erscheinen.<br />
Die matte, immer wieder durch<br />
Konjunkturschwankungen erlahmende<br />
Nachfrage nach jungen Arbeitskräften<br />
traf nicht nur die Jugend aus dem Arbeiter-<br />
und Handwerkermilieu. Auch in den<br />
akademisch ausgebildeten Schichten gab<br />
es ein krasses Missverhältnis von Angebot<br />
und Nachfrage. Zuerst bewirkte ab 1919<br />
der plötzliche Rückstrom von demobilisierten<br />
Soldaten eine heftige Hochschulexpansion.<br />
Man sprach vom<br />
„Studentenberg“. Dann produzierten<br />
die geburtenstarken<br />
Jahrgänge der vor 1914<br />
Geborenen eine stark anschwellende<br />
Woge von Abiturienten.<br />
Aus Abiturienten<br />
werden Examinierte, die natürlich<br />
darauf hoffen, ihre<br />
Mühen des Studiums (oft<br />
als „Werkstudent“, so die<br />
neue Erfahrung vermögensloser<br />
Bürgerkinder) würden<br />
mit einer angemessenen Arbeit<br />
belohnt. Aber die krisengeschüttelte<br />
deutsche Wirtschaft<br />
konnte auch vor der<br />
Großen Krise niemals genug<br />
passende Positionen bieten. Um 1930 war<br />
das Angebot an Uni-Absolventen zwei- bis<br />
dreimal so groß wie die Nachfrage.<br />
Hätte es das Wort schon gegeben,<br />
man hätte auch damals von einer „Generation<br />
Praktikum“ sprechen können: Eine<br />
ganze Alterskohorte arbeitsloser Akademiker<br />
harrte notgedrungen bei den Eltern<br />
aus und entwickelte einen fundamentalen<br />
Groll gegen „das System“ der Republik, die<br />
offenbar außerstande war, ihrem qualifizierten<br />
Nachwuchs angemessene Entfaltungsmöglichkeiten<br />
zu bieten.<br />
Im Februar 1928, also lange vor dem Schock<br />
des „Schwarzen Freitags“ im Oktober 1929,<br />
gab es in Deutschland erstmals drei Millionen<br />
Arbeitslose. Anfang 1930 begann<br />
dann die Höllenfahrt in den Abgrund einer<br />
bis dahin unvorstellbaren Depression.<br />
Auf deren Tiefpunkt zählte man acht Millionen<br />
Arbeitslose (wenn man der offiziellen<br />
Statistik die plausible Dunkelziffer hinzufügt).<br />
Am schwersten traf die Arbeitslosigkeit<br />
die 18- bis 30-Jährigen. Aber auch<br />
die ganz Jungen sahen sich in hoffnungsloser<br />
Lage: 1931 standen 717 000 Volksschulabsolventen<br />
nur 160 000 Lehrstellen<br />
offen. 1932 konstatierten Sozialhygieniker<br />
eine verschleierte Hungersnot in den<br />
Großstädten.<br />
Die Weimarer Republik stand mit ihrem<br />
sozialstaatlichen Instrumentarium<br />
der Großen Krise völlig hilflos gegenüber.<br />
Ausgelegt auf 800 000 Fälle, erlebte die<br />
1927 geschaffene Arbeitslosenversicherung<br />
ihr vorhersehbares Desaster. Die panikartigen<br />
Notverordnungen der Reichsregierung<br />
von 1931 an trafen ganz besonders<br />
die jungen Arbeitslosen, weil sie weitgehend<br />
auf Familienunterstützung verwiesen<br />
wurden. 1932 lebte ein Großteil der<br />
jungen Generation zwischen Existenzminimum<br />
und Armut.<br />
Über die seelische Landschaft der Krisen-Jugend<br />
gibt es eindrucksvolle literarische<br />
Zeugnisse: Erich Kästners Roman<br />
„Fabian“ (1931) und Ödön von Horváths<br />
Drama „Kasimir und Karoline“ (1932)<br />
handeln beide vom Scheitern privater<br />
Liebesbeziehungen wegen Arbeitslosigkeit<br />
der jungen Generation. Auch Siegfried<br />
Sommers stark autobiografisch geprägter<br />
Krisenroman „Und keiner weint<br />
mir nach“ (1953) erzählt drastisch von<br />
der Hoffnungslosigkeit junger Arbeitsloser<br />
um 1932: „Der Leo hatte schon zwei<br />
Karten vollgestempelt. Seit einem Jahr bekam<br />
er jetzt am Freitag fünf Mark sechzig.<br />
Das heißt, für ihn waren es nur eine Mark<br />
sechzig, weil ja die blinde Großmutter daheim<br />
auch ihren Anteil an der Arbeitslosigkeit<br />
vom Leo haben musste. Das verstand<br />
er schon. Für eine Mark und sechzig<br />
Pfennig wöchentlich kann sich aber ein<br />
junger Mensch nur wenig vom Leben<br />
kaufen.“<br />
Siegfried Sommers Protagonist, der<br />
Elektrolehrling Leo Knie, nimmt sich am<br />
Ende das Leben. Tatsächlich schnellte in<br />
Deutschland die Zahl der Suizide von 1930<br />
an dramatisch nach oben.<br />
Als Antwort auf die Hoffnungslosigkeit<br />
der arbeitslosen jungen Leute entwickelte<br />
die deutsche Jugendbewegung die Idee<br />
des „Freiwilligen Arbeitsdiensts“, den die<br />
Reichsregierung ab 1931 in ihre Arbeitsbeschaffungspolitik<br />
integrierte. Was aber<br />
nichts daran änderte, dass die Entfremdung<br />
98 <strong>Cicero</strong> 12.2012
von der Demokratie weiter fortschritt: Die<br />
extrem republikfeindlichen Flügelparteien,<br />
die KPD und Hitlers NSDAP, übten mit<br />
ihren totalitären Lebensentwürfen vom<br />
Jahr 1930 an eine enorme Anziehungskraft<br />
auf die Altersjahrgänge zwischen 20<br />
und 35 aus. Zumal beide Strömungen in<br />
der Großen Krise zunehmend als „junge“<br />
Parteien galten.<br />
Insbesondere die „Hitlerbewegung“<br />
vermittelte eine kampfeslustige Jugendlichkeit.<br />
Ihre Propaganda richtete sich<br />
offensiv gegen die als hilflos denunzierten<br />
Honoratioren der Republik. Besonderen<br />
Anklang fand die betonte Jugendlichkeit<br />
der NSDAP bei den Studenten.<br />
Noch vor den großen Erfolgen bei den<br />
allgemeinen Wahlen hatte der Nationalsozialistische<br />
Studentenbund an fast allen<br />
deutschen Universitäten die Mehrheit in<br />
den Studentenausschüssen erobert. Und<br />
die SA bestand vor 1933 zu zwei Dritteln<br />
aus jungen Arbeitern. Zum politischen<br />
Schicksal mit welthistorischen Folgen<br />
wurde das Zusammenspiel von Krise, Jugendarbeitslosigkeit<br />
und NS-Propaganda<br />
mit dem Jahr 1930: Es rückten zum ersten<br />
Mal geburtenstarke Jahrgänge in die<br />
Wählerschaft ein, die in der Weimarer Zeit<br />
politisch sozialisiert worden waren. Die<br />
NSDAP holte unter ihnen den Löwenanteil<br />
an Erstwählern.<br />
Was dann folgte, ist bekannt. Es ist Teil<br />
des deutschen Verhängnisses, auch wenn<br />
es von der Mehrzahl der Deutschen zunächst<br />
als positive Wende missverstanden<br />
worden war. Hitler, einmal an der <strong>Macht</strong><br />
seit dem 30. Januar 1933, nutzte alle Instrumente<br />
seiner Diktatur zur Überwindung<br />
der Arbeitslosigkeit – wohl wissend,<br />
dass nur dies, nicht das abstruse Programm<br />
der NSDAP, ihn legitimieren konnte. Von<br />
der Militarisierung zur expansiven Kreditschöpfung,<br />
von der Arbeitsbeschaffung<br />
durch große Staatsbauten bis zur Aufüstung,<br />
vom erzwungenen Lohnstopp bis zur<br />
Manipulation von Statistiken, vom exzessiven<br />
Aufblähen des Staats- und Parteiapparats<br />
bis zur pausenlosen propagandistischen<br />
Zukunftsbeschwörung reichte der<br />
Katalog der NS-Konjunkturpolitik. Und<br />
der Diktator hatte auch noch Glück: Schon<br />
Ende 1932 hatte die Depression in Europa<br />
ihren Tiefpunkt erreicht; ganz unabhängig<br />
von Staatsinterventionen kam die europäische<br />
Wirtschaft langsam wieder in Fahrt.<br />
Als die Arbeitslosigkeit binnen dreier Jahre<br />
verschwand und Vollbeschäftigung einkehrte,<br />
verschaffte dies der Hitler-Diktatur<br />
einen Loyalitätsfundus, aus dem sie bis<br />
tief in den Krieg hinein zehren konnte.<br />
„Die Wirtschaft ist unser Schicksal“:<br />
Das hat Walther Rathenau 1921 dem Jahrhundert<br />
ins Stammbuch geschrieben. Der<br />
Satz ist heute so wahr wie damals. Bedeutet<br />
er deshalb auch, dass sogar die starken<br />
europäischen Demokratien der Gegenwart<br />
gefährdet werden könnten durch verzweifelte<br />
Jugendliche? Am 6. Oktober 2012 jedenfalls<br />
wandte sich der griechische Ministerpräsident<br />
Antonis Samaras mit einem<br />
dramatischen Appell an die europäischen<br />
Geldgeber. Was er sagte, zielte auf das historische<br />
Gewissen Deutschlands. Samaras<br />
warnte vor einem Absturz Griechenlands<br />
ins Chaos, sollte seine Regierung scheitern.<br />
Er verglich die griechische Situation<br />
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mit jener am Ende der Weimarer Republik.<br />
Ohne europäisches Entgegenkommen<br />
sei die griechische Gesellschaft bedroht<br />
vom Aufstieg einer „rechtsextremistischen,<br />
man könnte auch sagen faschistischen<br />
Neonazi-Partei“.<br />
Droht „Weimar“, drohen Aufstände,<br />
droht das Erstarken totalitärer Kräfte, weil<br />
wir uns einer neuen „verlorenen Generation“<br />
gegenübersehen? Ein Rundblick über<br />
die Brennpunkte der Jugendarbeitslosigkeit<br />
ergibt ein anderes, widersprüchliches Bild.<br />
2011, im Jahr des arabischen Frühlings,<br />
flackerten in den europäischen Wohnzimmern<br />
die Fernsehbilder erregter Demonstrationen.<br />
Manche Beobachter orakelten danach<br />
vom Überspringen des<br />
rebellischen Funkens und<br />
von einer kommenden Jugendrevolution<br />
in den Krisenländern.<br />
Dafür sprach:<br />
Nach einem Internetappell<br />
gingen am 15. Mai 2011 in<br />
ganz Spanien Hunderttausende<br />
auf die Straße, um gegen<br />
die hohe Arbeitslosigkeit,<br />
gegen Korruption, Bankenmacht<br />
und das Versagen der<br />
großen Parteien zu demonstrieren.<br />
Zwei Tage später besetzten<br />
Demonstranten trotz<br />
Verbots die symbolträchtige<br />
Puerta del Sol in Madrid – jenen<br />
Platz, auf dem 1931 die<br />
zweite Republik ausgerufen worden war.<br />
Vier Wochen hielten die Besetzer durch,<br />
angefeuert durch Ermutigungen auf Facebook<br />
und Twitter. Aber die spanische Gesellschaft<br />
im Ganzen schloss sich nicht an.<br />
Als sich dies offenbarte, wurden die<br />
Zelte abgebrochen, wurde der Müll aufgeräumt<br />
und der Boden geschrubbt. Dieser<br />
zivilgesellschaftliche Schlusspunkt scheint<br />
symptomatisch für den Charakter der politischen<br />
Jugendbewegung in den europäischen<br />
Ländern. Auch in Frankreich spielte<br />
sich der Unmut innerhalb der eingeübten<br />
demokratischen Protestformen ab. Ende<br />
Mai 2011 versammelten sich Tausende junger<br />
Franzosen am legendären Revolutionsort<br />
Place de la Bastille und forderten eine<br />
„Weltrevolution“ gegen den „internationalen<br />
Finanzkapitalismus“ und seine „Vollstrecker“<br />
in den europäischen Regierungen.<br />
Ein schmales Büchlein, der Ende Oktober<br />
2010 veröffentlichte Aufruf „Indignezvous“<br />
(„Empört euch“) des 93-jährigen<br />
Keine Krise<br />
wird das<br />
Bewusstsein,<br />
„einer Welt“<br />
anzugehören,<br />
aus den<br />
Köpfen der<br />
europäischen<br />
Jugend<br />
verbannen<br />
können<br />
Résistance-Helden Stéphane Hessel, befeuerte,<br />
millionenfach verbreitet, die Lust am<br />
zivilen Ungehorsam. Gleichwohl verebbte<br />
die Aufregung, trotz allerlei Scharmützeln<br />
mit der Polizei, nach einigen Wochen. Im<br />
Kern ging es den Bastille-Demonstranten<br />
auch nicht um den Griff nach der <strong>Macht</strong><br />
(wie noch im Pariser Mai des Jahres 1968),<br />
sondern viel eher um den Ausbau des französischen<br />
Sozialstaats.<br />
Das GroSSreinemachen an der Puerta del<br />
Sol und das Versickern der „Empörung“ in<br />
Paris sprechen eine deutliche Sprache. Die<br />
Geschichte der deutschen zwanziger Jahre<br />
wiederholt sich nicht. Trotz allen Zorns wegen<br />
der Arbeitslosigkeit weiß<br />
auch der harte Kern der politisch<br />
mobilen jungen Leute,<br />
dass der Sturm auf irgendein<br />
Gebäude, eine „Bastille“,<br />
nichts am globalen Wirtschaftssystem<br />
ändern kann.<br />
Anonyme Wirtschaftsmacht,<br />
die sich in Sekundenbruchteilen<br />
durch Glasfasernetze<br />
verbreitet und die Welt der<br />
Industriekulturen beherrscht,<br />
kann man nicht mit Hausbesetzungen<br />
bedrohen. Aus<br />
den Parteien gibt es für den<br />
Jugendzorn keine Allianzangebote.<br />
Und keine europäische<br />
Partei bietet glaubwürdige<br />
ideologische Alternativen zur Mixtur<br />
aus globaler Wirtschaft und nationalem<br />
Sozialstaat an. Anders als in der Weimarer<br />
Republik gibt es weit und breit keine<br />
Partei, die offen für eine Abschottung der<br />
nationalen Wirtschaft, geschweige denn<br />
für eine Diktatur wirbt. Die großen extremen<br />
Bewegungen des 20. Jahrhunderts<br />
sind diskreditiert: Verbrechen und Katastrophe<br />
des Nationalsozialismus sind im Gedächtnis<br />
der ganzen Welt ebenso präsent<br />
wie der unrühmliche Zusammenbruch des<br />
Kommunismus.<br />
Unverblümte Demokratiefeindschaft,<br />
ob von links oder rechts, ist in Europa gesellschaftlich<br />
verpönt und widerspricht den<br />
Verfassungen. Darum bedienen sich die extremistischen<br />
Parteien – auch wenn sie im<br />
Inneren offenkundig antidemokratisch<br />
sind – zumeist eines populistischen Potpourris.<br />
Jedoch haben es diese Polemiken<br />
gegen die Globalisierung, gegen das postnationale<br />
Zeitalter, den gesellschaftlichen<br />
Wandel und die Migration nirgendwo<br />
vermocht, ein Zukunftsbild zu formen,<br />
das milieuübergreifend attraktiv werden<br />
konnte – auch dies ein krasser Unterschied<br />
zur deutschen Situation der zwanziger<br />
Jahre. Gerade die junge Generation<br />
ist durch die digitalen Medien, durch eine<br />
Mobilität über Staatengrenzen hinweg, zutiefst<br />
globalisiert. Keine Krise wird das Bewusstsein,<br />
„einer Welt“ anzugehören, aus<br />
den Köpfen der europäischen Jugend vertreiben<br />
können.<br />
Bisher hat keine extremistische Partei<br />
eine Brücke zum Jugendprotest bauen<br />
können – was sicher auch am schlechten<br />
Image solcher Organisationen im heutigen<br />
Europa liegt. In keinem Staat und zu<br />
keinem Zeitpunkt konnten rechts- oder<br />
linksextremistische Parteien seit 1990<br />
aufgrund ihrer Wahlergebnisse den Bestand<br />
der demokratischen Verfassungsstaaten<br />
gefährden. Stets hatten demokratische<br />
Parteien einen Vorsprung von über<br />
70 Prozentpunkten vor „Antisystemparteien“<br />
– was temporäre Koalitionen mit<br />
extremistischen Kräften leider nicht überall<br />
verhindert. Aber regelmäßig zerbrachen<br />
die unheiligen Allianzen mit Rechtsextremen<br />
nach etwa der Hälfte ihrer Amtszeiten<br />
an der Regierungsunfähigkeit der Juniorpartner.<br />
Linksextreme Parteien wiederum<br />
erlangten nach 1990 in fünf Ländern Regierungsbeteiligung,<br />
allerdings ohne den<br />
Nimbus einer „großen Alternative“ wie der<br />
messianische Kommunismus der zwanziger<br />
Jahre.<br />
Die jungen Europäer verbindet eine<br />
tiefe Skepsis gegenüber allen politischen<br />
Angeboten. Das macht sie immun gegen<br />
die Botschaften aller Parteien. Wenn man<br />
niemandem die Lösung unserer großen<br />
Probleme zutraut, können auch die Extremen<br />
nicht profitieren.<br />
Vielleicht existiert bei aller Skepsis gegenüber<br />
den Verhältnissen aber auch ein<br />
instinktiver Optimismus. Die demografische<br />
Entwicklung in den europäischen<br />
Ländern wird über kurz oder lang dazu<br />
führen, dass jeder junge Europäer dringend<br />
gebraucht wird – mag die Wartezeit<br />
bis dahin noch so unbefriedigend sein.<br />
Christoph Stölzl<br />
ist Historiker und leitet die<br />
Hochschule für Musik Franz Liszt<br />
in Weimar<br />
Foto: privat<br />
100 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Für alle, die auch gedanklich viel herumkommen.<br />
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| K a p i t a l | K o m m e n t a r<br />
Mathe mit Merkel<br />
Deutschland fordert harte<br />
Einschnitte für Schuldensünder –<br />
und gönnt sich selbst soziale<br />
Wohltaten. Der Wahnsinn hat<br />
Methode: In Brüssel tut Berlin<br />
derzeit alles, um eigene Fehler<br />
zu verbergen<br />
Von Eric Bonse<br />
E<br />
uropa spricht deutsch. Dieser vorlaute Ausspruch<br />
von Unions-Fraktionschef Volker Kauder ist mittlerweile<br />
zum geflügelten Wort geworden. Zwar versucht<br />
Kanzlerin Angela Merkel, die deutsche Dominanz in der Eurokrise<br />
mit netten Worten an die Hilfsempfänger in Athen oder<br />
Madrid vergessen zu machen. Doch spätestens, seit die britische<br />
Financial Times Berlin zur heimlichen Hauptstadt Europas erklärte,<br />
ist klar, dass Kauder recht hatte.<br />
Wie sehr Europa der deutschen Agenda folgt, wird sich wieder<br />
beim EU-Gipfel Mitte Dezember zeigen. Merkel will noch<br />
schärfere Kontrollen für Schuldensünder einführen. Obwohl der<br />
umstrittene neue Fiskalpakt noch nicht einmal in Kraft ist, sollen<br />
die Eurostaaten ihre Budgethoheit weiter einschränken. Von<br />
einem Supersparkommissar ist die Rede und davon, dass es Finanzhilfen<br />
nur noch gegen Reformen geben soll. „Konditionalität“<br />
nennt Merkel das.<br />
Nur Deutschland soll von der Überwachung ausgenommen<br />
werden. Offiziell werden die strengen neuen Regeln natürlich<br />
auch für das größte und mächtigste Land der Eurozone gelten.<br />
Doch hinter den Kulissen hat Bundesfinanzminister Wolfgang<br />
Schäuble dafür gesorgt, dass Berlin keine Auflagen oder gar<br />
Strafen fürchten muss. Deutschland rechnet sich schön – und<br />
gefährdet damit die Glaubwürdigkeit der eigenen Politik.<br />
Hier ist nicht vom Budgetdefizit die Rede, das pünktlich zur<br />
Wahl gegen null streben soll. Das sieht zwar schön aus, ist jedoch<br />
unrealistisch, wie Schäuble selbst einräumte. Die milliardenschweren<br />
Wahlgeschenke dürften ihm einen Strich durch die<br />
Rechnung machen. Die Rede ist vielmehr von dem Versuch, Finanzrisiken<br />
durch Rechentricks zu verschleiern.<br />
Deutlich wurde dies zum ersten Mal im Frühjahr, als die<br />
EU‐Kommission ihren Bericht über wirtschaftliche Ungleichgewichte<br />
vorlegte. Zwölf Länder bekamen Rügen, weil sie mehr<br />
importieren als exportieren und das Leistungsbilanzdefizit mehr<br />
als 4 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachte. Doch Deutschland<br />
blieb ungeschoren, obwohl der deutsche Überschuss in<br />
derselben Größenordnung liegt. Ein Überschuss sei nicht so<br />
schlimm wie ein Defizit, argumentierte Währungskommissar<br />
Olli Rehn.<br />
Was war passiert? Auf Drängen Schäubles hatte Rehn für<br />
Überschussländer eine andere Grenze gezogen als für die Defizitländer.<br />
Wie es der Zufall so will, liegt sie bei 6 Prozent – Berlin<br />
blieb 2011 mit 5,9 Prozent knapp darunter. Das Handelsblatt<br />
Illustration: Jan Rieckhoff<br />
102 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Foto: privat<br />
klagte über „zweierlei Maß“. Schließlich sei das Zuviel des einen<br />
das Zuwenig des anderen – auch Berlin hätte eine Rüge verdient.<br />
Doch Rehn sah darüber hinweg. Das könnte sich schon bald<br />
rächen. Denn im laufenden Jahr ging der deutsche Überschuss<br />
nochmals in die Höhe – in US‐Dollar gerechnet ist er sogar größer<br />
als in China. Das ruft nicht nur Ökonomen auf den Plan,<br />
die den ungehemmten deutschen Exporten eine Mitschuld an<br />
den Defiziten des Südens geben. Es dürfte auch Brüssel alarmieren,<br />
denn wahrscheinlich wird die Sechs-Prozent-Hürde gerissen.<br />
Schon im Februar 2013 droht deshalb ein Rüffel der<br />
EU‐Kommission. Deutschland, das das gesamtwirtschaftliche<br />
Gleichgewicht sogar im Grundgesetz verankert hat, stünde<br />
dann als Überschusssünder am Pranger. Doch mit Strafen rechnet<br />
im Wahljahr niemand. Merkel und Schäuble scheint der<br />
deutsche Regelverstoß denn auch nicht zu stören, im Gegenteil:<br />
Dem ersten Sündenfall folgt nun, wenn nicht alles täuscht,<br />
gleich der zweite.<br />
Diesmal geht es an die Substanz: die öffentlichen Finanzen.<br />
Gemeinsam mit Frankreich hat Deutschland einen Entwurf der<br />
EU‐Kommission verwässert, der für mehr Transparenz in der<br />
Schuldenstatistik sorgen sollte. Ausgerechnet das Land, das sich<br />
sonst gern als Schulmeister geriert und größtmögliche Transparenz<br />
fordert, will nun eigene Risiken vertuschen.<br />
Der Vorschlag der Kommission sah vor, nicht nur wie bisher<br />
die aktuellen staatlichen Finanzlöcher zu melden, sondern endlich<br />
auch Schattenhaushalte auszuleuchten. Künftig sollen die<br />
EU‐Länder ihre Daten über Staatsgarantien für wackelige Banken,<br />
öffentliche Zuschüsse für private Bauprojekte sowie „implizite<br />
Pensionsverpflichtungen“ in den Sozialkassen vorlegen. Nur mit<br />
diesen Zahlen sei eine nachhaltige Finanzpolitik möglich, sagen<br />
die Experten von der Statistikbehörde Eurostat in Luxemburg.<br />
Für eine nachhaltige Finanzpolitik sind natürlich auch Merkel<br />
und Schäuble. Dennoch sträubten sie sich gegen die neuen<br />
Regeln. Man habe nichts dagegen, Daten über abgeschlossene<br />
Perioden zu liefern, hieß es in Berlin. Pensionszahlungen seien<br />
dagegen mit Unsicherheiten behaftet; schließlich gehe es um<br />
Projektionen in die Zukunft. Eine „seriöse Verwendung“ dieser<br />
Zahlen sei nicht möglich.<br />
Noch steht Deutschland in der EU‐Schuldenstatistik relativ<br />
gut da. Doch als Land mit der ältesten Bevölkerung und der geringsten<br />
Geburtenrate könnte sich dies bald ändern. Die Bundesregierung<br />
hat die Folgen vermutlich längst berechnet – doch<br />
die EU‐Kommission in Brüssel soll davon vorerst nichts wissen.<br />
0012_anz_210x70_herreweghe_X3.pdf 05.11.2012 14:16:58 Uhr<br />
Erst 2015 sollen auch implizite Pensionsverpflichtungen offengelegt<br />
werden. Die Zahlen zu „Public Private Partnerships“<br />
(PPP) werden erst 2018 folgen – und dann auch nur im Drei-<br />
Jahres-Rhythmus und nicht, wie sonst üblich, jedes Jahr. Der<br />
deutsche Europaabgeordnete Sven Giegold spricht von einem<br />
„Rückschritt“. Gerade hier, fürchtet der grüne Finanzexperte, ticke<br />
eine Zeitbombe.<br />
Denn viele Autobahnen, Flughäfen und Verwaltungsgebäude<br />
werden zwar von privaten Unternehmen betrieben, aber<br />
von der öffentlichen Hand vorfinanziert. Und das ist oft mit<br />
erheblichen Risiken verbunden, wie das Debakel um die Elbphilharmonie<br />
in Hamburg gezeigt hat. Giegold warnt, dass der<br />
Steuerzahler nicht nur mit versteckten Lasten aus deutschen<br />
Projekten rechnen muss. Auch die Rettung von Krisenländern<br />
wie Portugal oder Spanien könnte sich wegen kostspieliger und<br />
intransparenter von Staat und Privatwirtschaft mischfinanzierter<br />
Projekte verteuern.<br />
Berlin rechnet also nicht nur die eigenen Schulden schön,<br />
sondern auch versteckte Risiken der Eurokrise. Die deutsche<br />
Bundesregierung verhindert eine ehrliche europäische Schuldenstatistik<br />
– und fordert gleichzeitig, Schuldensünder strenger zu<br />
kontrollieren und härter zu bestrafen. Berlin gönnt sich kurz<br />
vor der Wahl ein paar kostspielige Wohltaten – und verschweigt<br />
beharrlich die Risiken, die in der eigenen Bilanz lauern. Auf<br />
Dauer kann das nicht gut gehen.<br />
Merkel und Schäuble müssen sich entscheiden: Entweder<br />
wollen sie maximale Kontrolle und Transparenz – dann muss<br />
auch Deutschland seine verdeckten Risiken offenlegen und das<br />
chronische wirtschaftliche Ungleichgewicht abbauen. Oder sie<br />
beanspruchen eine Vorzugsbehandlung. Dann sollten sie aber<br />
auch aufhören, die Partner ständig zu schurigeln. Andernfalls<br />
werden die nämlich eines Tages anfangen, die Ursache für die eigenen<br />
Defizite in den deutschen Überschüssen zu suchen. Ganz<br />
falsch lägen sie damit nicht.<br />
Europa spricht deutsch, okay. Aber dass es auch deutsch<br />
rechnet, ist dann wohl doch zu viel verlangt.<br />
Eric Bonse<br />
überzeugter Europäer aus Düsseldorf, beobachtet seit 2004<br />
das Raumschiff Brüssel als Korrespondent<br />
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| S a l o n<br />
Erfahren, um frei zu sein<br />
Achim Kaufmann ist einer der aufregendsten Jazzpianisten – trotzdem gibt es kaum Aufnahmen von ihm<br />
von Tobias Lehmkuhl<br />
D<br />
as Klavier ist im modernen Jazz in<br />
den Hintergrund getreten. Klar,<br />
da sind die Helden von einst,<br />
Chick Corea oder Herbie Hancock oder<br />
der unerschöpfliche Keith Jarrett; es gibt<br />
die Riege der smarten, jungen Hipster, die<br />
mit ihrer nicht immer sehr originellen, eklektischen<br />
Musik regelmäßig Kammermusiksäle<br />
füllen; Brad Mehldau mit Namen,<br />
Jason Moran oder Vijay Iyer.<br />
Geht man dagegen an jene Orte, an<br />
denen neue Wege beschritten werden, wo<br />
kompromisslos nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten<br />
gesucht wird, ob in Berlin<br />
oder Brooklyn, dann fällt doch auf, dass –<br />
wie schon zu Zeiten Louis Armstrongs oder<br />
Charlie Parkers – die wichtigen Impulse<br />
von Bläsern ausgehen, von Klarinettisten<br />
wie Rudi Mahall oder von Trompetern wie<br />
Thomas Heberer.<br />
Einer aber fällt da aus dem Rahmen,<br />
ein Pianist, der sich dem Mainstream strikt<br />
verweigert und stetig an einer eigenständigen<br />
musikalischen Handschrift arbeitet:<br />
Achim Kaufmann. So ist es auch nicht verwunderlich,<br />
dass er, wenn man ihn in seiner<br />
Wohnung im Berliner Wedding zwischen<br />
riesigen Zimmerpflanzen nach seinen Helden,<br />
nach pianistischen Vorbildern fragt,<br />
fast abwehrend reagiert: „Natürlich Bud<br />
Powell, Monk oder Herbie Nichols, aber<br />
eigentlich alle. Alle, die gut sind.“ Was aber<br />
ist gut? „Das kann auch afrikanische Musik<br />
sein oder Bob Dylan. Wenn es vielschichtig<br />
ist, wenn man immer wieder Neues in ihr<br />
entdecken kann. Klang, Rhythmus. Das<br />
kann man natürlich auch durch Komposition<br />
erreichen. Aber mein Mittel ist eben<br />
die Improvisation.“<br />
Wobei, wenn man die Ohren aufspannt,<br />
auch der Einfluss klassischer Musik<br />
in Kaufmanns Spiel erkennbar ist: Haydn,<br />
Schönberg, Messiaen. Mit Anfang zwanzig<br />
habe ihn, als er in Dortmund Zivildienst<br />
leistete, sein dortiger Lehrer Frank Wunsch<br />
auch an vorbarocke Klavierliteratur herangeführt.<br />
Von Haus aus hätte er ohnehin<br />
die besten Voraussetzungen gehabt,<br />
Vater wie Mutter seien klassische Pianisten,<br />
aber als Kind habe es mit dem Unterricht<br />
nie so recht geklappt. Erst als er<br />
mit 15 Jahren den Jazz für sich entdeckte,<br />
begann er ernsthaft, sich mit dem Klavier<br />
auseinanderzusetzen.<br />
Jetzt steht ein Flügel der Firma Ibach<br />
in seiner Wohnung, ein schönes Stück<br />
aus den zwanziger Jahren, mit warmem<br />
Klang, „ziemlich heruntergespielt allerdings,<br />
ich müsste ihn mal aufarbeiten lassen.<br />
Oder eben doch ein modernes Instrument<br />
kaufen.“<br />
Kaufmann spricht ruhig und zurückhaltend.<br />
Er gehört zu jenen, die erst einmal<br />
hören, was die anderen so machen, anstatt<br />
sofort selbst in die Tasten zu hauen.<br />
Ein Beobachter, der den Dingen geduldig<br />
beim Wachsen zusieht. So ist, obwohl er in<br />
diesem Jahr 50 wurde, sein Oeuvre doch<br />
recht überschaubar. Einige hochgelobte<br />
Trio- und Quartetteinspielungen, eine Soloplatte,<br />
und gerade ist eine neue CD erschienen,<br />
„Geäder“ (gligg records), die<br />
vierte Einspielung mit zwei langjährigen<br />
Weggefährten, dem Saxofonisten Frank<br />
Gratkowski und dem Bassisten Wilbert<br />
de Joode.<br />
Vollständig frei improvisiert, wie diese<br />
Aufnahme ist, hat man über weite Strecken<br />
doch den Eindruck, dass das alles geplant<br />
und durchdacht sein muss, so organisch<br />
wirkt die Musik, so selbstverständlich entwickelt<br />
sich das eine aus dem anderen, so<br />
eng verzahnt ist das Zusammenspiel.<br />
Achim Kaufmann lebt ein Paradox: Er<br />
ist Perfektionist und setzt sich doch mit jedem<br />
Konzert wieder dem Neuen aus, der<br />
stetigen Überraschung. Man brauche viel<br />
Erfahrung, um frei spielen zu können, sagt<br />
er. So habe es zum Beispiel lange gedauert,<br />
bis er begriffen habe, dass man zuweilen<br />
auch offensiv gegen das Spiel der Mitmusiker<br />
anspielen müsse, damit insgesamt etwas<br />
Gutes entstehe.<br />
Diese Erfahrungen hat Kaufmann vor<br />
allem in Amsterdam gesammelt, wo er<br />
13 Jahre lang lebte, bevor er 2009 nach<br />
Berlin ging. Weil es größer ist, wie er sagt,<br />
weil es hier größere Wohnungen gebe, die<br />
man sich auch als Jazzpianist leisten könne,<br />
und natürlich, weil die Szene hier so lebendig<br />
sei, weil so viele Freunde in Berlin<br />
lebten. Dabei stützt er sein Kinn auf die<br />
Pianistenhand, den langen weißen Daumen<br />
fast bis zum Ohr gespreizt. Im Hintergrund<br />
steht die riesige Schallplattensammlung<br />
im Regal, bemalte Holztafeln<br />
hängen an den Wänden, und von draußen<br />
scheint die Weddinger Sonne hinein.<br />
Ein Fotograf kommt und bittet den Pianisten,<br />
seine Nase doch bitte etwas weiter<br />
nach rechts zu wenden. „Nur die Nase“,<br />
sagt Kaufmann, „das dürfte schwer werden.“<br />
Später setzt er sich an den Ibach und<br />
spielt für die Besucher ein paar Takte. Erst<br />
klingt es nach Fingerübungen, die chromatische<br />
Tonleiter rauf und runter. Dann<br />
aber nehmen Kaufmanns Finger eine seltsame<br />
Abzweigung, ein paar Töne prallen<br />
zusammen, und es klingt so, als seien sie<br />
selbst erstaunt, einander hier zu treffen. Da<br />
aber sind die Hände schon weitergewandert.<br />
Für lange Abschiede bleibt keine Zeit.<br />
Und auch wir müssen wieder gehen.<br />
Tobias Lehmkuhl<br />
ist Literaturkritiker und Autor.<br />
Zuletzt erschien sein Reiseessay<br />
„Land ohne Eile – Ein Sommer<br />
in Masuren“ (Rowohlt Berlin)<br />
Fotos: Andreas Pein, privat (Autor)<br />
106 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Sein Ibach-Flügel sei<br />
„ziemlich heruntergespielt“,<br />
meint Achim Kaufmann.<br />
Als Kulisse für ein Foto<br />
taugt das gute Stück<br />
jedoch allemal<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 107
| S a l o n<br />
Ein Clown fürs Leben<br />
Herbert Fritsch, mit 60 Jahren höchst erfolgreicher Nachwuchsregisseur, inszeniert den „Revisor“ in München<br />
von irene bazinger<br />
L<br />
achen im Theater? Kann schon mal<br />
passieren, aber normalerweise gilt<br />
es als suspekt und der Hochkultur<br />
unwürdig. Allerdings nicht für Herbert<br />
Fritsch, der sich in seinen Inszenierungen<br />
kein bisschen davor fürchtet, dort als Unterhaltungskünstler<br />
und Boulevardtheatermacher<br />
zu gelten. Er findet nämlich, dass<br />
es kein besseres Mittel als Lachen gibt, um<br />
die Zuschauer aufzuwecken, anzusprechen,<br />
mitzureißen. Und Fritsch muss es wissen,<br />
war er doch jahrelang einer der wüstesten<br />
deutschen Schauspieler, der seit den neunziger<br />
Jahren an der Berliner Volksbühne<br />
als exhibitionistische Rampensau vom<br />
Dienst so berühmt wie berüchtigt wurde.<br />
Natürlich sei dieser wilde Erfolg toll gewesen,<br />
sagt er heute, und rührt ganz gesittet<br />
in seinem koffeinfreien Cappuccino<br />
in einem unauffälligen Berliner Café, aber<br />
eigentlich beruhte er auf einem Missverständnis.<br />
Denn was er da als Extremschauspieler<br />
zeigte, hatte bald mehr mit Druck<br />
als mit Lust zu tun, mehr mit Fremdbestimmung<br />
als mit Spielfreude, und das ertrug<br />
er kaum: „Die wollten von mir immer<br />
den Wahnsinn haben und riefen: ‚Los,<br />
Herbert, dreh durch!‘“ Längst hält Fritsch<br />
nichts mehr von solchen sinnfreien Exzessen:<br />
„Meine Inszenierungen haben zwar<br />
auch eine gewisse Obszönität, doch die<br />
ist hochgeschlossen.“<br />
Eine tiefe Krise, in die er 2007 nach<br />
dem unschönen Abschied von der Volksbühne<br />
geriet, bewältigte er, indem er selbst<br />
zu inszenieren begann. Es waren kleine<br />
Provinzhäuser zwischen Halle und Luzern,<br />
die ihn erstmals nach Jahren wieder stolz<br />
auf das machten, was er so trieb: „Seit ich<br />
Regie führe, habe ich das Gefühl, dass ich<br />
endlich im Theater angekommen bin. Ich<br />
fühle mich da jetzt unglaublich wohl und<br />
bin bei der Arbeit sehr glücklich. Das war<br />
ich als Schauspieler nie wirklich!“ Gleich<br />
zwei seiner Inszenierungen – Ibsens „Nora“<br />
aus Oberhausen und Hauptmanns „Der<br />
Biberpelz“ aus Schwerin – wurden 2011<br />
zum Theatertreffen eingeladen, ein Jahr<br />
später dann „Die (s)panische Fliege“, ein<br />
Schwankklassiker von Franz Arnold und<br />
Ernst Bach, den er als gefeierter Heimkehrer<br />
an der Volksbühne mit grandioser wie<br />
disziplinierter Komik in Szene gesetzt hatte.<br />
Herbert Fritsch galt mit seinen 60 Jahren<br />
plötzlich als der erfolgreichste Nachwuchsregisseur<br />
aller Zeiten.<br />
Nichts auf seinem langen Weg dahin<br />
war freilich geradlinig. 1951 in Augsburg<br />
geboren, hatte es ihn als Jugendlichen mit<br />
katholischer Prägung gehörig aus der Bahn<br />
geworfen. Er nahm Drogen, lebte auf der<br />
Straße, brach in Apotheken ein, um an<br />
seinen Stoff zu kommen. Ein kluger Jugendrichter<br />
verschonte ihn vor allzu langer<br />
Haft und formulierte die Bewährungsauflage,<br />
unverzüglich eine Ausbildung anzufangen.<br />
Fritsch bewarb sich an der Otto-<br />
Falckenberg-Schule in München, wurde<br />
aufgenommen und nach dem Abschluss<br />
an große Häuser engagiert. Deshalb ist<br />
es nicht pathetisch, wenn er erklärt: „Das<br />
Theater hat mir das Leben gerettet.“<br />
Auch andere Künste haben es ihm inzwischen<br />
angetan, er zeichnet, fotografiert, hat<br />
das intermediale Kunstprojekt „hamlet x“ –<br />
Shakespeares Drama in 111 Videoskulpturen<br />
– realisiert, erfand eine patentierte<br />
Kamera zur dreidimensionalen analogen<br />
Verzerrung. Er ist ein hinreißend kreativer<br />
Grenzüberschreiter, der auf die Frage<br />
nach seinem Beruf ohne Zögern mit „Ein<br />
Spieler!“ antwortet. Die Komödien und<br />
Tragödien und zunehmend auch Opern,<br />
die ihm angeboten werden, will er nicht<br />
interpretieren, sondern theatralisch überhöht<br />
und physisch entfesselt auskosten.<br />
Er möchte die Zuschauer nicht belehren.<br />
Sie sollen nicht beifällig mit den Köpfen<br />
nicken, weil er über die Krise oder die<br />
Globalisierung auch nicht mehr weiß als<br />
sie: „Ich bin ein Komödiant, ein Clown,<br />
ich kann nur mit Lust auf die Welt reagieren.<br />
Wenn es mir gelingt, die Leute zum<br />
Lachen oder Weinen zu bringen und vielleicht<br />
sogar in einen Rausch zu versetzen,<br />
bin ich glücklich.“<br />
Darum interessiert ihn an Nikolai Gogols<br />
Gesellschaftssatire „Der Revisor“ das<br />
stücktragende Thema Korruption überhaupt<br />
nicht, denn alles Nötige dazu könne<br />
man täglich in der Zeitung lesen. Das 1836<br />
uraufgeführte Werk hat schließlich in all<br />
der Zeit nichts an den Missständen in<br />
Russland oder sonstwo geändert. Da wäre<br />
es absurd zu erwarten, ihm würde das gelingen,<br />
wenn es in seiner Regie am Münchner<br />
Residenztheater vor Weihnachten Premiere<br />
haben wird.<br />
Lieber denkt Herbert Fritsch an Ernst<br />
Bloch, der einmal gesagt hat, dass der kürzeste<br />
Weg der Umweg ist, und überlegt sich<br />
für die Inszenierung in seinem Bühnenbild<br />
mit Lichteffekten und Musik eine Laborsituation.<br />
Darin lässt er die Darsteller<br />
dann wie Chemikalien aufeinander reagieren:<br />
„Mal sehen, was passiert!“ Und wenn<br />
sie stürzen und fallen und ausrutschen und<br />
stolpern und gegen die Wände rennen und<br />
durch und durch zum Lachen sind, wird<br />
er sie – „so ist ja das Leben schlechthin“ –<br />
euphorisch ermuntern, statt sie zu bremsen<br />
wie die von ihm mittlerweile gehassten<br />
Konzeptregisseure seiner früheren Jahre:<br />
„Die Schauspieler sollen sich präsentieren<br />
und den Leuten zeigen, dass man Lust<br />
empfinden kann an dem, was man tut –<br />
nicht bloß im Porno, sondern auch einfach<br />
so.“<br />
Irene Bazinger<br />
ist Theaterkritikerin und<br />
veröffentlichte Bücher über die<br />
Regisseurinnen Andrea Breth<br />
und Ruth Berghaus<br />
Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz, Max Lautenschläger (Autorin)<br />
108 <strong>Cicero</strong> 12.2012
„Das Theater<br />
hat mir das<br />
Leben gerettet“<br />
Herbert Fritsch<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 109
| S a l o n<br />
„Lasst mich euer<br />
Monster sein“<br />
Der Regisseur Emir Kusturica über den Bau einer serbischen Idealstadt und seine Verachtung für Hollywood<br />
Seit mehr als fünf Jahren hat Emir Kusturica<br />
keinen Film mehr gedreht. Was die Kunst betrifft,<br />
ist es ruhig geworden um den Mann,<br />
der das osteuropäische Kino seit Mitte der<br />
Achtziger geprägt hat wie kaum ein anderer.<br />
Dafür fällt „Kusto“, so nennen sie ihn auf<br />
dem Balkan, immer häufiger durch politische<br />
Provokationen auf, die bisweilen auch vor<br />
dumpfem Nationalismus nicht Halt machen.<br />
Noch am Vorabend ist er mit seiner Rockband<br />
„No Smoking Orchestra“ in einem Budapester<br />
Club aufgetreten, hat Schlagzeug gespielt, gesungen,<br />
getanzt und sich zum Abschluss vom<br />
Publikum für großserbische und antiamerikanische<br />
Parolen feiern lassen. Am Morgen<br />
danach schleicht der 57-Jährige in Jeans und<br />
Holzfällerhemd wie ein müder Bär über den<br />
Hotelflur. Zum Interview in der Lobby bestellt<br />
er zwei doppelte Espressi und ein großes<br />
Glas Wasser. „Um die Maschine in Gang zu<br />
kriegen“, wie er sagt.<br />
H<br />
err Kusturica, Sie besitzen in<br />
den serbischen Bergen eine<br />
eigene kleine Ortschaft namens<br />
Küstendorf, wo Sie sich gerade selbst zum<br />
Bürgermeister auf Lebenszeit ernannt haben.<br />
Wie lebt es sich als Alleinherrscher?<br />
Sehr gut. Es gibt keine Wahlen und keine<br />
Demokratie in meinem Reich. Ziemlich<br />
totalitaristisch, oder? Ich würde trotzdem<br />
sagen, dass ich ein relativ liebenswerter<br />
Diktator bin. Aber das behaupten wohl<br />
alle Diktatoren von sich.<br />
Küstendorf wurde 2004 zunächst als<br />
Kulisse für Ihren Film „Das Leben ist ein<br />
Wunder“ erbaut. Danach haben Sie sich<br />
selbst dort niedergelassen.<br />
Das Dorf liegt umringt von Bergen irgendwo<br />
im Niemandsland Serbiens, und<br />
es ist komplett unabhängig von der Außenwelt.<br />
Es gibt ein paar Geschäfte und<br />
Restaurants, wir betreiben Fischzucht<br />
und bauen Gemüse an. Von McDonald’s<br />
und Coca-Cola keine Spur – man<br />
kommt sich vor wie in einer verrückten<br />
Parallelwelt.<br />
Ihre Idealwelt?<br />
Vielleicht. Für die Dreharbeiten habe ich<br />
50 Häuser aus Pinienholz restaurieren<br />
und in die Berge transportieren lassen.<br />
Natürlich bestimme ich als Bürgermeister,<br />
wer darin leben darf. Küstendorf ist<br />
mein persönliches Utopia. Ein traditioneller<br />
serbischer Ort, der sich der Globalisierung<br />
widersetzt.<br />
Sie sind doch Weltbürger, haben jahrelang<br />
in den USA und Frankreich gelebt. Verbinden<br />
Sie mit dem Begriff Globalisierung nur<br />
Schlechtes?<br />
Natürlich, was soll gut daran sein? Ich<br />
will nicht, dass unsere kulturelle Vielfalt<br />
stirbt. Ich bin für ein Europa der Regionen,<br />
in dem jede Kultur ihre Eigenheiten<br />
behält. Außerdem bedeutet Globalisierung<br />
für mich, dass wir dem Warenuniversum<br />
Amerikas verfallen. Vor lauter<br />
verlockenden Dingen, die es zu kaufen<br />
gibt, weiß der Mensch immer weniger,<br />
wo ihm der Kopf steht. Früher ging<br />
man in die Kirche, um zu Gott zu beten,<br />
heute rennt man zum nächsten Einkaufszentrum<br />
wie die Kuh zum Futtertrog.<br />
Dies allein Amerika in die Schuhe zu schieben,<br />
ist doch sehr plakativ.<br />
Aber die Amerikaner haben irgendwann<br />
das Patent für die Erzeugung von Bedürfnissen<br />
entwickelt. Erst zeigten sie all die<br />
Verlockungen im Fernsehen, dann boten<br />
sie die Dinge im wahren Leben an.<br />
Und schon war der Mensch süchtig danach.<br />
Die Sowjets konnten im Rüstungswettstreit<br />
mithalten, aber wenn es darum<br />
ging, Marken zu entwickeln und die<br />
Menschen abhängig zu machen, haben<br />
sie versagt.<br />
Sie veranstalten in Küstendorf jeden<br />
Winter ein großes Filmfestival, um die<br />
Kultur des Balkans zu feiern. Wollen Sie<br />
dem kommerziellen Blockbusterkino damit<br />
auch eine Art osteuropäisches Independent-Kino<br />
entgegensetzen?<br />
Ja, warum nicht? Hollywood bekommt<br />
schon viel zu viel Aufmerksamkeit. Bei<br />
uns wird Hollywood im wahrsten Sinne<br />
des Wortes zu Grabe getragen. In diesem<br />
Jahr haben wir feierlich die Filmrollen<br />
von „Stirb Langsam 4“ beerdigt, dem<br />
schlechtesten Film aller Zeiten.<br />
Hollywood und Kusturica – das hat nie zusammengepasst.<br />
1986 war sein Film „Papa<br />
ist auf Dienstreise“ für einen Oscar nominiert,<br />
aber der Regisseur machte schon damals einen<br />
großen Bogen um die sogenannte Traumfabrik.<br />
Anfang der Neunziger drehte Kusturica<br />
seinen bis heute einzigen US-Kinofilm,<br />
„Arizona Dream“, der den American Way of<br />
Life aus der Sicht eines Europäers karikiert<br />
und an den Kinokassen entsprechend floppte.<br />
Seither verbindet ihn zwar eine enge Freundschaft<br />
mit seinem damaligen Hauptdarsteller<br />
Johnny Depp, doch Hollywood erzürnt ihn offenbar<br />
bis heute. Während des Gesprächs jedenfalls<br />
erwacht Kusturica bei diesem Thema<br />
plötzlich zum Leben.<br />
Warum verachten Sie Hollywood?<br />
Foto: Marcel Hartmann/Contour by Getty Images<br />
110 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Emir Kusturica stammt aus<br />
Sarajewo, wo er als „Indianer“<br />
oder „Zigeuner“ beschimpft<br />
wurde. Aber „für mich war<br />
das nie eine Beleidigung“<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 111
| S a l o n<br />
Weil es ein riesiger Zirkus ist. Dieser<br />
ganze Starkult geht mir auf die Nerven.<br />
Ich bin in einem der ärmsten Stadtteile<br />
Sarajewos aufgewachsen, wo man Kinder<br />
wie mich als „Indianer“ oder „Zigeuner“<br />
beschimpft hat. Für mich war das nie<br />
eine Beleidigung, denn ich wusste, dass<br />
alle in der Stadt Angst vor den Zigeunern<br />
hatten. Aber ich war immer Außenseiter,<br />
habe mich deshalb auch später nie als<br />
Star gefühlt. Wenn ich Leute auf dem roten<br />
Teppich sehe, möchte ich noch heute<br />
lieber Teil einer Gang sein, die Steine auf<br />
diese Leute schmeißt, anstatt selbst über<br />
den Teppich laufen zu müssen.<br />
Schauen Sie sich überhaupt noch<br />
Hollywood-Filme an?<br />
Kaum. Das meiste von dem, was Hollywood<br />
produziert, ist dumpf und oberflächlich.<br />
Es ist Müll, nichts als Unterhaltungsware.<br />
Und als solche macht es leider<br />
ebenfalls süchtig, nur leider nach den falschen<br />
Dingen.<br />
Was meinen Sie damit?<br />
Ich meine Geld, <strong>Macht</strong>, Ruhm – in Filmen<br />
wird suggeriert, dass all dies glücklich<br />
macht. Und die Leute glauben das.<br />
Sogar die einfache Putzfrau aus Belgrad<br />
träumt heute davon, ein Star zu sein.<br />
Was ist falsch daran? Ging es im Kino<br />
nicht schon immer darum, Träume zu<br />
wecken?<br />
Wozu, wenn es die falschen Träume sind?<br />
Auch ich bin mit Hollywood aufgewachsen.<br />
Aber auch mit den Filmen von Lubitsch<br />
und Bergman, Männer, die sich<br />
bei aller Fantasie immer auch mit gesellschaftlichen<br />
Realitäten auseinandergesetzt<br />
haben. Vergleicht man die heutigen<br />
Blockbuster mit den Werken von damals,<br />
dann ist Hollywood gestorben. Das Sinnbild<br />
für Hollywood ist heute der Arsch<br />
von Angelina Jolie.<br />
Diese Frau scheint es Ihnen angetan zu<br />
haben. Als Jolie Anfang des Jahres ihr Regiedebüt<br />
„In the Land of Blood and Honey“<br />
in Belgrad vorstellen wollte, drohten Sie<br />
damit, sich nach Südamerika abzusetzen.<br />
Weil ihr Film eine einzige Katastrophe ist.<br />
Er ist das typische Beispiel für den missratenen<br />
Versuch eines Hollywood-Stars,<br />
der nach Europa kommt, um einen Film<br />
über europäische Geschichte zu drehen.<br />
Emir Kusturicas Idyll in den serbischen Bergen: In Küstendorf ist er Alleinherrscher und<br />
widersetzt sich standhaft den ästhetisch-kulturellen Zumutungen der Globalisierung<br />
Ich will nicht schlecht über sie als Person<br />
reden. Wenn ich in Cannes bin, dann<br />
sehe ich, wie Brad Pitt ihr die Tür aufhält.<br />
Sie ist eine hübsche Frau. Aber sie sollte<br />
keine Filme über Themen drehen, von<br />
denen sie keine Ahnung hat. Haben Sie<br />
den Streifen gesehen?<br />
Ja. Er handelt von der Beziehung eines<br />
serbisch-orthodoxen Soldaten und einer<br />
bosnisch-muslimischen Künstlerin, die<br />
während des Bürgerkriegs in Jugoslawien<br />
zwischen die Fronten geraten.<br />
Wobei Jolie die Rollen von Gut und Böse<br />
klar verteilt: Die Bosnier sind die Opfer,<br />
während die Serben Zivilisten erschießen,<br />
Babys aus Fenstern schmeißen und<br />
Frauen vergewaltigen. Das ist wie in einem<br />
Western – hier sind die unschuldigen<br />
Indianer und dort die skrupellosen<br />
Cowboys. Wer einen Film über einen<br />
Bürgerkrieg dreht, der muss doch beide<br />
Seiten beleuchten, dem Drama wenigstens<br />
eine Shakespear’sche Dimension geben<br />
– und so einen Konflikt nicht einfach<br />
in Schwarz-Weiß-Malerei auflösen.<br />
Einen Film zu drehen, ist wie ein Haus<br />
zu bauen: Man muss genau wissen, welchen<br />
Stein man auf den anderen setzt. Jolie<br />
ist keine gute Architektin.<br />
Das allein hätte Sie wohl kaum zu der<br />
Überlegung veranlasst, medienwirksam<br />
die Flucht vor ihr zu ergreifen.<br />
Das Drehbuch dieses Filmes ist nicht nur<br />
unfassbar dumm, sondern auch politisch<br />
gefährlich, weil es vorgibt, sich an historischen<br />
Ereignissen zu orientieren – dabei<br />
aber die Geschichte falsch erzählt. Es beruht<br />
auf einer historischen Lüge.<br />
Leugnen Sie, dass es die systematischen<br />
Vergewaltigungen, Konzentrationslager<br />
und Massenerschießungen durch die<br />
serbische Armee gegeben hat?<br />
Nein. Aber ich verstehe auch nicht, warum<br />
sich alle Welt bis heute nur auf die<br />
Verbrechen der Serben stürzt. Ich hätte<br />
mir gewünscht, dass auch die Verbrechen<br />
bosnischer Politiker und Soldaten gezeigt<br />
werden. So ist der Film nichts weiter als<br />
jene probosnische und imperialistische<br />
Foto: White Writer<br />
112 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Propaganda, die man in Westeuropa<br />
und in den USA seit Jahren zu hören<br />
bekommt.<br />
Den umgekehrten Vorwurf müssen Sie<br />
sich von bosnischer Seite gefallen lassen.<br />
Ihrem mehrfach prämierten Film „Underground“,<br />
der ebenfalls vom Jugoslawienkrieg<br />
handelt, wird bis heute eine zu<br />
serbienfreundliche Haltung unterstellt.<br />
In Bosnien gibt es viele Leute, die Lügen<br />
über mich erzählen.<br />
Auch in anderen Ländern wird Kusturica<br />
Nationalismus vorgeworfen. Er selbst<br />
tut nichts, um diesen Vorwurf zu entkräften.<br />
Als ein kroatischer Journalist ihn 2009<br />
auf sein Verhältnis zu Jugoslawiens ehemaligem<br />
Präsidenten Milošević ansprach, verprügelte<br />
und verjagte er diesen eigenhändig<br />
aus seinem Dorf. Soweit kommt es diesmal<br />
nicht. Kusturica übt sich zunächst sogar in<br />
so demonstrativer Gelassenheit, dass es fast<br />
an Pose grenzt.<br />
Stört es Sie nicht, in den vergangenen<br />
Jahren häufiger aufgrund politischer Haltungen<br />
im Gespräch zu sein als aufgrund<br />
Ihrer Arbeit als Regisseur?<br />
Nicht mehr. Eine Zeit lang habe ich<br />
mich damit abgestrampelt, all diese Lügen<br />
richtig zu stellen. Aber irgendwann<br />
habe ich mir gesagt: Okay, hier bin ich.<br />
Denkt und redet über mich, was ihr<br />
wollt. <strong>Macht</strong> mich und meine Filme<br />
schlecht. Lasst mich euer Monster sein.<br />
Man stellt mich als Nationalisten dar?<br />
Wie soll jemand wie ich, dessen Familie<br />
die unterschiedlichsten Ursprünge hat,<br />
denn Nationalist sein?<br />
Mit Ihrer Band „No Smoking Orchestra“<br />
besingen Sie den mutmaßlichen<br />
serbischen Kriegsverbrecher Radovan<br />
Karadžić. Eine Zeile in dem Song „Wanted<br />
Man“ lautet: „Wer Dabić nicht mag, der<br />
kann uns mal“. Dabić ist bekanntermaßen<br />
der Deckname, unter dem Karadžić bis zu<br />
seiner Verhaftung untergetaucht war.<br />
Wir besingen ihn nicht. Wir nehmen<br />
bei jedem Konzert einen anderen Namen.<br />
Mal ist es Dabić, mal ist es Chávez,<br />
mal Gaddafi. Der Song handelt von Aussätzigen.<br />
Und Karadžić war ohne jeden<br />
Zweifel ein Aussätziger, spätestens seit er<br />
untergetaucht war. Mich haben solche<br />
Typen immer in den Bann gezogen.<br />
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zu einer der wichtigsten Metropolen, mit einer unvergleichbaren<br />
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Sie sind fasziniert von einem Mann, der für<br />
Kriegsverbrechen wie das Massaker von<br />
Srebrenica verantwortlich gemacht wird?<br />
Noch mal: Ich glorifiziere Karadžić überhaupt<br />
nicht. Ich habe ihn auch nie getroffen.<br />
Aber mich fasziniert, wie er es<br />
geschafft hat, sich eine neue Identität zuzulegen,<br />
sogar als Arzt zu arbeiten und<br />
jahrelang wie ein ganz normaler Bürger<br />
unter Leuten zu sein, obwohl ihn die<br />
ganze Welt gesucht hat.<br />
Kusturica zieht genüsslich an seiner Zigarette.<br />
Er scheint sich in der Rolle des Provokateurs<br />
zu gefallen. Manchmal so sehr, dass<br />
man Zweifel haben muss, ob er selbst wirklich<br />
glaubt, was er sagt. Doch auf die Kritik<br />
an seinem neuesten Projekt Andrićgrad angesprochen,<br />
wird Kusturica auf einmal so laut,<br />
dass Hotelgäste am Nebentisch mithören können.<br />
Er meint jedes Wort ernst.<br />
„Mich fasziniert,<br />
wie Karadžić es<br />
geschafft hat, sich<br />
eine neue Identität<br />
zuzulegen und als<br />
Arzt zu arbeiten“<br />
Mehr noch als mit Ihrer Band provozieren<br />
Sie derzeit durch den Bau einer weiteren<br />
Fantasiestadt namens Andrićgrad, die<br />
bald am Ufer der Drina eröffnet wird.<br />
Sie ist benannt nach meinem Idol, dem<br />
berühmten Nobelpreisträger Ivo Andrić,<br />
dessen Buch „Die Brücke über die Drina“<br />
ich dort verfilmen möchte. Im Gegensatz<br />
zu Küstendorf wird diese Stadt deshalb<br />
nicht aus Holz, sondern komplett aus authentischem<br />
Stein bestehen.<br />
Und sie wird nicht auf serbischem, sondern<br />
auf bosnischem Boden erbaut. Eine<br />
historische serbische Stadt ausgerechnet<br />
in Višegrad, jenem Ort, der vor dem Krieg<br />
vor allem von Muslimen bewohnt wurde.<br />
Wollen Sie die Geschichte nachträglich<br />
umschreiben?<br />
Nein, dieser Vorwurf ist Propaganda<br />
bosnischer Politiker. Er stammt von all<br />
den Klageweibern, die sich noch immer<br />
nicht von der Kriegsvergangenheit lösen<br />
können und mal wieder gegen mich<br />
hetzen. Sie sagen, ich würde ein potemkinsches<br />
Dorf errichten, hinter dem<br />
mein serbischer Größenwahn steckt. Ich<br />
baue dort ein Kino, ein Theater, ein Hotel,<br />
ein Einkaufszentrum. Was ist daran<br />
nationalistisch?<br />
Beim Werben für das Projekt haben Sie<br />
die Stadt, genau wie Küstendorf, als ein<br />
ideales Miniserbien beschrieben.<br />
Bei Andrićgrad geht es nicht nur um Serbien.<br />
Beim Bau wurden sämtliche Kulturen<br />
und Stilrichtungen vom Klassizismus<br />
bis heute berücksichtigt.<br />
Die Stadt beherbergt ausschließlich eine<br />
serbisch-orthodoxe Kirche. Eine Moschee<br />
sucht man vergebens.<br />
Weil es an diesem Ort nie eine Moschee<br />
gegeben hat. Genauso wenig wie eine katholische<br />
Kirche.<br />
Während des Krieges wurden im Rahmen<br />
ethnischer Säuberungen Tausende bosnischer<br />
Muslime von diesem Ort vertrieben,<br />
Hunderte Menschen in der Drina ertränkt.<br />
Auch von serbischen Kriegsverbrechen an<br />
diesem Ort erzählt Andrićgrad nichts.<br />
Ich wollte eine Stadt erschaffen, die so<br />
ist, wie Ivo Andrić sie einst beschrieben<br />
hat. Wissen Sie, warum es auf dem ganzen<br />
Balkan bis heute kaum öffentliche<br />
Plätze gibt? Weil die griechische Tradition<br />
der öffentlichen Plätze, an denen sich das<br />
Volk trifft, unter der Herrschaft der Osmanen<br />
abgeschafft wurde. Andrićs Buch<br />
handelt von dem Leben in Višegrad, bevor<br />
die Osmanen kamen. Ich will den<br />
Menschen zeigen, wie diese Zeit war.<br />
Und nicht, was während des Krieges dort<br />
geschehen ist.<br />
Einige Ihrer Geldgeber für das Projekt<br />
leugnen die Kriegsverbrechen der<br />
serbischen Armee bis heute. Haben Sie<br />
nicht das Gefühl, mit den falschen Leuten<br />
Geschäfte zu machen?<br />
Nein, denn Andrićgrad ist ein Ort, der<br />
für etwas Gutes stehen soll. Der Schriftsteller<br />
Andrić dachte weltoffen und völkerverbindend,<br />
und in dieser Tradition<br />
soll auch Andrićgrad stehen. Es soll eine<br />
multikulturelle Stadt sein. Ein Treffpunkt<br />
für alle Menschen dieser Region.<br />
Kusturica wurde als Sohn einer muslimischbosniakischen<br />
Familie in Sarajewo geboren<br />
und dort jahrelang als Held hofiert – bis er<br />
sich vom Milošević-Regime vereinnahmen<br />
ließ und später zum serbisch-orthodoxen<br />
Glauben konvertierte. In seiner Autobiografie<br />
notiert er hierzu: „Mein Vater war ein<br />
Atheist und hat sich immer als ein Serbe beschrieben.<br />
Meine Familie wurde nur zu Muslimen,<br />
weil sie es mussten, um die Herrschaft<br />
der Türken zu überleben. In der Tiefe sind<br />
wir immer Serben geblieben.“<br />
Sie haben die längste Zeit Ihres Lebens<br />
im Vielvölkerstaat Jugoslawien verbracht.<br />
Heute leben die verschiedenen Ethnien<br />
dort weitgehend voneinander getrennt.<br />
Ein brüchiger Frieden?<br />
Man muss sich nichts vormachen: Die<br />
Beziehungen sind noch immer vergiftet.<br />
Die ganze Region bleibt ein Pulverfass.<br />
Die muslimische Elite in Bosnien hat den<br />
Ausgang des Krieges nie akzeptiert. Wenn<br />
wir eines Tages wieder einen Krieg erleben,<br />
dann von dieser Seite.<br />
Als prominenter Serbe gießen Sie damit<br />
zusätzlich Öl ins Feuer.<br />
Ich sage nur, was ich denke. Und ich<br />
denke, dass viele <strong>Macht</strong>haber in Bosnien<br />
nie einverstanden waren mit der politischen<br />
Lösung, die nach dem Krieg gefunden<br />
wurde. Das Land ist wirtschaftlich<br />
am Boden, die Unterstützung westeuropäischer<br />
Staaten schwindet. Selbstverständlich<br />
wird die Zivilbevölkerung nie<br />
wieder Krieg wollen, und hoffentlich<br />
wird es auch nie dazu kommen. Aber ich<br />
glaube, dass einige <strong>Macht</strong>haber durchaus<br />
ein Interesse daran hätten.<br />
Sie haben einmal angekündigt, nie wieder<br />
in Ihre Heimatstadt Sarajewo zurückzukehren.<br />
Bleiben Sie dabei?<br />
Als vor 20 Jahren die Belagerung Sarajewos<br />
begann, war ich in Paris, um meinen<br />
Film „Arizona Dream“ zu drehen. Wäre<br />
ich zu dieser Zeit zurückgekehrt, hätte<br />
man mich vermutlich erschossen, weil<br />
ich mich weder zur einen noch zur anderen<br />
Seite bekennen wollte. Seitdem herrschen<br />
in meinem Heimatort vor allem<br />
Lügen über meine Person. Warum soll<br />
ich noch einen Fuß in eine Stadt setzen,<br />
wo man mich permanent dämonisiert?<br />
Ich habe eine neue Heimat gefunden. Da<br />
will ich bleiben.<br />
Das Gespräch führte Claas Relotius<br />
114 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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der Sammler<br />
Mit viel Geld, hoher Sachkenntnis und noch größerem Selbstbewusstsein rollen<br />
einige Privatleute den Kunstmarkt von hinten auf. Sie diktieren die Preise, bestimmen<br />
die Trends – und machen inzwischen sogar den Museen Konkurrenz<br />
von malte herwig<br />
116 <strong>Cicero</strong> 12.2012
„Wir kaufen die<br />
Sachen frisch und<br />
feucht“: Christian<br />
Boros und seine<br />
Frau Karen in<br />
ihrem Berliner<br />
Kunstbunker<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 117
| S a l o n | k u n s t m a r k t<br />
„Das Schöne, Gute und Wahre in der Kunst ist mir egal“: Der Hamburger Unternehmer<br />
Harald Falckenberg ist das Paradebeispiel des selbstbewussten Sammlers<br />
Kathrin Weishaupt-Theopold ist<br />
in Ulm, die als Public-Private-<br />
A<br />
us dem alten Reichsbahnbunker<br />
an der Reinhardtstraße dringen<br />
seltsame Geräusche. Es brummt,<br />
es tickt, es knallt. Die Tür ist angelehnt.<br />
Was ist da los?<br />
So richtig laut war es hier zuletzt in<br />
den neunziger Jahren, als sich im Bunker<br />
noch die Berliner Techno-Szene zu Houseund<br />
Breakbeat-Partys traf. Davor diente<br />
das Gebäude den Alliierten als Gefängnis<br />
und der DDR-Regierung als Bananenspeicher.<br />
2003 kauften der Wuppertaler Werbefachmann<br />
Christian Boros und seine<br />
Frau Karen das Ungetüm. Sie ließen sich<br />
ein Penthouse aufs Dach stellen und die<br />
Räume darunter umbauen, um dort fortan<br />
auf 3000 Quadratmetern in 80 Räumen<br />
ihre Sammlung zeitgenössischer Kunst zu<br />
präsentieren.<br />
Jetzt hört man hier Leuchtstoffröhren<br />
summen, deren Sound die Künstlern<br />
Alicja Kwade mit Mikrofonen und Lautsprechern<br />
verstärkt hat. Auch abgebrühten<br />
Ravern dürfte in Klara Lidéns „Teenage<br />
Room“ noch ein Schauer über den Rücken<br />
laufen, wenn nach dem Schließen der Tür<br />
eine Axt herunterknallt. In einem anderen<br />
Raum schleift ein Autorad geräuschvoll<br />
an der Bunkerwand entlang. Titel des<br />
Werks von Michael Sailstorfer: „Zeit ist<br />
keine Autobahn“.<br />
Kunst kann ganz schön laut sein.<br />
Ein Stockwerk höher hämmert eine<br />
Schlagbohrmaschine. Doch das ist reine<br />
Handwerkskunst. Zwei Arbeiter installieren<br />
Sailstorfers „Wolken“: ein Knäuel aus<br />
riesenhaften Autoschläuchen, die von der<br />
niedrigen Decke baumeln. Keine leichte<br />
Aufgabe angesichts der meterdicken Wände<br />
des 1943 erbauten Hochbunkers, einer architektonischen<br />
Kreuzung aus Nazibeton<br />
und Neorenaissance. „Mit dem richtigen<br />
Werkzeug ist das kein Problem“, sagt Hausmeister<br />
Kasimir und wiegt seine Bohrmaschine<br />
liebevoll in den Händen.<br />
Nach vier Jahren, 7500 Führungen und<br />
120 000 Besuchern wird nun die neue Ausstellung<br />
eröffnet, und mit dem Bohren dicker<br />
Bunkerwände war es nicht getan. Um<br />
den sechs Meter hohen Baum des chinesischen<br />
Künstlers Ai Weiwei ins Gebäude<br />
hieven zu können, mussten sogar die Balkonbrüstungen<br />
abgeschraubt werden.<br />
Wer tut so etwas und warum?<br />
Christian Boros erwartet von der Kunst<br />
Aufschluss über die Gegenwart: „Wenn ich<br />
heute durch Galerien gehe, dann ist das für<br />
Fotos: Oliver Mark (Seiten 116 bis 117)<br />
118 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Direktorin der Kunsthalle Weishaupt<br />
Partnership betrieben wird<br />
Frieder Burda, dessen Sammlung in dem nach ihm benannten Museum in Baden‐Baden<br />
gezeigt wird, vor Sigmar Polkes Bild „Amerikanisch-Mexikanische Grenze“<br />
Fotos: Heike Ollertz/Agentur Focus/Jonathan Meese: Balthys Zimmer/<br />
Max Bill: Werke/Sigmar Polke: Amerikanisch-Mexikanische/ © The Estate of<br />
Sigmar Polke, Cologne/© VG Bild-Kunst, Bonn 2012, (Seiten 118 bis 119)<br />
mich, als ob ich die Tagesthemen sehe.“ Boros<br />
war einer der Ersten, die sich für den<br />
heute längst etablierten Olafur Eliasson interessierten.<br />
Zeitgenössische Kunst, glaubt<br />
der 47-Jährige, sei „ein tool, um die Gegenwart<br />
zu verstehen“. Was zum Zeitpunkt<br />
des Kaufes älter als ein Jahr ist, das ist für<br />
ihn und seine Frau Schnee von gestern.<br />
„Wir kaufen die Sachen frisch und feucht,<br />
schließlich sind wir keine Briefmarkensammler.“<br />
Dafür wird er in Kunstkreisen<br />
schon mal als „Trüffelschwein“ bezeichnet.<br />
Die Kunst soll ihn zum Nachdenken und<br />
Hinterfragen anregen – ein Ziel, das im Einklang<br />
mit den kreativen Herausforderungen<br />
von Boros’ Arbeit als Werber steht: „Ich<br />
sammle Kunst, die ich nicht verstehe.“<br />
Kunstsammler gab es schon immer.<br />
Aber noch nie stellten so viele ihre Schätze<br />
in eigenen, privat finanzierten Museumsbauten<br />
aus wie heute. Der Boros-Bunker<br />
ist vielleicht der verrückteste, auf jeden<br />
Fall aber einer der spektakulärsten privaten<br />
Kunsttempel, wie sie in den vergangenen<br />
Jahren auch in der Bundesrepublik aus<br />
dem Boden geschossen sind.<br />
„Noch nie zuvor wurden so viele Ausstellungshäuser<br />
von Privatpersonen gegründet<br />
wie heute“, konstatiert Gerda Ridler.<br />
Die Kuratorin hat gerade ein wegweisendes<br />
Buch veröffentlicht, in dem sie am Beispiel<br />
von zehn renommierten Sammlungen<br />
die Erfolgsrezepte privater Kunstinitiativen<br />
untersucht.<br />
In der Öffentlichkeit genießen Sammler<br />
geradezu mythischen Status. Wer sein<br />
Geld nicht für vulgäre Luxusjachten oder<br />
Sportwagen ausgibt, sondern für Kunst,<br />
beweist schon allein durch diese Wahl<br />
kultivierte Kennerschaft. Das Ansehen des<br />
Sammlers zehre nicht allein von dessen Besitz,<br />
schreibt der Kunstwissenschaftler Walter<br />
Grasskamp, sondern auch von seiner<br />
„Konsumkompetenz“.<br />
„Als Sammler werde ich behandelt wie<br />
ein Professor“, sagt der Immobilienmagnat<br />
Hans Grothe, „nach dem Motto: Das ist ein<br />
kultureller Mensch, nicht ein Kaufmann!“<br />
Geld ist quantifizierbar, Kunstwerke<br />
hingegen sind etwas Besonderes – der exklusive<br />
Charakter einer Kunstsammlung<br />
vermittelt die Authentizität der Sammlerpersönlichkeit.<br />
Wer seine Werke dann<br />
öffentlich ausstellt, mag noch so bescheiden<br />
sein – eine Portion Exhibitionismus<br />
gehört im wahrsten Wortsinne dazu.<br />
„Wenn ein Sammler sagt, er sei nicht eitel“,<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 119
| S a l o n | k u n s t m a r k t<br />
Bettina Würth und ihr Vater Reinhold in der Johanniterhalle,<br />
einer Dependance der „Kunsthalle Würth“ in Schwäbisch-Hall<br />
„Wenn ein Sammler sagt, er<br />
Julia Stoschek, eine der<br />
findet Julia Stoschek, eine der jüngsten<br />
deutschen Sammlerinnen, „dann lügt er<br />
wahrscheinlich.“<br />
Der Berliner Museumsdirektor Wilhelm<br />
Bode wusste sich die Sehnsucht reich<br />
gewordener Bürger nach gesellschaftlichem<br />
Aufstieg schon früh zunutzezumachen.<br />
1883 organisiert<br />
Bode anlässlich der Silberhochzeit<br />
des Kronprinzenpaars<br />
in Berlin eine Ausstellung<br />
mit 300 Kunstwerken<br />
aus dem Besitz von 50 Privatsammlern.<br />
Bodes Strategie<br />
war klar: Die Sammler hatten<br />
das Kapital, die Kompetenz<br />
lag beim Museum. Nun<br />
musste man die beiden nur<br />
noch zusammenführen. So<br />
beriet der Museumsdirektor den Unternehmer<br />
James Simon erst beim Ankauf seiner<br />
Kunstschätze, um ihn dann zu überreden,<br />
seine komplette Sammlung den Staatlichen<br />
Museen von Berlin zu schenken. Simon<br />
75 Prozent der<br />
Objekte in<br />
kommunalen<br />
Museen sind<br />
Schenkungen<br />
oder Dauerleihgaben<br />
wurde zum größten Mäzen, den die Berliner<br />
Museen je hatten.<br />
Bode war dabei durchaus bereit, den<br />
edlen Spendern entgegenzukommen. Er<br />
präsentierte die Sammlung meist nicht<br />
in neuer Hängung, sondern so, wie sie<br />
im privaten Umfeld des jeweiligen<br />
Stifters aussah. Auf<br />
diese Weise wurde dessen<br />
Privatgeschmack zum Maß<br />
aller Dinge geadelt und der<br />
Stifter zum Repräsentanten<br />
einer kulturellen Elite. Ein<br />
Zugeständnis, das schon<br />
damals bei Kritikern nicht<br />
immer auf Gegenliebe stieß,<br />
die von Museen eine größere<br />
Eigenständigkeit erwarteten.<br />
Einer Statistik des Deutschen<br />
Städtetags zufolge sind mindestens<br />
75 Prozent der Objekte in kommunalen<br />
Museen Schenkungen, Überlassungen,<br />
Stiftungen oder Dauerleihgaben. Allein<br />
im Jahr 2010 fanden 370 000 Besucher<br />
den Weg in private Kunstmuseen – mit<br />
steigender Tendenz. Auf dem Markt zeitgenössischer<br />
Kunst laufen private Sammler<br />
den öffentlichen Museen bald den Rang<br />
ab. 100 Jahre nach der ersten Blütezeit der<br />
Berliner Museen erlebt der Stiftergeist in<br />
ganz Deutschland eine Renaissance. Diesmal<br />
allerdings profitieren die öffentlichen<br />
Museen weniger davon, denn immer mehr<br />
Sammler suchen ihr Glück auf eigene Faust.<br />
Seit 2000 sind allein im deutschsprachigen<br />
Raum knapp 40 Institutionen von<br />
internationalem Renommee entstanden.<br />
Sie konkurrieren auf Augenhöhe mit den<br />
Privatmuseen von Charles Saatchi in London,<br />
Viktor Pinchuk in Kiew oder François<br />
Pinault in Venedig. Für Robert Fleck,<br />
den Ausstellungsmacher und Intendanten<br />
der Bundeskunsthalle Bonn, ist Deutschland<br />
gar eine „Großmacht“ auf dem Weltmarkt<br />
zeitgenössischer Kunstsammlungen<br />
und gilt nach den USA als das Land mit<br />
den einflussreichsten und kaufkräftigsten<br />
Sammlern.<br />
Foto: Oliver Mark<br />
120 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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Foto: Oliver Mark/Julia Stoschek Collection, Düsseldorf/<br />
©Paul Pfeiffer/Courtesy of the artist and the project, New York<br />
sei nicht eitel, dann lügt er wahrscheinlich“:<br />
jüngsten deutschen Sammlerinnen<br />
Sie besitzen Baumärkte, Werbeagenturen,<br />
Medienhäuser, kommen aus der Autozulieferungsindustrie,<br />
Medizintechnik,<br />
Biotechnologie oder haben geerbt. So vielfältig<br />
wie die Persönlichkeiten der Stifter<br />
sind auch die Rechtsformen, die Sammler<br />
ihren Kunstunternehmungen geben. Ob<br />
sie als Verein (Julia Stoschek), gemeinnützige<br />
GmbH (Boros), Aktiengesellschaft<br />
(Daros Latinamerica AG), Privatsammlung<br />
(Rolf und Erika Hoffmann, Sammlung<br />
FER Collection) oder gemeinnützige<br />
Stiftung (Museum Frieder Burda, Museum<br />
Essl) auftreten, eines haben alle Privatinstitutionen<br />
gemeinsam: Sie machen den etablierten<br />
öffentlichen Museen zunehmend<br />
Konkurrenz.<br />
Ein Grund dafür liegt in der Finanzkraft<br />
privater Sammler. Während die Ankaufsetats<br />
öffentlicher Museen immer<br />
weiter sinken, können wohlhabende Privatsammler<br />
nach eigenem Gutdünken Geld<br />
ausgeben. Der österreichische Unternehmer<br />
Karlheinz Essl eröffnete 1999 in der<br />
Nähe von Wien sein Privatmuseum, in<br />
dem unter anderem Werke von Hermann<br />
Nitsch, Georg Baselitz, Markus Oehlen,<br />
Gottfried Helnwein und Gerhard Richter<br />
gezeigt werden. Als Besitzer einer erfolgreichen<br />
Baumarktkette kann Essl beim<br />
Kunstkauf aus dem Vollen schöpfen und<br />
schätzt, „dass unser Ankaufsetat so hoch<br />
ist wie der Etat aller österreichischen Museen<br />
zusammen“.<br />
Ein anderer Grund für den Erfolg privater<br />
Kunstsammler ist ihre Unabhängigkeit.<br />
Sie brauchen keine Gremien, keine<br />
Besserwisser, keine Zeitverschwender:<br />
Sammler sind ihre eigenen Chefs und können<br />
machen, was sie wollen, wann sie wollen.<br />
Kurz: Sie können sich einen eigenen<br />
Geschmack leisten.<br />
Margit Biedermann erwarb mit 18 Jahren<br />
ihr erstes Bild im Tausch gegen eine<br />
Armbanduhr und eine Schachtel Zigaretten.<br />
Seitdem hat sie eine beachtliche<br />
Sammlung sowohl mit Werken abstrakter<br />
Kunst als auch der „Neuen Wilden“ zusammengetragen.<br />
Im 2009 eröffneten Museum<br />
Biedermann in Donaueschingen stellt die<br />
Sammlerin nicht nur etablierte Künstler<br />
wie Paolo Serra oder David Nash aus,<br />
sondern auch die Werke junger Künstler<br />
wie Andreas Kocks, Sebastian Kuhn und<br />
May Cornet.<br />
Der Mainstream interessiere sie dabei<br />
gar nicht, bekennt die Sammlerin freimütig<br />
in einem Interview: „Ich brauche kein<br />
Name-Dropping und muss keinen Gerhard<br />
Richter in meinem Museum hängen<br />
haben. Die Leute sollen bei uns Kunst entdecken,<br />
die sie in anderen Museen nicht<br />
finden können.“<br />
Auch für Peter W. Klein, der zusammen<br />
mit seiner Frau Alison das Museum<br />
Kunstwerk in Eberdingen-Nußdorf gegründet<br />
hat, richtet sich die Kaufentscheidung<br />
allein nach persönlichen Vorlieben:<br />
„Wir kaufen nur, was uns gefällt. Eine Arbeit<br />
muss uns unmittelbar berühren; das<br />
ist uns wichtiger als ein berühmter Name<br />
oder aktuelle Trends auf dem Kunstmarkt.“<br />
Nirgendwo sind Sammler dabei so<br />
frei in ihren Entscheidungen wie auf dem<br />
Markt für zeitgenössische Kunst, die noch<br />
gar nicht legitimiert ist. Nirgendwo sind<br />
Abenteuer, Entdeckungslust, Risiko so<br />
groß. Was heute entsteht, darüber muss die<br />
Geschichte erst noch ihr Urteil fällen. Einen<br />
Rembrandt kann man nur kaufen, einen<br />
jungen Künstler kann man entdecken.<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 121<br />
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„Thielemann öffnet dem Leser die<br />
Tür zum Bayreuther Festspielgraben,<br />
stellt ihm Wolfgang Wagner<br />
vor … Tiefe Einblicke.“<br />
Lucas Wiegelmann,<br />
Welt am Sonntag<br />
„Auch für Kenner keineswegs langweilig.“<br />
Kathrin Zeilmann, dpa<br />
416 S., 14 Abb., 2 Ktn. Ln. f 24,95<br />
ISBN 978-3-406-63969-2<br />
„Geniale Mischung aus Biografie<br />
über Montaigne, Auszügen aus<br />
den Essays des Philosophen und<br />
seinen Empfehlungen, wie man<br />
sein Leben am besten führt.“<br />
Westdeutsche Allgemeine Zeitung<br />
C.H.BECK<br />
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„Als Sammler werde ich behandelt wie ein Professor, nach<br />
dem Motto: Das ist ein kultureller Mensch, nicht ein<br />
Kaufmann“: der Immobilienmagnat Hans Grothe<br />
Ingvild Goetz eröffnete 1993 in München als eine der<br />
Ersten einen privaten Museumsbau. Ihre Sammlung<br />
umfasst rund 5000 Werke zeitgenössischer Kunst<br />
Wer früh in unbekannte Künstler investiert,<br />
beeinflusst mitunter sogar den Gang der<br />
Kunstgeschichte.<br />
Dass er in den siebziger Jahren als einer<br />
der ersten das Talent von Jungkünstlern<br />
wie Joseph Kosuth erkannte, brachte dem<br />
Kunstsammler und Unternehmer Friedrich<br />
Erwin Rentschler den Spitznamen<br />
„Kolumbus der Kunst“ ein. Für Rentschler<br />
bietet gerade die Zeitgenossenschaft einen<br />
besonderen Erkenntnisreiz, wie er im Gespräch<br />
mit Gerda Ridler erklärt: „Das ist<br />
es, was ich auch in der heutigen Kunst suche.<br />
Ich will unsere Zeit kennenlernen, will<br />
wissen, was los ist. Deshalb habe ich mich<br />
schon früh nach vorne gewagt.“<br />
Weiterkommen, Neuland betreten,<br />
Grenzen ausloten. Heute suchen Sammler<br />
nicht allein soziales Prestige, sie schürfen<br />
auch nach Selbsterkenntnis. Dekoratives<br />
ist verpönt, Provokation ist gefragt – und<br />
heute geradezu eine Voraussetzung, um in<br />
gut situierten, bürgerlichen Sammlerkreisen<br />
anerkannt zu werden.<br />
Beispiel Baden-Württemberg. Keine<br />
Region hat mehr Privatmuseen als das<br />
Epizentrum mittelständischen Arbeitsfleißes<br />
und braver Bodenständigkeit. Dass<br />
sie auch Kunst können, beweisen die Unternehmer<br />
im Südwesten mit zahlreichen<br />
eindrucksvollen Museumsbauten: Burda in<br />
Baden-Baden, Würth in Künzelsau, Rentschler<br />
und Weishaupt in Ulm, Bürkle in<br />
Freiburg, Grässlin in St. Georgen, Ritter in<br />
Waldenbuch.<br />
Die 2007 eingeweihte Kunsthalle<br />
Weishaupt wird als Public-Private-Partnership<br />
betrieben. Die Stadt Ulm überließ<br />
Weishaupt das Grundstück für<br />
66 Jahre in Erbpacht, bezahlt das Museumspersonal<br />
und kassiert das Eintrittsgeld.<br />
Der Sammler suchte sich den Architekten<br />
Wolfram Wöhr aus und finanzierte<br />
den Bau des so kühnen wie kühlen Kastens<br />
aus Beton und Glas, der mit wechselnden<br />
Ausstellungen bespielt wird. Dabei<br />
verkneifen sich der Heiztechnik-Industrielle<br />
Weishaupt und seine Tochter, die als<br />
Direktorin der Kunsthalle fungiert, auch<br />
manch hintersinnige Geste nicht, wie die<br />
aktuelle Ausstellung beweist. In der wie<br />
ein riesiges Schaufenster auf den Platz hinausgehenden<br />
Glasfassade spiegeln sich<br />
die Türme des Münsters. Dahinter hängt<br />
Frank Stellas Skulptur „Crotch“ – eine<br />
fünf mal zweieinhalb Meter große Vagina<br />
aus Aluminium. Ein Schelm, wer Böses<br />
dabei denkt.<br />
Auch im Museum Ritter in Waldenbuch<br />
geht es nicht immer jugendfrei zu, obwohl<br />
schon durch die räumliche Nähe zur<br />
gleichnamigen Schokoladenfabrik Unmengen<br />
junger und jüngster Besucher angezogen<br />
werden. Aus Anlass des hundertjährigen<br />
Jubiläums der Firma Ritter Sport war<br />
gerade die Ausstellung „Kunst mit Schokolade“<br />
zu sehen. Auf die Frage, ob der niedliche<br />
„Chocolate Santa with Butt Plug“ von<br />
Paul McCarthy einen Weihnachtsbaum in<br />
der Hand halte, antwortete die Führerin,<br />
das sei kein Weihnachtsbaum, das gehe in<br />
Richtung Sexspielzeug.<br />
Fotos: Winfried Rothermel/DDP Images/DAPD, Thomas Schmidt<br />
122 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Sammlern gehe es immer auch darum,<br />
erkannte schon der französische Philosoph<br />
Jean Baudrillard, durch die eigenwillige<br />
Zusammenstellung von Objekten ihre eigene<br />
Einzigartigkeit zu unterstreichen. „Im<br />
Endergebnis sammelt man immer nur sich<br />
selbst“, folgerte Baudrillard.<br />
So entstehen im Laufe der Zeit ganz<br />
unterschiedliche Kollektionen, die nicht<br />
dem kuratorischen Expertenkonsens öffentlicher<br />
Museen verpflichtet sind, sondern<br />
einzig und allein den Vorlieben ihrer<br />
Sammler. „Während das staatlich subventionierte<br />
Museum der allgemeinen und objektiven<br />
Wissensvermittlung dient“, stellt<br />
Gerda Ridler fest, „leistet sich der private<br />
Kunstsammler den Luxus von Subjektivität<br />
und Individualität.“ Die Museumsexpertin<br />
diagnostiziert gar eine neue „Emanzipation<br />
der Sammler“. Diese seien viel selbstbewusster<br />
geworden und hätten sich durch<br />
ihren Kenntnisreichtum von der Abhängigkeit<br />
öffentlicher Museen gelöst: „Wurde der<br />
Sammler früher als Amateur gesehen, so<br />
gilt er heute als Connaisseur, der seinem<br />
eigenen Urteil vertraut.“<br />
Heute kaufen Sammler nicht nur, manche<br />
kuratieren auch gleich selbst. Wer sich<br />
in der Szene nach denen umhört, die nicht<br />
nur wegen des Geldbeutels, sondern ihres<br />
Kunstverstands wegen geschätzt werden,<br />
der stößt schnell auf den Namen Ingvild<br />
Goetz. Von ihr sprechen<br />
alle mit Hochachtung. Ihre<br />
rund 5000 Werke umfassende<br />
Sammlung zeitgenössischer<br />
Kunst reicht von der Arte Povera<br />
der sechziger Jahre bis in<br />
die unmittelbare Gegenwart.<br />
1993 eröffnete Ingvild<br />
Goetz in München als eine<br />
der Ersten einen privaten<br />
Museumsbau, in dem sie<br />
ihre Sammlung der Öffentlichkeit<br />
präsentieren konnte.<br />
Auch bei den Architekten, die sie mit dem<br />
Bau ihres Museums beauftragte, bewies die<br />
Sammlerin Pioniergeist, indem sie auf ein<br />
damals kaum bekanntes, aber inzwischen<br />
weltberühmtes Team setzte. Die Architekten<br />
Jacques Herzog und Pierre de Meuron<br />
schufen ihr erstes Museum als einen<br />
geschlossenen, oberflächenbündigen Körper<br />
aus Birkenholzplatten, unbehandeltem<br />
Aluminium und mattiertem opalinweißen<br />
Glas. Durch eine Glastür gelangt man in<br />
das Büro, das zugleich als Empfangsraum<br />
Das Selbstbewusstsein<br />
der Sammler<br />
verkleinert<br />
die Kanonkompetenz<br />
der Museen<br />
dient. Die Sammlerin ist gerade auf der<br />
Berlin Art Week. Das Telefon klingelt, es<br />
ist Frau Goetz, die sich nach der Adresse einer<br />
Berliner Galerie erkundigt. Sie ist wieder<br />
auf der Jagd.<br />
Eine Auswahl ihrer Funde präsentiert<br />
Goetz in ihrem Museum, das einem auf<br />
den ersten Blick erstaunlich klein vorkommt:<br />
Der Künstler Paweł Althamer belegt<br />
drei Räume im ersten Stock und drei<br />
im Untergeschoss, die Werke von Ulrike<br />
Ottinger findet man in einem unterirdischen<br />
Anbau und im Garten. Die Konzentration<br />
auf zwei Künstler und wenige Objekte<br />
stellt jedoch eine Intimität zwischen<br />
Betrachter und Kunstwerk her, die in überfüllten<br />
Museen gar nicht erst aufkommt.<br />
Die Werke kommen ohne prätentiöse Kuratorenbeipackzettel<br />
aus, stattdessen führen<br />
Kunststudenten durch die kleine Ausstellung.<br />
Da können die Besucher genau das<br />
tun, was auch die Sammlerin tut: sich ihr<br />
eigenes Urteil über die Kunst bilden.<br />
Das gestiegene Selbstbewusstsein der<br />
Sammler bedeutet aber auch: die „Kanon-<br />
Kompetenz“ (Ridler) für zeitgenössische<br />
Kunst geht langsam von den Museumskuratoren<br />
auf die Sammler über. Mit ihren<br />
Ankaufstrategien üben sie inzwischen mehr<br />
Einfluss auf die zeitgenössische Kunstproduktion<br />
aus als die öffentlichen Museen.<br />
Zeit, sich so einen Sammler-Kurator mal<br />
aus der Nähe anzuschauen.<br />
An einem Septemberabend<br />
sitzt der Hamburger<br />
Unternehmer Harald Falckenberg<br />
in kleiner Runde<br />
im Steakhouse und macht<br />
seinem Herzen Luft, während<br />
er ein Rumpsteak verschlingt.<br />
„International ist<br />
nur noch Kitsch angesagt.<br />
Die Preise sind verrückt geworden.<br />
Da tauchen Leute<br />
aus Kasachstan auf und<br />
zahlen einfach das Siebenfache.“ <strong>Stille</strong> am<br />
Tisch. Dann erzählt Falckenberg einen<br />
Witz aus New York: Zwei Hedgefonds-<br />
Manager stehen auf einer Party vor einem<br />
Bild. Fragt der eine. „Von wem ist die Arbeit?“<br />
Der andere: „Von Gagosian.“<br />
Der Witz illustriert ganz gut, was Falckenberg<br />
am internationalen Kunstmarkt<br />
stört. Galerien wie Gagosian nehmen unbedarften,<br />
aber reichen Kunden nicht nur<br />
das Geld ab, sondern auch die Entscheidung,<br />
was als wichtige Kunst gelten soll.<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 123<br />
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Der Name der Galerie wird zur eigenen<br />
Kunstmarke, wird wichtiger als der Name<br />
der Künstler.<br />
Wer Kunst nur auf Zuruf des Galeristen<br />
und nicht nach eigenem Urteil kauft,<br />
der hat irgendwann die gleiche, gut sortierte<br />
Sammlung von internationalen Künstlernamen<br />
wie alle anderen. Superkunst von der<br />
Stange. Wer eine repräsentative Kollektion<br />
sein Eigen nennen will, braucht dann nur<br />
noch Scheckbuch und Checkliste: Richter<br />
– abgehakt! Kiefer – hab ich! Rauch –<br />
gebongt! Die Sammlung als Ausdruck der<br />
eigenen Persönlichkeit? Fehlanzeige.<br />
Auch im Kellergewölbe der Phoenix-<br />
Werke in Hamburg-Harburg findet man<br />
den einen oder anderen Warhol oder Kippenberger.<br />
Man kann Werke der Richters<br />
(Daniel und Gerhard) aus langen Magazinschüben<br />
ziehen, Dieter<br />
Roth und die Oehlen-Brüder.<br />
Auch ein großes Ölgemälde<br />
von Jonathan Meese steht<br />
da, das offensichtlich frisch<br />
von der Staffelei weg gekauft<br />
wurde: Am unteren Rand<br />
steckt noch eine Pappe mit<br />
festgetrockneten Farbrinnen.<br />
Harald Falckenberg hat<br />
innerhalb von knapp zwei<br />
Jahrzehnten eine der angesehensten<br />
Sammlungen zeitgenössischer<br />
Kunst aufgebaut. Platz genug<br />
hat er in der ehemaligen Fabrikhalle mit<br />
über 6000 Quadratmetern Ausstellungsfläche<br />
auf fünf Stockwerken, die durch<br />
eine grandiose Kaskadentreppe miteinander<br />
verbunden sind. Aber wer an diesem<br />
Sonntag im September die großen Namen<br />
sehen will, der muss im Keller nach ihnen<br />
suchen. Denn Harald Falckenberg ist<br />
längst mit anderem beschäftigt.<br />
„Wo ist Fuck the police?“, ruft der bullige<br />
Unternehmer im zweiten Stock. Neben<br />
ihm steht, oben schwarz und unten<br />
weiße Stiefel, die Künstlerin Monica Bonvicini.<br />
In einer Woche eröffnet hier die<br />
Ausstellung „Desire Desiese Devise“ mit<br />
Zeichnungen der Berliner Künstlerin aus<br />
den Jahren 1986 bis 2012. Ein halbes Dutzend<br />
Handwerker schleppen Rahmen, nageln,<br />
schrauben und richten. Mehr als<br />
400 Werke müssen gehängt werden, und<br />
Falckenberg hat ein Auge fürs Detail. „Eine<br />
gut gehängte Ausstellung ist wie ein guter<br />
Golfplatz“, verrät der Sammler, „man erinnert<br />
sich an jede Bahn.“<br />
Grund für<br />
das Zerwürfnis<br />
war der<br />
Wunsch der<br />
Sammlerin,<br />
selbst zu<br />
kuratieren<br />
Seinen Reichtum verdankt der 69‐Jährige<br />
dem Geschäft mit Benzineinfüllstutzen.<br />
Noch heute gehören seine Tage dem<br />
Unternehmen. Die Nächte aber verbringt<br />
er am liebsten im „Maschinenraum der<br />
Kunst“, wie eine seiner Essaysammlungen<br />
heißt. Und die folgt anderen Gesetzen als<br />
das Geschäftsleben. „Political correctness<br />
habe ich im Büro, das ist das allerletzte,<br />
was mich in meiner Freizeit interessiert“,<br />
sagt Falckenberg. Der promovierte Jurist<br />
ist ein so polemischer wie glänzender<br />
Stilist. Sein Motto: „Das Schöne, Gute<br />
und Wahre in der Kunst ist mir egal. Den<br />
Künstlern geht es ja um die Auseinandersetzung<br />
mit der Gesellschaft. Und die<br />
kann hässlich ausfallen.“<br />
Der Hamburger Unternehmer ist das<br />
Paradebeispiel des selbstbewussten Sammlers,<br />
der es sich leisten kann,<br />
eine eigene Position im<br />
Kunstmarkt einzunehmen.<br />
Vergangenes Jahr ging er<br />
eine Kooperation mit den<br />
Hamburger Deichtorhallen<br />
ein, die nun für Betrieb und<br />
Marketing der Sammlung<br />
zuständig sind. Dabei wollte<br />
Falckenberg seine Sammlung<br />
eigentlich komplett in<br />
einem öffentlichen Museum<br />
unterbringen. Doch die Verhandlungen<br />
mit der Hamburger Kunsthalle<br />
scheiterten nach langem Hin und Her.<br />
Konflikte zwischen Sammlern und<br />
öffentlichen Institutionen sind einer der<br />
Hauptgründe für den Boom privater Museen.<br />
2004 zog der Sammler und Galerist<br />
Paul Maenz nach nur fünf Jahren seine<br />
Leihgaben aus dem Neuen Museum in<br />
Weimar ab und warf der Klassik Stiftung<br />
Weimar vor, seine Sammlung stiefmütterlich<br />
behandelt zu haben. 2007 kam es<br />
in Bonn zum Zerwürfnis zwischen dem<br />
Kunstmuseum und der Sammlerin Sylvia<br />
Ströher, die zwei Jahre zuvor für 50 Millionen<br />
Euro die Sammlung Grothe gekauft<br />
und dem Museum zur Verfügung gestellt<br />
hatte. Grund für die baldige Trennung war<br />
der Wunsch der Sammlerin, selbst als Kuratorin<br />
zu wirken, was das Museum jedoch<br />
strikt ablehnte.<br />
Wer sein eigenes Haus und sein eigenes<br />
Budget hat, der kann schalten und walten,<br />
wie er will. Museen dagegen gelten Sammlern<br />
oft als „pragmatische Verwaltungsapparate<br />
der Kunst“, glaubt der Intendant<br />
Robert Fleck. Das Misstrauen beruht auf<br />
Gegenseitigkeit, wenn die Museen fürchten,<br />
von Sammlern nur zur Wertsteigerung<br />
der eigenen Kollektion missbraucht<br />
zu werden. „Für einzelne Sammler ist das<br />
Museum sogar lediglich eine ‚Durchgangsstation‘<br />
geworden“, urteilt die Museumsexpertin<br />
Ridler, „in der private Kunstwerke<br />
aufbewahrt, ausgestellt, wissenschaftlich<br />
bearbeitet und auch im Wert gesteigert<br />
werden.“ Doch auch die Verwalter öffentlicher<br />
Museen sind nicht immer selbstlos.<br />
Sie setzen aufgrund sinkender Budgets auf<br />
spektakuläre Publikumsmagneten und lassen<br />
sich dafür auch von Sammlern hofieren.<br />
In der Szene ist von gestandenen Museumsdirektoren<br />
die Rede, die über Schenkungen<br />
nur in Pariser Drei-Sterne-Restaurants diskutieren<br />
wollten – auf Kosten des zukünftigen<br />
Spenders, versteht sich.<br />
Fünf von zehn Sammlern, die Ridler<br />
in ihrer Studie untersucht, strebten zuerst<br />
eine Zusammenarbeit mit der öffentlichen<br />
Hand an: „Scharfe Proteste und Kritik von<br />
Presse und Öffentlichkeit sowie mangelnde<br />
Unterstützung auf politischer und musealer<br />
Ebene brachten alle Bemühungen zum<br />
Scheitern. Die erfolglosen Versuche, mit<br />
öffentlichen Museen zusammenzuarbeiten,<br />
haben die Gründung eigener Kunstinitiativen<br />
befördert.“<br />
Ulla und Heiner Pietzsch sind noch<br />
nicht so weit. Bereits in den achtziger Jahren<br />
haben sie im Berliner Grunewald eine<br />
weiße Villa für sich und ihre Kunst gebaut.<br />
Dort empfängt einen gleich hinter<br />
der Eingangstür ein grimmig schauender<br />
US‐Cop von Duane Hanson. Dann öffnet<br />
sich der Raum zu einem lichten Atrium<br />
mit Blick auf den See und eine beeindruckende<br />
Bildergalerie.<br />
Die Kunst, sinniert Heiner Pietzsch, sei<br />
ein bisschen wie Rauschgift: nicht schädlich<br />
für die Gesundheit, aber für das Portemonnaie.<br />
„Wir können einfach nicht aufhören“,<br />
sagt seine Frau Ulla und gießt<br />
unter dem Picasso Kaffee nach.<br />
Er habe sein Leben lang nur mit Kunst<br />
zu tun gehabt, erzählt ihr Mann. Mit<br />
Kunststoffen hat er sein Geld verdient und<br />
es für Kunst ausgegeben. Wenn er abends<br />
aus der Firma nach Hause kam, setzte er<br />
sich in die Sammlung und beschäftigte sich<br />
mit den Werken. „Ich mag keine Sammler,<br />
die mit den Ohren sammeln“, sagt der<br />
Unternehmer. „Aber das Auge kriegt man<br />
wahrscheinlich erst nach vielen Jahren.“<br />
124 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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„Unser Ankaufsetat ist so hoch wie der Etat aller österreichischen<br />
Museen zusammen“: Der Unternehmer Karlheinz Essl<br />
eröffnete 1999 sein Privatmuseum in der Nähe von Wien<br />
Als sie vor 45 Jahren anfingen, zeitgenössische<br />
Kunst von Richter, Kiefer, Penck<br />
und Baselitz zu kaufen, da hätten die Leute<br />
noch gelacht: schöne Wohnung, wenn da<br />
nicht die hässlichen Bilder wären. „Heute<br />
haben die alle die gleichen Bilder an der<br />
Wand“, amüsiert sich Ulla Pietzsch.<br />
Inzwischen hat das Ehepaar die beträchtlich<br />
im Wert gestiegene Gegenwartskunst<br />
wieder verkauft, um das Geld ganz in<br />
Surrealisten wie Tanguy, Dalí und Miró zu<br />
investieren. „Fernando Botero war so beleidigt,<br />
dass wir sein Bild verkauft haben, der<br />
hat uns danach gar nicht mehr beachtet.“<br />
Ihre bedeutende Sammlung mit Werken<br />
von Max Ernst, Paul Delvaux, Magritte,<br />
Dalí und vielen anderen soll einmal in<br />
einem öffentlichen Museum stehen. „Wir<br />
wollen kein eigenes Museum“, sagt Heiner<br />
Pietzsch. „Kleine Museen haben keine<br />
Haltbarkeit.“<br />
Vor zwölf Jahren beteiligte sich das Ehepaar<br />
Pietzsch zum ersten Mal mit Leihgaben<br />
an einer Ausstellung im Dresdner<br />
Schloss. Doch seine Geburtsstadt schien<br />
dem heute 82‐jährigen Heiner Pietzsch<br />
nicht als der beste Ort, um die Sammlung<br />
dauerhaft unterzubringen. „Dresden<br />
ist eine Barockstadt, eine Stadt der Musik,<br />
nicht des Surrealismus.“<br />
Ihre Wahl fiel schließlich auf die Neue<br />
Nationalgalerie in Berlin, der sie vor zwei<br />
Jahren die Schenkung von 100 Werken aus<br />
ihrer Sammlung anboten. Seitdem tobt ein<br />
Streit, wie es ihn vielleicht nur in der Bundeshauptstadt<br />
geben kann. Die deutschen<br />
Feuilletons laufen Sturm gegen das Vorhaben,<br />
die Alten Meister vom Kulturforum<br />
am Potsdamer Platz ins Bode-Museum<br />
umzupflanzen und das Kulturforum mit<br />
Gemäldegalerie und Neuer Nationalgalerie<br />
zu einem Stützpunkt der Kunst des<br />
20. Jahrhunderts auszubauen. Die Kritiker<br />
argwöhnen, dass ein Großteil der renommierten<br />
Werke des 13. bis 18. Jahrhunderts<br />
erst einmal im Depot verschwindet, bis ein<br />
Neubau auf der Museumsinsel zur Verfügung<br />
steht.<br />
„Wir wollen kein eigenes Museum. Kleine Museen<br />
haben keine Haltbarkeit“: das Berliner Kunstsammler-<br />
Ehepaar Heiner und Ulla Pietzsch<br />
So fanden sich die großzügigen Spender<br />
auf einmal im Zentrum eines großen<br />
Berliner Museumskrachs. „Berlin fehlt<br />
ein Museum für die Kunst der Moderne“,<br />
sagt Heiner Pietzsch, „und durch unsere<br />
Schenkung ist ein Stein ins Wasser geworfen<br />
worden.“ Einzige Bedingung für die<br />
Schenkung: Die Stadt soll sich verpflichten,<br />
die Bilder nicht nur zu verwalten, sondern<br />
sie auch der Öffentlichkeit zugänglich<br />
zu machen. „Kirchner, Dix und Grosz stehen<br />
in der Nationalgalerie im Keller. Das<br />
sollen unsere Bilder nicht“, sagt Heiner<br />
Pietzsch. Die Stadt könne sich die Werke<br />
ja frei aussuchen.<br />
Und die Ehre? Und der Ruhm? In amerikanischen<br />
Museen wird inzwischen jeder<br />
Klappstuhl nach Sponsoren benannt. „Das<br />
wollen wir auf keinen Fall“, wiegelt Ulla<br />
Pietzsch entsetzt ab, und ihr Mann ergänzt:<br />
„In 20 Jahren weiß doch keiner mehr, wer<br />
Ulla und Heiner Pietzsch waren. Aber die<br />
Leute sollen sagen: Mensch, in Berlin gibt’s<br />
ein tolles Museum des 20. Jahrhunderts.“<br />
Fotos: Picture Alliance/DPA/APA/picturede, Britta Pedersen/Picture Alliance/DPA/Neo Rauch: Grenze, 1984, Fluchtversuch/©Courtesy Galerie Eigen+Art/Leipzig/Berlin/VG Bild-Kunst, Bonn 2012<br />
126 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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Foto: privat<br />
Und doch: Ist so eine Sammlung nicht<br />
auch ein Lebenswerk? Zurück ins Bode-<br />
Museum. Noch heute stehen hier die Holzbüsten<br />
von Willibald Imhoff und seiner<br />
Frau Anna. Der Nürnberger Kaufmann<br />
war im 16. Jahrhundert einer der ersten<br />
bürgerlichen Privatsammler. Er verfügte,<br />
dass die Erben seine bedeutende Kunstsammlung<br />
nicht teilen dürften. Doch daraus<br />
wurde nichts: Bereits kurz nach dem<br />
Tod des Sammlers verscherbelten die Nachkommen<br />
den Kunstschatz. Was kommt<br />
nach mir? Das ist bis heute eine der Sorgen,<br />
die Sammler bei der Bestellung ihres<br />
Lebenswerks umtreibt. „Alle wollen in den<br />
Himmel“, sagt Heiner Pietzsch, „aber sterben<br />
will keiner.“<br />
Auch Reinhold Würth spricht über<br />
den Tod, als er an einem Septembermorgen<br />
im überfüllten Gobelinsaal des Bode-<br />
Museums steht. „Nach der Sterbetabelle<br />
wäre ich in zwei Jahren und drei Monaten<br />
tot“, sagt der 77‐Jährige und erklärt,<br />
dass ihm die schönen Künste immer eine<br />
Kraftquelle gewesen seien. Gerade haben<br />
er und seine Frau Carmen den James-Simon-Preis<br />
verliehen bekommen. Der Präsident<br />
der Stiftung Preußischer Kulturbesitz,<br />
Hermann Parzinger, hat in seiner Laudatio<br />
die Stiftungstätigkeit des Ehepaars gelobt<br />
und von einem „Museumsimperium<br />
Würth“ gesprochen.<br />
Das ist nicht übertrieben: Mit seiner<br />
Sammlung aus mehr als 14 000 Kunstwerken<br />
gehört der schwäbische Schrauben-Unternehmer<br />
zu den reichsten Sammlern<br />
Europas. Die Unternehmenszentrale<br />
in Künzelsau war 1985 weltweit der erste<br />
Firmenbau, in dem eine Kunstgalerie mit<br />
dem Verwaltungstrakt verbunden wurde.<br />
Hier probten schon Christo und Jeanne-<br />
Claude, bevor sie in Berlin den Reichstag<br />
verhüllten. Sogar der wilde Alfred Hrdlicka<br />
stellte seine Werke aus. Der Bildhauer sei<br />
zwar „kommunistisch bis ins Innerste“, urteilte<br />
Konzernlenker Würth damals, „aber<br />
auch er war aufs Geld aus“. Hrdlicka gab<br />
das Kompliment an den Sammler zurück,<br />
wie es sich für einen Künstler gehört: „Ich<br />
mag Herrn Würth, weil er die Kunst nicht<br />
nur anschaut, sondern auch kauft.“<br />
Tipp: Beim Kauf<br />
von 11 Flaschen<br />
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weitere gratis.<br />
Col de L’Orb AOC Saint-Chinian rouge 2010,<br />
Cave de Roquebrun, Südfrankreich<br />
Ein weihnachtlicher Wein. Im Glas faszinierendes Granatrot. Üppiger Duft<br />
nach reifen Beeren und Gewürzen. Im Mund vollmundig, samtig, mit<br />
guter Struktur, sehr harmonisch und ausgewogen. Ein kräftiger, gleichzeitig<br />
eleganter Wein, der sowohl festliche Speisen vorzüglich begleitet, als auch<br />
allein für sich höchsten Genuss bietet. Dieser Wein wurde mit zwei Gold-,<br />
einer Silber- und einer Bronzemedaille ausgezeichnet.<br />
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<strong>Cicero</strong>-Leserservice<br />
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Malte Herwig<br />
ist Reporter und lebt in<br />
Hamburg. Zuletzt erschien seine<br />
Handke-Biografie „Meister der<br />
Dämmerung“
Ich brauche Capital, weil ich 1 Firma,<br />
35 Angestellte, 150 Kunden, 1000 Pläne,<br />
aber nur einen Kopf habe.<br />
Wer etwas vorhat, braucht Capital.
B e n o t e t | S a l o n |<br />
illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />
Gute Geige,<br />
böse Fidel<br />
Unser Kolumnist spürt seinem<br />
Instrument nach – und gelangt vom<br />
Himmel direkt in die Hölle<br />
Von Daniel Hope<br />
G<br />
eige oder Fidel? Ich weiß nicht mehr, wie oft ich gefragt<br />
wurde, was der Unterschied sei. Für mich hat es irgendwie<br />
mit Himmel und Hölle zu tun. Dieses uralte Gegensatzpaar<br />
menschlicher Träume und Ängste kann sich manchmal<br />
auch auf die Musikwelt beziehen. Und natürlich auf die Geige,<br />
ein Instrument, um das sich viele Legenden ranken: Die einen sagen,<br />
niemand habe sie so gut spielen können wie der Teufel in der<br />
Hölle, andere schreiben ihr märchenhafte Zauberkräfte zu, die den<br />
Menschen glauben lassen, dass der „Himmel voller Geigen hängt“,<br />
wie es in der Operette heißt. Für jede singende Geige gibt es eine<br />
tanzende Fidel. Und in der Tat, seit Jahrhunderten haftet der Fidel<br />
ein etwas schäbiger oder gar gefährlicher Ruf an: ein Instrument<br />
der „unteren Klassen“, das verführt und becirct. In Jonathan Swifts<br />
„Gullivers Reisen“ etwa freut sich der Protagonist: „Ich war im Körper<br />
vollkommen gesund, und meine Seele genoss größte Heiterkeit<br />
... keine Lords, Fiedler, Richter und Tanzmeister.“<br />
Dabei weiß niemand wirklich, wer die Geige erfunden hat. In<br />
Europa kann man den Werdegang der Geige bis ins 8. Jahrhundert<br />
zurückverfolgen, wo sie tatsächlich Fidel hieß; sehr wahrscheinlich<br />
liegt ihr Ursprung jedoch in Asien. Es hat nicht weniger<br />
als 450 Jahre gedauert, ehe sie ihre heutige Form angenommen<br />
hat. Die Erfindung von Instrumenten wie des Rebab, welches<br />
durch das Streichen seiner Saiten gespielt wird, kann man mit<br />
dem Auftauchen des Bogens, der von den Arabern oder von nordischen<br />
Stämmen aus Asien eingeführt wurde, in Verbindung bringen.<br />
Ob die Entwicklung zur Fidel und dann weiter zur Geige allerdings<br />
in Europa, dem Nahen Osten, Indien oder Zentralafrika<br />
stattfand, bleibt ein Rätsel. Die Fidel wurde vor der Brust, am<br />
Knie, im Schoß oder an der Schulter gehalten – im Gegensatz<br />
zur Geige, die unters Kinn gehört.<br />
Die frühesten Formen von Saiteninstrumenten sind das Ravanastron<br />
(es soll einem indischen Herrscher im Jahre 5000 v. Chr.<br />
gehört haben) und die Sarangi, Letztere der Geige am ähnlichsten,<br />
gedrungen und kastenförmig, mit einer verwirrenden Anzahl<br />
von bis zu 40 Metallsaiten. Dank ihrer Handlichkeit bedeutete<br />
dies für den Vorreiter der Geige auch Mobilität. Es wird vermutet,<br />
dass die Geige zusammen mit der „Roma“-Wanderung um<br />
das Jahr 300 v. Chr. in Nordwestindien ihre Reise begann; von<br />
dort ging sie um circa 100 n. Chr. nach Persien und weiter nach<br />
Europa. Das Auftauchen der Roma im Europa des 14. Jahrhunderts<br />
(vor allem in Ungarn, wo jeder ungarische Edelmann einen<br />
Roma als Geiger in seinem Gefolge hatte) scheint ein Grund zu<br />
sein, weshalb die Italiener und insbesondere Andrea Amati, der<br />
Quasi-Erfinder der Geige, auf das Instrument aufmerksam wurden.<br />
Ob die Geige vom Teufel erfunden wurde? Viele Legenden besagen<br />
jedenfalls das Gegenteil, zum Beispiel ein Märchen der Sinti<br />
und Roma: Darin wird von einem armen Bauernburschen erzählt,<br />
der sich in eine schöne Prinzessin verliebte, sie aber nur haben<br />
durfte, wenn er dem König etwas bringen würde, das es noch nie<br />
gegeben hatte. Die Feen-Königin Matuya wusste Rat, gab ihm einen<br />
Stab und ein hölzernes Kästchen mit einem Loch in der Mitte<br />
und bespannte beides mit langen Haaren von ihrem Kopf. Dann<br />
ließ sie erst ihr silberhelles Lachen in das Loch fallen und danach<br />
ein paar Tränen. Und als der Junge mit dem Stab über das Kästchen<br />
fuhr, klang es so schön und lieblich wie ihr Lachen und so<br />
wehmütig und traurig wie ihr Weinen. Der König war begeistert<br />
und gab dem Burschen seine Tochter zur Frau.<br />
Wenn aber von Hölle die Rede ist, darf er natürlich auch nicht<br />
fehlen: Niccolò Paganini, der „Teufelsgeiger“, der vor 230 Jahren<br />
in Genua geboren wurde. Wir wissen nicht, wie er gespielt hat,<br />
doch es muss höllisch aufregend gewesen sein. Die Leute gerieten<br />
jedenfalls überall, wo er auftrat, in Ekstase, und viele meinten,<br />
dass er beim Teufel höchstpersönlich in die Lehre gegangen sei.<br />
Paganini selbst pflegte dieses Image durch sein Outfit: „Wenn er,<br />
ganz in Schwarz, auf die Bühne kam“ – so hat es Heinrich Heine<br />
beschrieben – „sah er aus, als sei er der Unterwelt entstiegen.“<br />
Umso skurriler ist es, dass Anfang des 19. Jahrhunderts die<br />
Geige offiziell in Indien „eingeführt“ wurde, als der Kapellmeister<br />
der britischen Armee das Instrument Baluswami Dikshitar in<br />
Fort St. George in Madras übergab. Die Folge: Es gibt kein anderes<br />
westliches Instrument, das sich in der indischen Musik so<br />
gut integriert hat wie die Geige, sodass ein Konzert vokaler Musik<br />
ohne Geigenbegleitung in Indien kaum mehr vorstellbar wäre.<br />
So hat die Geige – pardon, die Fidel – nach knapp 2000 Jahren<br />
zurück zu ihren Wurzeln gefunden.<br />
Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />
„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi,<br />
toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die<br />
CD „Recomposed by Max Richter – Vivaldi, The four Seasons“ (Deutsche<br />
Grammophon). Er lebt in Wien<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 129
| S a l o n | M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t<br />
Ochs und Esel<br />
Domenico Ghirlandaios Weihnachtsgemälde „Anbetung der<br />
Hirten“ aus dem Jahr 1485 verweist auf ein theologisches<br />
Problem der Missionierung – mit durchaus aktuellem Bezug<br />
Von beat wyss<br />
E<br />
s grenzt an Selbstkasteiung, für<br />
ein Gemälde nur eine Kolumne<br />
lang Platz zu haben, worauf jeder<br />
Quadratdezimeter von Bedeutung durchtränkt<br />
ist. Es wimmelt von guten Nachrichten<br />
und versteckten Botschaften, welche<br />
die Gelehrsamkeit des Betrachters auf die<br />
Probe stellen. Aber so war es ja wohl wirklich<br />
gewesen bei der Geburt Jesu: begleitet<br />
von himmlischem Raunen, da die Engel in<br />
der Nacht über Bethlehem ihren Chor anstimmten.<br />
Dabei wird der Blick nicht unbedingt<br />
gefesselt von dem etwas förmlich<br />
wirkenden Hauptgeschehen, wo, wie geschnitzt,<br />
die schöne Gottesmutter in ihrem<br />
weiten, blauen Mantel vor dem Christkind<br />
kniet. Doch um sie herum erfüllt sich der<br />
Raum mit prallem Leben. Die ersten Gäste<br />
sind eingetroffen, die Hirten vom Berg vor<br />
den Toren. Der Stimme des Engels sind sie<br />
gefolgt: „Fürchtet euch nicht, ich verkündige<br />
euch eine große Freude.“<br />
Das Strahlen im Gesicht des ersten<br />
Hirten steckt uns an. Freudig ergriffen<br />
legt er seine Rechte an die Brust, zeigt<br />
mit der Linken auf den Neugeborenen<br />
und schaut sich um nach seinen Genossen,<br />
ob auch sie seine Freude teilen. Wir<br />
glauben dem Kunstchronisten Vasari, der<br />
Künstler habe diesem Augenzeugen von<br />
Christi Geburt seine eigenen Züge gegeben.<br />
Malend nimmt Ghirlandaio teil an<br />
einem Weihnachts spiel: Als Chorführer<br />
zeigt er den Hirten den Weg zur Krippe,<br />
als Maler führt er uns diese Szene mit seinem<br />
Pinsel vor.<br />
Wer gläubig so malen kann – was für<br />
ein Fest!<br />
Seite an Seite mit jenen Männern, die<br />
soeben von der Arbeit auf dem Feld hereingeschneit<br />
scheinen, stehen Ochs und<br />
Esel. Die beiden Tiere sind weit mehr als<br />
nur die zufällig anwesenden Stallbewohner.<br />
Ochs und Esel an der Krippe bilden<br />
das älteste Symbol der Christenheit.<br />
Lange bevor Maria und Joseph im Bild<br />
auftraten, ja sogar bevor das Kreuz als öffentliches<br />
Erkennungs- und Schmuckzeichen<br />
in Gebrauch kam, zieren Ochs und<br />
Esel einen römischen Sarkophag aus dem<br />
dritten Jahrhundert. Das Bildzeichen verweist<br />
auf ein theologisches Problem der<br />
Missionierung, das schon zur Zeit von<br />
Apostel Paulus diskutiert wurde. Muss<br />
ein Heide zuerst beschnitten werden, bevor<br />
er Christ werden kann? Es setzte sich<br />
die tolerante Auffassung durch, dass Heiden<br />
und Juden gleichberechtigt die Taufe<br />
empfangen können. So stehen bis heute<br />
in jeder Krippe im Dorf der beschnittene<br />
Ochs und der unbeschnittene Esel einträchtig<br />
nebeneinander beim Abendmahl,<br />
symbolisiert mit der Futterkrippe.<br />
Diese Bedeutung war schon zur Zeit<br />
Ghirlandaios längst vergessen; das Motiv<br />
aber ist erhalten geblieben, indem es semantisch<br />
überschrieben wurde. Die Tiere<br />
in Bethlehems Stall werden landläufig auf<br />
einen Spruch des Jesaias (1, 2-3) bezogen:<br />
„Ich habe Kinder aufgezogen, und jetzt<br />
sind sie von mir abgefallen. Jeder Ochs<br />
kennt seinen Herrn und jeder Esel die<br />
Krippe seines Herrn. Aber Israel erkennt<br />
mich nicht.“ Damit ist ein frühchristliches<br />
Zeichen toleranten Einschlusses zum<br />
Argument des Ausschlusses geworden.<br />
Man deutet jetzt Ochs und Esel als jene<br />
Tiere, die im richtigen Glauben dem alleinigen<br />
Gott huldigen. Die Juden indes<br />
trifft jene Klage des Propheten, den wahren<br />
Glaubensweg verlassen zu haben.<br />
Ghirlandaios Weihnachtsgemälde<br />
zeigt ein Christentum, das triumphiert.<br />
Ein heidnischer Sarkophag dient als<br />
Futterkrippe im Stall. Das Grab des alten<br />
wurde zum Schoß des neuen Bundes.<br />
Der Stall mit dem verwitterten<br />
Dach wird jetzt renoviert. Schon ragen<br />
zwei neue Säulen auf, die den Bau der<br />
kämpfenden Kirche tragen. Unumstritten<br />
blieb indes zur Zeit Ghirlandaios die<br />
Tatsache, dass das Christkind nach jüdischem<br />
Brauch acht Tage nach seiner Geburt<br />
im Tempel beschnitten wurde. Der<br />
Feiertag, begangen am 1. Januar, ist in der<br />
postreligiösen Welt überlagert von den<br />
Nachwehen der Silvesterparty. Von dieser<br />
Seite müssen Maria und Joseph sich<br />
heute dem Vorwurf stellen, das Recht<br />
Jesu Christi auf körperliche Unversehrtheit<br />
verletzt zu haben.<br />
B e at W y s s<br />
ist einer der bekanntesten<br />
Kunsthistoriker des Landes.<br />
Er lehrt in Karlsruhe<br />
Fotos: Interfoto/Super Stock, artiamo (Autor)<br />
130 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Domenico Ghirlandaio: „Anbetung der Hirten“, 1485,<br />
Öl auf Holz, Florenz, Santa Trinità, Sassetti-Kapelle<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 131
Von links: „Ziemlich beste Freunde“ / Olivier Nakache und Éric Toledano, „Die fabelhafte Welt der Amélie“ /<br />
Jean‐Pierre Jeunet, „Die Haut, in der ich wohne“ / Pedro Almodóvar, „Barbara“ / Christian Petzold<br />
„Liebe“ / Michael Haneke, „Melancholia“ / Lars von Trier, „To Rome with Love“ / Woody Allen, „Le Havre“ / Aki Kaurismäki<br />
europa sitzt im<br />
falschen film<br />
132 <strong>Cicero</strong> 12.2012
K i n o | S a l o n |<br />
Ein Kontinent steckt in der Krise. Aber was bedeutet<br />
die wirtschaftliche und politische Malaise eigentlich<br />
für den europäischen Film? Einigen außergewöhnlichen<br />
Produktionen gelingt es tatsächlich, das Kino in einen<br />
Ort von therapeutischer Qualität zu verwandeln<br />
von Christiane Peitz<br />
E<br />
r ist Tiefenschürfer und Moralphilosoph,<br />
einer, der so klug<br />
wie genau das Wesen des Menschen<br />
ergründet. Typisch europäisch,<br />
heißt es gern über Michael<br />
Haneke. In München geboren, spricht er<br />
breites Wienerisch, arbeitet meistens in<br />
Frankreich mit französischen Schauspielern,<br />
dreht auch mal in Deutschland, unter<br />
anderem mit italienischem Geld. Der Österreicher<br />
Haneke hat gute Aussichten, Anfang<br />
Dezember in Malta zum dritten Mal<br />
den Europäischen Filmpreis zu gewinnen,<br />
diesmal mit „Liebe“. Es geht um ein greises<br />
Musikprofessoren-Ehepaar in einer Pariser<br />
Altbauwohnung, sie hat zwei Schlaganfälle,<br />
er kümmert sich rührend und löst<br />
sein Versprechen ein, sie niemals ins Heim<br />
zu schicken. Ernste Sache, typisch für das<br />
Kino des alten Kontinents.<br />
Aber da ist auch der europäische Superblockbuster<br />
„Ziemlich beste Freunde“,<br />
eine ausgesprochen lustige Angelegenheit.<br />
19 Millionen Zuschauer sahen die Melokomödie<br />
im Herkunftsland Frankreich; auf<br />
der deutschen Kinohitliste steht sie ebenfalls<br />
ganz oben, mit knapp neun Millionen<br />
verkauften Tickets. In Spanien und Italien<br />
bringt sie es auf beachtliche 2,5 Millionen.<br />
Ein Überraschungserfolg, schließlich geht<br />
es um einen vom Hals an gelähmten Multimillionär,<br />
der einen schwarzafrikanischen<br />
Krankenpfleger aus den Banlieues anheuert.<br />
Philippe und Driss, der Superreiche und<br />
der Kleinkriminelle, der Bildungsbürger<br />
und der Unterschichtler, sind die Helden<br />
eines sozialutopischen Buddy-Movies, dessen<br />
Unbekümmertheit schier unüberwindliche<br />
Gegensätze vereint. Womit wir wieder<br />
bei Europa wären, denn auch die Versöhnung<br />
der Klassen, Kulturen und Nationen<br />
ist ein traditionelles europäisches Projekt.<br />
Europa steckt in der Krise, jeden<br />
Tag steht es in der Zeitung. Im Oktober<br />
wurde Angela Merkel in Athen als Nazi<br />
beschimpft, wenige Tage später bekam die<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 133
| S a l o n | k i n o<br />
EU den Nobelpreis, als weltweit erfolgreichstes<br />
Friedensprojekt seit 1945. Die<br />
einen fanden das komisch, die anderen<br />
wurden pathetisch und erinnerten daran,<br />
wie Europa, diese Region der Kriegsgegner<br />
und Erzfeinde, ein Wunder der Versöhnung<br />
vollbracht hat.<br />
Europa, sagt der Filmemacher Wim<br />
Wenders, war „eine Wahnsinnsidee“, als<br />
er nach dem Krieg aufwuchs. Die jungen<br />
Leute von heute lässt die Idee weitgehend<br />
kalt. Weil aus Europa eine Normalität<br />
wurde, etwas, das sich in Zeiten der Billigflieger<br />
und Erasmus-Studienprogramme<br />
von selbst versteht? Weil es sich kalt präsentiert,<br />
meint Wenders. Der 67‐Jährige ist<br />
seit 1996 Präsident der Europäischen Filmakademie,<br />
er weiß, wovon er redet. Und ist<br />
sich mit EU-Präsident José Manuel Barroso<br />
einig, der schon länger findet, man<br />
müsse sich „mehr um die emotionale Seite<br />
Europas kümmern“.<br />
Also her mit den europäischen Filmen.<br />
Denn bewegte Bilder schaffen „90 Minuten<br />
lang Nähe“, sagt Marion Döring, Geschäftsführerin<br />
der European Film Academy.<br />
Das Kino als Therapie in der Krise?<br />
Ein gewagter Gedanke, denn die goldenen<br />
Zeiten des europäischen Films mit Bergman<br />
und Buñuel, Antonioni und Fellini,<br />
Truffaut, Godard, Fassbinder sind lange<br />
vorbei. Auch die Zahlen stimmen nicht optimistisch.<br />
Zwar lag der seit Jahren konstante<br />
Marktanteil europäischer Filme in<br />
Europa auch 2011 bei gut 28 Prozent. Aber<br />
die Zahl verdankt sich vor allem dem anhaltenden<br />
Erfolg nationaler Produktionen;<br />
die Filme der europäischen Nachbarn<br />
schaffen es kaum noch über die Grenzen.<br />
Zwischen Hollywood und den einheimischen<br />
Filmen fristen sie ein Nischendasein.<br />
Ein Beispiel: Gerade mal 3,7 Prozent der<br />
europäischen Kinobesucher sahen 2011 einen<br />
deutschen Film.<br />
Dass die 49 Staaten und 2700 Mitglieder<br />
umfassende Akademie mit Sitz in Berlin<br />
nun zum 25. Mal ihre Preise vergibt,<br />
ist dennoch ein guter Anlass, die Bilder in<br />
In Amerika laborieren Helden an<br />
ihrer Unsterblichkeit, in Europa<br />
an der eigenen Hinfälligkeit<br />
Augenschein zu nehmen, die sich Europa<br />
von sich selbst macht. Was haben die Geschichten,<br />
Mythen und Helden mit den<br />
politischen Turbulenzen zu tun? Man sagt<br />
gern, jede Fiktion sei auch biografisch,<br />
denn sie erlaubt einen Blick in die Seele.<br />
Wie ist es um Europas Seele bestellt, wenn<br />
„Ziemlich beste Freunde“ einen Nerv trifft?<br />
Handicaps sind allemal in Mode. Daniel<br />
Auteuil als schwerstbehinderter Franzose<br />
dreht in „Ziemlich beste Freunde“<br />
Pirouetten mit seinem Rollstuhl. Die europäischen<br />
Protagonisten der jüngsten Oscar‐Gewinner<br />
sind ebenfalls mit Handicaps<br />
geschlagen, der stotternde britische König<br />
in „The King’s Speech“ genauso wie der<br />
französische Stummfilmstar in „The Artist“,<br />
dem für die Tonfilmära eine brauchbare<br />
Stimme fehlt. Vielleicht lässt sich das Kino<br />
der westlichen Industrienationen ja grob in<br />
zwei Kategorien teilen: In der einen laborieren<br />
die Helden an ihrer Unsterblichkeit<br />
(Amerika), in der anderen wissen sie nur zu<br />
gut um die eigene Hinfälligkeit (Europa).<br />
Die Amerikaner sind Weltmeister der Fantasie,<br />
die Europäer gelten seit den Neorealisten<br />
als die Meister des Wirklichkeitssinns.<br />
Europa, der versehrte Kontinent, der<br />
sich ehrlich macht und sich trotzdem nicht<br />
unterkriegen lässt? Dass ausgerechnet der<br />
Oscar sich neuerdings selber europäisch<br />
gibt, hat gewiss mit einer Sehnsucht nach<br />
Authentizität zu tun, die krisenbedingt<br />
auch die USA ereilt hat. Hinzu kommt<br />
die Nostalgie, der Blick zurück in jene<br />
Zeiten, als Mensch und (Film-)Welt noch<br />
unvollkommen sein durften, schwarz-weiß,<br />
ohne Ton – und mit öffentlichkeitsscheuen<br />
Staatsmännern. So etwas kann sich selbst<br />
die kühnste amerikanische Fantasie nur im<br />
guten alten Europa vorstellen.<br />
Apropos Unsterblichkeit: Den Euro-<br />
Preis 2011 gewann Lars von Triers Weltuntergangsdrama<br />
„Melancholia“, eine<br />
Ode an die Unweigerlichkeit des Todes.<br />
Große Oper, in der ein mythischer Wind<br />
weht, archaisch, unerbittlich und zugleich<br />
hochartifiziell: Auch Lars von Trier ist ein<br />
Tiefenschürfer, ein Existenzialist – und mit<br />
Michael Haneke das Beste, was das europäische<br />
Kino derzeit zu bieten hat.<br />
Wird bei so viel Apokalypse jeder<br />
Film zum Pfeifen im finsteren Wald? Die<br />
Liste der diesmal nominierten Produktionen<br />
lässt auch andere Schlüsse zu. Neben<br />
„Liebe“ und „Ziemlich beste Freunde“ geht<br />
Christian Petzolds „Barbara“ aus Deutschland<br />
ins Rennen, eine Liebesgeschichte im<br />
Spitzelstaat DDR mit Nina Hoss in der<br />
Hauptrolle; ein sensibles, versöhnlich endendes<br />
Politmelodram. Ebenfalls dabei: die<br />
tapferen Strafgefangenen aus „Cäsar muss<br />
sterben“, dem italienischen Gefängnisdrama<br />
der Gebrüder Taviani. Sie proben<br />
Shakespeare hinter Gittern und finden in<br />
der Theaterfiktion die Freiheit, die ihnen<br />
verwehrt ist.<br />
Filme, die sich keine Illusionen machen<br />
und dennoch von Menschlichkeit handeln,<br />
von Anstand und Solidarität: Glaubt man<br />
all diesen Moralparabeln und Sozialdramen,<br />
ist auch das typisch europäisch. Letztes<br />
Jahr hatte ausgerechnet Europas Chefmelancholiker<br />
Aki Kaurismäki in seinem<br />
Flüchtlingsmärchen „Le Havre“ einen Hafen<br />
der Brüderlichkeit ausgemalt, mitten<br />
in der Festung Europa. Utopia in bonbonbunter<br />
Tristesse: Kaurismäki ist dann<br />
doch so realistisch, seine Solidargemeinschaft<br />
in komplett unwirklichem Ambiente<br />
anzusiedeln.<br />
Womit wir bei den kleinen Filmwundern<br />
aus der Peripherie wären. Früher kamen<br />
sie aus Finnland oder Portugal, heute<br />
sind es Rumänien, Bosnien oder, ja, Griechenland.<br />
„In den marginalisierten Ländern<br />
ist Europa am europäischsten“, meint<br />
Regisseur Volker Schlöndorff, einer der<br />
drei Vorsitzenden der Akademie. Es sei<br />
kein Zufall, dass die Jubiläumsparty für<br />
den 25. Jahrgang ausgerechnet in Malta<br />
steigt. 2010 hatte Tallinn die Gala ausgerichtet,<br />
auch übers Jahr engagieren sich<br />
Länder wie Mazedonien mehr als Frankreich<br />
oder Italien.<br />
Klein, aber fein, auch das ist Europa,<br />
nicht zuletzt dank der Osterweiterung. Seit<br />
ein paar Jahren kommen hin und wieder<br />
rumänische Filme in die deutschen Kinos:<br />
stille, markerschütternde Geschichten<br />
meist über Frauen, die im Sozialismus<br />
und Postsozialismus zu überleben versuchen.<br />
Auf der Berlinale riss das ungarische<br />
Drama „Just the Wind“ den Schleier<br />
von jeder Schönfärberei über die Lage der<br />
Fotos: A1Pix-Yourphototoday, Interfoto, Cinetext, DDP Images/Tobis Film, Cinetext/Allstar/Adopt Film, Picture Alliance/DPA (2), Cinetext/Allstar/Magnolia Pict, Cinetext/Allstar/Sony Pict. Clas (Seiten 132 bis 133)<br />
134 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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seinem Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist<br />
dann in der Regel am Folgetag erhältlich.<br />
Roma in Europa, auch das ein leiser Film<br />
und zugleich ein Schrei der Verzweiflung.<br />
2006 hatte die Bosnierin Jasmila Žbanić<br />
den Goldenen Bären 2006 erstmals nach<br />
Sarajewo getragen, für ihr Vergewaltigungsdrama<br />
„Esmas Geheimnis“. 2010 folgte die<br />
Türkei mit dem Wald- und Kindheitspoem<br />
„Bal/Honig“. Neuerdings macht ausgerechnet<br />
das griechische Kino von sich reden,<br />
mit wunderbar lakonischen Low-budget-<br />
Werken wie „Alpen“ und „Attenberg“,<br />
die gleichsam aus dem Nichts auftauchen,<br />
aus einem Land, in dem es praktisch keine<br />
Filmförderung gibt. Was übrigens schon<br />
vor der Schuldenkrise so war.<br />
In „Alpen“ bieten die Mitglieder eines<br />
Geheimbunds Hinterbliebenen ihre<br />
Dienste an. Sie trösten Trauernde über<br />
den Verlust ihrer Liebsten hinweg, indem<br />
sie deren Stelle einnehmen: Rollenspiel als<br />
Schmerztherapie, mit subversivem Symbolwert.<br />
In „Attenberg“ trainiert eine junge<br />
Frau die Liebe, als handele es sich um eine<br />
skurrile Sportart. Wie Fremdlinge bewegen<br />
sich die Protagonisten im eigenen Körper<br />
und im eigenen Land, die Kamera schaut<br />
still vergnügt zu. Der Mensch, ein Tier im<br />
Zivilisationszoo. Ein Film, der den Subtext<br />
der Krise zutage befördert, die griechische<br />
Mangelwirtschaft in Sachen Freiheit.<br />
Und das merkwürdige Phänomen, dass<br />
die Wiege der Demokratie heute so wenig<br />
praktische Erfahrung mit der Demokratie<br />
aufweisen kann. „Alpen“ und „Attenberg“<br />
zeichnen Gehversuche auf, in immer noch<br />
fremdherrschaftlich anmutendem Terrain.<br />
Ihre Filme, sagte „Attenberg“-Regisseurin<br />
Athina Rachel Tsangari der Zeit, seien ein<br />
„verzweifelter Partisanenkampf gegen den<br />
Zerfall“.<br />
Aber wer bitte nimmt diese feinen,<br />
kleinen Filme überhaupt wahr, jenseits<br />
von Festivals und Cineastenzirkeln? Rund<br />
1280 Filme wurden 2011 in Europa produziert,<br />
das klingt gut. Aber in Deutschland<br />
kam „Alpen“ auf gerade mal 4000 Zuschauer,<br />
„Attenberg“ auf beschämende<br />
2000. Selbst bei den Filmpreis-Nominierungen<br />
tauchen die Kleinode so gut wie<br />
nicht auf. Und seit der Gründung der European<br />
Film Academy im Herbst 1988 in<br />
der Atlantic Suite des Berliner Hotels Kempinski<br />
ist der europäische Marktanteil konstant<br />
gesunken. Ausnahmen wie der Erfolg<br />
von Petzolds „Barbara“ in Frankreich<br />
mit mehr als 300 000 Zuschauern bestätigen<br />
die Regel.<br />
136 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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Foto: Kai-Uwe Heinrich/Tagesspiegel<br />
Volker Schlöndorff, dessen Laufbahn<br />
in Frankreich begann, wählt drastische<br />
Worte: „Das europäische Kino gibt es nicht<br />
mehr.“ Der gemeinsame Esprit, mit dem<br />
Filmemacher überall in Europa Papas Kino<br />
für tot erklärten und die Kamera auf die<br />
Straße holten, der frische Wind der Nouvelle<br />
Vague, des New British Cinema, des<br />
neuen deutschen Films oder der spanischen<br />
Movida ist längst verweht. Das liegt<br />
nicht nur am Verlorenheitsgefühl in der<br />
globalisierten Welt, das eine Regionalisierung<br />
der Kultur zur Folge hatte, den Boom<br />
der Provinzkrimis oder eben den gestiegenen<br />
nationalen Filmmarktanteil. Selbstkritisch<br />
spricht Schlöndorff auch über die<br />
Europäisches<br />
Kino, das<br />
sind Filme für<br />
Erwachsene,<br />
die auf<br />
eigensinnige<br />
Bilder beharren<br />
von den Autorenfilmern vollzogene Trennung<br />
von Filmkunst und Unterhaltung.<br />
Europäisches Kino, das sind Filme für Erwachsene,<br />
die mit einer gewissen Sturheit<br />
auf eigensinnige Bilder beharren, auf<br />
künstlerische Unschuld und Unabhängigkeit<br />
vom Markt. Aber vor lauter Unabhängigkeitsstreben,<br />
sagt der 72-jährige<br />
„Blechtrommel“-Regisseur, haben sie sich<br />
vom Zuschauer abgekoppelt, was auch die<br />
Nachbarn entfremdet hat. Und der Humor<br />
der Popcorn-Komödien lässt sich ohnehin<br />
schwer exportieren – Spanier finden Bully<br />
Herbig nun mal nicht komisch, umgekehrt<br />
kommen die derben Pointen der Italiener<br />
bei uns nicht gut an.<br />
Nur Frankreich hat sich dieser Trennung<br />
in Teilen verweigert. Schon Bertrand<br />
Tavernier fragte den jungen Schlöndorff,<br />
warum er eigentlich nicht die Filme drehe,<br />
die er selber sehen wolle. Heute setzt<br />
„Ziemlich beste Freunde“ die Tradition<br />
des „Amélie“-Melodrams fort, und die intelligent-unterhaltsamen<br />
Sittenbilder eines<br />
François Ozon tragen Claude Chabrols<br />
Erbe weiter.<br />
Europa und seine Bilder, am Ende ist<br />
es ein Paradox. Denn neben dem allgegenwärtigen<br />
Krisendiskurs existiert ja durchaus<br />
ein kulturelles nachbarschaftliches<br />
Bewusstsein. „Man ist gegen Brüssel, vielleicht<br />
auch gegen den Euro, aber für Europa.“<br />
Überraschenderweise, sagt Schlöndorff,<br />
bekennen sich „normale Wähler mit<br />
gesundem Menschenverstand zu Europa,<br />
auch wenn es sie womöglich Geld kostet“.<br />
Bloß fehlen die kulturellen Produkte<br />
dazu, im Kino, im Fernsehen oder in der<br />
Literatur.<br />
Bleiben die Solitäre, versprengte Mitglieder<br />
einer Familie, die einmal im Jahr<br />
beim Filmpreis den eigenen Zusammenhalt<br />
beschwört: Pedro Almodóvar, Kaurismäki<br />
und Ozon, Ken Loach und Mike<br />
Leigh, Haneke und Lars von Trier. Immer<br />
wieder flackert die Hoffnung auf, dass Phänomene<br />
wie Fatih Akins One-Hit-Wonder<br />
„Gegen die Wand“ oder die Berliner Schule<br />
rund um Petzold, Ulrich Köhler und Christoph<br />
Hochhäusler in breitere Fahrwasser<br />
münden, ein europäisches Migrantenkino<br />
oder eine neue Nouvelle Vague mit Publikumspotenzial.<br />
Aber es gibt keine Familienbande<br />
mehr, keine kommunizierenden<br />
Röhren. Und alle Kollektivanstrengungen<br />
wie europäische Verleihförderprogramme<br />
oder zeitgleiche europäische Filmstarts waren<br />
bislang vergeblich. Schlöndorff grinst:<br />
„Also spielen wir weiter Sisyphos und hoffen<br />
darauf, dass der Stein irgendwann oben<br />
liegen bleibt.“<br />
Oder wir gehen ins Kino und schauen<br />
uns das Europa der Träume an. Unermüdlich<br />
reist sein Regisseur von Metropole zu<br />
Metropole und stattet die Stereotypen der<br />
alten Welt mit Charme und Chuzpe aus,<br />
die Londoner Upper Class, die Pariser<br />
Boheme, Roms dolce vita. In den Filmen<br />
von Woody Allen ist Europa ein Reich der<br />
Sehnsucht und der Schönheit, der Freiheit<br />
und der Kunst, bei aller Moral das Savoirvivre<br />
nicht zu vergessen. Dafür sollte Brüssel<br />
ihm die Ehrenbürgerschaft verleihen.<br />
Christiane Peitz<br />
ist Filmkritikerin und leitet das<br />
Ressort Kultur beim Berliner<br />
Tagesspiegel<br />
»Wunderbar zu lesen,<br />
das reinste Vergnügen.«<br />
JOHN IRVING<br />
»Debütromane von solcher<br />
Vollkommenheit sind sehr,<br />
sehr selten.«<br />
JONATHAN FRANZEN<br />
Chad Harbach<br />
Die Kunst des Feldspiels<br />
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illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />
Trügerische Sterne<br />
Die Prädikate der einschlägigen<br />
Gastronomieführer sorgen zwar für Ruhm<br />
und Reservierungen – aber über den Zustand<br />
der Realgastwirtschaft sagen sie praktisch<br />
nichts aus. In der Politik ist das so ähnlich<br />
Von Thomas Platt und Julius Grützke<br />
W<br />
elches ist das beste Restaurant der Stadt? Selten gibt es<br />
auf diese Frage eine eindeutige Antwort. Im Gegenteil:<br />
Gerade beim Essen ist das Spektrum des Appetits sehr<br />
weit und schwer zu überschauen. Wer gerade Lust auf ein Butterbrot<br />
mit Schnittlauch hat, wird an einem anderen Ort seinen<br />
Hunger stillen als jemand, dem ein Kaisergranat im Tempurateig<br />
an Mango-Chili-Espuma die höchste Befriedigung verschafft. Und<br />
doch gibt es eine Sehnsucht nach einer Hierarchie der Restaurants.<br />
Vielleicht ist es gerade die Vielzahl der kulinarischen Richtungen<br />
und gastronomischen Einrichtungen, die nach einer strukturierten<br />
Übersicht verlangt. Und so erwarten nicht nur die betroffenen<br />
Köche, sondern die ganze Öffentlichkeit den Richtspruch von<br />
Experten. Unter den verschiedenen Publikationen, die alljährlich<br />
die örtlichen Lokale prüfen und bewerten, ragt dabei der älteste<br />
Gastronomieführer Michelin heraus, dessen Gefolgschaft die für<br />
unbestechlich gehaltene Klassifizierung nach Sternen als Maß aller<br />
Dinge ansieht. Meisterköche hoffen und bangen vor dem Erscheinungstermin<br />
im November, wenn die neuen Klassifikationen bekannt<br />
gegeben werden, denn jeder weiß, dass ein Stern mehr oder<br />
weniger über Wohl und Wehe einer Gastwirtschaft entscheiden<br />
kann. Das Prädikat des französischen Reifenherstellers sorgt für<br />
Ruhm und Reservierungen – jedenfalls, was die Beköstigung der<br />
Oberklasse angeht. Gerade Manager und Honoratioren bestimmen<br />
ihr eigenes Prestige analog zu den Sternen der Lokale, in die<br />
sie von ihren Geschäftspartnern eingeladen werden. Und auch die<br />
wenigen, die für sich selbst die Rechnung begleichen und einen<br />
Abend mit dem Monatslohn einer Putzkraft zahlen, wollen dafür<br />
mit dem Gefühl nach Hause gehen, auf anerkannt hochklassige<br />
Art bewirtet worden zu sein.<br />
Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung nicht einmal die Absicht<br />
hat, jemals bei einem der gefeierten Köche zu Gast zu sein, ist<br />
das Interesse an den Ranglisten erstaunlich groß – als wenn beim<br />
Fußball die Aufmerksamkeit lediglich auf die Tabelle gerichtet<br />
würde, aber nicht auf das Geschehen im Stadion. Vielleicht liegt<br />
es daran, dass ein im Grunde banales System aus Punkten, Hauben<br />
oder Mützen auch für kulinarische Laien leicht verdaulich ist.<br />
So können Städte mit der Anzahl der Sterne für ihre ausgezeichneten<br />
Restaurants werben und daraus falsche Schlussfolgerungen<br />
für die Esskultur innerhalb ihrer Mauern ziehen. Denn die Edelgastronomie<br />
ist derart abgehoben vom alltäglichen Geschehen,<br />
dass man tatsächlich von einem Firmament sprechen könnte, an<br />
dem die Sterne nur von oben herab glitzern – Lichtjahre von den<br />
Herden und Speisekammern am Boden entfernt, die sie so wenig<br />
beeinflusst wie die Horoskope in der Tageszeitung.<br />
Abseits des Rummels um die Sterne existiert eine Parallelwelt,<br />
die man analog zum Finanzwesen als Realgastwirtschaft bezeichnen<br />
könnte. In dieser Sphäre genießen Menschen vielleicht völlig<br />
andere Speisen zu ganz anderen Preisen und stillen ihren Hunger.<br />
Hier wird der größte Teil des Umsatzes erzielt, ohne großes<br />
Aufsehen zu machen. Der schwelgenden Mehrheit sind Sterne<br />
schnuppe. Damit verhält es sich ähnlich wie in der Politik. Auch<br />
hier gibt es Lichtgestalten, auf denen die Hoffnung vor allem der<br />
Journalisten ruht. Es sind Redetalente, die auf alle Fragen eine<br />
Antwort geben können und denen in Talkshows und auf Titelseiten<br />
jederzeit Platz eingeräumt wird – und wenn Orden zu verteilen<br />
sind, halten sie bereitwillig ihre Brust hin. Doch obwohl<br />
es in einer Demokratie naheliegt, den Volkstribun als den König<br />
der Republik aufzufassen, ist er selten maßgeblich an der Ausgestaltung<br />
der Geschicke des Landes beteiligt. An den Fleischtöpfen<br />
der Politik sind andere Köche tätig, deren Rezepte sich auch<br />
umsetzen lassen, wenn nur Kraut und Rüben vorrätig sind. Das<br />
mag unscheinbar sein, aber es ist wirkungsvoll und mehrheitsfähig.<br />
Denn am Wahltag entscheiden sich die Bürger zumeist gegen<br />
die Sterne, die man ihnen vom Himmel holen will, sondern<br />
für eine Kost, die sie auch sättigt.<br />
Julius Grützke und Thomas Platt<br />
sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />
Beide leben in Berlin<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 139
| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />
Faible für<br />
Sonderlinge<br />
Über die Privatsammlung des Verlegers und Buchhändlers Walther König kursieren in Köln<br />
Legenden – hinter Vitrinen findet sie Schutz vor dem Qualm seiner Roth-Händle-Zigaretten<br />
Von ulrich clewing<br />
E<br />
in rot verklinkertes Haus an einer belebten Straßenecke<br />
in der Kölner Innenstadt. Vier Stockwerke hoch,<br />
an der Tür gibt es ein Graffito mit dem Konterfei des<br />
Eigentümers. Der Künstler hat es ungefragt angebracht,<br />
aber entfernen lassen mochte es Walther König auch<br />
nicht. Zu viel Aufwand. Und wahrscheinlich wäre es ein paar<br />
Tage später wieder da. Porträtköpfe sind das Markenzeichen des<br />
Sprayers.<br />
Eigentlich hatte Walther König Jurist werden wollen, damals<br />
nach dem Abitur in Münster. Er hatte einen Onkel, den er „einen<br />
guten Typen“ fand, der war Rechtsanwalt. Im Rückblick ein<br />
klarer Fall von jugendlichem Leichtsinn. Denn hätte er den Plan<br />
weiter verfolgt als nur zwei Semester, wäre er, statt Jura zu studieren,<br />
nicht bei dem Kunstkritiker und Buchhändler Albert Schulze<br />
Vellinghausen in die Lehre gegangen in dessen „Bücherstube am<br />
Dom“: Nicht auszudenken, was das für die Bücher, für die Kunst,<br />
für Köln, für die Region und überhaupt für Deutschland bedeutet<br />
hätte. Womöglich hätte es dann das rote Haus in der Ehrenstraße 4<br />
nicht gegeben. Und das wäre – mit Verlaub – eine echte Katastrophe.<br />
Es fällt schwer, sich eine schönere Kunstbuchhandlung vorzustellen<br />
als die, die Walther König dort mit westfälischer Dickschädeligkeit<br />
seit mehr als 30 Jahren führt. Andere hätten längst<br />
das Sortiment verkleinert, das Antiquariat in der obersten Etage<br />
rausgeschmissen, weil sich das Ganze nicht lohnt und es dort eh<br />
nur staubt. König dagegen scheint der Ansicht zu sein, dass das<br />
Verkaufen von deutschen, englischen, amerikanischen, italienischen,<br />
spanischen, französischen, portugiesischen und japanischen<br />
Kunstbänden nur eine Frage der Zeit ist. Und Zeit nur eine Frage<br />
von Jahren und Jahrzehnten. Wer hier nicht das Buch findet, das<br />
er nie gesucht hat, der kann an dieser Stelle aufhören zu lesen.<br />
Der ältere Bruder des scheidenden Kölner Museumsdirektors Kasper<br />
König hat nämlich auch noch einen Verlag, in dem Bücher<br />
verlegt werden, nach denen man sich die Finger leckt. Aber da<br />
die Buchhandlung nur das Präludium ist, steigen wir zu ihm ins<br />
Auto und fahren die zehn Minuten bis zu dem Stadthaus, das er<br />
und Jutta, seine Lebensgefährtin, seit langer Zeit (siehe oben) gemeinsam<br />
bewohnen.<br />
Über Walther Königs private Bibliothek kursieren in Köln<br />
Legenden. Menschen, die sie kennen, leugnen, jemals dort gewesen<br />
zu sein, damit sie nicht in die Verlegenheit geraten, Fremden<br />
gegenüber etwas von den Schätzen preiszugeben, die ihnen<br />
da gezeigt wurden. Zwei Museumsausstellungen haben König<br />
und seine Frau damit schon bestritten. Eine dritte ist gerade in<br />
Vorbereitung, diesmal zusammen mit Beständen anderer Sammler,<br />
aber das ist so neu, dass König darüber noch nicht mehr erzählen<br />
kann.<br />
Mit dem Aufzug geht es hoch bis unters Dach. Neben dem<br />
Eingang steht eine Figur von Stefan Balkenhol, und auch sonst<br />
liegt und hängt hier einiges an Kunst. Doch das Zentrum der<br />
Maisonette-Wohnung ist eindeutig der Raum, in dem die Bücher<br />
verwahrt werden. Er ist höher als die anderen und hat einen<br />
fast quadratischen Grundriss. Darin befinden sich ein großer alter<br />
Schreibtisch, dazu noch zwei Stühle und ein grünes Ledersofa, ein<br />
Zweisitzer. Für mehr ist kein Platz, denn an den Wänden erheben<br />
Foto: Bettina Flitner<br />
140 <strong>Cicero</strong> 12.2012
Der König in seinem Reich:<br />
Zwei Museumsausstellungen<br />
haben Walther König und seine<br />
Frau mit den Beständen ihrer<br />
Bibliothek bereits bestritten<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 141
| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />
Drei Mal Dieter Roth: links eines seiner Buchkunstwerke mit in Plastikfolie eingeschweißten Seiten; in der Mitte die Korrespondenz<br />
zwischen Dieter Roth und Walther König aus der Zeit, in der Roth in London lebte. Rechts ein Exemplar von „Scheisse“, der 1972 von<br />
Hansjörg Mayer verlegten ersten Sammlung von Gedichten des Künstlers (der sich manchmal auch „Rot“ statt Roth schrieb)<br />
sich rundum bis zur Decke – nein, keine einfachen Regale: Vitrinen,<br />
die schädliche Umwelteinflüsse wie Hausstaub oder den<br />
Qualm von Walther Königs Roth-Händle fernhalten.<br />
Natürlich hat er hier auch „normale“ Ausgaben (freilich erstaunlich<br />
wenige aus dem eigenen Verlag). Doch seine Leidenschaft<br />
sind Künstlerbücher, das heißt Kunstwerke in Buchform<br />
und in den meisten Fällen Unikate.<br />
Er tritt an einen Schrank und öffnet den Glasverschlag. „Einer<br />
der Künstler, die für mich sehr wichtig sind, ist Dieter Roth“,<br />
sagt König, während er aus einem der unteren Fächer eine dicke<br />
Kladde hervorzieht. „Und das hier ist eine absolute Rarität.“ Roth,<br />
in Hannover geborener Schweizer, war Dichter, Fluxus-Künstler,<br />
einer der Erfinder der „Eat Art“ und mit seinen Bricolage-Installationen<br />
für die Generation der heute 30- bis 40-Jährigen so<br />
einflussreich wie wenige andere. Er war aber auch Alkoholiker,<br />
depressiv und voller Angst. Walther König erzählt: „In seinen<br />
letzten zehn Jahren hat er angefangen, sein Leben festzuhalten.<br />
Alles, was für ihn jemals eine Rolle spielte, hat er dokumentiert,<br />
kopiert oder fotografiert und daraus Bücher wie dieses gemacht.“<br />
Er schlägt ein paar Seiten um, und man sieht Postkarten, mit<br />
der Maschine geschriebene Briefe und handschriftliche Notizen,<br />
Fotos von Orten und Gegenständen, einen eingeschweißten Joghurtbecher.<br />
Es ist ein Wirrwarr der Eindrücke und Erinnerungen,<br />
leicht verrückt und auch melancholisch in seinem Versuch,<br />
einem chaotischen Leben dadurch Herr zu werden, indem man<br />
Beweise sammelt für die eigene Existenz. „Was mich daran interessiert“,<br />
sagt jedoch Walther König, „ist Dieter Roths große Erfindungsgabe.<br />
Er hat als Einzelgänger die Geschichte der Buchkunst<br />
revolutioniert.“<br />
Auch sonst besitzt er ein offenkundiges Faible für Außenseiter<br />
und Sonderlinge, für die Maniker und die Sendungsbewussten.<br />
Eigentlich strebt Walther König nicht nach Vollständigkeit, aber<br />
von Künstlern wie Marcel Broodthaers und Martin Kippenberger<br />
hat er praktisch jedes Buch, das jemals erschienen ist. Bei den beiden<br />
macht das jeweils fast einen ganzen Schrank für sich aus. Er<br />
besitzt Klassiker wie Otto Dix’ Mappenwerk „Krieg“ („ein wirklich<br />
eindringliches Antikriegsdokument“) und hätte gern Matisse’<br />
„Jazz“ („leider zu teuer“). „Im Grunde“, sagt Walther König, „ist<br />
meine Sammlung eng verknüpft mit meiner Tätigkeit als Buchhändler.“<br />
Der Umkehrschluss träfe wohl genauso zu. Seine Tätigkeit<br />
als Buchhändler ist eng verknüpft mit seiner speziellen Art<br />
der Bibliophilie. So hat er in seinem Verlag, obwohl er nicht für<br />
Faksimilie schwärmt, vor ein paar Jahren einen Nachdruck des<br />
Bändchens „Mr. Knife and Miss Fork“ herausgebracht, das Man<br />
Ray 1931 mit Max Ernst veröffentlicht hat. „Eines der schönsten<br />
surrealistischen Bücher, die ich kenne.“<br />
Dabei gibt sich der 73-Jährige große Mühe, vor seinen Besuchern<br />
nicht selber als Sonderling dazustehen. Womöglich liegt<br />
es daran, dass er aus Westfalen stammt, wo man bei aller Metaphysik<br />
darauf achtet, in den Dingen stets auch den bodenständigen<br />
Sinn zu sehen. Jedenfalls ist ihm sehr darum getan, nicht das<br />
Missverständnis entstehen zu lassen, als sei das Büchersammeln<br />
für ihn ein Spleen. Immerhin ist er Kaufmann und darin auch<br />
ziemlich erfolgreich: „Ich habe das Kaufen von Büchern auch immer<br />
als Spekulation betrieben“, behauptet König, was nun doch<br />
ein bisschen überraschend kommt. Und holt die nächsten Raritäten<br />
aus dem Schrank, zwei, drei schmale kleine Hefte, die der<br />
inzwischen weltberühmte Maler Ed Ruscha in den sechziger Jahren<br />
im Selbstverlag herausbrachte, als er noch völlig unbekannt<br />
war und mit Mitte zwanzig wie ein Hobo in einem lädierten<br />
Straßenkreuzer durch Kalifornien fuhr, um dem auf die Spur zu<br />
kommen, was Amerika im Innersten zusammenhält – und Fotos<br />
von Tankstellen oder Swimmingpools zu machen. Die Hefte<br />
kosteten damals ein paar Dollar, mittlerweile liegen die Preise bei<br />
mehreren Tausend Euro pro Exemplar. „Immer, wenn Ed Ruscha<br />
ein neues Büchlein fertig hatte, rief er mich an und fragte, ob ich<br />
ihm eines abkaufen würde. Ich wusste genau, dass die mal etwas<br />
wert sein würden“, sagt Walther König – und erweckt nicht im<br />
Mindesten den Eindruck, als würde er sich davon jemals wieder<br />
trennen wollen.<br />
Ulrich Clewing<br />
ist Journalist und lebt in Berlin<br />
Fotos: Bettina Flitner, Guido Ohlenbostel (Autor)<br />
142 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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Böse Moderne,<br />
offene Stadt<br />
Zwei Romane und ein Comic, die uns helfen, ganz<br />
modern die Orientierung zu verlieren<br />
Die Bücherkolumne von Robin Detje<br />
W<br />
eltekel muss sein. In regelmäßigen<br />
Abständen müssen wir<br />
raus aus der Affirmationsspirale,<br />
uns auf dem Teppich herumwälzen,<br />
um uns schlagen und rufen: Die Moderne<br />
ist schuld! Die Aufklärung! Der technische<br />
Fortschritt! Die Smartphones sind<br />
schuld! Früher war alles besser, da waren<br />
wir nämlich noch jung. Heute bekommen<br />
wir bestimmt bald Daumenkrebs<br />
vom vielen Simsen und müssen jämmerlich<br />
verrecken.<br />
Das ist natürlich alles Unsinn. In der<br />
guten alten Zeit gab es Mammuts und<br />
Säbelzahntiger, Ofenheizung und frühen<br />
Tod. Und wenn man die Kritiker der Moderne<br />
dorthin zurückbeamen würde, gäbe<br />
es ein einziges Heulen und Zähneklappern.<br />
Der große Hassanfall auf den Fortschritt<br />
ist nur als Pose cool. „Die enthemmte Moderne<br />
meistern und den Rest seines Lebens<br />
retten in 25 einfachen Schritten“ heißt der<br />
„Ratgeberroman“ des frankokanadischen<br />
Autors Nicolas Langelier. Er dekliniert mit<br />
Verve und Esprit den Hass auf die Moderne<br />
durch und dann noch den auf die<br />
Postmoderne und die sogenannte Hypermoderne,<br />
die uns alle nur systematisch<br />
davon abhalten wollen, zu uns selbst und<br />
zurück zur Scholle zu finden. Zurück zur<br />
Unschuld der Kindheit, zum guten einfachen<br />
Leben der guten einfachen Menschen<br />
vom Lande.<br />
Dem Erzähler, einem 35-jährigen großstädtischen<br />
Popmusikkritiker, ist der Vater<br />
an Lungenkrebs gestorben, und er windet<br />
sich in den Krämpfen einer nur zu allzu<br />
verständlichen Krise. Sein Leben kommt<br />
ihm schal und verlogen vor, die Drogen,<br />
die verkorkste Beziehung, die leeren Affären,<br />
all das will er nicht mehr. Das Ganze<br />
ist als Anleitung geschrieben, als Aufforderung,<br />
in der zweiten Person. Ständig rammt<br />
der Autor uns den Zeigefinger in die Rippen:<br />
Tun Sie dies, tun Sie das, dann werden<br />
Sie wieder gesund! Das ist oft poetisch<br />
und schön und wird von Diskursschnipseln<br />
und Unterhaltungen mit Philosophen<br />
durchsetzt, die uns beweisen sollen, dass<br />
hier eins aus dem anderen hervorgeht: Dass<br />
die Lebenskrise des Erzählers ein direktes<br />
Resultat der von der Moderne und ihren<br />
bösen Kindern erzeugten Entfremdung<br />
darstellt. Dabei schuldet dieses Buch der<br />
Moderne seine ganze offene, satirisch-parodistische<br />
Form, sein ganzes formales Feuer,<br />
weshalb man es unbedingt als E‐Book auf<br />
dem Smartphone lesen sollte. Aber am<br />
Ende fürchtet man leider wirklich, dass der<br />
Autor das alles auch so meint. Dem Buch<br />
fehlt ein doppelter Boden, ein unverlässlicher<br />
Erzähler, der uns an der Nase herumführt.<br />
(Nicolas Langelier: „Die enthemmte<br />
illustration: cornelia von seidlein<br />
144 <strong>Cicero</strong> 12.2012
foto: Loredana Fritsch<br />
Moderne meistern und den Rest seines Lebens<br />
retten in 25 einfachen Schritten“; Ratgeberroman,<br />
Deutsch von Andreas Jandl; Bloomsbury,<br />
Berlin 2012; 176 Seiten, 16,99 Euro,<br />
als E‐Book 11,99 Euro.)<br />
***<br />
Teju Coles Roman „Open City“ ist ein sehr<br />
kompliziertes Buch. Es hat einen so unverlässlichen<br />
Erzähler, dass man manchmal<br />
ganz die Orientierung verliert. Wer spricht<br />
hier? Wann spricht der Autor, wann die<br />
Hauptfigur? Dabei ist Orientierungslosigkeit<br />
vermutlich eines der Themen des Buches,<br />
und ein anderes ist die Überforderung<br />
durch zu viele einander überlagernde<br />
Biografien in einer Weltstadt, in der globalisierten<br />
Welt überhaupt. Der Held ist<br />
ein Psychiater in der Ausbildung in New<br />
York. Zur Erholung streift er ziellos durch<br />
die Stadt. Er bewegt sich dabei in einem<br />
Kokon aus Hochkultur, getragen vom<br />
klassischen Ressentiment der Gegenmoderne.<br />
Ein selbstgefälliger Bildungsbürger<br />
offenbar.<br />
Erst später erfahren wir, dass es sich<br />
bei dem Mann um einen Einwanderer<br />
handelt, mit einer deutschen Mutter und<br />
einem nigerianischen Vater. Und nachdem<br />
sich dieser erste Bruch aufgetan hat, erleben<br />
wir nun seine Versuche, sich mit seinen<br />
Immigranten-„Brüdern“ zu solidarisieren<br />
(was nicht gelingt) oder sich dem<br />
Furor von Islamisten im Larvenstadium<br />
auszusetzen. Die schöne Hochkulturwelt<br />
hat sich plötzlich in eine beunruhigende<br />
Welt aus Zerrissenen und Entwurzelten<br />
verwandelt.<br />
Als Psychiater müsste man diesem Erzähler<br />
zweierlei diagnostizieren. Einerseits<br />
eine Unfähigkeit, sich gegen den Ansturm<br />
der Geschichten von Fremden und der eigenen<br />
Erinnerungen abzugrenzen. Andererseits<br />
eine Unfähigkeit, ihnen gegenüber<br />
eine klare Haltung einzunehmen. Er bewegt<br />
sich mit einer gespenstischen Gleichmut<br />
durch diesen Roman, der ihn auch<br />
nach Brüssel führt und artig einer älteren<br />
Tschechin den Rocksaum lüpfen lässt.<br />
Seine letzte Zuflucht ist Mahler. Das hat<br />
immer etwas leicht Seifiges, und man wird<br />
sich als Leser nie ganz darüber klar, ob dieses<br />
Parfüm vom Erzähler ausgeht und vom<br />
Autor beabsichtigt ist, oder ob er das ganze<br />
Buch umweht. Da gibt es einen irritierenden<br />
Hang zum intellektuellen Edelkitsch,<br />
wie wir ihn auch aus dem Werk von Teju<br />
Coles Vorbild W. G. Sebald kennen. Man<br />
bleibt ratlos zurück, mit großem Unbehagen<br />
und gleichzeitig dem Gefühl, viel über<br />
die Welt von heute gelernt zu haben, das<br />
man eigentlich nicht wissen wollte. (Teju<br />
Cole: „Open City“; Roman, Deutsch von<br />
Christine Richter-Nilsson; Suhrkamp, Berlin<br />
2012; 334 Seiten, 22,95 Euro.)<br />
***<br />
Der Comic, diese Kinder- und Kindheitsform<br />
zwischen Kino und Literatur, will<br />
einfach nicht alt werden. Vielleicht, weil<br />
sie fliegen kann. Sie hängt so schön dazwischen,<br />
das hält jung. Ihre Frames sind einfacher<br />
zu produzieren als Kinobilder, das<br />
macht sie federleicht. Und Comiczeichner<br />
wissen einfach besser als Literaten, dass<br />
man in Sprüngen erzählen darf, im Zickzack,<br />
hin und zurück. Sie beherrschen dieses<br />
Erbe der Moderne mit einer Eleganz,<br />
die am Literaturinstitut Leipzig einfach<br />
noch nicht gelehrt wird.<br />
„Hicksville“ von Dylan Horrocks ist<br />
ein Metacomic – ein Comic über einen<br />
berühmten Comiczeichner und einen Comickritiker,<br />
der dessen bescheidenes Heimatdorf<br />
besucht. Das ist alles wild verschachtelt<br />
mit vielen Comics im Comic,<br />
und man kann in dem ganz schön dicken<br />
Buch die Orientierung verlieren wie Teju<br />
Coles Erzähler in New York. Aber bei Horrocks<br />
ist das alles eine reine Lust. Das Buch<br />
ist aus verstreut veröffentlichten Geschichten<br />
zusammengestückelt, und die Rahmenhandlung<br />
erzählt von der verlorenen, leicht<br />
verzauberten Heimat Neuseeland. Horrocks<br />
verarbeitet in „Hicksville“ auch seine<br />
eigene Vergangenheit als Superheldenzeichner.<br />
„Für die kommerzielle Comicindustrie<br />
zu arbeiten, war eine faszinierende Erfahrung“,<br />
sagt er heute, „aber sie hat mich als<br />
Comiczeichner beinahe vernichtet.“ Vielleicht<br />
erzählt „Hicksville“ deshalb auch<br />
immer von der Unschuld des schöpferischen<br />
Tuns, vielleicht sind hier deshalb<br />
das Zeichnen und Erzählen selbst das Verzauberndste.<br />
(Dylan Horrocks: „Hicksville“;<br />
Deutsch von Marion Herbert; Reprodukt,<br />
Berlin 2012; 248 Seiten, 24 Euro.)<br />
Robin Detje<br />
lebt als Autor, Übersetzer und<br />
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146 <strong>Cicero</strong> 12.2012
D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />
Sex in der Hängematte,<br />
aufrecht stehend<br />
Der Literaturkritiker Denis Scheck beginnt seinen letzten Tag mit<br />
einem Balance-Akt und geht dann ins Landwirtschaftsmuseum<br />
Foto: Marcus Gloger<br />
I<br />
ch stelle mir vor aufzuwachen,<br />
in einem sonnendurchfluteten<br />
Schlafzimmer, um mich der Lösung<br />
einer wissenschaftlichen Frage zu<br />
widmen, die Generationen von Menschen<br />
umgetrieben hat: Ist es möglich,<br />
aufrecht stehend in einer Hängematte<br />
Sex zu haben? Natürlich muss es warm<br />
sein, in einem alten Garten muss es sein,<br />
mit alten Bäumen. Sehr gerne möchte<br />
ich diese naturwissenschaftliche Frage,<br />
diese Frage der Physik, der Körperbeherrschung,<br />
der Balance mit meiner lieben<br />
Frau austesten. Und ich hoffe, dass<br />
wir mit über 100 Jahren dazu überhaupt<br />
noch in der Lage sein werden.<br />
Wenn wir diesen uralten Traum gelöst<br />
haben, möchte ich in das Deutsche Landwirtschaftsmuseum<br />
in Stuttgart fahren,<br />
den Tag in einer Ausstellung verbringend,<br />
die aus 192 Apfel- und 94 Birnensorten<br />
besteht. Hat die Verwechslung von Äpfeln<br />
und Birnen oder zumindest der Vergleich<br />
derselben doch einen Großteil meiner Tätigkeit<br />
als Literaturkritiker ausgemacht.<br />
Dort möchte ich an diesen Obstsorten riechen,<br />
sie verköstigen, den Horneburger<br />
Pfannkuchenapfel, die Landshäuser Brunnenbirne,<br />
den Gelbmöstler. Der Duft in<br />
diesem kleinen Ausstellungsraum schlägt<br />
einem direkt ins Stammhirn: ein Wahnsinn!<br />
Und dort, mit dem Verlöschen des<br />
Lichts – weil dieses Museum selbst sterblich<br />
ist –, wird auch das eigene Leben verlöschen.<br />
Da gibt es kein Weiter.<br />
Er ist einer der bekanntesten<br />
deutschen Literaturkritiker, vor allem<br />
aber einer der meinungsfreudigsten:<br />
Denis Scheck, Moderator des<br />
monatlichen Büchermagazins<br />
„Druckfrisch“ im ARD-Fernsehen<br />
sowie Literaturredakteur<br />
beim Deutschlandfunk<br />
www.cicero.de/24stunden<br />
Ich habe kein Aussöhnungsbedürfnis.<br />
Ich möchte auch niemanden sehen. Vielen<br />
Dank. All I want, is to be alone! Bücher<br />
sollte man nicht mit ins Grab nehmen.<br />
Sie haben ein ganz eigenes Schicksal.<br />
Meine Bücher gebe ich daher der Mitwelt<br />
gerne frei, die sollen andere Leser finden.<br />
Als Henkersmahlzeit muss etwas Aufwendiges,<br />
Kompliziertes her, wie gefülltes<br />
Kamel.<br />
Der Tod ist eine Unverschämtheit. Er<br />
ist der Feind und gehört zu meinem Leben<br />
sicher nicht dazu. Gäbe es ein Unsterblichkeitsserum,<br />
mit ihm würde ich<br />
mich dem Ennui der Unendlichkeit<br />
gerne aussetzen. Wahrscheinlich halte ich<br />
den Tod deshalb für unverschämt, weil<br />
der Roman selbst eine unverschämte<br />
Kunstform ist, weil die Literatur Ansprüche<br />
an uns Leser stellt, die wir zu<br />
Lebzeiten niemals erfüllen können. Um<br />
halbwegs kompetent über die deutsche<br />
Nationalliteratur zu sprechen, müsste ich<br />
die nächsten 400 bis 500 Jahre lesen. Als<br />
Komparatist bräuchte ich gleich ein paar<br />
Tausend Jährchen mehr. Im Vergleich<br />
zu „Zettels Traum“ oder dem Werk von<br />
Thomas Pynchon, Werke, die einem allein<br />
schon Wochen an Lesezeit abverlangen,<br />
kommt mir unsere irdische Zeit von<br />
70, 80 Jahren unverschämt kurz vor. Deshalb<br />
kann ich mich mit meiner Sterblichkeit<br />
nicht abfinden.<br />
Ein Leben nach dem Tod? Daran<br />
glaube ich nicht. Keine Sekunde. Ich<br />
habe auch nicht das unglaubliche Bedürfnis,<br />
auf einer Wolke Vergil zu treffen.<br />
Den treffe ich ja schon in seinen Büchern.<br />
Tatsächlich steht die Kenntnis des Menschen<br />
mitunter dem Genuss der Literatur<br />
sogar im Wege. Die persönliche Bekanntschaft<br />
mit jemandem ist sicher nicht der<br />
Königsweg zu seinem Werk, nicht immer,<br />
nicht unbedingt. Natürlich gibt es unglaublich<br />
geistreiche, charmante, wunderbare<br />
Menschen, wie Harry Rowohlt. Es<br />
gibt aber auch viel öfter jenen schäbigen<br />
Rest, wie das Arno Schmidt einmal benannt<br />
hat, den man sich nach all der Zeit<br />
lieber nicht mehr ganz so direkt beschaut.<br />
Und wenn, dann ginge ich schon lieber<br />
gleich in die Hölle. Da ist die Gesellschaft<br />
amüsanter.<br />
Aufgezeichnet von Sarah-Maria Deckert<br />
12.2012 <strong>Cicero</strong> 147
C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />
Streit tut gut<br />
Von Alexander Marguier<br />
Z<br />
um Glück ist die wahl jetzt vorbei, ich konnte es kaum<br />
noch hören. Am Schluss war mir beinahe egal, ob<br />
Obama oder Romney das Rennen machen würde –<br />
Hauptsache, keine deutschen Fernsehkorrespondenten mehr,<br />
die ihr heimisches Publikum mit sorgenvollem Blick darüber in<br />
Kenntnis setzen, dass Amerika ein „gespaltenes Land“ sei. Dabei<br />
ist die Nachricht von der angeblichen Spaltung der Vereinigten<br />
Staaten zunächst mal gar nicht so schlecht. Denn sie läuft<br />
ja in logischer Konsequenz darauf hinaus, dass die USA keine<br />
einmalige Sache sind, sondern in doppelter Ausführung existieren.<br />
Es gibt sozusagen immer noch ein Reserve-Amerika, falls<br />
der andere Teil gerade nicht funktionieren sollte. Ist das denn<br />
kein Grund zur Freude? Der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger<br />
François Mauriac beispielsweise bekannte ja einst<br />
in launiger Offenheit, er liebe Deutschland so sehr, „dass ich zufrieden<br />
bin, dass es zwei davon gibt“. Wobei Mauriac taktvollerweise<br />
verschwieg, ob ihm die DDR mehr ans Herz gewachsen<br />
war als die Bundesrepublik oder umgekehrt. Vielleicht hatte er<br />
ja auch einfach – auf seine Weise – beide Teile gleich gern.<br />
Die Tränen, mit denen in Deutschland der Umstand beweint<br />
wird, dass die Vereinigten Staaten eine Nation voll widerstreitender<br />
Interessen und entsprechend unterschiedlicher Politikentwürfe<br />
sind, schmecken verdächtig streng nach Krokodil.<br />
Aber von der klammheimlichen Freude über den vermeintlichen<br />
Niedergang eines mächtigen Bündnispartners abgesehen, spricht<br />
aus dem wohligen Grusel angesichts der polarisierten amerikanischen<br />
Bevölkerung vor allem eine miefige Sehnsucht nach Konformität.<br />
Ein Volk, ein Land, eine Kanzlerin: So ungefähr malen<br />
wir uns das biedermeierliche Gesellschaftsideal im Jahr 22 nach<br />
der Wiedervereinigung aus. Alles so schön pastos hier, alles so<br />
wunderbar Ton in Ton. Und wenn zwischendurch zum Ergötzen<br />
des Publikums ein nicht mehr ganz so junger Wilder auftaucht<br />
und mit heftigem Pinselstrich ein bisschen dazwischenkleckert,<br />
dröhnt es von höchster Stelle mahnend: „Nicht hilfreich!“<br />
Streit ist kein Wert an sich. Aber mit umgekehrten Vorzeichen<br />
wird aus diesem Satz auch keine Gleichung; wenn Eintracht<br />
zur ersten Bürgertugend erhoben wird, bleibt der politische<br />
Wettbewerb zwangsläufig auf der Strecke (und der potenzielle<br />
Wähler nicht ohne Grund zu Hause). Das ständige Ringen um<br />
das bessere Argument ist gerade keine lästige Nebenwirkung der<br />
Demokratie, sondern ganz im Gegenteil deren eigentlicher Kern.<br />
Die Absurdität einer Partei als Gemischtwarenladen mit weltanschaulichem<br />
Vollsortiment hat der Komiker Hape Kerkeling<br />
vor drei Jahren wunderbar in Szene gesetzt: Kerkelings Alter Ego<br />
Horst Schlämmer bewarb seine Kanzlerkandidatur mit der beherzten<br />
Botschaft, er sei „liberal, konservativ und links“ zugleich.<br />
Wer will dazu schon Nein sagen? Sind wir nicht alle ein bisschen<br />
bluna? Da ist es eigentlich seltsam, dass damals laut Umfragen<br />
nur 18 Prozent der Wähler bekannten, dem Kandidaten Schlämmer<br />
ihre Stimme geben zu wollen; inzwischen dürften diese<br />
Leute ihre politische Heimat bei der CDU gefunden haben.<br />
Peer Steinbrück steht in unserem konsensverliebten Land vor<br />
der fast unmöglichen Aufgabe, Angela Merkel im Wahlkampf<br />
herauszufordern, ohne einen Streit mit ihr vom Zaun zu brechen.<br />
Da dies erkennbar nicht seinem Naturell entspricht, wird<br />
er die Wahl verlieren. Das ist sehr schade – nicht, weil Steinbrück<br />
der bessere Kanzler wäre. Sondern weil der demokratische<br />
Prozess seine Vitalität einbüßt, wenn nur noch handzahme Kandidaten<br />
eine Chance haben. Sollte das Wort „Streitkultur“ nicht<br />
zu einer läppischen Floskel verkommen, müssen wir diese Kultur<br />
auch pflegen – und damit eben den Streit. Für Widerspruch<br />
bin ich übrigens dankbar.<br />
Alexander Marguier<br />
ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />
Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />
148 <strong>Cicero</strong> 12.2012
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