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Cicero Abschied vom Auto: Die neuen Statussymbole (Vorschau)

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Juli 2013<br />

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<strong>Abschied</strong> <strong>vom</strong> <strong>Auto</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>neuen</strong><br />

<strong>Statussymbole</strong><br />

„Natürlich bin ich<br />

eine Option“<br />

Ilse Aigner über ihren Machtanspruch in der CSU<br />

und die Nachfolge von Horst Seehofer<br />

Mein Leben mit der Fatwa<br />

Hamed Abdel-Samad über den Mordaufruf der<br />

ägyptischen Islamisten<br />

Babyblogs<br />

Darf man seine Kinder ins Netz stellen?<br />

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Das Bilderpaar<br />

Sie verdichten, ohne zu karikieren. Sie<br />

machen Freude, ohne ins Unernste zu<br />

fallen. Illustrationen von Miriam Migliazzi<br />

und Mart Klein erinnern in ihrer Dynamik<br />

an hochklassige Comics. <strong>Die</strong> Kraft<br />

dieses Genres weiß das Illustratorenpaar<br />

zu nutzen, weil Mart Klein einst als<br />

Comiczeichner begann. Gemeinsam<br />

gründeten beide das Comic-Label „Unfug<br />

Verlag“. Heute bebildern sie politische und<br />

gesellschaftliche Themen für Magazine auf<br />

der ganzen Welt. Sie schließen Ereignisse<br />

und Entwicklungen für die Betrachter<br />

auf. So entstanden die Frau und der<br />

Mann mit dem Statusfahrrad für dieses<br />

Heft. So entstand auch das Doppelcover<br />

für die Sonderausgabe des <strong>Cicero</strong> zur<br />

Bundestagswahl.<br />

TITELBILD UND ILLUSTRATION:<br />

MIRIAM MIGLIAZZI & MART KLEIN<br />

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<strong>Die</strong><br />

Entscheidung<br />

Deutschland wählt – und ganz<br />

Europa fiebert mit<br />

Koalitionen, Konzepte,<br />

Kampfzonen – alles zur<br />

Bundestagswahl 2013<br />

spezial<br />

Steinbrück<br />

gegen Merkel<br />

Ihre Stärken,<br />

ihre Schwächen<br />

Wer kommt rein?<br />

Alle 299 Wahlkreise im <strong>Cicero</strong>-Check:<br />

<strong>Die</strong> Duelle, die Themen, die Favoriten<br />

„Der hatte was intus“<br />

Wie Gerhard Schröder in der Wahlnacht 2005<br />

Angela Merkel zur Kanzlerin machte<br />

Hochrechnungen<br />

<strong>Die</strong> 18-Uhr-Lüge<br />

spezial<br />

<strong>Die</strong><br />

Sonderausgabe<br />

des <strong>Cicero</strong> zur<br />

Bundestagswahl<br />

ist da. Ein Genuss<br />

für alle, die Lust<br />

auf Politik haben:<br />

Koalitionen,<br />

Konzepte,<br />

Kampfzonen


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C i c e r o | A t t i c u s<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 27. Juni 2013<br />

Thema: <strong>Statussymbole</strong>, Steuern, Grenzerfahrungen<br />

<strong>Die</strong> Grenzgänger<br />

Illustration: Christoph Abbrederis<br />

I<br />

ch sehe ihn noch vor mir auf dem Garagenvorplatz. Ein 230 E, in<br />

biederem Beige, die Sitze auch in einer undefinierbaren Nichtfarbe, und die<br />

ganze Familie stand ergriffen um den Mercedes herum. Wir Kinder spürten:<br />

Das hier war mehr als ein <strong>Auto</strong>. Das war ein <strong>Die</strong>nstwagen, der erste <strong>Die</strong>nstwagen<br />

unseres Vaters. Er hatte es geschafft. Jetzt hatte er es geschafft.<br />

Ich habe später Firmenautos, wenn sie möglich gewesen wären, immer abgelehnt.<br />

Ich mache mir nichts aus <strong>neuen</strong> <strong>Auto</strong>s. Mein Statussymbol ist kein motorisiertes<br />

Fahrzeug, dessen Brief auf meinen Arbeitgeber ausgestellt ist. Sondern ein flinkes,<br />

formschönes Fahrrad – oder die kleinen Klangwunder in Kirschholz in meinem<br />

Wohnzimmer.<br />

Das <strong>Auto</strong> hat Konkurrenz bekommen, als Fortbewegungsmittel, als Statussymbol.<br />

<strong>Die</strong> Absätze der deutschen <strong>Auto</strong>mobilindustrie im eigenen Land sinken rapide, auch<br />

weil der Stadtmensch immer weniger <strong>Auto</strong>s braucht – weder als Nutzfahrzeug noch als<br />

Statussymbol. Jan Kuhlbrodt (ab Seite 18), Buchautor und Fachmann für Statusfragen,<br />

hat sich auf die Suche nach jenen Dingen gemacht, mit denen man neuerdings zeigt,<br />

wer man ist. Til Knipper (ab Seite 30), Leiter des <strong>Cicero</strong>-Ressorts Kapital, ist der Frage<br />

nachgegangen, wie die <strong>Auto</strong>industrie der Entwicklung entgegentritt.<br />

Knipper hat außerdem den Drogerie-Milliardär Dirk RoSSmann befragt, warum<br />

er unbedingt mehr Steuern zahlen will (ab Seite 88). Ein Klartext-Interview, in dem<br />

Roßmann sogar behauptet, mit seiner Meinung nicht allein zu sein: „Ich kenne einige<br />

vermögende Menschen. Acht von zehn reichen Leuten haben kein Problem mit der<br />

Idee, höhere Einkommenssteuer zahlen zu müssen.“<br />

Ein Heft wie dieses ist viel Planung, aber immer auch etwas Zufall. Der Zufall<br />

will es nun, dass sowohl der (noch) amtierende Ministerpräsident von Hessen, Volker<br />

Bouffier, als auch die (noch) nicht amtierende Ministerpräsidentin von Bayern, Ilse<br />

Aigner, in dieser Ausgabe erstmals sehr offen über Grenzerfahrungen in ihrem Leben<br />

reden. Der CDU-Mann im Porträt von Hartmut Palmer ab Seite 34. <strong>Die</strong> amtierende<br />

Verbraucherministerin Aigner im Interview ab Seite 38. Wir haben uns gefragt: Ist das<br />

vielleicht gar kein Zufall, sondern ein Muster? Sind Menschen, die durch existenzielle<br />

Krisen gegangen sind, besser gewappnet für einen der härtesten Berufe der Welt:<br />

Spitzenpolitiker?<br />

Eine Grenzerfahrung macht derzeit auch unser <strong>Auto</strong>r hamed Abdel-Samad.<br />

Islamisten rufen dazu auf, ihn zu ermorden. Von einem geheimen Ort aus hat er<br />

für <strong>Cicero</strong> sein Leben mit der Fatwa beschrieben (ab Seite 78). Von der deutschen<br />

Regierung hört man zu diesem Fall erstaunlich wenig.<br />

Mit besten Grüßen<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

das Herz ausgeschüttet<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 5


C i c e r o | I n h a l t<br />

Titelthema<br />

18<br />

Der Karl-May-Effekt<br />

Mit den Zeiten ändern sich die <strong>Statussymbole</strong>. An die Stelle von Luxuskarossen und Villen sind Fahrräder getreten und<br />

Freizeit, Bildung und Kinder. Eine Expedition zu den Stätten neuer Sehnsüchte und zeitloser Hoffnung<br />

von Jan Kuhlbrodt<br />

26<br />

Unsere <strong>Statussymbole</strong><br />

Stereo-Anlage, Rennrad, DVD-Sammlung.<br />

Oder Freundinnen. <strong>Cicero</strong>-<strong>Auto</strong>ren zeigen ihre<br />

<strong>Statussymbole</strong> und sagen, was sie ihnen bedeuten<br />

30<br />

Wir Teilen uns Tinka<br />

Carsharing ist nicht bloß nützlich, sondern drückt<br />

auch ein Lebensgefühl aus<br />

von Til Knipper<br />

Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein<br />

6 <strong>Cicero</strong> 7.2013


I n h a l t | C i c e r o<br />

38 Bergsteigerin Aigner<br />

66 <strong>Auto</strong>krat Erdogan<br />

80<br />

Angreifer Schoeller<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE kapital<br />

32 | <strong>Die</strong> Bankerin der SPD<br />

Christiane Krajewski: Von der Finanzwelt<br />

in Steinbrücks Kompetenzteam<br />

Von Andreas Theyssen<br />

62 | Soldatin in Robe<br />

<strong>Die</strong> Staatsanwältin Ilda Boccassini will<br />

Silvio Berlusconi hinter Gitter bringen<br />

Von Petra Reski<br />

80 | Mit Uncle Sam nach oben<br />

Florian Schoeller attackiert die US-<br />

Ratingagenturen S&P, Moody’s und Fitch<br />

Von Heinz-Roger Dohms<br />

34 | Zäher Bursche<br />

Ministerpräsident Volker Bouffier ging<br />

als junger Mann durch die Hölle<br />

Von Hartmut Palmer<br />

64 | Obamas Ausputzer<br />

US-Justizminister Eric Holder wirkt<br />

trotz der Anfeindungen gegen ihn sanft<br />

Von Christoph von Marschall<br />

82 | Auf gottlosem FuSSe<br />

David Bonneys atheistische Schuhe sind<br />

der Renner in den gottesfürchtigen USA<br />

Von Daniel schreiber<br />

Fotos: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong>, Tolga Adanali/DDP Images/Sipa/Depo Photos, Andreas Pein für <strong>Cicero</strong>; Illustration: Christoph Abbrederis<br />

36 | Frau Fried fragt sich …<br />

… warum Schule Folter sein muss<br />

Von Amelie Fried<br />

38 | „Natürlich bin ich eine Option“<br />

<strong>Die</strong> CSU-Hoffnung Ilse Aigner im<br />

Interview über existenzielle Erlebnisse,<br />

Raubfische und die Bayernwahl<br />

Von Georg Löwisch und<br />

Christoph SchwenNicke<br />

44 | Mein Wunschkabinett<br />

<strong>Cicero</strong>-Wahlserie: In dieser Regierung<br />

sitzen sogar Schavan und Wulff<br />

Von Katja Kraus<br />

46 | Der Apparat frisst<br />

seine Minister<br />

Das Euro-Hawk-Debakel zeigt die<br />

groteske Komplexität im Wehrressort<br />

Von Thomas Wiegold<br />

50 | Mein Schüler<br />

Wie sich Frank-Walter Steinmeiers Ruhe<br />

auf seine Schulklasse auswirkte<br />

Von Constantin Magnis<br />

52 | Mit Käfer und Kamera<br />

Wer auf der B 1 quer durchs Land fährt,<br />

begegnet Geschichten und Geschichte.<br />

Ein sommerlicher Roadmovie<br />

Von Philipp Jeske<br />

66 | Götterdämmerung in Istanbul<br />

Erdogan unterschätzt eine Generation.<br />

<strong>Die</strong> Geschichte der Protestbewegung<br />

Von Frank Nordhausen<br />

71 | Diktatur à la Turque<br />

Warum der türkische Premier das<br />

Musterbeispiel eines <strong>Auto</strong>kraten ist<br />

Von Will J. Dobson<br />

72 | Nackte Tatsachen<br />

<strong>Die</strong> Frauenorganisation Femen<br />

lässt sich durch nichts erschüttern<br />

und provoziert weiter barbusig<br />

Von Sabine Adler<br />

78 | „Wanted Dead“<br />

Unser <strong>Auto</strong>r wird mit dem Tod bedroht.<br />

Für <strong>Cicero</strong> schildert er, wie es dazu<br />

gekommen ist, und was er nun tut<br />

Von Hamed Abdel-samad<br />

84 | Kubas Ernst & Young<br />

Vom Castro-Regime gefeuert, ist Adolfo<br />

Ajero jetzt Kubas erster Steuerberater<br />

Von Claas Relotius<br />

88 | „Deutsche Unternehmer<br />

sind zu verklemmt“<br />

Der Drogeriegründer Dirk Roßmann<br />

fordert höhere Steuern für Reiche<br />

Von Til Knipper<br />

92 | <strong>Die</strong> Diktatur der Zukunft<br />

Flut in Deutschland, Hochzeit für<br />

Klimaforscher – ein Freiheitsplädoyer<br />

Von Hans-<strong>Die</strong>ter Radecke und<br />

Lorenz Teufel<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 7


C i c e r o | I n h a l t<br />

98 Fiona Leahy lehrt die Vermählung 112<br />

Rick Rubin balanciert Black Sabath aus<br />

Stil<br />

Salon<br />

96 | Sie werden es wollen<br />

Justin O’Shea, Chefeinkäufer von<br />

mytheresa.com, definiert Modetrends<br />

Von Anne Waak<br />

108 | lizenz zum Wehtun<br />

Martin Brinkmann gibt Deutschlands<br />

frechste Literaturzeitschrift heraus<br />

Von alexander Kissler<br />

126 | Der Tod trug viele Masken<br />

Das Geiseldrama von Gladbeck wirft<br />

auch nach 25 Jahren Fragen auf<br />

Von peter Henning<br />

98 | „Ich heule immer“<br />

<strong>Die</strong> britische Hochzeitsplanerin Fiona<br />

Leahy über die Gesetze des Feierns<br />

Von LENA BERGMANN<br />

110 | Offene Rechnungen<br />

Hat Ulla Berkéwicz das Ende<br />

von Suhrkamp eingeläutet?<br />

Von wiebke Porombka<br />

130 | Der Freiheit Falsche Freunde<br />

<strong>Die</strong> Ichlinge verdammen den Staat,<br />

weil er ihren Egoismus begrenzt<br />

Von Christoph Schwennicke<br />

100 | Warum ich trage, was ich trage<br />

Früher mussten die Klamotten die<br />

Härte des Lebens präsentieren<br />

Von SAMUEL FINZI<br />

112 | der Hexer<br />

Musikproduzent Rick Rubin hat „Black<br />

Sabbath“ zum Meisterwerk verholfen<br />

Von Thomas Winkler<br />

132 | BibliotheksportrÄt<br />

Hubert Burda liebt Petrarca und<br />

hofft auf eine neue Renaissance<br />

Von holger Fuss<br />

102 | DAs fremde Kind, das ich kenne<br />

Babyblogs: Eine Spielplatzbegegnung<br />

veranschaulicht ein<br />

unheimliches Phänomen<br />

Von Lena Bergmann<br />

106 | Küchenkabinett<br />

Essen im Stehen passt in unsere Zeit,<br />

auch außerhalb der Sommerfeste<br />

Von Julius Grützke und Thomas Platt<br />

114 | Mein paulus, mein Moses<br />

Was ich durch die beiden Urväter<br />

über den modernen Bürger lernte<br />

Von Feridun Zaimoglu<br />

118 | „<strong>Die</strong> reine Präsenz“<br />

Der Maler Tim Eitel wendet sich in<br />

<strong>neuen</strong> Bildern dem Prekariat zu<br />

Von Ralf Hanselle<br />

120 | man sieht nur, was man sucht<br />

Mit Grandma Moses kehrte die<br />

Idylle in die Malerei zurück<br />

Von Beat Wyss<br />

122 | Fromme Illusionen<br />

Das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl<br />

wertete Hitlers Regime auf<br />

Von Philipp Blom<br />

125 | benotet<br />

Musik macht den Unterschied<br />

Von daniel Hope<br />

136 | die letzten 24 Stunden<br />

Vor dem eigenen Tod sollte man<br />

nicht davonschwimmen<br />

Von john von Düffel<br />

Standards<br />

Atticus —<br />

Von Christoph Schwennicke — seite 5<br />

Stadtgespräch — seite 10<br />

Forum — seite 14<br />

Impressum — seite 17<br />

Postscriptum —<br />

Von Alexander Marguier — seite 138<br />

<strong>Die</strong> nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am 25. Juli 2013<br />

Fotos: Courtesy of Curio magazine, Martin Schöller/August Images; Illustration: christoph Abbrederis<br />

8 <strong>Cicero</strong> 7.2013


C i c e r o | S t a d t g e s p r ä c h<br />

ein linker schwärmt für die Bundeskanzlerin, ein CSU-Mann hilft einem<br />

Linken beim Wahlkampf. Ein Pfarrer hält den Bundestagsrekord im Reden.<br />

Insider verraten, warum am <strong>neuen</strong> Flughafen BER ewig das Licht brannte<br />

ein gewisses Lächeln:<br />

Da schwärmt sogar gysi<br />

I<br />

n der Hamburgischen Landesvertretung<br />

moderiert Gregor Gysi ein<br />

Gespräch mit Uwe-Karsten Heye<br />

und Hugo Müller-Vogg. Beide tragen den<br />

Bindestrich in ihrem Namen, der eine<br />

auf der linken, der andere auf der rechten<br />

Seite. Der eine war Redenschreiber von<br />

Willy Brandt, der andere ist Redenschreiber<br />

in der Bild.<br />

Es ging um deren – nicht miteinander,<br />

sondern eher gegeneinander geschriebenes<br />

– Buch „Steinbrück oder Merkel?“<br />

Gegen Ende der Veranstaltung wird Gysi<br />

gebeten, doch nun auch seine persönlichen<br />

Eindrücke über die beiden Kandidaten<br />

mitzuteilen.<br />

Und da geschieht es: eine Liebeserklärung.<br />

Gysi an Merkel.<br />

Der Linke erzählt, wie vor fast genau<br />

drei Jahren in Island ein Vulkan ausbrach.<br />

<strong>Die</strong> Aschewolke über Europa ließ den Flugverkehr<br />

nahezu zusammenbrechen. Frau<br />

Merkel wollte nach einem Besuch – „von<br />

wo auch immer“ – nach Berlin zurückfliegen,<br />

landete aber in Lissabon.<br />

Als sie dort aus dem Flugzeug ausgestiegen<br />

sei, habe sie verschmitzt gelächelt und<br />

die Augen leicht nach oben verdreht. Er<br />

habe es selbst im Fernsehen gesehen. „Und<br />

ich sage Ihnen, das hatte was“, sagt Gregor<br />

Gysi. Auch er lächelt jetzt – offensichtlich<br />

immer noch beeindruckt von der ihn bezaubernden<br />

Merkel. gw<br />

Redenrekord im Plenum:<br />

Polit-Pastor holt gold<br />

P<br />

ascal Kober von der FDP ist<br />

ein ganz besonderer Parlamentarier.<br />

Der Reutlinger Abgeordnete<br />

hält uneinholbar den Redenrekord in der<br />

jetzt auslaufenden 17. Legislaturperiode.<br />

131 Mal hat er seit seinem Einzug in den<br />

Bundestag im Jahr 2009 bereits das Wort<br />

ergriffen. Er kann auch <strong>vom</strong> Zweitplatzierten<br />

Heinrich Kolb (110 Reden) und<br />

ebenfalls Freidemokrat nicht mehr eingeholt<br />

werden.<br />

Dass er so oft rede, habe nichts damit<br />

zu tun, dass er als evangelischer Pfarrer<br />

das Predigen gelernt habe. „Ich bin<br />

auch keine rhetorische Geheimwaffe der<br />

FDP“, versichert er. Er müsse deshalb<br />

so oft ans Mikrofon treten, weil er Mitglied<br />

im Hartz-IV-Ausschuss sei, dessen<br />

Probleme die Opposition besonders gern<br />

im Plenum des Bundestags zur Sprache<br />

bringe. Häufig müsse er auch als Vertreter<br />

im Ausschuss für Menschenrechte<br />

und humanitäre Hilfe den Standpunkt der<br />

FDP vertreten.<br />

Kober ist aber nicht nur ein fleißiger<br />

Rhetor, ihm ist es auch gelungen, im Hohen<br />

Haus von rechts bis links ein großes<br />

Gelächter auszulösen. Am Ende seiner<br />

100. Rede erlaubte er sich nämlich eine<br />

„persönliche Bemerkung“ an SPD-Kanzlerkandidat<br />

Peer Steinbrück. Der hatte<br />

im Unterschied zu Kober bis dahin nur<br />

fünfmal im Bundestag geredet und wegen<br />

seiner umfangreichen Vortragstätigkeit<br />

bekanntlich wenig Zeit fürs Plenum<br />

gefunden. An ihn gewandt stichelte Kober<br />

nun: „Ich freue mich, dass ausgerechnet Sie<br />

bei meiner 100. Rede anwesend sind.“ Das<br />

Protokoll vermerkt Heiterkeit auf allen Seiten<br />

des Hauses. Nur Steinbrücks Lippen<br />

wurden schmal.<br />

Anfangs hatte Kober gedacht, er<br />

komme als Parlamentsnovize so bald nicht<br />

zu Wort. Aber dann schaffte er es schon bei<br />

seinem ersten Auftritt im Plenarsaal, gleich<br />

zwei Reden zu halten. Einen Ordnungsruf<br />

hat der Polit-Pfarrer bislang noch nicht einstecken<br />

müssen. tz<br />

illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

10 <strong>Cicero</strong> 7.2013


illustrationen: Cornelia von Seidlein<br />

CSU-GRAF stützt linken:<br />

Historisches Bündnis<br />

E<br />

r sei, beteuert der Bundestagsabgeordnete<br />

Wolfgang Nešković unablässig,<br />

„kein Politiker, sondern<br />

ein Richter, der Politik macht“. Tatsächlich<br />

war der Bundesrichter a. D. zuerst Sozialdemokrat,<br />

bis die SPD das Asylrecht änderte.<br />

Dann war er bei den Grünen, bis die den<br />

Einsatz der Bundeswehr im Kosovo billigten.<br />

Dann holte ihn Gregor Gysi als parteilosen<br />

Kandidaten für den Wahlkreis 64<br />

(Cottbus-Spree-Neiße), den er tatsächlich<br />

direkt gewann. Leider kam er mit den dunkelroten<br />

Genossen in Brandenburg nicht<br />

klar. Er warf ihnen vor, in der Landtags-<br />

Koalition mit der SPD der Fortsetzung des<br />

Braunkohlebaus in der Lausitz zugestimmt<br />

und damit ein zentrales Wahlversprechen<br />

gebrochen zu haben.<br />

Jetzt will Nešković als Unabhängiger<br />

für den Bundestag kandidieren. Der Überzeugungstäter,<br />

der sich immer auf der linken<br />

Seite des politischen Spektrums verortete,<br />

hat dabei einen prominenten<br />

Konservativen gefunden, der ihm helfen<br />

will: Hermann Graf von Pückler, Urgroßneffe<br />

des berühmten Landschaftsgestalters<br />

und Weltenbummlers Fürst von Pückler-<br />

Muskau, der im 18. Jahrhundert rund um<br />

das Schloss Branitz den Schlosspark Cottbus-Branitz<br />

schuf – heute noch eine Sehenswürdigkeit<br />

des Landes.<br />

<strong>Die</strong> Pückler-Familie wurde 1945 vertrieben.<br />

Graf Hermann – 1939 auf Schloss<br />

Branitz geboren, wohin er nach dem Mauerfall<br />

zurückkehrte – wuchs in München<br />

auf und engagierte sich in der CSU. Früher<br />

war er Geschäftsführer und Partner einer<br />

Vertriebsgesellschaft für Industrieanlagen,<br />

heute betreibt er bei Cottbus die<br />

Pückler’sche Forstwirtschaft. Auch er ist<br />

ein erbitterter Gegner des Braunkohletagebaus,<br />

weil abzusehen ist, dass die durch<br />

den Bergbau verursachte Grundwasserabsenkung<br />

auch seine Wälder bedroht. In<br />

Nešković, auf den ihn übrigens der CSU-<br />

Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler<br />

aufmerksam gemacht hat, fand er nun<br />

einen engagierten Mitstreiter. „Über Wirtschaftspolitik<br />

haben wir sicher unterschiedliche<br />

Meinungen“, sagt Graf Pückler. Aber<br />

in der Lausitz sei Nešković „für mich der<br />

einzige Kandidat, der ganz klar kein Lobbyist<br />

von Vattenfall ist.“<br />

Der so gelobte linke Quertreiber rechnet<br />

sich Chancen aus, mit Hilfe des CSU-<br />

Mannes den Wahlkreis direkt zu holen. Zu<br />

seinen Unterstützern gehören auch viele<br />

Linke, die mit dem Partei-Establishment<br />

nicht einverstanden sind. Außerdem Piraten,<br />

Attac-Anhänger und viele Nichtwähler.<br />

Wenn außer ihm noch weitere Unabhängige<br />

im Parlament säßen, gäbe es eine Möglichkeit,<br />

das „Parteiendiktat“ (Nešković) im<br />

Bundestag zu brechen. Noch nie hat es allerdings<br />

ein Kandidat geschafft, als Unabhängiger<br />

einen Wahlkreis direkt zu holen.<br />

„<strong>Die</strong> Lausitz“, sagt Nešković, „kann Geschichte<br />

schreiben.“ hp<br />

Schilda in Schönefeld:<br />

Software vergessen<br />

I<br />

m Rathaus von Schilda war es bekanntlich<br />

immer duster, weil die<br />

Schildbürger vergessen hatten,<br />

Fenster einzuplanen. Im <strong>neuen</strong> Berliner<br />

Flughafen Schönefeld war es monatelang<br />

immer hell, weil niemand wußte, wie man<br />

das Licht ausschaltet. Es brannte Tag und<br />

Nacht, obwohl noch kein einziges Flugzeug<br />

je gestartet oder gelandet war. Wer nachfragte,<br />

warum das so sei, bekam zu hören,<br />

das Sicherheitspersonal und die Putzleute<br />

bräuchten die Beleuchtung – zum Bewachen<br />

und zum Putzen und zwar Tag und<br />

Nacht auf allen 300 000 Quadratmetern<br />

Geschossfläche.<br />

Das zu glauben, fiel schon schwer. Irgendwann<br />

lüftete Technik-Chef Horst<br />

Amann bei einem Treffen mit Kaufleuten<br />

und Industriellen einen kleinen Zipfel des<br />

Geheimnisses: Das ewig brennende Licht<br />

habe „damit zu tun, dass wir mit der Leittechnik<br />

nicht so weit sind, dass wir es steuern<br />

können.“ Warum sie noch nicht so weit<br />

sind, verriet er nicht.<br />

Insider kennen längst die Wahrheit:<br />

Das Licht brannte deshalb ununterbrochen,<br />

weil Planer des Flughafens vergessen<br />

hatten, eine bestimmte Software zu kaufen,<br />

die das Licht steuert. <strong>Die</strong>se Software,<br />

die natürlich auch ein paar Tausend Euro<br />

kostet, war einfach in der Ausschreibung<br />

nicht vorgesehen und wurde folglich auch<br />

nicht geliefert. <strong>Die</strong> Folge: Nachdem das<br />

Licht zu Testzwecken angeschaltet worden<br />

war, wusste niemand, wie man es wieder<br />

ausschaltet, weil die Software fehlte. Kein<br />

Witz – Schilda pur! hp<br />

Prinzip reissverschluss:<br />

pokern um die posten<br />

D<br />

ie Kabinettsbildung in einer Koalition<br />

funktioniert wie ein Reißverschluss:<br />

Ein Zahn aus der einen<br />

Reihe greift so lange in den Zahn der<br />

gegenüberliegenden Reihe, bis der Hosenlatz<br />

zu ist. Bei zwei Koalitionären fängt der<br />

größere mit dem Kanzleramt an. Dann hat<br />

der kleinere Partner Zugriff auf das zweitwichtigste<br />

Ressort, das Finanzministerium,<br />

danach der größere auf die Drei und so<br />

weiter, bis alle Posten verteilt sind.<br />

Eigentlich. Aber nicht, wenn es am<br />

22. September zu einer Großen Koalition<br />

kommen sollte, von vielen Beobachtern<br />

als der wahrscheinlichste Wahlausgang<br />

betrachtet.<br />

Denn da würde die SPD-Seite bei Zahn<br />

zwei des Reißverschlusses sagen: „Nein,<br />

danke!“ Weil Frank-Walter Steinmeier nicht<br />

Finanzminister werden möchte. Peer Steinbrück<br />

wäre dann nämlich als Wahlverlierer<br />

weg und der vormalige Kanzlerkandidat der<br />

SPD und jetzige Fraktionschef der erste Aspirant<br />

auf den ersten SPD-Ministerposten.<br />

Steinmeier würde aber: „Bitte, nach Ihnen!“<br />

zur Union sagen. Und lieber wieder Außenminister<br />

werden, ein Amt, das er schon<br />

mal mit großer Freude ausgeübt hat, in der<br />

letzten Großen Koalition. Sagen jedenfalls<br />

Leute in der Fraktion, die es wissen müssen.<br />

Und Wolfgang Schäuble könnte bleiben,<br />

was er eh gerne bleiben würde. swn<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 11


Vision erfüllt.<br />

<strong>Die</strong> neue S-Klasse.<br />

Mit der Erfindung des <strong>Auto</strong>mobils haben wir die Welt revolutioniert.<br />

Jetzt revolutionieren wir das <strong>Auto</strong>mobil. Erneut.<br />

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Eine Marke der Daimler AG<br />

Kraftstoffverbrauch innerorts/außerorts/kombiniert: 13,3–6,6/7,5–4,8/9,6–5,6 l/100 km; CO₂-Emissionen kombiniert: 225–147<br />

<strong>Die</strong> Angaben beziehen sich nicht auf ein einzelnes Fahrzeug und sind nicht Bestandteil des Angebots, sondern dienen allein Vergleichszwecken zwischen verschiedenen<br />

Anbieter: Daimler AG, Mercedesstraße 137, 70327 Stuttgart


g/km; Effizienzklasse: D–A.<br />

Fahrzeugtypen. Das abgebildete Fahrzeug enthält Sonderausstattungen.


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Forum<br />

Es geht um Alterssex und Jugendlieben, ums „Wir“ oder „Ich“<br />

Zu den Kolumnen von<br />

Amelie Fried über<br />

Alterssex / Juni 2013, Frauen in<br />

Führungspositionen / Mai 2013,<br />

und Jugendlieben / Februar 2013<br />

Schlag ins<br />

Gesicht<br />

Runzlige Hautlappen – zahnlose Münder, die sich aneinanderpressen, sollten nicht<br />

gezeigt werden. Aber: Knackige Körper, die übereinander herfallen – Zungen, die<br />

in Mündern herumschlappen –, sollten auch nicht gezeigt werden. Sind die Alten<br />

für die ewig Jungen so ein Graus? Gefühle und Empfindungen ändern sich – sie<br />

schrumpeln nicht. Alter ist nicht gleich körperlicher Verfall. Wird Frau Fried nicht<br />

alt? Ich denke, nur Menschen, die keinen erfüllten Sex haben, können so etwas<br />

schreiben. Ein Schlag ins Gesicht.<br />

Elisabeth Hirche, Bad Bevensen<br />

Toller Beitrag<br />

Ich habe mit Freude den Artikel von<br />

Amelie Fried „… ob Frauen zu faul für<br />

Führungspositionen sind“ gelesen. Ein<br />

toller Beitrag, sprach mir direkt aus der<br />

Seele, sehr, sehr gut. Vielen Dank dafür.<br />

Brigitte Friebe-August, Hamburg<br />

Keep up, Amelie!<br />

Gleicher Jahrgang, gleiche Sozialisierung:<br />

Ihr Artikel „Jugendliebe“ trifft<br />

meine Gefühle und Ansichten beziehungsweise<br />

der USA auf den Punkt! Als<br />

(amerikanisch geprägte) Berufsoptimisten<br />

können wir aber hoffen: Es gibt auch<br />

ein anderes, stilleres, reflektierendes,<br />

zivilgesellschaftlich denkendes und<br />

handelndes Amerika, nur hören wir von<br />

seinen Akteuren und diesem Teil Amerikas,<br />

der unser beider Jugendliebe viel<br />

näher kommt, in den deutschen Medien<br />

wenig, von Fox News natürlich gar nicht<br />

zu reden.<br />

Keep your column up, Amelie!<br />

O. J. Krueck, z. Zt. Kansas City, Missouri, USA<br />

zum Beitrag „Wo das Wir<br />

entscheidet“ von Alexander<br />

Kissler / Juni 2013<br />

Grandioser Fortschritt<br />

Nähert man sich naiv und ohne Hintergedanken<br />

dieser Problematik, dann ist<br />

und bleibt der Mensch ein Individuum<br />

und zugleich ein soziales Wesen, das<br />

kommuniziert und kooperiert. Somit<br />

wird er sich in der Regel fatalerweise<br />

verschiedenen Gruppen zugehörig<br />

fühlen. Wer sich nicht zugehörig fühlt,<br />

spricht von „ihr“ oder auch abwertend<br />

von „die“. In fernen Zeiten sprach man<br />

von einer dialektischen Beziehung von<br />

„ich“ und „wir“ – heute gibt es in diesem<br />

„Glaubenskrieg“ offenkundig nur noch<br />

ein „Entweder – Oder“. Was für ein<br />

grandioser Fortschritt!<br />

Es ist Herrn Brüderle insbesondere<br />

zu danken, dass er im Geiste bereits<br />

im FDP-Wahlkampfanzug und offensichtlich<br />

berauscht von der eigenen<br />

Bedeutung als politisch-philosophischer<br />

Aufklärer uns mit messerscharfer wie<br />

konfuser Argumentation auf die Abgründe<br />

des „wir“ aufmerksam machte.<br />

Denn das „wir“, so Brüderle, zerstöre<br />

das „ich“ und ist ein Kampfbegriff jener<br />

Parteien, die Deutschland in das Joch<br />

des Sozialismus zwingen wollen.<br />

Wenige Wochen zuvor hatte der<br />

gleiche Herr Brüderle getönt, dass „wir“<br />

(die FDP) die Regierung auf „Kurs“<br />

gehalten haben; wieder wenige Wochen<br />

zuvor hatte er mit dem Satz „das haben<br />

wir gemacht“ die wichtigsten Ergebnisse<br />

der Regierungsarbeit für die FDP<br />

vereinnahmt. War es die ausgeprägte<br />

Bescheidenheit Herrn Brüderles, dass er<br />

illustration: cornelia von seidlein<br />

14 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Manches teilt man gern online.<br />

/ /S I E SP RICHT MIT MA MA ÜBER ALLES_<br />

// AUSSER ÜBER IHREN ERSTEN FREUND_<br />

Anderes nicht.<br />

Manches teilt man gern online, anderes nicht. Microsoft versucht zu helfen. Wir machen uns für die Nutzung der „Do Not Track“-Funktion stark und<br />

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Debatte<br />

Wachsen oder Schrumpfen?<br />

Leser und Experten diskutieren über das Titelthema des Juni-Heftes<br />

Früh übt sich …<br />

… was später mal ein richtiger <strong>Cicero</strong>-<br />

Leser werden will. Zumindest das<br />

Titelbild mit dem Zwerg hat es dem<br />

kleinen Jonas, 3, aus Berlin angetan.<br />

Jonas wird in jedem Fall wachsen.<br />

Ob auch Deutschland wächst, wie<br />

die Titel-<strong>Auto</strong>ren behaupten, oder<br />

ob es schrumpft, wie andere meinen,<br />

darüber geht der Streit, den wir hier<br />

in Auszügen dokumentieren.<br />

<strong>Die</strong> Redaktion<br />

Dr. Reiner Klingholz, Direktor<br />

des Berlin-Instituts für<br />

Bevölkerung und entwicklung<br />

in einem Leserbrief (Auszüge):<br />

unwahrscheinlich<br />

In der neuesten Ausgabe von <strong>Cicero</strong><br />

wähnen Sie Deutschland auf dem<br />

Weg zum 100-Millionen-Volk.<br />

Nach sämtlichen heute verfügbaren<br />

Befunden ist diese Variante in etwa so<br />

wahrscheinlich wie ein Champions-<br />

League-Titel für Hoffenheim in der<br />

kommenden Saison.<br />

Zumal der Beitrag seine Argumentation<br />

ausgerechnet auf dem Bevölkerungswachstum<br />

in der sachsen-anhaltinischen<br />

Stadt Halle aufbaut. In der<br />

Tat hat sich dort die Bevölkerungszahl<br />

zwischen 2009 und 2011 geringfügig<br />

erhöht. Aber das ist kein Beleg<br />

für Wachstum, sondern eher für das<br />

Gegenteil: Überall in den <strong>neuen</strong> Bundesländern<br />

gehen die Einwohnerzahlen<br />

massiv zurück, und dieser Effekt treibt<br />

die Menschen in die Städte. Denn in<br />

den ländlichen Gebieten dünnt sich<br />

allerorts die öffentliche Infrastruktur<br />

aus – von Schulen, über Arztpraxen bis<br />

zu Einkaufsmöglichkeiten. <strong>Die</strong> Städte<br />

wachsen also lediglich, weil ihr eigenes<br />

Umland immer unattraktiver wird.<br />

Halle ist neben Magdeburg die einzige<br />

kleine Wachstumsinsel in einem<br />

Ozean des Schrumpfens.<br />

Prof. Dr. Norbert F. Schneider,<br />

Direktor des Bundesinstituts<br />

für Bevölkerungsforschung<br />

in einem Interview mit <strong>Cicero</strong><br />

Online (Auszüge):<br />

wir schrumpfen<br />

Herr Schneider, Sie wollen als Direktor<br />

des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung<br />

keine Prognose zur Bevölkerungsentwicklung<br />

in Deutschland<br />

abgeben. Warum?<br />

<strong>Die</strong> zurzeit bekannteste Prognose ist<br />

die zwölfte koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung<br />

des Statistischen<br />

Bundesamts. Sie reicht bis zum Jahr<br />

2060. <strong>Die</strong> Modellannahmen, die dort<br />

bezogen auf Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung<br />

und Wanderungsverhalten<br />

getroffen werden, sind in gewisser<br />

Weise beliebig und bewegen sich<br />

in breiten Korridoren. Je nach Variante<br />

kommt man auf eine Bevölkerungsgröße,<br />

die im Jahr 2060 bei circa<br />

70 Millionen und in einem anderen<br />

Fall bei etwa 64 Millionen liegt.<br />

Aber wie viele wir Mitte des Jahrhunderts<br />

auch sein werden – Fakt ist:<br />

Deutschland wird schrumpfen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Auto</strong>ren des <strong>Cicero</strong>-Titels,<br />

Andreas Rinke und Christian<br />

schwägerl, bleiben bei ihrer<br />

these: deutschland wächst<br />

zensus besagt nichts<br />

Mit großer Überraschung sind<br />

soeben die Ergebnisse des Zensus<br />

wahrgenommen worden. 2011 hatte<br />

Deutschland danach rund 1,5 Millionen<br />

Einwohner weniger, als statistisch<br />

angenommen. Doch die Zensus-<br />

Ergebnisse besagen eben nicht, dass<br />

Deutschlands Bevölkerung schrumpft,<br />

wie viele Medien dies nun schreiben –<br />

sie bedeuten vielmehr, dass 2011 weniger<br />

Menschen in Deutschland gelebt<br />

haben, als die Behörden gedacht<br />

haben.<br />

Ein ratloser <strong>Cicero</strong>-Leser:<br />

phantom-debatte?<br />

Hat der böse Statistiker-Zensus 2011<br />

die optimistische 100-Millionen-<br />

Chance zunichtegemacht, müssen wir<br />

uns nunmehr doch wieder eher an der<br />

ernüchternden 80-Millionen-Grenze<br />

orientieren, und hat <strong>Cicero</strong> mit seinem<br />

triumphalen Aufmacher gründlich<br />

danebengelegen? Oder ist die von<br />

<strong>Cicero</strong> beschriebene Trendwende<br />

womöglich unbemerkt im Jahr 2012<br />

ins Land geschlichen? Es soll ja rund<br />

eine Million Menschen in der Republik<br />

geben, ohne Registrierung und Papiere.<br />

Oder sind auch diese Illegalen lediglich<br />

ein Phantom?<br />

Winfried Grund, Werl<br />

In eigener Sache:<br />

Der Art Directors Club Deutschland<br />

hat <strong>Cicero</strong> einen Nagel für die<br />

Covergestaltung des Septemberheftes<br />

2012 verliehen. Prämiert wurden<br />

nicht nur die Titel-Zeichnungen<br />

von Jan Rieckhoff, sondern<br />

auch die Idee, das TV‐Phänomen<br />

„Tatort“ mit den Konterfeis aller<br />

TV‐Kommissare zu präsentieren<br />

und entsprechend deren<br />

Einsatzgebieten in 20 verschiedenen<br />

Fassungen zu verbreiten<br />

– in Münster etwa<br />

mit den Porträts von Axel Prahl und<br />

Jan Josef Liefers oder in Hannover mit<br />

Maria Furtwängler auf dem Cover.<br />

Fotos: Privat; illustrationen: cornelia von seidlein<br />

16 <strong>Cicero</strong> 7.2013


I m p r e s s u m<br />

sich des „Kampfbegriffs“ der politischen<br />

Gegner bediente, um das Wort „ich“ zu<br />

umgehen?<br />

Wieland Becker, Berlin<br />

zum Postscriptum „Mitleid“ von<br />

Alexander Marguier/Mai 2013<br />

Klares Wort<br />

Auch wenn sich das Postscriptum der<br />

aktuellen Ausgabe eher wie eine Sonderveröffentlichung<br />

der Wahlkampfleitung<br />

des Kanzleramts liest, hat Herr Marguier<br />

in allen Punkten recht.<br />

Vielen Dank für dieses klare Wort!<br />

Thomas Goebel, München<br />

verleger Michael Ringier<br />

chefredakteur Christoph Schwennicke<br />

Stellvertreter des chefredakteurs<br />

Alexander Marguier<br />

Redaktion<br />

Textchef Georg Löwisch<br />

Ressortleiter Lena Bergmann (Stil), Judith Hart<br />

(Weltbühne), Dr. Alexander Kissler (Salon), Til Knipper (Kapital)<br />

Constantin Magnis (Reportagen), Christoph Seils (<strong>Cicero</strong> Online)<br />

politischer Chefkorrespondent Hartmut Palmer<br />

Assistentin des Chefredakteurs Monika de Roche<br />

Redaktionsassistentin Sonja Vinco<br />

Publizistischer Beirat Heiko Gebhardt,<br />

Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer, Jacques Pilet,<br />

Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />

Art director Kerstin Schröer<br />

Bildredaktion Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

Produktion Utz Zimmermann<br />

Verlag<br />

geschäftsführung<br />

Rudolf Spindler<br />

Vertrieb und unternehmensentwicklung<br />

Thorsten Thierhoff<br />

Redaktionsmarketing Janne Schumacher<br />

Abomarketing Mark Siegmann<br />

nationalvertrieb/leserservice<br />

DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH<br />

Düsternstraße 1–3, 20355 Hamburg<br />

Anzeigen-Disposition Erwin Böck<br />

herstellung Lutz Fricke<br />

grafik Franziska Daxer, Dominik Herrmann<br />

druck/litho Neef+Stumme, premium printing<br />

GmbH & Co.KG, Schillerstraße 2, 29378 Wittingen<br />

Holger Mahnke, Tel.: +49 (0)5831 23-161<br />

cicero@neef-stumme.de<br />

anzeigenleitung (verantw. für den Inhalt der Anzeigen)<br />

Tina Krantz, Anne Sasse<br />

Anzeigenverkauf Jörn Schmieding-<strong>Die</strong>ck<br />

anzeigenverkauf online Kerstin Börner<br />

anzeigenmarketing Inga Müller<br />

anzeigenverkauf buchmarkt<br />

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<strong>Die</strong>ffenbachstraße 15 (Remise), 10967 Berlin<br />

Tel.: +49 (0)30 609 859-30, Fax: -33<br />

verkaufte auflage 83 335 (IVW Q1/2013)<br />

LAE 2012 93 000 Entscheider<br />

reichweite 390 000 Leser<br />

<strong>Cicero</strong> erscheint in der<br />

ringier Publishing gmbh<br />

Friedrichstraße 140, 10117 Berlin<br />

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redaktion Tel.: +49 (0)30 981 941-200, Fax: -299<br />

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gründungsherausgeber Dr. Wolfram Weimer<br />

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in<br />

Onlinedienste und Internet und die Vervielfältigung auf<br />

Datenträgern wie CD-ROM, DVD-ROM etc. nur nach<br />

vorheriger schriftlicher Zustimmung des Verlags.<br />

Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder<br />

übernimmt der Verlag keine Haftung.<br />

Copyright © 2013, Ringier Publishing GmbH<br />

V.i.S.d.P.: Christoph Schwennicke<br />

Printed in Germany<br />

eine publikation der ringier gruppe<br />

zum beitrag „Da stehst du doch<br />

drauf“ von Daniel Haas/Mai 2013<br />

Traum von Kumpelei<br />

Schade, dass dem Spezialisten für populäre<br />

Medien Daniel Haas entgangen ist,<br />

dass sexuelle Belästigung von Frauen<br />

bei Klaas und Joko zum Traum von<br />

Kumpelei zu gehören scheint, zumindest<br />

so lange, bis dies von der Öffentlichkeit<br />

kritisiert wird. Oder hat er diesen<br />

Umstand ganz bewusst verschwiegen?<br />

Nur wenige Seiten weiter dagegen der<br />

Aufruf: „Zeig Flagge für Frauen!“ Oder<br />

gilt das erst, wenn das Niveau eindeutig<br />

auf die starke Verletzung von Menschenrechten<br />

sinkt? Vielleicht wurde dieser<br />

Artikel aber auch nur unter der Prämisse<br />

geschrieben, übertriebenen Tugendfuror<br />

um jeden Preis zu vermeiden?<br />

Bernadette Antoni, Kirchheim bei München<br />

Service<br />

Liebe Leserin, lieber leser,<br />

haben Sie Fragen zum Abo oder Anregungen und Kritik zu einer<br />

<strong>Cicero</strong>-Ausgabe? Ihr <strong>Cicero</strong>-Leserservice hilft Ihnen gerne weiter.<br />

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samstags von 9:00 Uhr bis 14:00 Uhr.<br />

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<strong>Cicero</strong> in Lesezirkeln ist nur mit Genehmigung des Verlags statthaft.<br />

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Schüler, Studierende, Wehr- und Zivildienstleistende<br />

gegen Vorlage einer entsprechenden<br />

Bescheinigung in D: 60,– €, CH: 108,– CHF, A: 72,– €*<br />

<strong>Cicero</strong> erhalten Sie im gut sortierten<br />

Presseeinzelhandel sowie in Pressegeschäften<br />

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Falls Sie <strong>Cicero</strong> bei Ihrem Pressehändler<br />

nicht erhalten sollten, bitten Sie ihn, <strong>Cicero</strong> bei<br />

seinem Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist<br />

dann in der Regel am Folgetag erhältlich.<br />

(<strong>Die</strong> Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 17


T i t e l<br />

18 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Der Karl-May-Effekt<br />

<strong>Die</strong> Zeiten ändern sich und mit ihnen die <strong>Statussymbole</strong>. Was<br />

früher die Luxuskarosse und die Villa waren, sind heute Fahrräder<br />

und Freizeit, Bildung und Kinder. Eine Expedition zu den<br />

Stätten neuer Sehnsüchte und zeitloser Hoffnung<br />

von jan Kuhlbrodt<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 19


T i t e l<br />

D<br />

ie Recherche zu diesem Artikel<br />

führte mich durch einige<br />

der schönsten Orte Deutschlands,<br />

durch Orte, die mit der<br />

deutschen Romantik in Verbindung<br />

stehen, sogar durch deren Herz, das<br />

Saaletal. Hier, wie in Radebeul bei Dresden,<br />

locken zum Fluss hin sanfte Hänge, mit<br />

Wein bepflanzt, inmitten der Frühlingssonne.<br />

Ich war froh, dass ich mit dem Zug<br />

unterwegs war und nicht mit <strong>Auto</strong> oder<br />

Flugzeug. Mir wäre das Grün an den Rainen<br />

sonst vollkommen entgangen. Wahrer<br />

Luxus wäre gewesen, die Strecke zu laufen,<br />

aber dazu fehlte mir die Zeit, das kostbarste<br />

Gut überhaupt.<br />

Vor einigen Jahren kauften Studenten<br />

unter Aufbringung all ihrer finanziellen<br />

Möglichkeiten ein <strong>Auto</strong>. Es war ein Ausweis<br />

von Freiheit. Auf dem Campus der<br />

Frankfurter Universität gab es eine studentische<br />

<strong>Auto</strong>vermietung, die mit einem Wochenendangebot<br />

warb, das „Kleine Fluchten“<br />

hieß, einen Opel Kadett enthielt und<br />

eine gewisse Anzahl Kilometer. Man hätte<br />

es damit knapp bis Italien geschafft, oder<br />

zur Oma in den Schwarzwald und wieder<br />

retour. Einige jener, die damals davon Gebrauch<br />

machten, bekleiden heute hohe<br />

Ämter. Einen Kommilitonen – er lehrt<br />

nun an einer Privathochschule für Juristen<br />

– sah ich kürzlich als Sachverständigen<br />

zur US‐Wahl in der Tagesschau.<br />

Damals, Ende der neunziger Jahre, saßen<br />

ein paar Freunde und ich während einer<br />

Party im Leipziger Westen gelangweilt<br />

um einen Küchentisch und überlegten, was<br />

wir mit uns und unserer Zeit anfangen sollten.<br />

Zum Glück hatte einer von uns ein<br />

<strong>Auto</strong> dabei, einen Renault mit Göttinger<br />

Kennzeichen. <strong>Die</strong>ses Fabrikat hatte ich oft<br />

an Tankstellen gesehen. Immer dieselben<br />

Kästen, immer Göttinger Kennzeichen<br />

und immer drei ältere Studenten mit Lederhosen,<br />

die in der Tankstelle eine mittelgroße<br />

„Toblerone“ kauften. Wir fuhren also<br />

zu dritt nach einem Zwischenstopp an der<br />

Tankstelle nach Rügen. Denn ich hatte damals<br />

zur Rettung des Abends einen Vater<br />

beizusteuern, der auf Rügen eine Pension<br />

betreibt und zu dem wir nun flohen.<br />

So hatten wir uns von den Eltern einen<br />

ordentlichen Status zusammengeliehen.<br />

Heute müsste ich, um meinen damaligen<br />

Vorstellungen zu genügen, eine<br />

statusgemäße Nickelbrille tragen und<br />

mit einem Füllfederhalter schreiben. Aber<br />

beides hatte ich mir schon in der späteren<br />

Jugend zu- und kurze Zeit darauf wieder<br />

abgelegt. <strong>Statussymbole</strong> verweisen eher auf<br />

einen Status, den man einnehmen will, als<br />

auf den, den man hat, und sie sind nicht<br />

immer praktisch. Man denke nur an die<br />

Halskrausen auf holländischen Barockgemälden.<br />

<strong>Die</strong> Ostsee ist heute immer noch<br />

Ziel vieler gelangweilter Berliner oder erholungssuchender<br />

Kreativer, aber kaum einer<br />

hat noch ein eigenes <strong>Auto</strong>. Auch deshalb<br />

sind die WG-Zimmer karger und individueller<br />

geworden, denn wie will man ohne<br />

<strong>Auto</strong> zu Ikea fahren?<br />

Mit der Abkehr <strong>vom</strong> Statussymbol<br />

<strong>Auto</strong> werden wir eines Tages gewaltige<br />

ökonomische Probleme bekommen. Das<br />

<strong>Auto</strong> ist eine Triebfeder der deutschen<br />

Wirtschaft. Und letztlich ist es für diese<br />

ein Glück, dass der jugendliche, kreative<br />

und autoskeptische Mittelstand derzeit nur<br />

den lautesten, buntesten und mithin sichtbarsten<br />

Teil der Gesellschaft ausmacht. <strong>Die</strong><br />

Zeitung meldete Ende April einen Gewinneinbruch<br />

bei Daimler mit einem Foto des<br />

bedrückt dreinblickenden Vorstandsvorsitzenden<br />

<strong>Die</strong>ter Zetsche.<br />

<strong>Die</strong> Ökonomen führen derartige Vorgänge<br />

auf Konjunkturschwankungen zurück.<br />

Aber warum schwankt die Konjunktur?<br />

Wo kommen die Veränderungen her?<br />

<strong>Statussymbole</strong><br />

sind<br />

geschmeidig.<br />

Sie passen<br />

sich den<br />

gesellschaftlichen<br />

Gegebenheiten<br />

an. Zielwerte<br />

werden rasch<br />

durch neue<br />

ersetzt<br />

Europa ist schon lange nicht mehr der boomende<br />

Wachstumsmarkt der Branche, asiatische<br />

Firmen beginnen, ihre eigenen Produktlinien<br />

zu entwickeln. Dacia hat das<br />

erkannt und wirbt mit Understatement.<br />

Der Dacia sei das Statussymbol für alle,<br />

heißt es, die kein Statussymbol brauchen.<br />

Im Werbetrailer packt Mehmet Scholl eine<br />

Gruppe von Jungen, die auf der Wiese Fußball<br />

gespielt haben, in einen Kombi der Billigmarke.<br />

Geschickt werden Kinderreichtum,<br />

Fußball und elterliche Fürsorge zu<br />

einem Paket verschnürt. Mehmet Scholl<br />

wird zur Symbolfigur des Mittelstands.<br />

Andererseits verzeichnet die Fahrradindustrie<br />

geradezu asiatische Zuwachsraten.<br />

Laut dem <strong>Auto</strong> Club Europa (ACE)<br />

nutzen mittlerweile 1,3 Millionen Deutsche<br />

Elektro-Fahrräder. <strong>Die</strong>se Zahl hat sich<br />

seit 2010 knapp verdreifacht. Der Umsatzanteil<br />

von E-Bikes am gesamten Fahrradmarkt<br />

stieg auf 10 und könnte bald 15 Prozent<br />

aller neu verkauften Räder betragen.<br />

Schon 2012 legte Daimler sein serientaugliches<br />

„smart ebike“ vor. Für dessen Entwicklung<br />

hatte der Konzern die Berliner E-Bike-<br />

Schmiede Grace mit an Bord geholt. Ein<br />

untrügliches Zeichen für den Wandel ist<br />

auch, dass heute sowohl Aldi-Süd als auch<br />

Aldi-Nord Elektrofahrräder vertreiben.<br />

In der Nähe von München, in Großhelfendorf<br />

bei Aying, besuche ich die Firma<br />

M1 Sporttechnik. Herr Schmid, ein jüngerer<br />

Mann, unglaublich freundlich und<br />

gut gelaunt, Marketingleiter bei M1, empfängt<br />

mich im Vestibül eines modernen Bürogebäudes.<br />

Er ist in Eile, denn die Firma<br />

beteiligt sich an zwei großen Messen, in<br />

Schanghai und in Halle/Westfalen, um<br />

ihre Carbonräder und E-Bikes vorzustellen.<br />

Es sind Produkte im höheren Preissegment,<br />

sie nähern sich finanziell dem Kleinwagen,<br />

und wenn man bedenkt, dass eine<br />

vierköpfige Familie vier Fahrräder braucht,<br />

sind wir schnell bei den Kosten für einen<br />

Mittelklasse-PKW.<br />

Das Wort E-Bike ließ mich bislang an<br />

wohlhabende Rentner denken. <strong>Die</strong> Produktlinie<br />

der Firma M1 belehrt mich eines<br />

Besseren. Auch die Elektroräder sind<br />

schnittige Fahrzeuge mit sportlicher Optik.<br />

Es gehe darum, erfahre ich, dem weniger<br />

Trainierten das Mithalten zu ermöglichen.<br />

Wenn Paare aus einem Sportler und<br />

einem Nichtsportler bestehen, soll Letzterer<br />

mit Ersterem auf gleicher Höhe fahren<br />

können.<br />

20 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Illustrationen: Miriam Migliazzi & Mart Klein (Seiten 18 bis 21)<br />

<strong>Die</strong> Firma hat sich für den Stammsitz<br />

die passende Gegend gewählt, ein Idyll, das<br />

von zahlungskräftigen Mittelständlern bewohnt<br />

wird. Schmids Augen leuchten, als<br />

ich ihn darauf hinweise. Wenn es nicht<br />

so neblig wäre, könne man die Gipfel der<br />

Alpen sehen. Dabei hat er in Maastricht<br />

studiert, in den Niederlanden, dem Fahrradland<br />

schlechthin. Dort kaufe man nur<br />

einmal im Leben ein Fahrrad, sagt er, und<br />

nachdem es gestohlen wurde, stiehlt man<br />

selbst. So könnte auch die Aufhebung des<br />

Eigentums durch Sozialisierung verlaufen.<br />

Davon aber sind wir weit entfernt. Allein<br />

ein Fahrradschloss kostete mich jüngst<br />

60 Euro.<br />

Herr Schmid betont die ökologische<br />

und verkehrspolitische Dimension des<br />

<strong>neuen</strong> Statussymbols Fahrrad. Ein Fahrrad<br />

ist in einer verstopften Innenstadt weniger<br />

Möglichkeit als vielmehr Bedingung eines<br />

zügigen Fortkommens. Zudem gewährleistet<br />

das Fahrrad im Gegensatz zum <strong>Auto</strong> die<br />

Sichtbarkeit seines Besitzers; er verschwindet<br />

nicht im Bauch, sondern schwingt sich<br />

beherzt als Herrscher auf den Sattel, ist eher<br />

stolzer Reiter denn Fahrer, kein Angestellter<br />

mehr, kein Chauffeur. Ein Fahrrad signalisiert<br />

Freiheit und Überlegenheit.<br />

<strong>Die</strong> Alleen der blühenden Apfelbäume<br />

sind bevölkert mit radelnden Mittvierzigern.<br />

Verwegenheit ist ihnen kein Wert<br />

mehr, sie tragen schicke Fahrradhelme<br />

und achten darauf, dass auch die Kinder<br />

sich wappnen. Eine solche Szene kann man<br />

in den Weinbergen um Meißen oder im<br />

Saaletal täglich beobachten.<br />

Weinanbau ist ein Statussymbol für eine<br />

privilegierte Gegend. Wo Wein angebaut<br />

wird, lebt es sich gut. Das führte zum Beispiel<br />

dazu, dass es eine Marke gibt, die von<br />

Reblingen stammt, die auf dem Südhang<br />

eines ehemaligen Tagebaus angepflanzt<br />

wurden. Auf ihrem Etikett prangen die<br />

gekreuzte Spitzhacke und der Hammer:<br />

„Blauer Steiger <strong>vom</strong> Geiseltalsee“. Benachbart<br />

sind die Saale-Unstrut-Gebiete. Aber<br />

auch Brandenburg winzert inzwischen,<br />

zum Beispiel im Weingut Welzow.<br />

Aus Weinanbaugebieten haben sich<br />

in den vergangenen 20 Jahren exklusive<br />

Wohngebiete entwickelt. Radebeul bei<br />

Dresden hat die höchste Millionärsdichte<br />

Deutschlands. In Radebeul zu wohnen, bedeutet<br />

enormen Statusgewinn. Vor dem<br />

Ersten Weltkrieg wusste das schon Karl<br />

May, der sich eben dort seine „Villa Bärenfett“<br />

errichten ließ. <strong>Die</strong> Einnahmen aus<br />

seinen Büchern ließen es zu, und sie ließen<br />

auch zu, dass er im Alter Reisen in einen<br />

Teil jener Gegenden unternehmen konnte,<br />

die er zuvor in seinen Büchern beschrieben<br />

hatte. Ein Zeichen des Niedergangs des <strong>Auto</strong>s<br />

als Statussymbol ist es wahrscheinlich<br />

auch, dass der Bahnhof von Radebeul gerade<br />

saniert wird, der über die Jahre vor<br />

sich hin verfiel.<br />

Mit Karl May wird jemand beschrieben,<br />

der zu seinen Lebzeiten den Kampf um Statusgewinne<br />

erfolgreich bestanden hat. Der<br />

sich herausarbeitete aus der Kleinstadt Hohenstein-Ernsttal<br />

und der Kleinkriminalität,<br />

der Gefängniserfahrungen machte, sich<br />

dem Leben als Genießender hingab und<br />

schließlich imstande war, seine Individualität<br />

auszukosten. Er verwuchs mit den<br />

Insignien guten Lebens, wurde selbst zum<br />

Symbol einer mitteleuropäischen Werteordnung.<br />

Und er machte jene Reisen, von<br />

denen er jahrelang geträumt hatte, wandelte<br />

auf den Spuren Kara ben Nemsis<br />

und fuhr mit dem Orientexpress. <strong>Die</strong> Beziehung<br />

von Karl May zu seinen Figuren<br />

ist ein Gleichnis zum Statussymbol: Der<br />

<strong>Auto</strong>r träumte sich in eine Rolle, die er literarisch<br />

ausführte und schuf sich gerade<br />

so die Mittel, diese Rolle im realen Leben<br />

einzunehmen.<br />

Wer es nicht schafft wie May, seine<br />

Träume als Bestseller zu verkaufen, oder in<br />

den angestrebten Status hineinzuwachsen,<br />

fällt zurück. Der französische Soziologe<br />

Pierre Bourdieu beschreibt diesen Vorgang<br />

in seinem Werk „<strong>Die</strong> feinen Unterschiede“<br />

als soziales Altern; es gibt demnach kein<br />

Stehenbleiben auf der Status-Treppe. Wer<br />

sich nicht nach oben fortwährend verjüngt,<br />

rutscht ab. „Soziales Altern“, so Bourdieu,<br />

„stellt nichts anderes dar als diese langwährende<br />

Trauerarbeit oder, wenn man mag,<br />

die gesellschaftlich unterstützte und ermutigte<br />

Verzichtsleistung, welche die Individuen<br />

dazu bringt, ihre Wünsche und Erwartungen<br />

den jeweils objektiven Chancen<br />

anzugleichen.“<br />

<strong>Die</strong> ironische Aufzählung der drei dominierenden<br />

<strong>Statussymbole</strong> Haus, Boot<br />

und <strong>Auto</strong> in einem Werbespot der neunziger<br />

Jahre gilt heute nur noch bedingt.<br />

Während in abgeschiedenen ländlichen<br />

Gebieten die Grundstücks- und Immobilienpreise<br />

verfielen oder zumindest stabil<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 21


T i t e l<br />

Bereich will das Statussymbol nicht nur<br />

Zeichen der Gruppenzugehörigkeit sein,<br />

sondern darüber hinaus die Individualität<br />

der Trägerin betonen. „In der <strong>neuen</strong> Maison<br />

in München“, so Klingenberg, „bieten<br />

wir erstmals in Deutschland den sogenannten<br />

‚Haute Maroquinerie‘-Service an, der es<br />

Kunden ermöglicht, eine Tasche von Louis<br />

Vuitton aus verschiedenen Formen, Lederarten<br />

und Größen nach eigenen Vorstellungen<br />

selbst zu kreieren.“<br />

Ein Fehler wäre es jedoch, Luxus und<br />

Statussymbol in eins zu setzen. Es gilt zu<br />

unterscheiden zwischen der Uhr, die man<br />

trägt als bloßen Schmuck, und jenem Instrument,<br />

welches die Zeit vorschreibt und<br />

den Rhythmus anzeigt. Als Luxusobjekt<br />

muss die Uhr gar nicht unbedingt präzise<br />

funktionieren, tut es aber meist, weil die<br />

Präzision, die sich aus der Bearbeitung erlesener<br />

Materialien ergibt, auch die Schönheit<br />

eines Gebrauchsgegenstands ausmacht.<br />

Und ihr Käufer hat einen Blick für die Besonderheiten<br />

der Mechanik, für die Restlaufzeitanzeige<br />

der „Lange 01“. Er kauft die<br />

Uhr aus Liebe zum Detail.<br />

geblieben sind, explodierten sie in den Ballungsräumen<br />

und Großstädten. München<br />

zum Beispiel, berichteten unlängst Makler,<br />

kennt „Fantasiepreise mit irrwitziger Dynamik<br />

selbst in schlechter Lage“. So wird<br />

neben dem Haus selbst die Mietwohnung<br />

zum Statussymbol. „Wir haben historische<br />

Höchstpreise“, wird Stephan Kippes, der<br />

Leiter des IVD-Marktforschungsinstituts,<br />

in der Süddeutschen Zeitung zitiert. <strong>Die</strong><br />

Preise für neu gebaute Eigentumswohnungen<br />

haben erstmals die 5000-Euro-Grenze<br />

erreicht – pro Quadratmeter. Wer sich in<br />

München oder Hamburg etwas leisten<br />

kann, hat es im Grunde geschafft. Dort<br />

trennt sich die Spreu <strong>vom</strong> Weizen – und<br />

wer herausgehoben wohnt, will herausgehoben<br />

einkaufen.<br />

In München eröffnete deshalb im<br />

April 2013 die „Maison Louis Vuitton“.<br />

Eine Kultmarke der achtziger Jahre des<br />

vergangenen Jahrhunderts kehrt zurück<br />

und lädt im Herzen des Reichtums in ihren<br />

Tempel. Anonyme und gesichtslose Warenhäuser<br />

waren gestern, heute erlebt jene Einkaufskultur<br />

eine Renaissance, die Walter<br />

Benjamin in seinen „Pariser Passagen“ beschrieb:<br />

„Zu beiden Seiten dieser Gänge,<br />

die ihr Licht von oben erhalten, laufen die<br />

elegantesten Warenläden hin, sodass eine<br />

solche Passage eine Stadt, ja eine Welt im<br />

Kleinen ist.“<br />

Beate Klingenberg, Geschäftsführerin<br />

von Louis Vuitton Deutschland, ist die<br />

Herrin eines solchen Paralleluniversums. Sie<br />

sagt: „Der Luxusbereich hat sich schon immer<br />

durch ein außergewöhnliches Einkaufserlebnis<br />

in entsprechender Umgebung ausgezeichnet<br />

und dies verbunden mit einem<br />

außergewöhnlichen Service – denken Sie<br />

nur an die Ateliers der großen Couturiers<br />

des 19. oder 20. Jahrhunderts.“ In diesem<br />

Luxus überschreitet die Grenzen des<br />

Gewöhnlichen und des Notwendigen<br />

gleichermaßen. Außerdem, weiß Bourdieu,<br />

ist da „kein materielles Erbe, das<br />

nicht zugleich auch kulturelles Erbe ist“.<br />

<strong>Die</strong> Funktion des Familienbesitzes beschränke<br />

sich keineswegs auf die „bloße<br />

sachliche Bestätigung der Anciennität<br />

und Kontinuität des Familiengeschlechts<br />

und … auf die … Anerkennung ihrer gesellschaftlichen<br />

Identität“. Jedes private<br />

Gut, heißt das, ist immer auch Produkt<br />

der Kultur, in der es entstand.<br />

In München, wohl der deutschen<br />

Hauptstadt des Luxus schlechthin, erscheint<br />

auch ein Magazin für die stillen<br />

Genießer. Man ist auf Diskretion bedacht<br />

und verzichtet auf Außendarstellung. Hier<br />

wird zum Beispiel über soziales Engagement<br />

berichtet, das es nicht nötig hat, an<br />

die große Glocke gehängt zu werden. Diskretion<br />

als Statussymbol scheint paradox,<br />

aber dennoch drückt es einen Stand aus,<br />

der sich jenseits der Bestandssicherung<br />

bewegt. Unauffällig wie eine Eule im alten<br />

Baumbestand des Nymphenburger<br />

Parks. Es geht dabei nicht nur um Genuss,<br />

sondern auch um sichere Reproduktion<br />

des eigenen Wohlstands. Und so können<br />

sich zum Beispiel auf den ersten Blick<br />

Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein<br />

22 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein<br />

waghalsige Anlagen in Afrika durchaus als<br />

sichere Zukunftsinvestitionen erweisen.<br />

Luxus wird in der Regel erst dann zum<br />

Statussymbol, wenn er ausgestellt wird. Im<br />

Gegensatz zum Luxus ist das Statussymbol<br />

ein Signal, das sich nach außen richtet. Vergleichbar<br />

einem Label, zeigt es die Zugehörigkeit<br />

zu einer Gruppe an, verkündet den<br />

Status des Trägers in der Gesellschaft, jenen,<br />

den er tatsächlich innehat, oder jenen,<br />

den er meint innezuhaben, oder jenen, den<br />

er anstrebt. Man muss nicht im Einzelnen<br />

mit der Gruppe identisch sein, man muss<br />

aber nach außen die Zugehörigkeit anzeigen,<br />

um zugerechnet zu werden.<br />

Wenn man als Bahnangehöriger verkleidet<br />

über einen Bahnhof ginge, würde<br />

man nach Rat gefragt, um Auskunft gebeten<br />

hinsichtlich Abfahrtszeiten, Wagenreihung,<br />

Gepäckmitnahme. So funktionieren<br />

<strong>Statussymbole</strong>: Sie bilden die Struktur<br />

einer Gesellschaft ab, zeigen Zugehörigkeiten<br />

an, schaffen aber nur bedingt Identitäten.<br />

Darüber hinaus unterliegen die<br />

<strong>Statussymbole</strong> wie die Gesellschaft selbst<br />

einem Wandel, sie sind dynamischer als<br />

bloße Luxusobjekte.<br />

Wenn es vor 20 Jahren noch außergewöhnlich<br />

war, einen Geschäftspartner beim<br />

Sushi zu treffen, so würde dieses Ansinnen<br />

heute ein müdes Lächeln entlocken, sind<br />

doch Sushilokale inzwischen so außergewöhnlich<br />

wie Bockwurststände. Deutsche<br />

Küche taugt hingegen wieder als verbindendes<br />

Statussymbol, wenn sie nur angemessen<br />

modern ist, das heißt entzuckert<br />

und entfettet und mit Produkten aus biologischem<br />

Anbau.<br />

<strong>Statussymbole</strong> sind geschmeidig. Sie<br />

passen sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten<br />

an. Zielwerte werden rasch<br />

durch neue ersetzt. Das <strong>Auto</strong> kann nur<br />

dann Statussymbol sein, wenn Schnelligkeit,<br />

gepaart mit Individualität, das erstrebenswerte<br />

Ziel ausmacht. Individualität<br />

blieb attraktiv bis heute, aber Schnelligkeit<br />

wurde im 21. Jahrhundert durch Entschleunigung<br />

ersetzt und Individualität an<br />

Gesundheit gekoppelt, an einen enormen<br />

ökologischen Anspruch.<br />

Ein Informatikingenieur, den ich kenne,<br />

arbeitet für eine Softwarefirma und muss<br />

Deutschland, Europa, zuweilen auch Amerika<br />

durchqueren, um Computersysteme zu<br />

betreuen. Privat fährt er einen Kombi aus<br />

dem einzigen Grund, weil sein Rennrad<br />

in den Fond passt. Sonst wäre er, obwohl<br />

Das Fahrrad<br />

gewährleistet<br />

die Sichtbarkeit<br />

seines<br />

Besitzers; er<br />

verschwindet<br />

nicht im<br />

Bauch eines<br />

<strong>Auto</strong>s, sondern<br />

schwingt sich<br />

beherzt als<br />

Herrscher auf<br />

den Sattel<br />

Top-Verdiener, mit einem Kleinwagen unterwegs.<br />

Allerdings muss es ein veritables<br />

Rennrad sein, sonst könnte er auf eines der<br />

gemächlichen <strong>neuen</strong> Falträder zurückgreifen<br />

oder auf das M1 Secede, das E-Bike mit<br />

teilbarem Rahmen, das in den Kofferraum<br />

eines Kleinwagens passt. Das <strong>Auto</strong> ist lediglich<br />

das Gehäuse für das eigentliche Statussymbol,<br />

das teure Rennrad.<br />

Mein Freund, der Informatikingenieur,<br />

und ich sind heute fast 50 Jahre alt, fühlen<br />

uns fit wie 20, ernähren uns ökologisch mit<br />

Tendenz zum Veganismus und sind bekennende<br />

Europäer. Unsere Kinder besuchen<br />

nicht notwendig das Gymnasium, obwohl<br />

wir es uns wünschen, und unter unserem<br />

Kopfkissen liegt der Bestseller des Fernsehphilosophen<br />

Richard David Precht, in dem<br />

er uns die Misere des deutschen Bildungssystems<br />

erklärt. Der mündige Bürger liebt<br />

nichts so sehr, als über sich, seine Zukunft<br />

und die Zukunft seiner Kinder nachzudenken.<br />

Bildung wird immer ein Statussymbol<br />

bleiben. Das dreigliedrige Schulsystem hat<br />

die Tendenz, soziale Unterschiede zu manifestieren.<br />

<strong>Die</strong> Vorstellung Prechts, man<br />

könnte eine Einheitsschule zur bindenden<br />

Form machen, führt in die Irre.<br />

Prechts Modell, das er wie jeder Bildungsbürger<br />

mit Humboldt begründet,<br />

verfestigt letztlich die Verhältnisse. Klassische<br />

Bildung, wie er sie verlangt, führt<br />

geradewegs zu einer elitären Persönlichkeit,<br />

wie Precht selbst sie darstellt. <strong>Die</strong>se<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 23


T i t e l<br />

Bildung wird<br />

immer ein<br />

Statussymbol<br />

bleiben. <strong>Die</strong><br />

Vorstellung,<br />

man könnte<br />

eine Einheitsschule<br />

zur<br />

bindenden<br />

Form machen,<br />

führt in die Irre<br />

Form der Bildung ist autoreferenziell und<br />

somit Statussymbol, weil sie nur in jenen<br />

Schichten funktioniert, die ihr Wissen in<br />

Bücherwänden aufbewahrt, im Arbeitszimmer<br />

des Vaters. Precht tappt in die<br />

Statusfalle. Indem er sich selbst verabsolutiert,<br />

verabsolutiert er die Struktur, die<br />

ihn hervorgebracht hat.<br />

Zunächst scheint es merkwürdig, Kinder<br />

als Statussymbol zu betrachten, aber<br />

noch merkwürdiger ist, dass bei allgemein<br />

zurückgehender Geburtenrate sich<br />

bestimmte Stadtviertel durch ihren Kinderreichtum<br />

auszeichnen. Was in Berlin<br />

der hierfür berühmte Stadtteil Mitte, ist<br />

in Leipzig das Viertel Schleußig. Auf engem<br />

Raum gibt es Spezialgeschäfte für Umstandsmode,<br />

Kindermode und Spielwaren,<br />

eine Krimibuchhandlung, ein Geschäft für<br />

Naturseife, die International School und einen<br />

florierenden Bioladen. Selbst der Spätverkauf<br />

bietet Windeln und eine große<br />

Auswahl biologischer Lebensmittel an.<br />

Bezeichnend für die hiesige Population<br />

ist das Fachgeschäft für Kinderbekleidung<br />

„Grünschnabel“, ausdrücklich „für kleine<br />

und große Weltverbesserer“. Es wirbt mit<br />

„fair“ produzierten Kinderklamotten. Was<br />

bezweckt die Kundschaft mit dem Einkauf<br />

gerade in diesem Geschäft? „Ja, natürlich“,<br />

antwortet mir eine Frau, die ohne<br />

Kind, aber mit zwei Kindersitzen am Fahrrad<br />

zum Laden kommt, als ich sie frage,<br />

ob sie mit dem Einkauf hier wirklich die<br />

Welt verbessern könne. So etwas hat natürlich<br />

seinen Preis. Ein Geschäft, das<br />

T-Shirts in der Kindergröße 104 für mindestens<br />

30 Euro anbietet, wäre im sozial<br />

schwachen Leipziger Osten längst pleite.<br />

<strong>Die</strong>se regionale Aufteilung sorgt dafür, dass<br />

sich die Bewohner entsprechender Stadtteile<br />

auch im Urlaub an den Kleideretiketten<br />

erkennen können. So wird Durchmischung<br />

verhindert.<br />

Wer hier wohnt, muss lärmresistent<br />

sein, nicht nur wegen des Kinderlärms.<br />

Mütter und Väter, die ihre Kinder bei der<br />

Tagesmutter abgegeben haben, führen vor<br />

meinem Fenster gerne Gespräche von einer<br />

Länge, dass ich mich manchmal in ein<br />

proletarisches Viertel sehne, in dem am<br />

Tage Ruhe herrscht und in der Nacht natürlich<br />

auch. In einer Fußnote in seinem<br />

Hauptwerk „Das Kapital“ schreibt Marx,<br />

dass der gesellschaftliche Reichtum sich im<br />

Reichtum an Freizeit ausdrücke. Schon im<br />

19. Jahrhundert führte der wohlbestallte<br />

Pariser Flaneur seine Schildkröte spazieren,<br />

und auch heute wird öffentliche Freizeit<br />

mehr und mehr zum Statussymbol. <strong>Die</strong><br />

städtischen Parks sind wochentags gefüllt<br />

mit wohlangezogenen Bürgersleuten, Eltern<br />

stehen stundenlang vor meinem Fenster<br />

und reden.<br />

<strong>Die</strong>selben mitteilungsbedürftigen Eltern<br />

übrigens treffen sich am Sonntag vor<br />

der evangelischen Kirche. Ein Bau, der in<br />

den Dreißigern vielleicht Avantgarde war,<br />

heute eher an eine Festung gemahnt, platzt<br />

am Sonntag aus allen Nähten. Ein junger<br />

Pastor verabschiedet nach dem Gottesdienst<br />

die Gemeinde, die Mütter und Väter<br />

holen noch schnell den Nachwuchs aus<br />

dem Kindergottesdienst. Der Mittelstand<br />

orientiert sich an einer gewissen Biedermeierlichkeit,<br />

Kinder, Küche, Kirche erhalten<br />

eine ganz neue Bedeutung, taugen<br />

zum frei gewählten Statussymbol einer urbanen<br />

Elite. Man liest wieder Eichendorff,<br />

der schon der Eisenbahn misstraute, weil<br />

sie ihm zu laut und zu schnell war. Wer es<br />

sich leisten kann, flieht aus der Zeit. Solche<br />

kleinen Fluchten sind das begehrteste<br />

Statussymbol überhaupt.<br />

jan Kuhlbrodt<br />

schrieb das „Lexikon der <strong>Statussymbole</strong>“,<br />

aber auch „Stötzers<br />

Lied“ und jüngst den Essay „Das<br />

Elster-Experiment“<br />

Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein; Foto: Marie-Luise Marchand<br />

24 <strong>Cicero</strong> 7.2013


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T i t e l<br />

UNSERE <strong>Statussymbole</strong><br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

„Meine (immer noch harmlose) High-End-Anlage habe ich über<br />

Jahrzehnte zusammengetragen. Das Umschleichen der einzelnen<br />

Komponenten bis hin zu den Kabeln war jedes Mal noch schöner<br />

als das Kaufen. Ich freue mich, wenn die Blicke von Gästen<br />

an der Anlage haften bleiben. Und noch mehr erfreue ich mich<br />

an den fassungslosen Gesichtern – wenn sich jemand die Zeit<br />

nimmt und der Fülle des Wohllauts zum ersten Mal hingibt.<br />

Bei sinnlichen Menschen ist es jedes Mal ein akustisches Erweckungserlebnis,<br />

ein Eintritt in eine neue Welt des Klanges. Das<br />

mitzuerleben macht mich froh – und stolz.“<br />

Lena Bergmann, Ressortleiterin Stil<br />

„Regelmäßig ertappe ich mich dabei, wie ich mit meinen Freundinnen<br />

angebe. Tatkräftige, talentierte und dabei noch trinkfeste<br />

Frauen, die es in der Hauptstadt zu etwas gebracht haben.<br />

Wir bestärken einander und empfehlen uns gegenseitig weiter.<br />

Und später besorgen wir unseren Kindern dann die Praktikumsplätze.<br />

Jede macht etwas völlig anderes, und wenn ich tatsächlich<br />

all die Frauen, auf die ich stolz bin, gemeinsam auf ein Bild<br />

zwängen würde, sähe das aus wie ein Klassenfoto. Zu Klassentreffen<br />

gehe ich allerdings nie. Obwohl ich gerne in meiner Heimat,<br />

dem Taunus, bin. Am Wochenende werden dort die <strong>Auto</strong>s<br />

geputzt und die Küchenausstattung diskutiert. Da halte ich<br />

mich raus.“<br />

Fotos: Peter Rigaud für <strong>Cicero</strong><br />

26 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Sind <strong>Statussymbole</strong> nicht kleinbürgerlich? Und ist es nicht unangenehm,<br />

darüber zu reden? Viel zu privat? Im Vorfeld zu dieser Ausgabe wurde in<br />

der Redaktion viel diskutiert. Das Ergebnis sind diese Statements<br />

Til Knipper, Ressortleiter Kapital<br />

„Als mein Vater so alt war wie ich heute, sprich: 36, schrieben<br />

wir das Jahr 1981. Seine <strong>Statussymbole</strong> damals: ein blauer Alfa<br />

Romeo Giulietta und eine Rolex. Meine <strong>Statussymbole</strong> damals:<br />

Oshkosh-Latzhose und mehr Haare als mein Vater. 32 Jahre<br />

später, seine <strong>Statussymbole</strong>: Mini Roadster und immer noch die<br />

Rolex. Meine <strong>Statussymbole</strong>: ein knallrotes Fausto-Coppi-Stahlrahmen-Rennrad<br />

und keine Uhr tragen. Zustand der Haarpracht<br />

2013: beide Glatze.“<br />

Alexander Marguier, Stellvertretender Chefredakteur<br />

„Ja, tatsächlich: <strong>Die</strong>se Armbanduhr habe ich mir Anfang der<br />

neunziger Jahre als Statussymbol zugelegt. Mein Distinktionsbewusstsein<br />

als junger Student war damals groß genug, um ungefähr<br />

1000 Mark für eine – wie ich finde – immer noch sehr<br />

elegante ‚Chronoswiss‘ mit <strong>Auto</strong>matikwerk auszugeben. Ein gut<br />

bezahlter Ferienjob hatte es möglich gemacht. Und es hat funktioniert,<br />

mein Selbstbewusstsein trug ich fortan auch am Handgelenk.<br />

Nach Jahren ließ die Zauberkraft allerdings nach, und<br />

die Uhr verschwand in irgendwelchen Schubladen. Bis ich sie<br />

dort unlängst wiederentdeckte, zur Reparatur brachte und jetzt<br />

wieder trage. Nicht mehr als Statussymbol, sondern nur noch<br />

aus Nostalgie.“<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 27


T i t e l<br />

Alexander Kissler, Ressortleiter Salon<br />

„Das Haus der Eltern und der Wagen des Vaters zeigten in meiner<br />

Kindheit, wer es zu etwas gebracht hatte. In meiner Familie<br />

war ich der Erste mit Abitur, mit Studium, mit Promotion<br />

und bin der Erste ohne Eigenheim, ohne repräsentativen Wagen;<br />

der meinige ist Baujahr 1994 und steht in der Garage. Regelmäßig<br />

aber werde ich mit meinem Konzertabonnement Teil<br />

der Statusgemeinde Opernhaus, besuche die Akademiekonzerte.<br />

Bruckner, Mahler, Strauß lösten am Statushimmel die Herren<br />

Benz, Daimler und Horch ab. Es ist ein Himmel, der jene schirmen<br />

soll, die zu ihm sich flüchten – und der sie nie ganz ungetröstet<br />

entlässt. Klänge können das besser als Dinge.“<br />

Constantin Magnis, Ressortleiter Reportagen<br />

„Ich fände es angemessen, wenn Leute meinem eklektischen<br />

Filmgeschmack mehr Bewunderung entgegenbrächten. Immer<br />

wenn wir Gäste in der Wohnung haben, wünschte ich, ihr wandernder<br />

Blick bliebe am DVD-Regal hängen. An den brillanten<br />

Gruselfilmen von Robert Wise zum Beispiel oder der wahnsinnig<br />

coolen Spike-Lee-Sammlung. Ich hoffe auf die anerkennend<br />

gehobene Augenbraue, die mich als respektablen Cineasten<br />

würdigt, als Person mit kulturellem Vorsprung. Stattdessen stehen<br />

die meisten enttäuscht davor und sagen: <strong>Die</strong> kenne ich alle<br />

nicht. Dann erkennen sie ‚Pulp Fiction‘ oder irgendeinen Scorsese-Film<br />

wieder, sagen: Der ist voll gut, und gucken dann woanders<br />

hin.“<br />

Fotos: Peter Rigaud für <strong>Cicero</strong><br />

28 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Christoph Seils, Ressortleiter <strong>Cicero</strong> Online<br />

„Früher ging die ganze Familie sonntags in die Kirche. Ich geh<br />

sonntags laufen. Der höchste Feiertag der Läufer fällt in Berlin<br />

auf den letzten Sonntag im September. Bei Kilometer 38 jedoch<br />

schuf der Marathon-Gott den Zweifel. Kurz vor dem Potsdamer<br />

Platz also kommt mir jedes Jahr der Gedanke: ‚Warum<br />

mache ich eigentlich diesen Scheiß?‘ <strong>Die</strong> Füße tun weh, die Akkus<br />

sind leer und wieder keine Glückshormone. Aber nur durch<br />

den Zweifel findet der Mensch zu seinem Ziel. Spätestens, wenn<br />

ich nach 42,195 Kilometern die Medaille in der Hand halte,<br />

schmiede ich schon Pläne für die nächste Laufsaison.“<br />

Petra Sorge, Online-Redakteurin<br />

„Wer in Berlin einen <strong>neuen</strong> Menschen kennenlernt, wird schnell<br />

gefragt: Wo kommst du her? In der Hauptstadt, die zu drei<br />

Vierteln aus Zugezogenen besteht, definiert Herkunft den Status.<br />

Der Stuttgarter gilt als knauserig, der Münchner als Snob.<br />

Ich komme aus Thüringen – aus Berliner Sicht ist das dermaßen<br />

hinterm Mond. Stört mich nicht. Meine Heimat gehört zu mir.<br />

Deshalb zeige ich die Provinz sogar mal vor wie ein Statussymbol.<br />

Sie hängt sozusagen in der Küche: Zwiebelzopf und Chilikranz<br />

stammen <strong>vom</strong> ‚Weimarer Zwiebelmarkt‘, dem größten<br />

Volksfest in Thüringen. Im Oktober war ich natürlich wieder<br />

dabei. Der Zopf ist allerdings schon etwas abgeknabbert, weil<br />

ich die Zwiebeln erst nach und nach verbrauche.“<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 29


T i t e l<br />

Wir teilen<br />

uns Tinka<br />

Das <strong>Auto</strong> verliert als Statussymbol an Bedeutung.<br />

Junge Stadtmenschen bevorzugen Carsharing.<br />

Eine Herausforderung für die ganze Branche<br />

von Til Knipper<br />

S<br />

ind <strong>Die</strong>ter Zetsche und Homer<br />

Simpson Brüder – zumindest<br />

im Geiste? Den Daimler-Vorstandsvorsitzenden<br />

gab es immerhin<br />

mal als Werbe-Trickfilmfigur<br />

Dr. Z, als er auf dem Chefsessel<br />

von Chrysler in Detroit saß. Das Familienoberhaupt<br />

aus der Zeichentrickserie wiederum<br />

verfügt über Führungserfahrung in<br />

der US-<strong>Auto</strong>industrie. In der zweiten Staffel<br />

muss Homer für seinen überraschend<br />

aufgetauchten Halbbruder Herb Powell ein<br />

<strong>Auto</strong> entwickeln, das dessen Unternehmen<br />

Powell Motors aus der Krise führen soll.<br />

<strong>Die</strong>ter Zetsche steht in Stuttgart ebenfalls<br />

unter Druck. Mit der <strong>neuen</strong> S-Klasse<br />

will Daimler zurück an die Spitze des Premiumsegments,<br />

von der BMW und Audi<br />

die Stuttgarter inzwischen verdrängt haben.<br />

Doch Zetsche läuft Gefahr, eine viel wichtigere<br />

Frage zu übersehen: Taugt ein <strong>Auto</strong><br />

heute überhaupt noch als Statussymbol?<br />

Besonders drängt sich die Frage bei<br />

BMW, Audi und Daimler auf, die sich<br />

mit 7er, A8 und der S-Klasse im teuren<br />

Premiumsegment bewegen. Im <strong>Auto</strong>land<br />

Deutschland verliert das <strong>Auto</strong> seinen Status<br />

als Liebhaberobjekt, für einen wachsenden<br />

Teil der Bevölkerung ist es inzwischen<br />

reines Transportmittel. <strong>Die</strong> Generation der<br />

unter 30-Jährigen will <strong>Auto</strong>s zwar noch benutzen,<br />

aber nicht besitzen und bevorzugt<br />

daher Carsharing-Angebote, geht aus einer<br />

Fraunhofer-Studie hervor.<br />

In den großen deutschen Städten zeichnet<br />

sich der Trend schon ab. <strong>Die</strong> Anzahl<br />

der PKW ist in Berlin zwischen 1995 und<br />

2012 um 6,8 Prozent gesunken, in Hamburg<br />

gab es ein Minus von 2,4 Prozent.<br />

<strong>Die</strong> Hauptstädter besitzen gleichzeitig mit<br />

328 PKW je 1000 Einwohner die wenigsten<br />

<strong>Auto</strong>s. 41 Prozent der Berliner Haushalte<br />

haben gar kein <strong>Auto</strong>, in Hamburg ist<br />

es gut ein Drittel.<br />

Gleichzeitig erleben Carsharing-Angebote<br />

einen bisher nie da gewesenen Boom.<br />

Besonderer Beliebtheit erfreuen sich dabei<br />

die Angebote ohne feste Rückgabe-Station,<br />

wie Car2go, das Daimler zusammen mit<br />

dem <strong>Auto</strong>vermieter Europcar betreibt, und<br />

DriveNow, eine Kooperation von BMW<br />

und Sixt. <strong>Die</strong> Nutzer müssen sich nur einmal<br />

online registrieren. Mit einem Chip,<br />

der auf den Führerschein geklebt wird, und<br />

einer Pin-Nummer lassen sich die <strong>Auto</strong>s<br />

öffnen und starten. Freie Wagen werden<br />

per App auf dem Smartphone gefunden.<br />

Abgerechnet wird pro Minute, innerhalb<br />

des Einsatzgebiets kann der Wagen überall<br />

wieder abgestellt werden.<br />

Gab es in Deutschland 2012 noch<br />

42 000 registrierte Nutzer für diese sogenannten<br />

Freefloat-Angebote, sind es mittlerweile<br />

mehr als 260 000, die sich in<br />

Städten wie Berlin, Hamburg, München,<br />

Düsseldorf oder Köln die <strong>Auto</strong>s teilen.<br />

Nach einer aktuellen Umfrage des Bundesverbands<br />

Carsharing schafft mehr als die<br />

Hälfte der autobesitzenden Neukunden ihren<br />

Wagen nach einigen Monaten Carsharing-Mitgliedschaft<br />

ab. Der <strong>Auto</strong>besitz von<br />

Carsharing-Neukunden ist von 43,4 Prozent<br />

auf nur noch 19 Prozent gesunken.<br />

Kritiker bemängeln, dass die Ökonomie<br />

des <strong>Auto</strong>teilens nur in größeren Städten<br />

funktioniert. Mittelfristig ist das aber<br />

eher ein Argument für das Wachstumspotenzial<br />

des Carsharing. Schon heute wohnt<br />

mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in<br />

Städten. Nach Berechnungen der Vereinten<br />

Nationen werden es bis 2050 mehr als<br />

zwei Drittel sein.<br />

Das weiß Frank Ruff schon lange. Der<br />

Soziologe arbeitet in einem Großraumbüro<br />

am Potsdamer Platz in Berlin und untersucht<br />

mit einem interdisziplinären Team<br />

von 40 Forschern die Zukunft der Mobilität.<br />

Ruffs Arbeitgeber heißt Daimler, sein<br />

Titel lautet: Leiter der Forschungsgruppe<br />

für Gesellschaft und Technik. Ruff ist einer<br />

der Väter des Car2go, das als Pilotprojekt<br />

bereits 2008 in Ulm startete.<br />

War es schwer, dem Vorstand beizubringen,<br />

dass Daimler eine neue Form der<br />

<strong>Auto</strong>vermietung testen soll? „Veränderungen<br />

brauchen in unserer Gesellschaft generell<br />

sehr lange“, sagt Ruff diplomatisch.<br />

Inzwischen sind die Manager in Stuttgart<br />

stolz auf den Geschäftszweig. Der Mobilität<br />

der Zukunft räumen sie im Nachhaltigkeitsbericht<br />

des Konzerns viel Platz ein.<br />

Weniger auskunftsfreudig sind BMW<br />

und Daimler bei der Frage, ob ihre Carsharing-Programme<br />

schon Gewinne<br />

<strong>Auto</strong>s sind<br />

zu teuer,<br />

verstopfte<br />

Straßen und<br />

fehlende<br />

Parkplätze<br />

verleiden die<br />

Freude am<br />

Fahren<br />

30 <strong>Cicero</strong> 7.2013


www.rowohlt.de<br />

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Foto: rpivat<br />

erwirtschaften. Offizielle Zahlen gibt es<br />

nicht. „Es heißt immer, sie verdienten damit<br />

Geld, aber ich weiß nicht, wie da gerechnet<br />

wird“, sagt Ferdinand Dudenhöffer.<br />

Strategisch hält der <strong>Auto</strong>experte von der<br />

Universität Essen-Duisburg das Engagement<br />

der Premiumhersteller in diesem Bereich<br />

für richtig. „Ein Klasseprodukt, das<br />

die Kunden emotionalisiert“, lobt er. Das<br />

gilt vor allem für DriveNow, wo BMW den<br />

Carsharern mit Mini, Mini-Cabrio und<br />

BMW 1ern eben nicht nur ein Transportmittel<br />

zur Verfügung stellt, sondern auch<br />

Lebensgefühl verkauft. <strong>Die</strong> <strong>Auto</strong>s tragen sogar<br />

Namen. <strong>Die</strong> Nutzer sollen sich freuen,<br />

wenn sie mal wieder den 1er BMW Sandro<br />

buchen können oder Tinka, den Mini.<br />

„Das sind eigentlich bezahlte Probefahrten,<br />

bei denen eine Bindung zur<br />

Marke entsteht“, sagt Dudenhöffer. Davon<br />

könnte BMW profitieren, wenn sich<br />

der Nutzer doch für den Kauf eines eigenen<br />

<strong>Auto</strong>s entscheidet.<br />

Beim Fraunhofer-Institut denken die<br />

Forscher weiter. Nach der Studie „Visionen<br />

für nachhaltigen Verkehr in Deutschland“<br />

wird sich die Zahl der <strong>Auto</strong>s bis 2050<br />

deutschlandweit halbieren. „<strong>Die</strong> Städte sind<br />

grün, lebenswert, fußgänger- und radfahrerfreundlich,<br />

Carsharing-Parkplätze und Radstationen<br />

gibt es an allen größeren Haltepunkten“,<br />

schreiben die Verfasser.<br />

Schweizer Verkehrswissenschaftler haben<br />

kürzlich untersucht, warum sich Menschen<br />

heute <strong>vom</strong> eigenen <strong>Auto</strong> trennen. <strong>Die</strong><br />

häufigsten Gründe: Erstens können sie es<br />

sich nicht mehr leisten, und zweitens verleiden<br />

ihnen verstopfte Straßen und fehlende<br />

Parkplätze die Lust am Fahren. <strong>Auto</strong>hersteller,<br />

die sich <strong>neuen</strong> Geschäftsfeldern verschließen,<br />

werden den Anschluss verlieren.<br />

2013 wird ein schwieriges Jahr für die<br />

<strong>Auto</strong>industrie werden. Im ersten Quartal<br />

sind die Neuzulassungen nach Angaben<br />

des Kraftfahrzeugbundesamts um 13 Prozent<br />

eingebrochen. Bei Volkswagen waren<br />

es sogar 17 Prozent. <strong>Die</strong> Wolfsburger, bei<br />

denen das Thema Carsharing bisher keine<br />

echte Rolle spielt, müssen sogar den <strong>neuen</strong><br />

Golf mit hohen Rabatten in den Markt<br />

drücken. „Das wäre vor einigen Jahren<br />

undenkbar gewesen“, sagt Ferdinand Dudenhöffer.<br />

<strong>Die</strong> aktuelle Absatzkrise ist seines<br />

Erachtens aber eine Konsequenz der<br />

Eurokrise. Europa ist der wichtigste Absatzmarkt<br />

für die deutschen Hersteller. „Allerdings<br />

mehren sich auch die Hinweise<br />

auf strukturelle Defizite“, sagt Dudenhöffer.<br />

So hat eine Untersuchung seines Instituts<br />

ergeben, dass die Neuwagenkäufer<br />

in Deutschland älter werden. Seit 1995 ist<br />

das Durchschnittsalter von 46 Jahren auf<br />

inzwischen 52 Jahre gestiegen.<br />

Das Geld, das sie zu Hause nicht mehr<br />

verdienen kann, muss die <strong>Auto</strong>industrie<br />

daher woanders erwirtschaften. Denn<br />

das Wachstum beim Carsharing wird den<br />

Einbruch auf keinen Fall ersetzen können.<br />

In der <strong>Auto</strong>branche gilt die Faustregel:<br />

Großes <strong>Auto</strong>, große Marge, kleines<br />

<strong>Auto</strong>, kleine Marge. <strong>Die</strong> Premiumhersteller<br />

setzen auf China, wo Audi vergangenes<br />

Jahr um 30 Prozent wuchs und BMW um<br />

40 Prozent. Hier funktionieren Luxusautos<br />

noch als Statussymbol, weil der neue<br />

Geldadel in Peking und Schanghai seinen<br />

Reichtum gerne zur Schau stellt.<br />

Das könnte für <strong>Die</strong>ter Zetsche zum<br />

Problem werden, weil er mit seiner <strong>neuen</strong><br />

S-Klasse zwei Jahre zu spät kommt und<br />

die Wettbewerber sich große Anteile des<br />

Kuchens gesichert haben. VIPs und Fachpresse<br />

haben die Präsentation der <strong>neuen</strong> S-<br />

Klasse im Mai in Hamburg wohlwollend<br />

begleitet und die Rücksitze mit Hot-Stone-<br />

Massagefunktion, die Parfumspender und<br />

die 20 Assistenzsysteme, die den Fahrer fast<br />

überflüssig machen, ausgiebig bestaunt.<br />

Verkauft sich die neue S-Klasse trotzdem<br />

nicht, sind Zetsches Tage bei Daimler<br />

gezählt. Schon an Homer Simpson kann<br />

man sehen, dass ein <strong>Auto</strong> mit vielen liebevollen<br />

Extras nicht zwingend zum Erfolg<br />

führen muss. Dessen Kreation „The Homer“<br />

fiel trotz separater Kapsel für quengelnde<br />

Kinder und drei Hupen, die „La<br />

Cucaracha“ spielen, bei der Präsentation<br />

durch. Bruder Herb ging pleite und wollte<br />

von Homer nichts mehr wissen.<br />

Eine Staffel später kam es aber zur großen<br />

Versöhnung. Mit dem von Homer geliehenen<br />

Startkapital setzte Herb eine neue<br />

Geschäftsidee um, die ihn direkt wieder<br />

zum Millionär machte. Aus Dankbarkeit<br />

schenkte er Homer den von ihm heiß ersehnten<br />

Massagesessel namens Wirbelsäulenschmelzer,<br />

sozusagen den Urahn von<br />

<strong>Die</strong>ter Zetsches Hot-Stone-Rücksitz.<br />

Til Knipper<br />

leitet das Ressort<br />

Kapital bei <strong>Cicero</strong><br />

«<strong>Die</strong>se Geschichte<br />

habe ich erfunden,<br />

um zu erzählen,<br />

wie es war.»<br />

Der neue Roman von<br />

Eugen Ruge, 2011 ausgezeichnet<br />

mit dem Deutschen Buchpreis<br />

Auch als<br />

E-Book<br />

erhältlich<br />

208 Seiten. Gebunden<br />

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© Tobias Bohm<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 31


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

<strong>Die</strong> Bankerin der SPD<br />

In Christiane Krajewski hat Steinbrück ausgerechnet eine Frau aus der Finanzwelt im Kompetenzteam<br />

von Andreas Theyssen<br />

E<br />

s ist gar nicht so einfach, ein<br />

Fahrrad anzuschließen. Das Baustellenschild?<br />

Zu wackelig. Der<br />

Laternenpfahl? Schon belegt mit anderen<br />

Rädern. Der Baum? Zu dick für die Kette.<br />

Irgendwie haben die Stadtmöblierer ein<br />

Detail vergessen, als sie die Berliner Vorzeigestraße<br />

Unter den Linden ausstaffierten:<br />

Fahrradständer. So wird Christiane Krajewski<br />

einiges zugemutet, als sie zum Gespräch<br />

in einem Touristencafé nahe des Brandenburger<br />

Tores mit dem Fahrrad vorfährt.<br />

Ein Fahrrad? Das ist in ihrem Berufsstand<br />

recht unüblich. Christiane Krajewski,<br />

64, arbeitet als Investmentbankerin, da<br />

würden viele mindestens eine dunkle Limousine<br />

erwarten. Seit kurzem ist sie im<br />

Kompetenzteam des SPD-Kanzlerkandidaten<br />

Peer Steinbrück für Wirtschaft zuständig.<br />

Sozialdemokratie – das ist schon<br />

wieder etwas, das nicht jeder einer Investmentbankerin<br />

zutrauen würde.<br />

Seit Franz Müntefering 2004 seine<br />

Heuschrecken-Kampagne inszenierte, als<br />

daraufhin nicht nur in der SPD Hedgefonds,<br />

Finanzinvestoren und Broker in einen<br />

Topf geworfen wurden, sind Investmentbanker<br />

für viele Sozialdemokraten die<br />

Inkarnation des Turbokapitalismus. <strong>Die</strong> Finanzkrise<br />

hat ihren Ruf nicht verbessert.<br />

Christiane Krajewski versuchte damals,<br />

im Managerkreis der SPD gegenzusteuern.<br />

„Sicherlich gibt es negative Einzelfälle“,<br />

sagt sie. „Aber es gibt auch Untersuchungen,<br />

die besagen, dass Unternehmen im<br />

Besitz von Private Equity sich im Schnitt<br />

besser entwickeln und neue Arbeitsplätze<br />

aufbauen.“<br />

Es kommt noch schlimmer für das Sozialdemokratenherz.<br />

Denn Christiane Krajewski<br />

ist Senior Advisor bei der Frankfurter<br />

Investmentbank Leonardo & Co. „In<br />

Deutschland machen Immobilientransaktionen<br />

70 Prozent des Geschäfts aus“, verriet<br />

deren Chef Claudio Mori dem Handelsblatt.<br />

So berät Leonardo die Landesbank<br />

Baden-Württemberg, wenn sie ihre Wohnsiedlungen<br />

losschlagen will, oder die<br />

Wohnungsgesellschaft Gagfah. <strong>Die</strong> wird<br />

<strong>vom</strong> US-Finanzinvestor Fortress kontrolliert,<br />

hat in Dresden Tausende Wohnungen<br />

aufgekauft und durch ihren Umgang mit<br />

den Mietern die halbe Stadt in Harnisch<br />

gebracht. So klagte SPD-Stadtrat Thomas<br />

Blümel: „<strong>Die</strong> Gagfah erhöht Mieten, entlässt<br />

Mitarbeiter und verkauft Mieter, nur<br />

um die Profite trotz Finanzkrise zu retten.“<br />

Wo bleibt der Aufschrei in der SPD,<br />

dass Steinbrück eine Frau in sein Team holt,<br />

deren Firma mit solchen Kunden dealt?<br />

Halten die Sozialdemokraten still, um das<br />

letzte bisschen Chance auf den Wahlsieg<br />

nicht zu verspielen?<br />

<strong>Die</strong> Ruhe hat andere Gründe. Zum einen:<br />

Als Steinbrück die Nominierung der Investmentbankerin<br />

bekannt gab, erzählte<br />

er gleichzeitig, dass er seinen Pressesprecher<br />

feuert. <strong>Die</strong>se Nachricht dominierte<br />

in den Medien, Krajewski kam kaum vor.<br />

Zum anderen war sie saarländische Sozial-<br />

und Finanzministerin unter Oskar<br />

Lafontaine. Da gerät man unter Sozialdemokraten<br />

nicht so leicht in Verdacht,<br />

ein Büttel des Kapitals zu sein. Schließlich:<br />

<strong>Die</strong> Person Krajewski taugt nicht zur<br />

Verteufelung.<br />

Sie selbst tut sich schwer mit der Berufsbezeichnung<br />

Investmentbankerin.<br />

„Der Begriff ist mir zu breit für das, was<br />

ich mache“, sagt sie. Leonardo, die Investmentbank,<br />

für die sie arbeitet, finanziert<br />

keine Unternehmenskäufe, sondern berät<br />

dabei, ebenso wie bei Börsengängen und<br />

Umschuldungen. Krajewski selber befasst<br />

sich nur mit Unternehmenstransaktionen.<br />

„Da liegt mein Schwerpunkt.“ Sie schätzt<br />

an ihrem Job den Prozess eines Unternehmenskaufs<br />

oder -verkaufs: Erst die analytische<br />

Phase, dann die Verhandlungsphase,<br />

„und dann ist das Projekt vorbei, und es<br />

kommt wieder etwas Neues“.<br />

Auch sonst entspricht die Frau mit dem<br />

Fahrrad wenig dem Klischee einer Investmentbankerin.<br />

Nicht nur, weil sie sich daheim<br />

im Saarland in einer Kirchenstiftung<br />

engagiert. Sie ist überzeugte Marktwirtschaftlerin,<br />

sicherlich. Aber „ich wehre<br />

mich dagegen, wenn Marktwirtschaft<br />

keine Leitplanken hat“, sagt sie.<br />

Sie plädiert für eine Finanztransaktionssteuer.<br />

Sie scheut sich nicht einmal,<br />

die Worte Markt und Moral zu verknüpfen.<br />

„Ich halte es für legitim, Unternehmer auch<br />

an ihre Verpflichtungen zu erinnern“, sagt<br />

sie. „Auch wenn es nur Ausnahmen sind:<br />

Intransparentes unternehmerisches Handeln,<br />

tricky eingeleitete Konkurse, Unternehmen<br />

auszuhöhlen – all das ist grob unanständig.<br />

Eigentum verpflichtet. Das weiß<br />

die große Mehrheit der Unternehmer.“<br />

Reicht das, um im Wahlkampf für<br />

Steinbrück und die SPD Punkte zu holen?<br />

Krajewski sieht etliche wirtschaftspolitische<br />

Gründe, weshalb Angela Merkel<br />

abgelöst werden sollte. <strong>Die</strong> Finanztransaktionssteuer<br />

– „da passiert nichts durch die<br />

Bundesregierung“. Verkehrswegeausbau –<br />

„die Bundesregierung misst Infrastrukturmaßnahmen<br />

keine Bedeutung bei“. <strong>Die</strong><br />

Energiewende – „das ist derzeit reine Finger-in-den-Wind-Politik,<br />

die Wende muss<br />

man aber inhaltlich gestalten“.<br />

Der Kanzlerkandidat würde kaum anders<br />

formulieren. Genau dies kann zum<br />

Problem werden für Krajewski. Steinbrücks<br />

Kompetenz in Wirtschafts- und Finanzfragen<br />

ist unbestritten, sein Sendungsbewusstsein<br />

groß, sein Alphatier-Gehabe ebenso.<br />

Wo bleibt Platz für sie? „Ich helfe ihm“,<br />

sagt sie lächelnd. „Außerdem kann der sich<br />

ja nicht selbst durch den Kopierer jagen,<br />

also werde ich ihn bei passenden Terminen<br />

entlasten.“<br />

Analytische Phase, Verhandlungsphase,<br />

und dann, Ende September, ist das Projekt<br />

vorbei, und es kommt wieder etwas<br />

Neues.<br />

Andreas Theyssen<br />

traf als Ressortleiter der G+J-<br />

Wirtschaftsmedien etliche<br />

Banker. <strong>Die</strong>smal stieß er auf ein<br />

ungewöhnliches Exemplar<br />

Fotos: Jens Gyarmaty für <strong>Cicero</strong>, privat (<strong>Auto</strong>r)<br />

32 <strong>Cicero</strong> 7.2013


„Steinbrück<br />

kann sich ja<br />

nicht durch den<br />

Kopierer jagen“<br />

SPD‐Schattenministerin<br />

Christiane Krajewski<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 33


| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

Zäher Bursche<br />

Volker Bouffier bangt um sein Ministerpräsidentenamt. Aber was ist das schon nach dem, was er erlebt hat?<br />

von Hartmut Palmer<br />

S<br />

O VIEL HAT GEFEHLT. Volker Bouffier<br />

hält Daumen und Zeigefinger<br />

so nah aneinander, dass nur noch<br />

ein Haar dazwischenpasst. Der Ministerpräsident<br />

von Hessen sitzt in seiner Berliner<br />

Landesvertretung und lacht sein heiseres<br />

Raucher-Lachen. „So viel hat gefehlt,<br />

und es wäre aus gewesen.“<br />

Es geht nicht um die knappen Wahlergebnisse,<br />

die ihn und Roland Koch in Hessen<br />

an die Regierung gebracht haben, nicht<br />

um die Umfragen, die meistens schlecht<br />

waren und auch jetzt, vor der Landtagswahl<br />

im September, für seine CDU wieder<br />

schlecht sind. Das Gespräch dreht<br />

sich auch nicht um die Skandale, die ihm<br />

nachgesagt und zum Teil auch nachgewiesen<br />

wurden, nicht um die Untersuchungsausschüsse,<br />

die er überstand.<br />

Es geht um etwas, das nicht in den Archiven<br />

steht und worüber er auch überhaupt<br />

nicht gerne spricht: Um jenen Märztag<br />

des Jahres 1973, als er sich mit seinem<br />

<strong>Auto</strong> überschlug und sein Leben wirklich<br />

zwischen Daumen und Zeigefinger<br />

passte. Basketballer war er damals, 22 Jahre<br />

jung, er spielte beim deutschen Meister<br />

MTV Gießen, hatte sich sogar mit dem<br />

Gedanken getragen, Profispieler zu werden.<br />

Und dann das.<br />

Auf dem Heimweg aus dem Skiurlaub<br />

ist es passiert, in Österreich. Seine Frau, die<br />

Großmutter und zwei Tanten saßen mit<br />

im Wagen, als er in der Nähe von Spittal<br />

einem <strong>Auto</strong> ausweichen musste, das ihm<br />

auf seiner Fahrspur entgegenkam. Er geriet<br />

auf den holprigen Randstreifen, nahm zwei<br />

oder drei kleine Bäume mit. Dann war da<br />

plötzlich eine Mauer. Mehr weiß er nicht.<br />

Als er im Krankenhaus aufwacht, liegt<br />

er wie ein gepanzerter Riesenkäfer auf dem<br />

Rücken. Er kann sich weder zur Seite drehen<br />

noch Arme oder Beine bewegen, weil<br />

er von oben bis unten eingegipst ist. Es<br />

geht ihm wie dem Handlungsreisenden<br />

Gregor Samsa, der, wie Franz Kafka schrieb,<br />

aufwachte und sich „in seinem Bett zu einem<br />

ungeheueren Ungeziefer verwandelt“<br />

fand. Der Befund der Ärzte ist deprimierend:<br />

Das linke Bein ist zerschmettert und<br />

wäre beinahe abgenommen worden. Es<br />

Tag und Nacht Schmerzen. Sie<br />

haben ihm kleine Löcher in den<br />

Kopf gebohrt. Aber er lebte<br />

schmerzt noch immer. Der Rückspiegel<br />

des <strong>Auto</strong>s hätte ihm fast den Kopf gespalten.<br />

Zwei Halswirbel sind angeknackst, der<br />

lebenswichtige Liquorkanal ist eingedrückt.<br />

Selbst Freunde und politische Weggefährten<br />

wissen nur, dass es einmal „diesen<br />

Unfall“ gab. Aber kaum einer kennt die<br />

Details, die er nur zögernd preisgibt, weil<br />

die Erinnerung ihn belastet. Wie er später,<br />

als er endlich nach Deutschland gebracht<br />

worden war, in den Keller einer neurologischen<br />

Klinik geschoben wurde, wo mehrere<br />

Leute lagen, einige mit Gewichten am<br />

Kopf, andere mit dem Kopf nach unten<br />

aufgehängt. „Dich drehen sie gleich auch<br />

durch die Mangel“, sagte einer zu ihm.<br />

So kam es. Schiere Folter. Rechts und<br />

links haben sie ihm kleine Löcher in den<br />

Kopf gebohrt, um ein 14 Kilogramm<br />

schweres Gewicht daran zu hängen, und<br />

dann musste er tagelang in der Schräglage<br />

bleiben, mit dem Gewicht am Kopf.<br />

Denn dieses Gewicht sollte seine gestauchten<br />

Wirbel auseinanderziehen.<br />

Tag und Nacht Schmerzen und immer<br />

die Angst, nie mehr im Leben auf eigenen<br />

Füßen stehen zu können. Später haben die<br />

Ärzte den sechsten und den siebten Halswirbel<br />

miteinander verschweißt, um den<br />

Hals zu stabilisieren. Zwischendurch war<br />

er halbseitig gelähmt.<br />

Zwei Jahre hat es gedauert, bis Volker<br />

Bouffier überhaupt wieder stehen und gehen<br />

konnte. Erst nur mit Krücken. Dann,<br />

nach vielen Monaten mühsamen, eisernen<br />

Trainings, endlich wieder ohne.<br />

<strong>Die</strong>ser Mann, 61 Jahre alt, hat manche<br />

politische Schlacht geschlagen. Eine gefühlte<br />

Ewigkeit lang war er seit 1999 im<br />

Kabinett seines Freundes Roland Koch als<br />

Innenminister die Nummer zwei in Hessen,<br />

bis er 2010 selbst Ministerpräsident<br />

wurde. Gleich zu Beginn seiner Zeit als Innenminister<br />

musste er sich des Vorwurfs erwehren,<br />

als Rechtsanwalt in einem Scheidungsverfahren<br />

Parteienverrat begangen zu<br />

haben – er hatte zuerst den befreundeten<br />

Ehemann beraten und war danach Anwalt<br />

von dessen Frau. Und er machte keine gute<br />

Figur, faselte sogar etwas von einer toten<br />

Katze mit Schleife, die ihm nach Art der<br />

Mafia vor die Tür gelegt worden sei – alles<br />

erfunden, wie sich später herausstellte.<br />

Dann soll er einer Staatsanwältin, deren<br />

Behörde den Fall untersuchte, einen lukrativen<br />

Posten angeboten haben – auch das<br />

kam heraus. So ging es weiter: Schlag auf<br />

Schlag. Der Mann, der mit dem Slogan<br />

angetreten war, als Hüter von „Law and<br />

Order“ durchzugreifen, geriet selbst immer<br />

wieder in Grauzonen. Er hat das alles überstanden.<br />

Weil Freunde zu ihm hielten, sagt<br />

er. Und weil er sich immer im Recht fühlte.<br />

Aber dies war es nicht allein. Volker Bouffier<br />

hat politisch überlebt, weil die Skandale<br />

ein Klacks waren im Vergleich zu dem,<br />

was er nach seinem Unfall durchgemacht<br />

hatte. Wer durch diese Hölle gegangen ist,<br />

den wirft nichts mehr um.<br />

„Wieder auf die Füße zu kommen“,<br />

sagt er rückblickend, „das war eigentlich<br />

die schwerste und größte Herausforderung<br />

in meinem Leben.“<br />

Foto: Christoph Michaelis für <strong>Cicero</strong><br />

34 <strong>Cicero</strong> 7.2013


„Volker war ein Kämpfer,<br />

robust, nicht filigran“ – der<br />

frühere Basketball-Trainer über<br />

Ministerpräsident Bouffier<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 35


F r a u F r i e d f r a g t s i c h …<br />

… warum Schule Folter<br />

sein muss<br />

W<br />

ährend ich das schreibe, muss<br />

ich bangen, dass meine Tochter<br />

durchs Abi fällt. Nicht, weil sie<br />

eine schlechte Schülerin wäre, sie hat einen<br />

glatten Zweier-Schnitt. Nein, weil sie trotz<br />

ordentlicher Vornoten in Mathe die nötigen<br />

Prüfungspunkte nicht schaffen und deshalb<br />

durchfallen könnte. Klar, ergibt ja auch Sinn,<br />

dass eine einzige Prüfung höher bewertet<br />

wird als zwölf oder 13 Jahre Unterricht.<br />

Auch, dass wir Eltern den Gegenwert<br />

eines Mittelklassewagens in Mathe-<br />

Nachhilfe investiert haben, weil wir<br />

seit der 5. Klasse den Stoff selbst nicht<br />

mehr verstehen, ist sicher sinnvoll.<br />

Zurzeit treffe ich täglich Abiturienten-Eltern,<br />

die mit Ringen unter<br />

den Augen unterwegs sind und Panik<br />

schieben. Eine Mitschülerin unserer Tochter<br />

musste mehrfach notfallmäßig zum Arzt gebracht und mit Spritzen gegen ihre<br />

Kopf- und Rückenschmerzen behandelt werden, eine andere kotzt aus Angst vor<br />

jeder Prüfung.<br />

In den vergangenen zwei Jahren hat unsere Tochter sich Unmengen von Lernstoff<br />

ins Hirn gepresst, bei Klausuren wieder ausgeschieden – und sofort vergessen.<br />

Was sollte sie anderes tun, wenn der Lehrplan keine sinnvollen Vernetzungen vorsieht,<br />

keine interdisziplinären Projekte, nicht den kleinsten Blick über den Tellerrand.<br />

Stattdessen: eine Überfülle zusammenhangloser Fakten fragwürdiger Relevanz.<br />

Warum muss jemand, der kein Verhältnis zu Zahlen hat und in seinem weiteren<br />

Leben nie mehr Mathe brauchen wird, Wahrscheinlichkeitsrechnung beherrschen?<br />

Und warum muss jemand, der Computer programmieren oder Maschinen<br />

bauen will, die höchsten Feinheiten lyrischer Reimformen kennen? Warum können<br />

Schüler sich nicht zu Beginn der Oberstufe auf das spezialisieren, was ihnen<br />

liegt, Spaß macht und später nützlich sein wird? Mit der verunglückten G-8-Reform<br />

wurde jedes individualisierte Lernen abgeschafft – zugunsten stumpfsinniger,<br />

standardisierter Paukerei. Gymnasiasten haben heute keine Zeit mehr für Sport,<br />

Musik oder Freunde, sie führen das Leben von Gefangenen, die sich einem absurden<br />

Zwangssystem unterwerfen, um irgendwann freizukommen.<br />

Das alles treibt mich zur Verzweiflung. Es ist ein Verbrechen an jungen Menschen,<br />

die zu unkritischen, angepassten Lernmaschinen erzogen werden, die später<br />

reibungslos ins globale Wirtschaftssystem eingepasst werden können. Dabei<br />

werden sie um eine der schönsten und wichtigsten Erkenntnisse der menschlichen<br />

Existenz betrogen: dass Lernen eine Lust sein kann.<br />

Alle, die an diesem Verbrechen beteiligt sind, sollten zur Strafe lebenslänglich<br />

in ein bayerisches Gymnasium gehen müssen. Und jedes Woche Abitur in ihrem<br />

Angstfach schreiben.<br />

Amelie Fried ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Kurz vor Redaktionsschluss<br />

kam die Nachricht, dass ihre Tochter das Abi bestanden hat<br />

Natürlich hat es ihm nach dem Unfall<br />

geholfen, dass sein Körper trainiert<br />

war. Er war in der Basketball A-Jugend des<br />

MTV Gießen zwar nicht der „Topscorer“,<br />

der immer die meisten Körbe wirft. Mit<br />

seinen 1,85 Meter, für einen Basketballer<br />

eher klein gewachsen, spielte er defensiv im<br />

Zentrum – und auf ihn war Verlass. „Der<br />

Volker“, sagt sein damaliger Mitspieler Roland<br />

Peters, „war ein zäher Bursche. Es war<br />

nicht einfach, an ihm vorbeizukommen.“<br />

Auch sein damaliger Trainer Bernd Röder<br />

schätzt seine Talente: „Er war ein Kämpfer:<br />

robust, nicht filigran, ein toller Teamplayer.<br />

Vor allem hat er gelernt, in einer<br />

Mannschaft Siege zu erringen und Niederlagen<br />

zu verkraften.“<br />

Robust, kämpferisch, mannschaftstauglich:<br />

Das sind die Eigenschaften, die<br />

ihm auch seine Parteifreunde in der CDU<br />

nachsagen. Als er wieder gehen konnte, hat<br />

Bouffier seine ganze Energie auf die Politik<br />

geworfen, so wie er vorher Sport getrieben<br />

hatte. Er war bereits eine große Nummer<br />

in der hessischen Jungen Union, als<br />

der sieben Jahre jüngere Roland Koch dazustieß.<br />

Bouffier war Landesvorsitzender,<br />

gehörte dem JU-Bundesvorstand an und<br />

war dabei, als 1979 während eines Fluges<br />

von Caracas nach Santiago de Chile hoch<br />

über den Wolken und mit viel Whiskey der<br />

legendäre „Andenpakt“ geschlossen wurde.<br />

Es war ein Männerbündnis, dessen Mitglieder<br />

einander schworen, sich gegenseitig<br />

beim Aufstieg nach oben nicht in die<br />

Quere zu kommen. Einige später berühmt<br />

gewordene CDU-Nachwuchspolitiker gehörten<br />

dazu: Matthias Wissmann, Günther<br />

Oettinger oder Friedbert Pflüger. Koch, der<br />

später einer ihrer Schwergewichte wurde,<br />

war erst durch Bouffier in den erlauchten<br />

Kreis aufgenommen worden.<br />

Schon sein Vater, Robert Bouffier, 1944<br />

in Stalingrad gefangen genommen und erst<br />

1950 aus Russland heimgekehrt, war ein<br />

bekannter CDU-Lokalpolitiker, sein Großvater<br />

hatte 1945 die CDU in Gießen gegründet.<br />

„Wir waren ein politisches Haus,<br />

und Hessen war damals ein absolut rotes<br />

Land. Wer da die Fahne der CDU hochgehalten<br />

hat und schon gar im öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nst, der wusste, das kann das Ende der<br />

Karriere gewesen sein.“<br />

Er lernte schon in jungen Jahren die<br />

Großen der CDU kennen: Konrad Adenauer<br />

durfte er im Wahlkampf 1957 als<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Foto: Andrej Dallmann<br />

36 <strong>Cicero</strong> 7.2013


i‐Dötzchen einen Blumenstrauß überreichen,<br />

später Ludwig Erhard und Rainer<br />

Barzel die Hand schütteln. Aber: „Wir waren<br />

immer in der Opposition. Da wird man<br />

nicht übermütig.“<br />

Wenn er mit seinen Mannschaftskameraden<br />

nach dem Training im Gasthaus<br />

„Zwibbel“ oder im Vereinshaus Bier trank,<br />

knobelte oder „Mäxchen“ spielte, ging es<br />

allerdings, wie sich Trainer Röder erinnert,<br />

„selten um Politik, sondern um Basketball“.<br />

Aber: „Man merkte schon, dass er sprachlich<br />

anders drauf war als wir“, sagt Mitspieler<br />

Peters. „Trotzdem hat er sich nie in den<br />

Vordergrund gespielt.“ Gelegentlich ging es<br />

wohl auch um die Mädels. Immerhin hat er<br />

seine Frau Ursel, die damals ebenfalls eine<br />

Basketballerin war, im Vereinshaus kennengelernt.<br />

Auch sie ist in der CDU und saß<br />

einige Jahre im Magistrat der Stadt. <strong>Die</strong><br />

Söhne, Volker und Frederic, sind in der<br />

Jungen Union aktiv.<br />

Als Volker Bouffier und seine Freunde<br />

von der Jungen Union anfingen, in Hessen<br />

CDU-Politik zu machen, fühlten sie<br />

sich von Gegnern umzingelt. „Wir hatten<br />

keine Referenten, keine Fahrer. Wir hatten<br />

nix. Wir wollten die Partei und die Welt<br />

verändern.“ Sie waren jung damals und<br />

ehrgeizig. Regelmäßig trafen sie sich in einem<br />

schmucklosen Hinterzimmer der <strong>Auto</strong>bahnraststätte<br />

„Wetterau“ nördlich von<br />

Frankfurt an der A 5. Eine Art hessischer<br />

„Andenpakt“ war das, kurz „Tankstelle“ genannt<br />

– Franz Josef Jung, Karlheinz Weimar,<br />

Karin Wolff und Roland Koch gehörten<br />

dazu. Bouffier war ihr Anführer. Mitte<br />

der neunziger Jahre aber rückte er plötzlich<br />

klaglos in die zweite Reihe und machte<br />

dem Aufsteiger Koch Platz. Dann war es<br />

fast wieder wie früher beim Basketball:<br />

Bouffier machte den Brecher und Stopper<br />

Großvater CDU, Vater CDU, Frau<br />

CDU. Und das im roten Gießen.<br />

<strong>Die</strong> Bouffiers waren umzingelt<br />

im Mittelfeld, an dem so leicht keiner vorbeikam,<br />

und Koch den Topscorer, der die<br />

Körbe warf. So eroberten sie die Macht: in<br />

der Partei, im Land.<br />

Seit Koch 2010 die Politik aufgegeben<br />

hat und an die Spitze des Bauunternehmens<br />

Bilfinger gewechselt ist, muss der<br />

Verteidiger Bouffier beweisen, dass auch<br />

er Körbe werfen kann. Am 22. September,<br />

zeitgleich mit der Bundestagswahl, entscheiden<br />

die Hessen bei der Landtagswahl<br />

über seine politische Zukunft. <strong>Die</strong> Umfragen<br />

verheißen nichts Gutes. Zwar hat sich<br />

die CDU nach den jüngsten Prognosen berappelt,<br />

während die SPD etwas absackte.<br />

Aber die Grünen wären stark genug, um<br />

eine rot-grüne Mehrheit zu sichern, zumal<br />

dann, wenn die FDP an der Fünf-Prozent-<br />

Hürde scheitert.<br />

Berlin, ein lauer JuniAbend. Beim Sommerfest<br />

im Garten der hessischen Landesvertretung<br />

sitzt Volker Bouffier, den sie<br />

„Bouffi“ nennen, mit der Bundeskanzlerin<br />

am Biertisch. Irgendwo unter den Gästen<br />

steht auch Thorsten Schäfer-Gümbel von<br />

der SPD herum, der seinen Job haben will.<br />

Aber „Bouffi“ ist der Hausherr. Er sitzt neben<br />

der Kanzlerin. Er sagt Angela zu ihr.<br />

Das Wetter ist herrlich. Bier und Wein<br />

fließen reichlich. Jetzt soll er etwas zu den<br />

schlechten Umfragen sagen. Der Mann mit<br />

dem immer noch vollen, aber inzwischen<br />

eisgrauen Haar tut so, als gäbe es die Zahlen<br />

nicht. Was für schlechte Umfragen?<br />

„<strong>Die</strong> CDU steigt, die SPD sinkt. Wir werden<br />

40 Prozent plus x bekommen“, sagt er<br />

mit seiner tiefen, rauchigen Stimme. „Und<br />

die FDP kommt rein. Das reicht zum Regieren.“<br />

Und wenn nicht? Wieder das etwas<br />

schiefe, typische Bouffier-Grinsen: „Damit<br />

beschäftige ich mich nicht.“<br />

Ärgern würde er sich bestimmt und<br />

zwar fürchterlich. Aber zerbrechen würde<br />

er daran nicht. Es gibt Wichtigeres in einem<br />

Leben, das schon mal zwischen Daumen<br />

und Zeigefinger gepasst hat.<br />

Hartmut Palmer<br />

ist politischer Chefkorrespondent<br />

von <strong>Cicero</strong><br />

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16. August – 15. September 2013<br />

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„NATÜRLICH BIN<br />

ICH EINE OPTION“<br />

38 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Sie könnte einmal Horst Seehofer<br />

nachfolgen. <strong>Die</strong> mächtigste Frau der<br />

CSU ist Ilse aigner schon jetzt. Wie<br />

funktionieren solche Aufstiege? Im<br />

<strong>Cicero</strong>-Gespräch erzählt die Ministerin<br />

von ihrer Prägung durch eine schwere<br />

Krankheit. Sie spricht über Angstberge,<br />

das gute Gefühl im Rampenlicht und<br />

ihre Begegnungen mit Raubfischen<br />

F<br />

rau Aigner, wir haben gehört,<br />

dass Sie gerne in den Bergen<br />

wandern gehen …<br />

Bei uns in Bayern sagt man Bergsteigen.<br />

Das können mal die kleineren Touren<br />

sein, nur mal kurz auf die Tregler-Alm<br />

hoch. Oder <strong>vom</strong> Brauneck rüber auf die<br />

Benediktenwand.<br />

Was ist der schwerste Gipfel, den Sie<br />

erklommen haben?<br />

Das dürfte der Guffert gewesen sein, mit<br />

2194 Metern. Am Schluss wird der Aufstieg<br />

richtig steil. Da muss man schwindelfrei<br />

sein.<br />

Und welchen politischen Achttausender<br />

peilen Sie an?<br />

<strong>Die</strong> CSU muss bei den Landtagswahlen<br />

im September besser abschneiden als vor<br />

fünf Jahren. <strong>Die</strong> 43 Prozent müssen wir<br />

unbedingt toppen.<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 39


| B e r l i n e r R e p u b l i k | A u f s t e i g e n u n d A b s t ü r z e n<br />

Wir meinten Sie persönlich.<br />

Ach so, persönlich. Eigentlich habe ich<br />

meine Karriere nie geplant. Dass ich<br />

Bundesministerin werde, hätte ich mir<br />

früher auch nie gedacht.<br />

Das heißt, Sie wollen gar nicht Ministerpräsidentin<br />

und Chefin der CSU werden?<br />

<strong>Die</strong> Frage stellt sich überhaupt nicht. Erst<br />

kommt die Landtagswahl, und danach<br />

heißt für die nächste Legislaturperiode<br />

der Ministerpräsident und Parteivorsitzende<br />

Horst Seehofer.<br />

Vielleicht beginnen wir mit Ihrem Aufstieg<br />

erst einmal ganz unten.<br />

Ganz unten?<br />

Im Mangfalltal, im Alpenvorland. Dort sind<br />

Sie geboren.<br />

Genau. Hügel, Wald. Meine Heimatgemeinde<br />

Feldkirchen-Westerham hatte damals<br />

weniger als 10 000 Einwohner, unser<br />

Dorf selbst etwa 1500. Fast alle haben<br />

sich gekannt.<br />

Wie war es dort bei den Aigners?<br />

Meine Eltern hatten einen Handwerksbetrieb.<br />

Jeder musste da mit anpacken, keiner<br />

hat sich aus der Verantwortung stehlen<br />

können. Aber dafür hatten wir viele<br />

Freiheiten – meine drei Schwestern und<br />

ich. <strong>Die</strong> Eltern haben gewusst, dass sie<br />

sich auf uns verlassen können. Wenn es<br />

schiefgegangen ist, hat es halt auch mal<br />

ein Donnerwetter gegeben.<br />

Was haben Ihre Eltern verkauft?<br />

Wir hatten ein Geschäft, wo man seine<br />

Waschmaschine kauft, die Spülmaschine,<br />

also die weiße Ware. Dann die Fernseher<br />

und Radiogeräte, das ist die braune<br />

Ware. Und da waren etwa 20 Handwerker<br />

in der Installation und im Service.<br />

Ich erinnere mich noch gut daran, dass<br />

meine Eltern in manchen Nächten nicht<br />

schlafen konnten, weil sie nicht genau<br />

gewusst haben, ob sie einen Auftrag bekommen<br />

und ob sie die Mitarbeiter weiter<br />

beschäftigen können. Ich hab als<br />

Kind gespürt, wenn es eng wurde.<br />

Warum wollten Sie den Betrieb des Vaters<br />

übernehmen?<br />

Ich wollte schon früh in den Betrieb einsteigen.<br />

Ich war erst auf dem Gymnasium,<br />

aber das war mir zu theoretisch.<br />

„Bei mir stand es fifty-fifty, ob<br />

ich nach der OP gelähmt bin.<br />

Alles, was danach kommt, setzt<br />

man in Relation zu so einem<br />

existenziellen Erlebnis“<br />

Ilse Aigner beim <strong>Cicero</strong>-Gespräch in München. In Bayern setzt sie im<br />

Herbst ihre Karriere fort. <strong>Die</strong> 48 Jahre alte CSU-Politikerin gibt ihr Amt<br />

als Verbraucherministerin in Berlin auf und wechselt in die Landespolitik.<br />

Fernziel: einmal Horst Seehofer nachzufolgen. Das wollen allerdings auch<br />

andere, zum Beispiel Markus Söder, bayerischer Finanzminister<br />

Fotos: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong> (Seiten 38 bis 40)<br />

40 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Deswegen bin ich auf die Realschule gewechselt.<br />

Da hat mich der Direktor zusammengestaucht<br />

auf dem Parkplatz, ob<br />

ich nicht ganz sauber bin. Dass ich angesichts<br />

solch guter Noten auf die Realschule<br />

wechsle. Aber das war mir egal.<br />

Allerdings habe ich festgestellt, dass das<br />

Kaufmännische nicht so meines ist. Ich<br />

wollte was Technisches und hab dann Radio-<br />

und Fernsehtechnikerin gelernt und<br />

mich später zur staatlich geprüften Elektrotechnikerin<br />

fortgebildet.<br />

Neben der Lehre haben Sie Leistungssport<br />

betrieben. Wie wichtig war das für Sie?<br />

Mit 13 habe ich angefangen. Wir waren<br />

viel unterwegs, zu Trainingslagern nach<br />

Italien, nach Cattolica, mein erster Urlaub<br />

ohne Eltern. Dann die Wettkämpfe<br />

am Wochenende, die sind meistens<br />

ganz früh losgegangen. Mein Angstberg<br />

war der Antholinger, der zieht sich<br />

elendslang.<br />

Radsportler müssen sich durch ein hartes<br />

Trainingsprogramm aufbauen.<br />

Jeden Tag aufs Rad und dann Kilometer<br />

machen. Selbst hinterm Schneepflug<br />

bin ich hergefahren. Das war auch noch<br />

in diesen kratzenden Wollhosen und<br />

Wolltrikots.<br />

Ist Ausdauer eine Eigenschaft von Ihnen<br />

geworden?<br />

Ja, auf alle Fälle. Ich bin keine Sprinterin,<br />

sondern eher eine Ausdauer-Sportlerin.<br />

Das gilt auch fürs Politische. Auch mal<br />

was aussitzen, hätte ich fast gesagt, aber<br />

es ist eher ein Abwarten. Ich warte den<br />

Moment ab, in dem es losgeht.<br />

Warum haben Sie den Radsport nicht<br />

weiterverfolgt?<br />

Ich hatte auf einmal fürchterliche<br />

Schmerzen, ohne zu wissen warum. <strong>Die</strong><br />

Untersuchungen gingen über ein ganzes<br />

Jahr. Dann habe ich Gelbsucht bekommen,<br />

deswegen bin ich abgemagert<br />

bis auf 49 Kilo. Bei meiner Größe ist das<br />

nicht gerade sonderlich viel. Dann hat<br />

sich nach einem weiteren Jahr rausgestellt,<br />

dass es ein Tumor im Rückenmark<br />

war. Der ist Gott sei Dank kurz vor meinem<br />

18. Geburtstag erfolgreich operiert<br />

worden. Aber ich hatte zwei Jahre lang<br />

mit unglaublichen Schmerzen zu tun. Da<br />

denken Sie nicht an Radrennen.<br />

Wie hat Sie die Krankheit geprägt?<br />

Man nimmt Dinge nicht mehr so wichtig,<br />

die einen sonst vielleicht aufregen<br />

würden. Ich musste in der Zeit die Prüfungen<br />

für die Mittlere Reife schreiben<br />

und habe nicht mehr schlafen können<br />

wegen der Schmerzen. Deswegen war<br />

mir alles andere egal, und das hat sich<br />

auch später ausgewirkt. So ein Einschnitt<br />

prägt. Bei mir stand es ja auch fifty-fifty,<br />

ob ich nach der Operation gelähmt bin<br />

oder nicht. Alles, was im Nachhinein<br />

kommt, setzt man in Relation zu so einem<br />

existenziellen Erlebnis.<br />

Wenig später, mit 19 Jahren gingen Sie in<br />

die Junge Union. Wie kamen Sie da hin?<br />

Das war keine Überzeugungstat. Ich war<br />

früher im Radsportverein gewesen und<br />

im Turnverein. Und meine Mutter hat<br />

sich immer eingebildet, ich müsste mich<br />

noch mehr engagieren. Dann hat es einen<br />

von der JU gegeben, der gesagt hat,<br />

jetzt könntest du eigentlich zu uns kommen.<br />

<strong>Die</strong> beiden haben mich so lange<br />

genervt, bis ich eingetreten bin. Ich hab<br />

ja nicht gewusst, dass es von da an recht<br />

schnell ging.<br />

Kreistagsmitglied 1990, JU-Landesvorstand,<br />

stellvertretende JU-Landesvorsitzende<br />

1993, mit 29 dann im Landtag.<br />

Wieso ging es so zügig nach oben?<br />

Offenbar hatte ich schon immer so ein<br />

Einmisch-Gen. Ich war von der ersten bis<br />

zur letzten Klasse Klassensprecherin und<br />

dann auch Schülersprecherin.<br />

Aber Sie haben einmal behauptet, Sie<br />

seien kein Alphatier.<br />

Man kann Dinge auch in die Hand nehmen,<br />

ohne sich aufzuplustern. Ich bin<br />

halt kein Breitmaul. Ich habe mich aber<br />

immer für andere eingesetzt, die sich vielleicht<br />

nicht so recht trauten.<br />

Gehen wir weiter Ihre Karriere hoch.<br />

Bundestag, Parteipräsidium, Bundesministerin<br />

– wie kommt Ilse Aigner von einer<br />

Etappe zur nächsten?<br />

Vielleicht weil ich nicht auf der Stirn stehen<br />

habe: „Ich will mehr werden.“ Ich<br />

mache da, wo ich stehe, meine Arbeit<br />

ordentlich.<br />

Im Ernst? Ihr Aufstieg sieht eher nach<br />

einer systematischen Kaderkarriere aus.<br />

Wer mich nicht kennt, mag das so sehen.<br />

Aber vielleicht müssten Sie in meine Geschichte<br />

zurückblicken: Mir war nach der<br />

Operation wichtiger als alles andere, dass<br />

ich gesund bin und dass ich gute Freunde<br />

habe, mit denen ich mich verstehe, und<br />

dass die Familie intakt ist. Deswegen<br />

habe ich nur in ganz wenigen Momenten<br />

gesagt: Das will ich jetzt wirklich machen,<br />

zum Beispiel als ich für die CSU als Bürgermeisterin<br />

antreten wollte.<br />

Mit wie vielen Jahren war das?<br />

Da war ich 27, gerade mal drei Jahre im<br />

Gemeinderat. Wir haben zu viert den<br />

Ortsverband aufgemischt. Vor der entscheidenden<br />

Veranstaltung hab ich die<br />

Stereoanlage eingeschaltet und mir „Auf<br />

in den Kampf, Torero“ aufgelegt. Es gab<br />

drei Kandidaten, der Fraktionschef ist im<br />

ersten Wahlgang rausgefallen, und ich<br />

bin gegen den zweiten Bürgermeister in<br />

die Stichwahl gegangen. Da stand’s 75:72<br />

gegen mich.<br />

Dafür zogen Sie kurz danach in den Landtag<br />

ein. Wie sind Sie da rangegangen?<br />

Das war eine ganz schlechte Zeit für die<br />

CSU, nach dem Übergang von Strauß<br />

zu Streibl 1993, als die Partei in Umfragen<br />

bei 38 Prozent stand. Ich habe mir<br />

in fünf Stimmkreisen die Unterstützung<br />

gesichert, auch gegen Konkurrenten, die<br />

nicht begeistert waren, dass da so ein junges<br />

Mädel daherkommt. Aber so ist mir<br />

das geglückt, vor allem, weil Edmund<br />

Stoiber die CSU wieder über die 50-Prozent-Marke<br />

brachte.<br />

Stimmkreis für Stimmkreis. In der CSU<br />

gelten Sie als eine methodische Netzwerkerin,<br />

richtig?<br />

Ich telefoniere keine Listen ab. Aber ich<br />

greif schnell mal zum Telefon und frage,<br />

was Sache ist. Ich will direkt wissen, was<br />

los ist.<br />

Wie viele CSU-Telefonnummern haben Sie<br />

denn in Ihrem Handy? 300?<br />

Das wird nicht reichen. Das werden<br />

schon mehr als 1000 sein, die ich im Telefon<br />

gespeichert hab.<br />

Helmut Kohls berühmtes Notizbuch der<br />

Macht – nur in der Digitalversion.<br />

Es gibt ja allein schon im Wahlkreis<br />

fast 50 Ortsverbände der CSU und<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 41


| B e r l i n e r R e p u b l i k | A u f s t e i g e n u n d A b s t ü r z e n<br />

22 Kreisverbände in Oberbayern. Dazu<br />

kommen die JU, die Frauenunion, die<br />

Mittelstandsunion, die Mandatsträger,<br />

das läppert sich.<br />

Zum unglamourösen Landwirtschaftsministerium<br />

mit all den Subventionen<br />

und Fischereiquoten haben Sie sich<br />

nebenbei noch ein zweites aufgebaut: das<br />

Aigner-Aufbauministerium.<br />

Aigner-Aufbauministerium?<br />

Zuständigkeit: Fototermine mit Kofi Annan<br />

und Bill Gates. Kämpfe gegen facebook.<br />

Kampagne gegen das Wegwerfen von<br />

Essen.<br />

Das Ministerium ist wirklich sehr breit<br />

aufgestellt. <strong>Die</strong> Frage ist, ob man so etwas<br />

auch sichtbar macht. Zugegeben: Da<br />

sind auch Facetten drin, die ich mir erst<br />

erschlossen habe.<br />

Mit Bill Gates auf dem Foto: Das wollten<br />

Sie einfach als gute Show.<br />

Lesen Sie’s nach: Da ist es um den Kampf<br />

gegen Hunger und Armut in Afrika<br />

gegangen.<br />

Was unterscheidet Sie in Ihrer Art, als<br />

Ministerin zu agieren, von einem Gipfelstürmer<br />

wie Guttenberg?<br />

Ich bin bodenständig aufgewachsen, in<br />

recht einfachen Verhältnissen. Wir waren<br />

halt in einer kleinen Gemeinde. Gut, der<br />

Karl-Theodor kommt auch aus einer kleinen<br />

Gemeinde, aber er hatte eine ganz<br />

andere Perspektive.<br />

Weil er <strong>vom</strong> Schloss kam?<br />

Das darf ihm nicht zum Vorwurf gemacht<br />

werden. Man wird in seine Welt reingeboren.<br />

Das Zweite ist: Ich bin im Auftritt<br />

anders. Ich könnte gar nicht mit so viel<br />

Glanz unterwegs sein. Deswegen muss der<br />

Absturz für ihn umso schlimmer gewesen<br />

sein. Weil er natürlich sehr schnell hochgeschossen<br />

worden ist von den Medien,<br />

sich vielleicht auch hat hochschießen lassen.<br />

Mir persönlich tut das sehr leid. Ich<br />

habe einen völlig anderen Hintergrund.<br />

Ich könnte zum Beispiel auch nicht wie<br />

Kretschmann große Philosophie-Sentenzen<br />

zitieren. Das ist nicht meine Welt.<br />

Was ist Ihre Welt?<br />

Ich bin Technikerin, zack, zack, zack,<br />

eins, zwei, drei – Ergebnis.<br />

Wenn wir in unserem Bergsteigerbild<br />

bleiben, ist Guttenberg hochgestürmt, und<br />

Sie arbeiten sich von Hütte zu Hütte vor.<br />

Ich mach auch mal eine Rast, und ich<br />

schaue mir die Dinge an. <strong>Die</strong>se Ruhe<br />

und Weite in den Höhen, die man oben<br />

genießen kann mit der mitgebrachten<br />

Brotzeit. Andersrum gehe ich auch<br />

ins Wasser – zum Fischen und zum<br />

Tauchen.<br />

In Bayern?<br />

Auch in Bayern. Den Tauchschein hab<br />

ich im Pullinger Weiher bei München<br />

gemacht, an dem Tag hat es gerade geschneit.<br />

Ich war auch bei uns in einem<br />

Baggerweiher tauchen, das weiß ich noch,<br />

„Dass Karl-Theodor<br />

zu Guttenberg<br />

das Rampenlicht<br />

genossen<br />

hat, kann ich<br />

verstehen. Wer<br />

tut das nicht? Da<br />

muss man ehrlich<br />

sein. Natürlich ist<br />

das schön“<br />

weil ich auf einmal einem Hecht gegenüber<br />

gewesen bin, Auge in Auge, und der<br />

hat dann rückwärts eingeparkt, ab ins<br />

Gebüsch.<br />

Gehen wir zu einer wichtigen Etappe Ihrer<br />

Karriere: 2011 wurden Sie Vorsitzende<br />

der CSU Oberbayern, des mit Abstand<br />

größten Parteibezirks. <strong>Die</strong> Machtposition<br />

fand auch Georg Fahrenschon attraktiv,<br />

der damalige bayerische Finanzminister.<br />

Ja, das war eine schwierige Zeit für mich<br />

und auch für ihn. Der Georg und ich<br />

sind 25 Jahre praktisch parallel gelaufen –<br />

Richtung Gipfel, wenn man so will. Aber<br />

dann hatten wir auf einmal dasselbe Ziel,<br />

und es war auf einmal nur ein Platz auf<br />

dem Gipfel.<br />

Wie haben Sie Ihren Freund<br />

ausgeschaltet?<br />

Davon kann keine Rede sein. Wir haben<br />

offen und ehrlich miteinander geredet,<br />

auch Freunde einbezogen, die uns beraten<br />

haben, und er hat schlussendlich gesagt:<br />

Okay, dann machst das du.<br />

Der Hecht hat rückwärts eingeparkt.<br />

Ich habe offen gesagt, was ich will, und<br />

wie wir das Problem lösen können.<br />

Liebenswürdige Schale, harter Kern?<br />

Das würde ich durchaus unterschreiben.<br />

Wenn ich mir was in den Kopf gesetzt<br />

habe, dann verfolge ich das sehr<br />

zielstrebig, auch über Etappen, es muss<br />

nicht sofort gehen. Und ich habe ein<br />

Elefantengedächtnis.<br />

Sie sind nachtragend?<br />

Ich kann verzeihen, aber nicht vergessen,<br />

das ist der Unterschied.<br />

Stimmt es, dass an der Vorsitzenden des<br />

CSU-Bezirks Oberbayern auch der Ministerpräsident<br />

nicht vorbeikommt?<br />

Ein Vetorecht habe ich nicht, falls Sie<br />

das meinen. Aber Horst Seehofer und<br />

ich arbeiten eng zusammen. Wenn eine<br />

wichtige Entscheidung Oberbayern betrifft<br />

oder auch die Partei, dann stimmt<br />

er das gern mit mir ab. Ich melde mich<br />

auch, wenn ich was zu sagen habe, wenn<br />

auch nicht unbedingt öffentlich.<br />

Gehört es zu Ihrem Rezept, dass Sie den<br />

Chefs Entwarnungssignale geben? Sie<br />

machen Ihre Aufgabe, Sie knien sich rein,<br />

aber Sie drängeln nicht nach oben?<br />

Zumindest müssen die nicht Angst haben,<br />

dass ich ihnen von hinten das Messer<br />

in den Rücken ramme.<br />

Noch einen Unterschied zum<br />

Karl-Theodor.<br />

Da tun Sie ihm sicher Unrecht. Das ist<br />

eine von vielen Unterstellungen. Dass er<br />

das Rampenlicht genossen hat, kann ich<br />

verstehen. Wer tut das nicht? Da muss<br />

man ehrlich sein.<br />

Sie genießen das Rampenlicht?<br />

Ja, natürlich ist das schön. Wenn die<br />

Leute auf einen zugehen, wenn sie sich<br />

freuen, ein Foto mit mir machen zu<br />

können. Klar, dann freue auch ich mich.<br />

42 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Man muss aber immer im Kopf behalten,<br />

dass das auch am Amt hängt. Wenn du<br />

oben bist, brauchst du immer Menschen,<br />

die auch mal sagen: Ilse, das war jetzt<br />

nicht ganz optimal.<br />

Haben Sie Angst davor, Ihre Macht zu<br />

verlieren?<br />

Nee. Ich definiere mich nicht über Macht<br />

und Ämter. <strong>Die</strong> Politik vergibt sie nur<br />

auf Zeit. Das wird einem als Landwirtschafts-<br />

und Verbraucherschutzministerin<br />

schnell klar, das ist ein echter Schleudersitz.<br />

Lebensmittel sind ein sensibler Bereich,<br />

da hätte es mich jedes Jahr wegwischen<br />

können.<br />

Warum gehen Sie aus Berlin in die Landespolitik?<br />

Das ist doch wie ein Abstieg.<br />

Landtag ist kein Abstieg. Wir haben<br />

schwierige Wahlen vor uns, da kann ich,<br />

da will ich zum Erfolg beitragen. Und da<br />

ist es schon auch entscheidend, dass ich<br />

mir nicht zu schade bin, die Karriere in<br />

Berlin aufzugeben.<br />

Es gibt auch eine andere Version: Man<br />

sitzt zusammen im engeren CSU-Kreis<br />

und sagt sich: Unwahrscheinlich, dass<br />

die schwarz-gelbe Bundesregierung in<br />

Berlin bestätigt wird. Aber in einer großen<br />

Koalition gibt es keine drei CSU-Ministerien<br />

mehr, also müssen wir das vorher<br />

bereinigen.<br />

Quatsch. Das wäre Kaffeesatzleserei. Ich<br />

glaube auch nicht, dass an mir so einfach<br />

jemand vorbeikommt.<br />

Haben Sie mit Horst Seehofer abgesprochen,<br />

was Sie nach der Wahl werden?<br />

Nein.<br />

Eines Tages lesen wir dann in Ihrem<br />

Lebenslauf: Ministerpräsidentin in Bayern,<br />

und Sie sagen uns wieder wie vorhin: „Ach,<br />

eigentlich habe ich meine Karriere nie<br />

geplant.“<br />

Es sind viele Möglichkeiten denkbar für<br />

das Jahr 2018 und die folgenden. <strong>Die</strong><br />

Grundlagen dazu müssen aber erst gelegt<br />

werden. Was mich schon freut, ist, dass<br />

die Leute positiv darauf reagieren, dass<br />

ich mich ab Herbst auf Bayern konzentriere.<br />

Ich habe fast ein Aufatmen gespürt.<br />

Und natürlich bin ich für manche auch<br />

eine Option.<br />

Das Maximilianeum, der Münchner Landtag,<br />

ist das Basislager, in dem Sie nun<br />

biwakieren, bevor es hoch zum Gipfel geht.<br />

Basislager ist auf alle Fälle gut. Wenn<br />

Sie mal bei den richtigen Bergsteigern<br />

schauen: <strong>Die</strong> sind ganz schön lang in den<br />

Basislagern.<br />

Aber man ist nah dran, am …<br />

… genau.<br />

Und Proviant haben Sie?<br />

Ohne Ende. Ich habe eine lange<br />

Kondition, tiefen Puls und tiefen<br />

Blutdruck. Deshalb werde ich bestimmt<br />

nicht unruhig.<br />

Das Gespräch führten Georg Löwisch und<br />

Christoph Schwennicke<br />

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| B e r l i n e r R e p u b l i k<br />

1<br />

2<br />

3<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

4<br />

8 9<br />

5 6 7<br />

10 11 12<br />

13 14 15 16<br />

Wen hätten Sie gern an der Macht? Bis zur Bundestagswahl lädt <strong>Cicero</strong><br />

Persönlichkeiten ein, sich die perfekte Regierung zu wünschen. <strong>Die</strong>smal hat die<br />

<strong>Auto</strong>rin und frühere HSV-Managerin Katja Kraus ein Kabinett berufen. Darin hat<br />

Schavan ihr Amt wieder, und Wulff bekommt eine zweite Chance. <strong>Die</strong> Posten für die<br />

Augustausgabe des <strong>Cicero</strong> wird die Schauspielerin Christiane Paul besetzen<br />

Illustration: Jan Rieckhoff; Fotos: Picture Alliance/ DPA (12), Deutscher Medienpreis, Action Press, Julia Baier/Laif, Christian Langbehn/DDP Images<br />

44 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Foto: Erwin Elsner/Picture Alliance/DPA<br />

(1) Bundeskanzler<br />

Roger Willemsen. Gesellschaftsgestaltung<br />

sollte auf humanistischer Bildung basieren.<br />

Und weil Charme, Herzlichkeit und<br />

Humor wünschenswerte Eigenschaften für<br />

höchste Repräsentanten des Landes sind.<br />

(2) Chef des Bundeskanzleramts<br />

Petra Pau. Eine kluge und beharrliche<br />

Verfechterin der Bürgerrechte, dabei<br />

hochrespektiert im Parlament und auf<br />

ihre ruhige Weise so durchsetzungsfähig<br />

wie sachkundig. Von ihrem guten Geist<br />

kann das Kanzleramt nur profitieren.<br />

(3) Auswärtiges<br />

Egon Bahr. Friedensstifter und charmanter<br />

Geschichtenerzähler. Weil ein Mann, der<br />

Zeitgeschichte geprägt hat und noch immer<br />

einen ungestümen Gestaltungswillen<br />

ausstrahlt, ein idealer Repräsentant ist.<br />

Gesellschaftsbild, für Offenheit gegenüber<br />

anderen Kulturen und Traditionen.<br />

(10) Gesundheit<br />

Ulla Schmidt. Hat auch hartnäckigen<br />

Lobbyisten Paroli geboten. Sollte dort<br />

weitermachen, wo sie aufgehört hat. Und<br />

in Brandenburg Urlaub machen.<br />

(11) Wirtschaft<br />

Gesine Schwan. Vereint rasante Intellektualität<br />

mit Wärme und Menschlichkeit.<br />

(12) Bildung<br />

Annette Schavan. Weil es nicht gerecht ist,<br />

aufgrund einer inquisitorischen Debatte,<br />

ohne jegliche Verhältnismäßigkeit und<br />

inhaltliche Argumentation, das Amt<br />

zu verlieren. Und weil diese Form der<br />

moralischen Verurteilung und Häme<br />

ein erschütterndes Menschenbild zeigt.<br />

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Was ist<br />

eine gute<br />

Regierung?<br />

(4) Innen<br />

Andreas Voßkuhle. Ein Mann mit<br />

Klarheit und Haltung ohne Neigung<br />

zum Populismus. Kann Nein sagen.<br />

Und wirkt komplett unbestechlich.<br />

(13) Umwelt<br />

Nikolaus Gelpke. Hat profunde Kenntnisse<br />

ökologischer Sachverhalte und das nicht nur<br />

über das Meer, das er liebt. Er ist obendrein<br />

ein guter Kommunikator, wenn auch der<br />

leisen Töne. Könnte stilbildend wirken.<br />

(5) Justiz<br />

Michael Nesselhauf. Begleitet die deutsche<br />

Rechtsgeschichte seit Jahrzehnten mit<br />

großer Dezenz. Ein Enthusiast.<br />

(6) Finanzen<br />

Sahra Wagenknecht: Ob sie mit der<br />

gleichen Verve Politik macht, wie sie<br />

ihre Positionen in Talkshows vertritt?<br />

Ich finde, es ist einen Versuch wert.<br />

(7) Arbeit und Soziales<br />

Jana Schiedek. Eine Frau, die mit<br />

Frauenpolitik ernst macht. Souverän,<br />

eloquent und unaufhaltsam auf<br />

dem Weg zu Bedeutung.<br />

(8) Ernährung und Verbraucherschutz<br />

Sarah Wiener. Ihre Lieblingsworte<br />

sind „Aggroindustrie“, gegen deren<br />

Methoden sie engagiert kämpft, und<br />

„Achtsamkeit“, nicht nur im Umgang mit<br />

unserer Umwelt und den Ressourcen.<br />

(9) Familie<br />

Marieluise Beck. Sie repräsentiert<br />

die Entwicklung der Grünen in den<br />

vergangenen 30 Jahren auf sympathische<br />

Weise. Glaubwürdig. Steht für ein modernes<br />

(14) Entwicklung<br />

Peter Eigen. Engagiert im Kampf<br />

gegen Korruption, Machtmissbrauch<br />

und Entwicklungsgefälle. Wäre<br />

auch ein fantastischer Bundespräsidentinnenehemann<br />

geworden.<br />

(15) Kultur<br />

Joseph Vogl. Besitzt einen intelligenten,<br />

zeitgemäßen und unkonventionellen<br />

Kulturbegriff, und er wird dem Land<br />

Ideen schenken, gute Gedanken und<br />

Debatten, die die Wichtigkeit der Kultur<br />

neuerlich bestimmen. Das ist nötig.<br />

(16) Integration<br />

Christian Wulff. Der Islam gehört<br />

zu Deutschland. Und auch das<br />

Recht auf eine zweite Chance.<br />

Katja Kraus, 42, war<br />

Fußballnationalspielerin.<br />

Danach wurde sie<br />

Managerin, bis 2011<br />

im Vorstand des<br />

Hamburger SV. Im<br />

Frühjahr gab sie ihr Debüt als <strong>Auto</strong>rin mit<br />

„Macht – Geschichten von Erfolg und Scheitern“<br />

Mit 4 Abbildungen | 256 Seiten<br />

Gebunden mit Schutzumschlag<br />

€ 19,99 / SFr 28.90 / € [A] 20,60<br />

ISBN 978-3-451-30753-9<br />

Gehard Schröder<br />

aus dem Vorwort:<br />

»<strong>Die</strong> unkonventionellen Vorschläge<br />

von Nicolas Berggruen<br />

und Nathan Gardels regen dazu<br />

an, über die Zukunft eines guten<br />

Regierens im 21. Jahrhundert<br />

zu diskutieren, frei und ohne<br />

Scheuklappen.«<br />

Neu in allen Buchhandlungen<br />

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7.2013 <strong>Cicero</strong> 45


| B e r l i n e r R e p u b l i k | M i l i t ä r<br />

Der Apparat<br />

frisst seine<br />

Minister<br />

Schon der Kauf von Strickmützen für die Soldaten ist ein<br />

schwieriger Akt. De Maizières Euro-Hawk-Debakel zeigt<br />

das komplexe System aus Militär, Ministerialbürokratie<br />

und Rüstungsindustrie. Lässt es sich überhaupt steuern?<br />

von Thomas Wiegold<br />

I<br />

n der Welt der Militärs gerät schon<br />

ein kleiner Einkauf zum Großprojekt.<br />

Vier Seiten widmete die Wehrbürokratie<br />

vor zwei Jahren einer<br />

wichtigen Neuerung: Im „System<br />

Ausstattung Soldat, Subsystem Ausstattung<br />

Soldat allgemein in der Fähigkeitskategorie<br />

Unterstützung und Durchhaltefähigkeit“<br />

erteilten die Beamten die Nutzungsgenehmigung<br />

– für eine neue Strickmütze.<br />

Natürlich nach Eignungsprüfung und<br />

Sichtung der Marktverfügbarkeit. <strong>Die</strong> „Anforderung<br />

zur Änderung“ der bisherigen<br />

Strickmütze lag da schon eine Weile zurück:<br />

knappe drei Jahre.<br />

Ob Kleinteil wie Strickmütze oder<br />

Großgerät wie ein neues Kriegsschiff oder<br />

etwas noch nicht Erprobtes wie eine Riesendrohne:<br />

<strong>Die</strong> Rüstung, quasi der Investitionshaushalt<br />

des Verteidigungsressorts, ist<br />

seit Jahrzehnten die Zeitbombe für jeden<br />

Ressortchef. Wie Thomas de Maizière im<br />

Fall der Drohne Euro Hawk übernimmt<br />

jeder neue Minister Altlasten seiner Vorgänger.<br />

Mit gut sieben Milliarden Euro machen<br />

die Anschaffungen <strong>vom</strong> Kampfjet bis<br />

zum Handschuh zwar noch nicht mal ein<br />

Viertel des jährlichen Verteidigungsbudgets<br />

aus. Doch die komplexe Beschaffung, die<br />

sich gerade bei Flugzeugen, Schiffen oder<br />

gepanzerten Fahrzeugen auch schon mal<br />

über Jahrzehnte hinzieht, kann keiner der<br />

meist nur wenige Jahre amtierenden Minister<br />

überblicken.<br />

Dennoch ist bislang noch kein Verteidigungsminister<br />

der Bundesrepublik über<br />

einen Rüstungsskandal in seiner Amtszeit<br />

gestolpert. Zwar mussten von den bislang<br />

16 Ressortchefs sieben zurücktreten oder<br />

wurden entlassen, die Gründe für den früheren<br />

Abgang hatten jedoch mit ihrem Verhalten<br />

zu tun – zum Teil auch dem privaten.<br />

Allerdings: Dass sie ihren Laden immer<br />

im Griff gehabt hätten, kann man selbst<br />

von den Ministern kaum sagen, die ihre<br />

normale Amtszeit hinter sich brachten.<br />

Und fast jeder versuchte sich an einer Reform,<br />

die stets die umfassendste und einstweilen<br />

letzte sein sollte – wie Rudolf Scharpings<br />

„Reform der Bundeswehr von Grund<br />

auf“ im Jahr 2000 oder Thomas de Maizières<br />

„Neuausrichtung“ elf Jahre später.<br />

Immer sollte es in den vergangenen<br />

zwei Jahrzehnten darum gehen, nach Ende<br />

des Kalten Krieges die Bundeswehr alter<br />

Prägung umzubauen zu der Armee, die in<br />

heutigen Zeiten benötigt wird – mit dem<br />

Material, das eine solche Truppe braucht.<br />

Der häufige Wechsel an der Spitze<br />

des Wehrressorts – allein in den vergangenen<br />

20 Jahren die sechs Minister Volker<br />

Rühe, Rudolf Scharping, Peter Struck,<br />

Franz Josef Jung, Karl-Theodor zu Guttenberg<br />

und Thomas de Maizière – führte allerdings<br />

dazu, dass kaum eine Reform zu<br />

Ende war, wenn die neue begonnen wurde.<br />

Als de Maizière im vergangenen Jahr die<br />

Liste der Standorte vorlegte, die mit der<br />

Verkleinerung der Bundeswehr geschlossen<br />

Illustration: Jens Bonnke<br />

46 <strong>Cicero</strong> 7.2013


werden, standen auch ein paar Restposten<br />

dabei: <strong>Die</strong> Schließung dieser Standorte<br />

hatte noch sein Vor-Vor-Vorgänger Struck<br />

beschlossen.<br />

Das versetzt nicht nur die Truppe in<br />

den permanenten Ausnahmezustand. Auch<br />

die Minister selbst und die Spitze des Ministeriums<br />

konnten und können kaum<br />

noch über alle Verästelungen im Geflecht<br />

von Reformen und Rüstungsprojekten auf<br />

dem Laufenden sein. <strong>Die</strong> Komplexität von<br />

Beschaffung und Betrieb wurde durch immer<br />

mehr Komplexität ersetzt. <strong>Die</strong> Verantwortlichkeiten<br />

gerade beim Kauf <strong>neuen</strong><br />

Geräts verschwammen so sehr, dass eine<br />

Kommission unter Vorsitz des Chefs der<br />

Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen<br />

Weise, von „organisierter Verantwortungslosigkeit“<br />

sprach.<br />

Am Ende vermittelten die meisten<br />

Amtsinhaber in den neunziger Jahren den<br />

Eindruck, dass sie ihren Laden nicht im<br />

Griff hätten. Ausgerechnet zwei Minister,<br />

die gegensätzlicher kaum sein könnten, waren<br />

unter den sechs Ressortchefs der vergangenen<br />

zwei Jahrzehnte eine Ausnahme:<br />

der CDU-Minister Volker Rühe, wegen<br />

seines ruppigen Umgangs auch als „Volker<br />

Rüpel“ geschmäht. Und der im vergangenen<br />

Jahr verstorbene SPD-Minister<br />

Peter Struck, der als „Soldatenkumpel“ in<br />

Erinnerung blieb.<br />

Was diesen beiden so unterschiedlichen<br />

Politikern an der Spitze des Verteidigungsministeriums<br />

gemeinsam war: Sie<br />

achteten darauf, dass sie <strong>vom</strong> Apparat nicht<br />

dumm gehalten wurden. Rühe mit harter<br />

Hand, Struck mit einer kollegial geführten<br />

Leitung aus Staatssekretären und Generalinspekteur,<br />

die auf ihn eingeschworen<br />

war. Vor allem aber pflegten beide Minister<br />

Frühwarnsysteme in den Verästelungen des<br />

Ministeriums. Dafür nutzten sie den sogenannten<br />

Planungsstab, der direkt dem<br />

Minister zugeordnet war. Unter Rühe verdiente<br />

sich sein Planungsstabschef Ulrich<br />

Weisser den teils respektvollen, teils spöttisch<br />

gemeinten Titel „Großadmiral“, unter<br />

Struck sorgten erst der spätere Generalinspekteur<br />

Wolfgang Schneiderhan und dann<br />

Franz Borkenhagen als Leiter dieses Stabes<br />

dafür, dass der Minister auf dem Laufenden<br />

blieb – wenn es sein musste, auch am<br />

<strong>Die</strong>nstweg vorbei.<br />

Ausgerechnet der bürokratische de<br />

Maizière strich den Planungsstab als Minister-Eingreiftruppe<br />

bei der vorerst letzten<br />

Reform ersatzlos. „Wer stellt jetzt die Hofnarren-Fragen?“,<br />

kritisiert ein enger Mitarbeiter<br />

eines früheren Verteidigungsministers.<br />

Wer hat den Überblick, um den Chef<br />

vor Fußangeln und Tretminen zu warnen?<br />

Da nützt es dem Ressortchef auch wenig,<br />

auf die formale Zuständigkeit seiner<br />

Staatssekretäre zu pochen und, wie de Maizière,<br />

das eigene Handeln am ebenso formalen<br />

Weg der Ministervorlagen auszurichten.<br />

Am Ende fragt die Öffentlichkeit<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 47


| B e r l i n e r R e p u b l i k | M i l i t ä r<br />

nicht nach Formalitäten, sondern nach<br />

dem, was passiert ist. Der Minister selbst<br />

trägt die politische Verantwortung – ganz<br />

egal, ob er über den <strong>Die</strong>nstweg informiert<br />

wird oder auf dem Flur von einem Vorgang<br />

hört.<br />

Im Wehrressort, klagt ein langjähriger<br />

interner Beobachter der Entscheidungsabläufe,<br />

fehle es seit Jahren vor allem an<br />

einem: an der Grundeinstellung, dass die<br />

Spitze gleich denkt und gemeinsam handelt.<br />

Ministeriumsspitze und Apparat zogen<br />

zunehmend an einem Strang, aber<br />

in verschiedene Richtungen. Obendrein<br />

nahm die Komplexität zu.<br />

Denn mit normalem Einkauf in einer<br />

Marktwirtschaft haben Rüstungsprojekte<br />

wenig bis gar nichts gemeinsam. Schon wer<br />

der Kunde im klassischen Sinne ist, steht<br />

gar nicht so genau fest: Wer das neue Gerät<br />

beschafft, ist nicht zwingend der, der entscheidet.<br />

Wer die Anforderungen an die<br />

Neuinvestition aufstellt, steht nicht zwingend<br />

in Kontakt mit jenen, die das Gerät<br />

eines Tages nutzen sollen.<br />

Lange Beschaffungsdauer, komplizierte<br />

Managementverfahren mit verteilten Verantwortlichkeiten<br />

und ein Spannungsfeld<br />

zwischen der zivilen Beschaffungsbürokratie<br />

und den uniformierten Nutzern sind<br />

noch nicht das ganze Problem. Kaum ein<br />

Produkt wird von der Stange beschafft, wie<br />

es die Industrie anbietet; fast immer will<br />

der Kunde – sprich: sowohl die Ministerialbürokratie<br />

als auch das Militär – etwas<br />

Neues, das erst neu oder umentwickelt werden<br />

muss. <strong>Die</strong> Industrie hat ein Interesse<br />

daran, ihre neuesten, vielleicht auch noch<br />

nicht ausgereiften Lösungen möglichst<br />

früh zu verkaufen, denn zwischen Entscheidung<br />

und Lieferung vergehen nicht<br />

selten Jahre oder sogar Jahrzehnte.<br />

Kauft die Bundeswehr einmal ein Produkt,<br />

das es schon gibt, muss es wenigstens<br />

angepasst werden. Das führte – und führt –<br />

bisweilen ins Absurde. Legendär sind die<br />

handelsüblichen AA-Batterien, massenhaft<br />

im Gebrauch von der Taschenlampe bis zur<br />

Nachtsichtbrille. Jahrzehntelang gab die<br />

Bundeswehr diese Verbrauchsgüter in militarisierter<br />

Form aus, im militärtypischen<br />

Dunkelgrün mit chromgelber Versorgungsnummer<br />

als Sonderanfertigung. Einmal in<br />

großer Menge gekauft, lagen sie jahrelang<br />

im Depot und landeten am Ende teuer<br />

und teilentladen bei der Truppe. Kleinere<br />

Panzer,<br />

Flugzeuge,<br />

Hubschrauber: Es<br />

kann passieren,<br />

dass die Beamten<br />

etwas anderes<br />

wollen als die<br />

Soldaten<br />

Posten Batterien aus dem Großhandel hätten<br />

es auch getan: Im Batteriefach des Geräts<br />

ist die Farbe nicht einmal zu erkennen.<br />

Das Hauptproblem ist allerdings der<br />

langwierige Prozess für die wirklich großen<br />

Dinge – <strong>vom</strong> ersten Konzept für ein<br />

Kampfflugzeug, einen Hubschrauber oder<br />

ein Panzerfahrzeug bis zum ersten echten<br />

Einsatz. <strong>Die</strong> Industrie verspricht nur zu<br />

gerne ein Produkt am „vorderen Ende der<br />

technologischen Entwicklung“, die sie sich<br />

<strong>vom</strong> Kunden, also dem Verteidigungsministerium,<br />

gut bezahlen lässt. Der Kunde<br />

tritt keineswegs einheitlich auf – was die<br />

Militärs als Anforderung ins Lastenheft<br />

schreiben, wird von den (zivilen) Beschaffern<br />

vielleicht ganz anders bestellt. Selbst<br />

unter den Uniformträgern nennen Heer,<br />

Luftwaffe und Marine bisweilen verschiedene<br />

Anforderungen. Doch aus den Problemen<br />

lernen die wenigsten, denn vor allem<br />

aufseiten der Soldaten wechseln die<br />

Zuständigen alle paar Jahre auf eine andere<br />

Stelle, oder, wie es militärisch heißt, in eine<br />

andere Verwendung.<br />

Wann, wo und von wem bei einem<br />

solchen Projekt ein Fehler gemacht wurde,<br />

ist ein Jahrzehnt später kaum noch nachvollziehbar.<br />

Schon zu Beginn in der Analyse-<br />

oder der Definitionsphase, als die ersten<br />

Ideen entwickelt wurden? Im Verlauf<br />

der Entwicklung, als neue Anforderungen<br />

hinzukamen, alte verworfen wurden? Bei<br />

der Planung für einen Vertrag, im Vertrag<br />

selbst – oder erst, als das ganze Vorhaben<br />

schon umgesetzt schien?<br />

Der „Boxer“, das neueste gepanzerte<br />

Transportfahrzeug der Bundeswehr, hat<br />

ein Gewicht von mehr als 30 Tonnen. Begonnen<br />

wurde die Idee, erzählte einst der<br />

frühere Heeresinspekteur Gert Gudera, mit<br />

den Planungen für ein 20-Tonnen-Fahrzeug,<br />

um den schnelleren Lufttransport in<br />

den Einsatz zu ermöglichen: „Dann macht<br />

jeder noch eine Öse dran, und schon sind<br />

wir bei 30 Tonnen.“<br />

Natürlich hat es unzählige Versuche<br />

gegeben, das zu ändern. „Auf dem Markt<br />

vorhandenes Material soll vorrangig nach<br />

marktüblichen Regeln beschafft, die Eigenverantwortung<br />

der ausführenden Unternehmen<br />

soll gestärkt werden“, verkündete<br />

im Januar 2002 Detlev Petry, der damalige<br />

Chef des für Beschaffungen zuständigen<br />

Amtes.<br />

Es blieb ein Wunsch. So ist die Beschaffung<br />

weiter ein sich selbst blockierendes<br />

System. De Maizières Debakel mit dem<br />

Euro Hawk ist noch nicht mal das teuerste<br />

Beispiel: Mit einem laut verkündeten<br />

„kommerziellen Ansatz“ hatten sieben<br />

Länder beim Hersteller Airbus Military aus<br />

dem Eads-Konzern das neue Transportflugzeug<br />

A400M geordert. Auf den vereinbarten<br />

„Festpreis“ von 20 Milliarden Euro für<br />

das Projekt legten die Bestellerländer 2010<br />

noch 3,5 Milliarden Euro drauf, weil der<br />

Hersteller Airbus Military aus dem Eads-<br />

Konzern auf politischer Ebene drohte, das<br />

Projekt abzubrechen. Bei der Bundeswehr<br />

sind die Maschinen, die ursprünglich 2011<br />

geliefert werden sollten, bis heute nicht angekommen.<br />

Thomas Wiegold<br />

zählt im Journalismus zu<br />

den besten Kennern der<br />

Bundeswehr. Er bloggt unter<br />

www.augengeradeaus.net<br />

Illustration: Jens Bonnke; Foto: Andrea Bienert<br />

48 <strong>Cicero</strong> 7.2013


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| B e r l i n e r R e p u b l i k | M e i n S c h ü l e r<br />

„Nicht der sprudelnde Typ“<br />

Der Lehrer Helmut Kuhlmann musste Frank-Walter Steinmeiers<br />

Mutter erst überreden, den Sohn auf das Gymnasium zu schicken<br />

<strong>Die</strong> Schule, in der ich Frank-Walter Steinmeier unterrichtet habe,<br />

war eine richtige Dorfschule. Das war in Brakelsiek, 1963 bis<br />

1966, ich war sein Grundschullehrer von der zweiten bis zur vierten<br />

Klasse, Deutsch, Sachkunde, Mathe, Religion.<br />

Frank hat sich in seiner Art kaum geändert. Er ist heute nicht<br />

so der sprudelnde Typ, und das war er auch damals nicht. Ein<br />

zurückhaltendes Kind, ich würde sagen: bescheiden.<br />

Wenn gezankt wurde, war er eher nicht involviert.<br />

Stattdessen hat er Ruhe ausgestrahlt, und<br />

das hat der Klasse gutgetan. Er war auch intelligent,<br />

und man sah an seinen Bemerkungen, dass<br />

er was auf dem Kasten hat, aber er hat das nicht<br />

so ausgespielt. Wir hatten hin und wieder Treffen<br />

mit Lehrern von anderen Schulen. Für die gab es<br />

eine Vorführstunde mit meiner Klasse, und nach<br />

einer dieser Stunden sagte ein auswärtiger Kollege zu mir: „Also,<br />

dieser Frank, der ist wirklich etwas Besonderes.“ Einmal hat er<br />

einen kleinen Aufsatz geschrieben, es könnte das Thema „Glück<br />

gehabt, Pech gehabt“ gewesen sein. Dazu sollten die Kinder aufschreiben,<br />

was ihnen einfällt. Franks Text war ganz kurz, aber<br />

besonders pfiffig, an den genauen Inhalt erinnere ich mich leider<br />

nicht mehr.<br />

Meine Frau hat damals jeden Sonntag Kindergottesdienst in<br />

der Gemeinde gehalten, da kam der Frank auch. Sie hat ihn so<br />

erlebt wie ich: Auch wenn die Kinder überall herumwuselten und<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

nicht aufpassten, der Frank war konzentriert und hat bei den Bibeldiskussionen<br />

vernünftige Beiträge gebracht.<br />

Mit Frau Steinmeier, Franks Mutter, habe ich irgendwann ein<br />

Gespräch geführt, weil ich es zu schade fand, Frank einfach auf die<br />

Oberschule, also später die Hauptschule zu schicken. Der gehörte<br />

aufs Gymnasium. Seine Mutter sagte: „Können wir das denn machen,<br />

den Frank aufs Gymnasium nach Blomberg<br />

schicken? Ich kann ihm ja in den Fremdsprachen<br />

gar nicht helfen.“ Ich sagte: „Da habe ich keine Bedenken,<br />

der Frank schafft das auch alleine.“ Ein paar<br />

Tage später kam sie wieder und sagte: „Wir möchten<br />

das eigentlich nicht, das Risiko ist uns zu groß,<br />

und vielleicht ist er da dann der Einzige aus dem<br />

Dorf.“ Dann habe ich schweres Geschütz aufgefahren:<br />

„Frau Steinmeier, ich will Ihnen mal was sagen,<br />

wenn das mein Sohn wäre, ich würd das machen.“ Schließlich hat<br />

sie ihren Frank tatsächlich aufs Gymnasium geschickt.<br />

Vor einigen Jahren hat er in Detmold in der Stadthalle einen<br />

Vortrag gehalten. Danach haben wir uns unterhalten, und nach<br />

einem Viertelstündchen sagte er: „Ich muss jetzt noch ein bisschen<br />

weiter.“ Das fand ich auch in Ordnung, dass er nach einem<br />

so netten Gespräch seine Zeit ein wenig einteilt.<br />

In der <strong>Cicero</strong>-Serie „Mein Schüler“ zur Bundestagswahl spürt<br />

Constantin Magnis Lehrer unserer Spitzenpolitiker auf<br />

Der heutige SPD-<br />

Fraktionschef Frank-<br />

Walter Steinmeier in<br />

seiner westfälischen<br />

Heimat als etwa<br />

Zehnjähriger mit<br />

der Mannschaft <strong>vom</strong><br />

TuS Brakelsiek<br />

Foto: Tus/Schriegel/Picture Alliance/DPA; Grafik: <strong>Cicero</strong><br />

50 <strong>Cicero</strong> 7.2013


DIE ENTSCHEIDUNG DES JAHRES – BUNDESTAGSWAHL AM 22. SEPTEMBER<br />

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die Duelle in allen 299 Wahlkreisen und erklärt, vor welchen<br />

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<strong>Die</strong> B 1 durchschneidet Deutschland, von West<br />

nach Ost, <strong>vom</strong> Aachener Ortsteil Vaalserquartier<br />

bis zum Grenzübergang nach Polen bei Küstrin an<br />

der Oder. Sie erzählt Geschichten und Geschichte.<br />

Der Fotograf Philipp Jeske ist in<br />

seinem VW Käfer losgefahren. Ein Roadmovie<br />

Hameln.<br />

Drei Lebensgefühle<br />

in Deutschland:<br />

Heckspoiler,<br />

Cabrio, Käfer<br />

52 <strong>Cicero</strong> 7.2013


7.2013 <strong>Cicero</strong> 53


| B e r l i n e r R e p u b l i k | D i e D e u t s c h l a n d s t r a s s e<br />

1<br />

4<br />

7<br />

Essen<br />

Ein Schrei in Schnörkeln – und Gleichschritt in gedeckten Farben<br />

54 <strong>Cicero</strong> 7.2013


2 3<br />

5 6<br />

8 9<br />

1 Aachen; 2 Aachen; 3 Aachen; 4 Garzweiler; 5 Garzweiler; 6 Buderich; 7 Düsseldorf; 8 Essen; 9 Essen<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 55


| B e r l i n e r R e p u b l i k | D i e D e u t s c h l a n d s t r a s s e<br />

10<br />

11<br />

13<br />

14<br />

16<br />

17<br />

10 Essen; 11 Nahe Essen; 12 Dortmund; 13 Blomberg; 14 Soester Börde; 15 Hameln; 16 Hameln; 17 Nahe Hameln; 18 Nahe Braunschweig<br />

56 <strong>Cicero</strong> 7.2013


12<br />

15<br />

18<br />

Soester Börde<br />

Mein Zelt im Feld. Station neben der B 1 auf einem der fruchtbarsten Böden Deutschlands<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 57


| B e r l i n e r R e p u b l i k | D i e D e u t s c h l a n d s t r a s s e<br />

19<br />

22<br />

25<br />

Berlin<br />

Abfahrbereit auf dem Pariser Platz: Zwei Pferdestärken und ein Mops<br />

58 <strong>Cicero</strong> 7.2013


20 21<br />

23 24<br />

26 27<br />

19 Helmstedt; 20 Plaue; 21 Brandenburg an der Havel; 22 Nahe Brandenburg an der Havel;<br />

23 Potsdam; 24 Potsdam; 25 Berlin; 26 Berlin; 27 Berlin<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 59


| B e r l i n e r R e p u b l i k | D i e D e u t s c h l a n d s t r a s s e<br />

28<br />

29<br />

31<br />

32<br />

E<br />

ine Linie zieht sich durchs<br />

ganze Land. Blickt man auf<br />

eine Karte, auf der die Bundesstraße<br />

1 verzeichnet ist, fällt einem<br />

der Schnitt auf. Als ließe<br />

sich die Spitze Deutschlands wie der Kopf<br />

eines Frühstückseis einfach abnehmen,<br />

sodass man hineinschauen kann in dieses<br />

Land und seine historisch gewachsenen<br />

Befindlichkeiten.<br />

<strong>Die</strong> B 1 ist mehr als eine Straße, sie<br />

ist gelebte Geschichte. Sie führt nicht nur<br />

von West nach Ost, sondern quer durch die<br />

deutsche Historie. Sie reicht nämlich von<br />

Aachen bis nach Königsberg (dem heutigen<br />

Kaliningrad), von der Krönungsstadt<br />

Karls des Großen, bis zur Krönungsstadt<br />

Friedrichs des Großen.<br />

In Deutschland beginnt ihr Verlauf<br />

im Westen an der Grenze zu den Niederlanden<br />

– von Aachen bis zur polnischen<br />

Grenze an der Oder streckt sie sich. Eine<br />

Verbindung quer durchs Land ähnlich der<br />

viel besungenen Route 66 in den USA, die<br />

von Santa Monica an der Küste Kaliforniens<br />

über fast 4000 Kilometer bis nach<br />

Chicago führt.<br />

<strong>Die</strong> B 1 ist Teil der alten Straße, die<br />

Adolf Hitler im Zuge der Neuordnung<br />

des Reichsstraßenwesens zur Reichsstraße<br />

Nr. 1 machte. Sie war Deutschlands längste<br />

Straße: über 1392 Kilometer lang. <strong>Die</strong><br />

Bundesstraße und einstige Reichsstraße<br />

folgt in ihrem Verlauf einer alten Handelsroute<br />

der Römer. Vorläufer ist die „Via Regia“,<br />

eine ottonische Königsstraße, die von<br />

Aachen nach Magdeburg verlief und die<br />

im rheinisch-westfälischen Bereich auf den<br />

noch älteren „Hellweg“ zurückgeht.<br />

Um das Jahr 150 findet der Verlauf<br />

der heutigen B 1 in der „Geographike Hyphegesis“<br />

des griechischen Mathematikers<br />

und Astronomen Ptolemäus erstmals<br />

als eine alte Heer- und Handelsstraße Erwähnung.<br />

Bei eben jenem Ptolemäus, der<br />

die Erde in die Mitte seines geozentrischen<br />

Weltbilds schob. 1400 Jahre nach Ptolemäus<br />

entwarf Kopernikus sein heliozentrisches<br />

Weltbild, stellte die Erde als Scheibe<br />

und Mittelpunkt der Welt infrage und beschrieb<br />

eine Welt, die sich um die eigene<br />

Achse und die Sonne bewegte. Seine Statue<br />

befindet sich an der B 1 in Frombork<br />

in Polen, dem früheren Frauenburg. Dort<br />

wirkte Kopernikus als ermländischer Domherr.<br />

Im Rücken der Statue steht in seinem<br />

Schatten eine weitere Figur: Anna Schilling.<br />

Sie war die Haushälterin und Muse des großen<br />

Weltveränderers. Beide trennt die B 1.<br />

So ist die B 1 eine Straße voller Geschichte<br />

und Geschichten. Grund genug, ihr<br />

zu folgen. Von West nach Ost: Starten wir<br />

in Aachen, durchqueren die Jülicher Börde,<br />

fahren weiter entlang des Teutoburger<br />

Waldes und beschleunigen auf dem Ruhrschnellweg.<br />

Wir stoppen vielleicht beim<br />

Rattenfänger von Hameln oder bestaunen<br />

in Braunschweig Europas größte Quadriga,<br />

erfahren deutsch-deutsche Geschichte am<br />

60 <strong>Cicero</strong> 7.2013


28 Berlin<br />

29 Dahlwitz<br />

30 Seelow<br />

31 Plaue<br />

32 Polnische Grenze<br />

33 Endstation<br />

Anzeige<br />

<strong>Cicero</strong> finden Sie auch in<br />

diesen exklusiven Hotels<br />

30<br />

Brenners Park-Hotel & Spa<br />

Schillerstraße 4 / 6, 76530 Baden-Baden<br />

Tel.: +49 (0)7221 900 0, www.brenners.com<br />

»Ein Grandhotel und Kultur sind unmittelbar miteinander<br />

verbunden. Deshalb freue ich mich, mit<br />

<strong>Cicero</strong>, dem Magazin für politische Kultur, unseren<br />

Gästen eine besonders hochwertige Publikation<br />

anbieten zu können.«<br />

FRANK MARRENBACH, GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR<br />

33<br />

ehemaligen Grenzübergang Helmstedt-Marienborn<br />

oder schütteln den Kopf über die<br />

Hundertwasserhäuser in Magdeburg. Wir<br />

denken vielleicht an alte Agentenstreifen,<br />

während wir von Potsdam über die Glienicker<br />

Brücke fahren und sich plötzlich das<br />

urbane Berlin am Horizont auftürmt.<br />

Mitten durch Berlin geht es dann weiter.<br />

Auf der einstigen Stalinallee halten wir kurz<br />

im Café Sibylle, wo wir das linke Ohr und<br />

die rechte Schnauzbartspitze des gestürzten<br />

Stalindenkmals bewundern dürfen. Über<br />

die Oder, vorbei am Straßenstrich, geht es<br />

bis nach Küstrin, wo Friedrich der Große<br />

der Hinrichtung seines besten Freundes<br />

beiwohnte. <strong>Die</strong> Deutsche B 1 ist da längst<br />

zur polnischen DK 22 geworden. <strong>Die</strong><br />

Weichsel wird überquert, Marienburg, einst<br />

Hauptsitz des deutschen Ordens, passieren<br />

wir zur Linken, bevor im alten Königsberg<br />

die Reise endet und die B 1 hinter uns liegt,<br />

eine Achse europäischer Geschichte.<br />

Timo Stein<br />

<strong>Die</strong>se ausgewählten Hotels bieten <strong>Cicero</strong> als besonderen Service:<br />

Aachen: Pullman Aachen Quellenhof · Bad Doberan – Heiligendamm: Grand Hotel Heiligendamm · Bad Pyrmont:<br />

Steigenberger Hotel · Baden-Baden: Brenners Park-Hotel & Spa · Bad Schandau: Elbresidenz Bad Schandau Viva<br />

Vital & Medical SPA · Baiersbronn: Hotel Traube Tonbach · Bergisch Gladbach: Grandhotel Schloss Bensberg,<br />

Schlosshotel Lerbach · Berlin: Hotel Concorde, Brandenburger Hof, Grand Hotel Esplanade, InterContinental Berlin,<br />

Kempinski Hotel Bristol, Hotel Maritim, The Mandala Hotel, Savoy Berlin, The Regent Berlin, The Ritz-Carlton Hotel<br />

Binz/Rügen: Cerês Hotel · Dresden: Hotel Taschenbergpalais Kempinski · Celle: Fürstenhof Celle · Düsseldorf:<br />

InterContinental Düsseldorf, Hotel Nikko · Eisenach: Hotel auf der Wartburg · Essen: Schlosshotel Hugenpoet<br />

Ettlingen: Hotel-Restaurant Erbprinz · Frankfurt a. M.: Steigenberger Frankfurter Hof, Kempinski Hotel Gravenbruch<br />

Hamburg: Crowne Plaza Hamburg, Fairmont Hotel Vier Jahreszeiten, Hotel Atlantic Kempinski, InterContinental<br />

Hamburg, Madison Hotel Hamburg, Panorama Harburg, Renaissance Hamburg Hotel, Strandhotel Blankenese<br />

Hannover: Crowne Plaza Hannover · Hinterzarten: Parkhotel Adler · Jena: Steigenberger Esplanade · Keitum/Sylt:<br />

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Rothschild Kempinski · Königswinter: Steigenberger Grand Hotel Petersberg · Konstanz: Steigenberger Inselhotel<br />

Magdeburg: Herrenkrug Parkhotel, Hotel Ratswaage · Mainz: Atrium Hotel Mainz, Hyatt Regency Mainz<br />

München: King’s Hotel First Class, Le Méridien, Hotel München Palace · Neuhardenberg: Hotel Schloss Neuhardenberg<br />

· Nürnberg: Le Méridien · Potsdam: Hotel am Jägertor · Rottach-Egern: Park-Hotel Egerner Höfe, Hotel<br />

Bachmair am See, Seehotel Überfahrt · Stuttgart: Hotel am Schlossgarten, Le Méridien · Wiesbaden: Nassauer Hof<br />

ITALIEN Tirol bei Meran: Hotel Castel · ÖSTERREICH Lienz: Grandhotel Lienz · Wien: Das Triest · PORTUGAL<br />

Albufeira: Vila Joya · SCHWEIZ Interlaken: Victoria Jungfrau Grand Hotel & Spa · Lugano: Splendide Royale<br />

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E-Mail: hotelservice@cicero.de


| W e l t b ü h n e<br />

Soldatin in Robe<br />

<strong>Die</strong> Staatsanwältin Ilda Boccassini lässt sich durch niemanden einschüchtern – auch nicht von Silvio Berlusconi<br />

von Petra REski<br />

S<br />

ie hat feuerrote Haare, liebt<br />

Schmetterlingsbrillen, kräftige<br />

Farben und Ohrgehänge, groß<br />

wie Kaffeetassen. Sie gibt keine Interviews,<br />

nimmt an keiner Talksshow teil und<br />

schreibt keine Bücher. Ihre Feinde nennen<br />

sie „Nutte“, wünschen ihr, an Krebs<br />

zu sterben und bedachten sie am diesjährigen<br />

Todestag ihres Freundes und Kollegen<br />

Giovanni Falcone mit einem anonymen<br />

Brief, darin zwei Projektile.<br />

Ilda Boccassini steht ganz oben auf<br />

der Hass-Skala gegen italienische Staatsanwälte<br />

– vulgo auch als „rote Roben“,<br />

„Terroristen“ oder „Jakobiner“ verteufelt,<br />

wenn nicht gar als „anthropologisch anders“<br />

(O- Ton Silvio Berlusconi). Seit mehr<br />

als 30 Jahren legt sich die Mailänder Staatsanwältin<br />

mit Mafiosi, korrupten Unternehmern,<br />

schmutzigen Politikern und käuflichen<br />

Richtern an. Zuletzt forderte sie im<br />

Mai dieses Jahres, Berlusconi sechs Jahre<br />

ins Gefängnis zu stecken und lebenslang<br />

von öffentlichen Ämtern auszuschließen.<br />

Seitdem regnet es wieder Hass auf „die rote<br />

Ilda“ – die den Lustgreis und Ex-Ministerpräsidenten<br />

im „Ruby-Prozess“ der Prostitution<br />

Minderjähriger und des Amtsmissbrauchs<br />

beschuldigt.<br />

Unter den Höflingen Berlusconis gehören<br />

Boccassini-Hasstiraden seit Jahrzehnten<br />

zum guten Ton: Kaum hatte die Staatsanwältin<br />

ihre Anklage verlesen, setzte sich<br />

Giuliano Ferrara, adipöser Chefredakteur<br />

der Berlusconi-Hauspostille Il Foglio, eine<br />

rote Perücke und eine Schmetterlingsbrille<br />

auf und sang zur Musik von Verdis Rigoletto<br />

von der „infamen Anklage der roten<br />

Ilda“ gegen seinen Herrn. Vittorio Sgarbi,<br />

Kunstkritiker, Berlusconi-Freund und<br />

Hysteriker von hohen Gnaden, wünschte<br />

gar, dass Ilda Boccassini mit „Arschtritten“<br />

aus der Staatsanwaltschaft ausgeschlossen<br />

werde, weil sie einen „kriminellen und<br />

grundlosen Prozess“ führe, dessen alleiniges<br />

Ziel darin bestehe, Berlusconi zu vernichten.<br />

Weil sich die italienischen Linken<br />

in einer Harmonieregierung mit Berlusconis<br />

PDL befinden, wollten auch sie nicht<br />

zurückstehen. Furchtlos bezichtigten sie<br />

Boccassini des Rassismus, weil sie in ihrer<br />

Anklage das Wort „orientalische Hinterlist“<br />

benutzt hatte, als es um die Lügen<br />

der marokkanischen Karima El Marough<br />

ging, die unter dem Namen „Ruby“ in<br />

Berlusconis Harem einen hoch dotierten<br />

Rang einnahm: Laut Abhörprotokoll soll<br />

dem Ex-Ministerpräsidenten das Schweigen<br />

der Marokkanerin mehr als vier Millionen<br />

Euro wert gewesen sein.<br />

Silvio Berlusconi, im Mai bereits in<br />

zweiter Instanz wegen Steuerbetrugs zu vier<br />

Jahren Haft und fünf Jahren Ausschluss von<br />

öffentlichen Ämtern verurteilt – in der Urteilsbegründung<br />

wird er als „Gewohnheitsverbrecher“<br />

bezeichnet –, gehört seit Jahrzehnten<br />

zu Ilda Boccassinis Stammkunden.<br />

Schon in den neunziger Jahren beschäftigte<br />

sich die Staatsanwältin mit ihm. Damals<br />

gehörte sie zum berühmten Mailänder Ermittlerpool,<br />

der den Korruptionsskandal<br />

„Mani pulite“ aufklärte, dessen Auswirkungen<br />

sämtliche etablierten Parteien Italiens<br />

in den Abgrund zog.<br />

Weil in Italien das Gattopardo-Prinzip<br />

(„Alles muss sich ändern, damit alles gleich<br />

bleibt“) herrscht – weshalb sich zwar die<br />

Namen der Parteien, nicht aber die Protagonisten<br />

der italienischen Politik ändern –,<br />

blieb der begabte Verbrecher Berlusconi der<br />

furchtlosen Ilda bis heute erhalten: Sie war<br />

es, die im Jahr 2003 Berlusconis Richterbestechung<br />

aufklärte. Sie war es auch, die<br />

ihn rettete, als sie vier Jahre später 15 Linksterroristen<br />

festnehmen ließ, die planten,<br />

Berlusconi umzubringen und sein publizistisches<br />

Hauptquartier in Mailand, die Redaktion<br />

seiner Tageszeitung Libero, in die<br />

Luft zu sprengen.<br />

Im Laufe ihrer Karriere hat die gebürtige<br />

Neapolitanerin, die sich selbst als Soldatin<br />

bezeichnet, keine Gelegenheit ausgelassen,<br />

sich Feinde zu schaffen, und das<br />

nicht nur unter Mafiosi und Mächtigen,<br />

sondern auch unter ihren Kollegen: Der<br />

Mailänder Generalstaatsanwalt warf ihr exzessiven<br />

Individualismus vor, der sie unfähig<br />

zur Teamarbeit mache, und schloss<br />

sie 1991 aus dem Ermittlerpool aus, der<br />

sich mit organisierter Kriminalität in Mailand<br />

beschäftigte. Da hatte Ilda Boccassini<br />

bereits das mafiose Beziehungsgeflecht in<br />

Norditalien aufgedeckt, die „Duomo Connection“,<br />

die über Freimaurer bis zur Familie<br />

des Sozialistenchefs Bettino Craxi<br />

reichte – im Alleingang, weil Ilda Boccassini<br />

einigen Kollegen nicht traute. Und daran<br />

auch keinen Zweifel ließ.<br />

Einer der wenigen, den die 63-Jährige<br />

schätzt, war der Antimafia-Staatsanwalt<br />

Giovanni Falcone aus Palermo, mit dem<br />

sie die „Duomo Connection“ aufklärte.<br />

Als er 1992 von der Mafia ermordet wurde,<br />

wachte sie an seinem Sarg. Und erinnerte<br />

bei seiner Gedenkfeier die ostentativ trauernden<br />

Kollegen daran, Falcone zu Lebzeiten<br />

im Stich gelassen zu haben.<br />

Kurz darauf ließ sie sich nach Sizilien<br />

versetzen, um die Ermittler in Caltanissetta<br />

bei der Aufklärung der Morde an Giovanni<br />

Falcone und seinem Kollegen Paolo Borsellino<br />

zu unterstützen. Auch hier wurde<br />

sie ihrem Ruf gerecht. Kurz bevor sie sich<br />

wieder nach Mailand zurückversetzen ließ,<br />

äußerte sie in einem Brief Zweifel an der<br />

korrekten Handhabe der pentiti, der mafiosen<br />

Kronzeugen: <strong>Die</strong> Verhöre müssten<br />

ausschließlich nach den „Normen des<br />

Strafgesetzbuchs“ geführt werden. Jahrzehnte<br />

später wurden ihre Zweifel bestätigt:<br />

Der Borsellino-Prozess musste neu<br />

aufgerollt werden, weil sich herausgestellt<br />

hatte, dass ein Kronzeuge von der Polizei<br />

unter Folter dazu gebracht wurde, eine Tat<br />

zu gestehen, die er nicht begangen hatte.<br />

Petra Reski, Journalistin<br />

und Schriftstellerin, lebt seit 1991<br />

in Venedig. Zuletzt erschien ihr<br />

Buch „Von Kamen nach Corleone<br />

– <strong>Die</strong> Mafia in Deutschland“<br />

Fotos: Getty Images, Paul Schirnhofer (<strong>Auto</strong>rin)<br />

62 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Ihre Feinde wünschen ihr<br />

den Krebs und senden ihr<br />

Projektile per Post. <strong>Die</strong><br />

Staatsanwältin Ilda Boccassini<br />

legt sich mit Mafiosi und<br />

schmutzigen Politikern an<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 63


| W e l t b ü h n e<br />

Obamas Ausputzer<br />

US-Justizminister Eric Holder steht in der Kritik. Ein Rücktritt kommt für ihn nicht infrage. Noch nicht<br />

von Christoph von Marschall<br />

V<br />

erkehrte Welt: Eric Holder steht<br />

plötzlich als Schurke da. Ausgerechnet<br />

die Republikaner werfen<br />

ihm Geheimnistuerei und staatliche Gängelung<br />

der Medien vor. Dabei galt der erste<br />

schwarze Justizminister der USA bisher<br />

eher als zu liberal. Er war der Musterschüler<br />

des progressiven Amerika und wurde<br />

gerne als Verkörperung erfolgreicher Minderheitenförderung<br />

präsentiert. Wenn so<br />

einer Gefahr läuft, über eine politische Affäre<br />

zu stolpern, dann wohl über einen zu<br />

laxen Umgang mit Staatsinteressen, sollte<br />

man denken.<br />

Nun ist es anders gekommen. Holder<br />

und sein Chef Barack Obama sehen sich<br />

mit dem Vorwurf konfrontiert, sie stünden<br />

für einen zu starken Staat. Obama hatte bei<br />

seinem Amtsantritt angenommen, die Republikaner<br />

würden ihn als Weichling attackieren,<br />

dem die nötige Härte fehle, um<br />

US-Bürger mit allen Mitteln vor Anschlägen<br />

zu schützen. So gab er sich „hart“ und<br />

ordnete an, das „Leaken“ geheimer Informationen<br />

auf Grundlage der „Maßnahmen<br />

zur Terrorabwehr“ gnadenlos zu verfolgen.<br />

Keinesfalls wollte er sich dem Vorwurf aussetzen,<br />

nachsichtiger als sein Amtsvorgänger<br />

George W. Bush zu sein.<br />

Gegen die erwartbaren Attacken hatte<br />

sich Obama gewappnet, nicht aber gegen<br />

die Vorwürfe, die jetzt gegen ihn erhoben<br />

werden. <strong>Die</strong> Republikaner halten ihm vor,<br />

er habe ein „imperiales“ Verständnis der<br />

Präsidentschaft und nehme – wie sein Justizminister<br />

– die Rechtfertigungspflicht gegenüber<br />

Kongress, Bürgern und Medien<br />

nicht ernst. <strong>Die</strong> Konservativen wollen die<br />

AP-Affäre nutzen, um Eric Holder zu stürzen<br />

und so den Machtwechsel im Weißen<br />

Haus vorzubereiten.<br />

<strong>Die</strong> Nachrichtenagentur AP hatte<br />

2012 über einen im Jemen geplanten und<br />

schließlich vereitelten Bombenanschlag auf<br />

ein US-Flugzeug berichtet – mit Details,<br />

die als vertraulich galten. Daraufhin leitete<br />

das Justizministerium eine Untersuchung<br />

wegen Verdachts des Geheimnisverrats ein<br />

und beschaffte sich Telefonverbindungsdaten<br />

von 20 AP-Reportern, ohne die Nachrichtenagentur<br />

darüber zu informieren.<br />

Verantwortlicher Minister: Eric Holder.<br />

In den USA ist dieses Vorgehen nicht<br />

zwingend illegal. <strong>Die</strong> gesetzlichen Vorgaben<br />

sind vage, veraltet und sagen nichts<br />

über den Umgang mit E-Mails und Mobiltelefonen.<br />

Dennoch könnte Holder stürzen<br />

– nicht über die Affäre selbst, sondern<br />

Eric Holder war der Muster schüler<br />

des progressiven Amerika<br />

über seine widersprüchlichen Angaben zu<br />

ihrer Aufklärung, die die Republikaner als<br />

„Lügen“ und „Vertuschungsversuche“ bezeichnen.<br />

Anfangs hatte der 62-Jährige erklärt,<br />

er sei nie persönlich mit Leak-Untersuchungen<br />

gegen Journalisten befasst<br />

gewesen. Später musste er zugeben, dass ein<br />

Dokument zur Überprüfung eines weiteren<br />

Reporters seine Unterschrift trägt. Glaubwürdigkeit<br />

sieht anders aus.<br />

<strong>Die</strong>ser Widerspruch reiht sich in eine<br />

immer länger werdende Folge von Skandalen<br />

und Affären ein, mit denen die Obama-<br />

Regierung zu kämpfen hat. Dazu gehört<br />

auch die verschärfte Überprüfung konservativer<br />

Gruppen durch die Steueraufsicht<br />

IRS. <strong>Die</strong> hatte beispielsweise Anträge<br />

auf Steuerbefreiung als gemeinnützige Organisation<br />

bis zu drei Jahre ohne Bescheid<br />

liegen gelassen. Stets im Fadenkreuz der<br />

Kritik: Eric Holder, der zugleich als Obamas<br />

Ausputzer die Krise managen soll.<br />

Der Jurist wirkt auch nach den jüngsten<br />

Anfeindungen sanft. Lässt sich aber<br />

nicht beirren und beharrt auf seinen Überzeugungen,<br />

die in den USA als links gelten:<br />

Terroristen will Holder vor zivile Strafgerichte<br />

stellen und nicht vor Militärkommissionen;<br />

er ist für die Homo-Ehe, gegen<br />

die Todesstrafe und schreitet früh ein,<br />

wenn er die Rechte von Minderheiten bedroht<br />

sieht.<br />

Holders Vater und seine Großeltern<br />

mütterlicherseits kamen aus Barbados<br />

in die USA. Dank Begabtenförderung<br />

konnte Holder, der im New Yorker Stadtteil<br />

Queens aufwuchs, eine herausragende<br />

High School in Manhattan besuchen und<br />

an der Columbia University Jura studieren.<br />

Nach zwölf Jahren im Justizministerium,<br />

wo er sich der Korruptionsbekämpfung<br />

widmete, beförderte ihn der republikanische<br />

Präsident Ronald Reagan 1988 zum<br />

Richter am Obergericht des Hauptstadtbezirks<br />

DC. Bill Clinton ernannte ihn 1993<br />

zum ersten schwarzen Staatsanwalt in Washington<br />

und 1997 zum Vize-Justizminister.<br />

Schon damals musste er seinen Kopf für<br />

den Chef hinhalten. Clinton ließ Holder<br />

die Begnadigung des Wahlkampfspenders<br />

und wegen Steuerhinterziehung angeklagten<br />

Marc Rich arrangieren. Später nannte<br />

Holder seine Rolle einen Missgriff.<br />

Auch in der AP-Affäre versucht der<br />

Top-Jurist die Gemüter zu beruhigen, indem<br />

er Fehler eingesteht. Sein Ministerium<br />

sei „zu weit gegangen“, sagt er und verspricht<br />

ein Gesetz, das Medien besser gegen<br />

Leak-Untersuchungen schützt.<br />

Ein Rücktritt kommt für ihn zu diesem<br />

Zeitpunkt nicht infrage, das sähe wie eine<br />

Niederlage aus. Holder ist für Obama wertvoller,<br />

wenn er die Affäre durch offensives<br />

Krisenmanagement übersteht. Erst danach<br />

darf der Justizminister gehen.<br />

Christoph von Marschall<br />

ist seit 2005 USA-Korrespondent.<br />

Von ihm erschien zuletzt: „Der<br />

neue Obama. Was von der zweiten<br />

Amtszeit zu erwarten ist“<br />

Fotos: Mike McGregor/Contour by Getty Images, Privat (<strong>Auto</strong>r)<br />

64 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Eric Holder galt als liberaler<br />

Saubermann. Jetzt hat<br />

sein Image die ersten<br />

Schrammen bekommen<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 65


| W e l t b ü h n e | T ü r k e i<br />

Götterdämmerung<br />

in Istanbul<br />

66 <strong>Cicero</strong> 7.2013


<strong>Die</strong> Bürger fordern ihren Regierungschef<br />

heraus. Sie sind Erdogans Selbstherrlichkeit<br />

und Bevormundung leid. Eine ganze Generation<br />

begehrt gegen den islamischen Paternalismus<br />

in der Türkei auf. Eine Zwischenbilanz<br />

von Frank Nordhausen<br />

<strong>Die</strong>ses Bild sah die ganze Welt: Ceyda<br />

Sungur, die „Frau in Rot“, protestierte,<br />

als ein Polizist ihr aus nächster Nähe<br />

Tränengas ins Gesicht spritzte. Heute<br />

hängen Plakate von ihr in ganz Istanbul<br />

Foto: Reuters<br />

D<br />

er Protest kam aus einer unerwarteten<br />

Richtung. Schon<br />

zweieinhalb Jahre kämpfte eine<br />

bunte Truppe von Stadtplanern,<br />

Architekten und Ökologen im<br />

Istanbuler Szene-Stadtteil Beyoglu gegen<br />

die Umwandlung ihres Kiezes in ein gesichtsloses<br />

Touristen- und Shoppingzentrum.<br />

<strong>Die</strong> Aktivisten des Netzwerks Taksim-<br />

Solidarität trafen sich einmal im Monat zu<br />

einer Demo, bei der es über den Taksim-<br />

Platz und durch die Fußgängerzone Istiklal<br />

Caddesi ging. Selten nahmen mehr als<br />

100 Unterstützer daran teil. Bis Ende Mai<br />

hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan<br />

höchstwahrscheinlich noch nie von<br />

ihnen gehört.<br />

Als der Regierungschef Ende vergangenen<br />

Jahres persönlich ankündigte, in dem<br />

an den Taksim-Platz angrenzenden Gezi-<br />

Park ein Einkaufszentrum im Stil einer osmanischen<br />

Kaserne zu errichten, regte das<br />

die Bürger auf. „Es ist für sich genommen<br />

schon ein Unding, dass der Premier sich in<br />

die Stadtplanung einmischt. Vor allem aber<br />

ist dieser Park für Beyoglu lebenswichtig“,<br />

sagt Cem Hüzün. Der 46 Jahre alte Architekt<br />

ist einer der Gründer des Taksim-<br />

Netzwerks. „Der Park ist einer der letzten<br />

grünen Plätze im Stadtzentrum der europäischen<br />

Seite.“<br />

Am 28. Mai, einem <strong>Die</strong>nstag, erfuhr<br />

die Bürgerinitiative, dass Bagger anrückten,<br />

um im Gezi-Park Bäume zu fällen,<br />

obwohl Bebauungspläne dies nicht vorsahen<br />

und ein Gerichtsurteil es verbot. <strong>Die</strong><br />

Parkschützer alarmierten ihre Freunde und<br />

Bekannten über Telefonketten, Facebook<br />

und Twitter, und die Bauarbeiter sahen<br />

sich von nun an rund 150 Umweltschützern,<br />

Politikern, Architekten gegenüber,<br />

die sich vor ihre Bagger setzten, an die<br />

Bäume ketteten und Sit-ins veranstalteten.<br />

Um „unser Grün zu beschützen“, wie Architekt<br />

Hüzün sagt. Am frühen Morgen<br />

des 30. Mai schickte der Istanbuler Gouverneur<br />

erstmals die Polizei, um die lästigen<br />

Baumschützer zu vertreiben. Doch sie<br />

kamen wieder. In der folgenden Nacht saßen<br />

bereits mehr als 1000 Menschen im<br />

Park und riefen: „Gezi ist unser! Taksim<br />

ist unser! Istanbul ist unser!“<br />

Als die Polizei im Morgengrauen erneut<br />

und mit „exzessiver Gewalt“, wie es die<br />

amerikanische Regierung später formulieren<br />

sollte, gegen das Zeltcamp der Parkschützer<br />

vorging, als Wasserwerfer sprühten,<br />

Tränen- und Pfeffergasschwaden auf<br />

die Aktivisten niedergingen – da war dies<br />

der berühmte Tropfen, der das Fass überlaufen<br />

ließ. Bilder der Räumung verbreiteten<br />

sich rasch in den sozialen Netzwerken,<br />

und binnen weniger Stunden strömten<br />

Zehntausende meist junge Leute zum Taksim-Platz.<br />

Beißendes Tränengas hüllte sie<br />

ein, Hunderte wurden verhaftet – doch<br />

die Bürger hielten stand. Statt das Feuer<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 67


| W e l t b ü h n e | T ü r k e i<br />

zu löschen, fachte der Staat es an. In Windeseile<br />

verbreiteten sich die Proteste in der<br />

gesamten Türkei.<br />

Es war Sonnabend, der 1. Juni gegen<br />

16 Uhr, als die Polizei auf dem Taksim-<br />

Platz kapitulierte und einfach wegging. Zu<br />

diesem Zeitpunkt riefen die Demonstranten<br />

bereits: „Tayyip verschwinde!“ Sie protestierten<br />

nicht mehr nur für Bäume, sondern<br />

für die Freiheit, so zu leben, wie sie<br />

es wünschten. „Ich will nicht, dass mir der<br />

Regierungschef vorschreibt, wie ich mich<br />

anziehen, was ich essen und was ich nicht<br />

trinken soll, wie viele Kinder ich aufziehen<br />

und wie oft ich in die Moschee gehen<br />

muss“, sagt eine 28-jährige Anwältin<br />

auf dem Taksim-Platz. „Tayyip hat jeden<br />

Maßstab verloren.“<br />

Vor allem seit seinem dritten, überwältigenden<br />

Wahlsieg von 2011 trifft Erdogan<br />

politische Entscheidungen immer häufiger<br />

im Alleingang und richtet sie religiös aus.<br />

Er schränkte die Möglichkeiten zu Abtreibung<br />

und Kaiserschnitt ein, ließ ein rigoroses<br />

Anti-Alkohol-Gesetz verabschieden<br />

und integrierte das Koransystem in Schulen<br />

– ein Affront gegen die Grundfesten<br />

der laizistischen Republik. Kürzlich legte<br />

er den Grundstein für einen überdimensionalen<br />

Nachbau der berühmten Blauen<br />

Moschee auf dem Istanbuler Camlica-Hügel,<br />

um die größte säkulare Stadt der Türkei<br />

optisch zu beherrschen.<br />

sich später wieder erholen, aber spätestens<br />

zu diesem Zeitpunkt musste Premier Erdogan<br />

eigentlich gewarnt sein. Doch er verrannte<br />

sich in eine Krise, wie er sie in seiner<br />

zehnjährigen Regierungszeit noch nie<br />

erlebt hatte. Vier Tote, 17 Menschen, die<br />

ein Auge durch Gummigeschosse verloren,<br />

mehr als 5000 teils schwer Verletzte waren<br />

die unheilvolle Bilanz der ersten zwei Wochen<br />

des Aufstands.<br />

Im Staatsfernsehen und den großen<br />

Privatsendern wurden von nun an täglich<br />

Hunderttausende Demonstranten auf ein<br />

paar Hundert kleingerechnet. „Wir waren<br />

schockiert“, sagte Nihal Dag, eine 30-jährige<br />

Jurastudentin, die im Gezi-Park zeltete.<br />

„Unsere Medien haben die Wahrheit<br />

Atatürk. Hier fanden die großen politischen<br />

Versammlungen statt, hier schossen<br />

am 1. Mai 1977 Unbekannte von den<br />

Dächern auf eine Gewerkschaftskundgebung<br />

und töteten 34 Menschen. Hier<br />

fuhren drei Mal die Panzer der Putschgeneräle<br />

auf. Das liberale Istanbuler Bürgertum<br />

fühlt sich mit dem Taksim emotional<br />

stark verbunden.<br />

Recep Tayyip Erdogan wollte dem Platz<br />

daher schon immer seinen Stempel aufdrücken,<br />

wollte das Atatürk-Zentrum durch<br />

eine repräsentative Moschee ersetzen – der<br />

ultimative Triumph über die Säkularen.<br />

Das Vorhaben scheiterte letztlich daran,<br />

dass der forsche Ministerpräsident im letzten<br />

Moment stets davor zurückschreckte,<br />

Auf dem Taksim-Platz bekam es der megalomane<br />

Osmanen-Nostalgiker nun aber<br />

mit postmodern angehauchten Demonstranten<br />

zu tun, deren ironischem Witz er<br />

nicht ansatzweise gewachsen war. Jede Frau<br />

solle drei Kinder bekommen, hatte Erdogan<br />

gefordert. „Willst du wirklich drei von<br />

meiner Sorte?“, fragte eine Demonstrantin<br />

zurück. Erdogan beschimpfte die Protestierenden<br />

als „Marodeure“ – sie nahmen<br />

das Wort „Capulcular“ als stolze Selbstbezeichnung<br />

an und stellten auf dem besetzten<br />

Taksim-Platz „Capulcular-Bars“ auf, in<br />

denen sie Bier und Tequila ausschenkten.<br />

Von da an konnte Erdogan sagen, was<br />

er wollte – in unzähligen Karikaturen<br />

wurde er zur Spottfigur und verlor den<br />

Nimbus des Unverwundbaren. <strong>Die</strong> ausländischen<br />

Medien wurden hellhörig und verglichen<br />

den Taksim- mit dem Kairoer Tahrir-Platz,<br />

dem Symbol des Aufstands gegen<br />

den ägyptischen Diktator Hosni Mubarak.<br />

<strong>Die</strong> Istanbuler Börse brach ein. Sie sollte<br />

Recep Tayyip Erdogan konnte zwar Hunderttausende seiner Anhänger mobilisieren,<br />

aber auch dadurch will sich die neue Protestbewegung nicht einschüchtern lassen<br />

verschwiegen und Pinguinsendungen gezeigt,<br />

als sie über Tränengasangriffe hätten<br />

berichten müssen.“ Jetzt fragten sich die<br />

jungen Leute auf Facebook: „Haben uns<br />

die Medien über den Kurdenkonflikt jemals<br />

die Wahrheit gesagt?“ Auf dem Taksim-Platz<br />

standen fortan Kemalisten neben<br />

Kurden, Nationalisten neben Anarchisten<br />

in der Opposition gegen Erdogan – früher<br />

wäre das undenkbar gewesen.<br />

Es war ein Fehler des 59 Jahre alten<br />

Regierungschefs, die symbolische Bedeutung<br />

des Taksim-Platzes zu unterschätzen.<br />

<strong>Die</strong> gewaltige Freifläche ist das Herz der<br />

16-Millionen-Megacity und mit dem Republik-Denkmal<br />

sowie dem Atatürk-Kulturhaus<br />

eine in Beton gegossene Huldigung<br />

an den Vater der säkularen, westlich<br />

ausgerichteten Republik, Mustafa Kemal<br />

seinen Gegnern offen den Krieg zu erklären.<br />

Doch die Zeit der Zurückhaltung endete<br />

spätestens mit der jüngsten Wahl. „Ich<br />

bestimme die Tagesordnung der Türkei“,<br />

lautet seither Erdogans Diktum. Er möchte<br />

das Land zur Präsidialdemokratie machen,<br />

das Amt mit erweiterten Vollmachten versehen<br />

und sich 2014 zum Staatspräsidenten<br />

wählen lassen.<br />

Um besser zu verstehen, was den Erfolg<br />

dieses Mannes prägt, lohnt ein Besuch<br />

im konservativen Kleineleuteviertel<br />

Kasimpasa am Goldenen Horn. Hier ist<br />

er aufgewachsen, hier begann sein Aufstieg<br />

aus einfachsten Verhältnissen. Der<br />

Spross einer frommen Migrantenfamilie<br />

<strong>vom</strong> Schwarzen Meer, Absolvent einer islamischen<br />

„Imam-Hatip-Schule“, war erfolgreicher<br />

Fußballspieler, Student der<br />

Foto: Tolga Adanali/DDP Images/Sipa/Depo Photos<br />

68 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Wirtschaftswissenschaften, Geschäftsmann,<br />

Politiker, Häftling, Millionär, Premierminister.<br />

In Kasimpasa, nur eine halbe Stunde<br />

zu Fuß <strong>vom</strong> Taksim entfernt, protestiert<br />

niemand gegen die Regierung. „Tayyip ist<br />

ein guter Mensch, er ist gläubig. Wo wären<br />

wir ohne ihn?“, sagt ein 50-jähriger Elektromonteur<br />

vor der Hauptmoschee.<br />

Erdogan ermöglichte den einfachen<br />

Bürgern einen Lebensstandard, von dem<br />

sie früher nur träumen konnten. Neue<br />

Wohnung, <strong>Auto</strong>, Kühlschrank, Fernseher.<br />

Schöne Straßen, Wasser- und Stromleitungen,<br />

funktionierende Müllabfuhr.<br />

In Kasimpasa nimmt es dem Premier niemand<br />

übel, dass seine Familie inzwischen<br />

Milliarden Dollar besitzen soll, die laut<br />

„Der Premier<br />

hört auf<br />

niemanden<br />

mehr. <strong>Die</strong><br />

Macht hat ihn<br />

vergiftet“<br />

Mehmet Altan, Wirtschaftswissenschaftler<br />

und einst Unterstützer Erdogans<br />

Wiki leaks-Protokollen der US-Botschaft<br />

in Ankara auf Schweizer Konten gebunkert<br />

sind.<br />

Tatsächlich sitzt Erdogan so lange fest<br />

im Sattel, wie er seiner Stammklientel – Arbeiter,<br />

kleine Leute, das anatolische Bürgertum<br />

– eine stabile Wirtschaftsentwicklung<br />

und innere Sicherheit garantiert. Der Vater<br />

des türkischen Wirtschaftswunders will<br />

das Land bis zum 100. Republikgeburtstag<br />

2023 unter die zehn führenden Wirtschaftsnationen<br />

der Welt führen. Erste Meinungsumfragen<br />

zwei Wochen nach Beginn<br />

der Massenproteste zeigten, dass die völlig<br />

auf ihn zugeschnittene AKP landesweit stabil<br />

bei 50 Prozent der Stimmen steht.<br />

Seit mehr als zehn Jahren regiert Tayyip<br />

Erdogan jetzt die Türkei mit ihren 75 Millionen<br />

Einwohnern. Seine Partei gewann<br />

Ende 2002 mitten in einer tiefen Wirtschaftskrise<br />

und nach Jahren der Instabilität<br />

unter den etablierten Parteien die<br />

Parlamentswahlen. Doch konnte Erdogan<br />

erst am 12. März 2003 zum Ministerpräsidenten<br />

gewählt werden, nachdem per<br />

Verfassungsänderung ein Politikbann gegen<br />

ihn aufgehoben wurde. Der charismatische<br />

Redner, der seine ersten politischen<br />

Meriten in der Wohlfahrtspartei des islamistischen<br />

Ministerpräsidenten Necmettin<br />

Erbakan erwarb, machte sich als Oberbürgermeister<br />

von Istanbul einen Namen,<br />

als er die marode Infrastruktur der Stadt<br />

gründlich modernisierte. Aus jener Zeit<br />

stammt auch ein Gedichtzitat, das ihm<br />

1998 das Politikverbot eintrug und schon<br />

ahnen ließ, wes Geistes Kind er ist: „<strong>Die</strong><br />

Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir<br />

aufspringen, bis wir am Ziel sind. <strong>Die</strong> Moscheen<br />

sind unsere Kasernen, die Minarette<br />

unsere Bajonette, die Kuppeln unsere<br />

Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“<br />

Der begnadete Populist zerstreute<br />

Ängste vor einer „Gottesstaats-Agenda“<br />

aber zunächst mit einer pragmatisch orientierten<br />

Reformpolitik nach dem Motto:<br />

„leben und leben lassen“, die das Land<br />

gleichwohl tiefgreifend veränderte. Er<br />

schaffte die Todesstrafe ab, ließ Polizisten<br />

psychologisch schulen und wies das putschfreudige<br />

Militär in seine Schranken. Kurden<br />

wurde Sprachunterricht, Christen der<br />

Kirchenbau, Studentinnen das Tragen des<br />

Kopftuchs erlaubt. Als Lohn für die Demokratisierungsfortschritte<br />

eröffnete die<br />

EU Ende 2005 die Beitrittsverhandlungen.<br />

„Für uns hat Erdogans Politik einen ungeahnten<br />

wirtschaftlichen Aufschwung gebracht“,<br />

sagt Safak Civici, die zusammen<br />

mit ihrem Mann Ibrahim eine Möbelfirma<br />

in Kayseri in Mittelanatolien betreibt. Kayseri<br />

gehört zu jenen „anatolischen Tigerstädten“,<br />

die den wirtschaftlichen Aufschwung<br />

tragen, dem Tayyip Erdogan vor<br />

allem seine Popularität verdankt. <strong>Die</strong> AKP<br />

habe damals einen Überraschungssieg gelandet,<br />

„weil die Leute der alten Parteien<br />

überdrüssig waren“, sagt Civici. <strong>Die</strong> Inflation<br />

betrug 44 Prozent, der Staatsbankrott<br />

drohte. „<strong>Die</strong> Leute wollten frischen Wind.“<br />

Erdogan habe vor allem ökonomisch gepunktet.<br />

„Er hat die Krise erstickt und uns<br />

Märkte geöffnet. Unsere Leute gewannen<br />

Selbstbewusstsein“, sagt Safak Civici. „Und<br />

sie trauten sich zu zeigen, dass sie konservativ<br />

und religiös sind.“<br />

Erdogans Emotionalität, seine Sturheit,<br />

seine Einmischung in den Alltag kommen<br />

bei seinen wichtigen Zielgruppen ganz anders<br />

an als im aufgeklärten Istanbul. Ein<br />

Ereignis ist symbolhaft für das neue türkische<br />

Selbstbewusstsein: als Erdogan 2009<br />

beim Weltwirtschaftsforum in Davos<br />

nach einem heftigen Disput mit dem israelischen<br />

Staatspräsidenten Schimon Peres<br />

wütend das Podium verließ. „Unsere früheren<br />

Politiker waren Waschlappen. Aber Erdogan<br />

hat keine Angst vor niemand“, sagt<br />

Yunus Mert, Koch in einem Fischrestaurant<br />

in Kayseri.<br />

Erdogan ist ein großer Reformer, dem<br />

es anfangs auch gelang, viele Liberale für<br />

sich zu gewinnen wie den Istanbuler Wirtschaftswissenschaftler<br />

Mehmet Altan, einen<br />

bekannten Zeitungskolumnisten. „Erdogan<br />

machte die Türkei freier“, sagt Altan.<br />

„Er eröffnete den Menschen, die Atatürk<br />

links liegen gelassen hatte, neue Perspektiven<br />

– den Religiösen, den Minderheiten,<br />

dem anatolischen Bürgertum.“ Während<br />

es anfangs schien, als wolle er Atatürks säkulares<br />

Erbe der <strong>neuen</strong> Zeit anpassen, fand<br />

der Premier immer mehr Gefallen am autoritären<br />

Vermächtnis des „Türkenvaters“.<br />

Den türkischen Zentralismus hat Erdogan<br />

nicht angetastet und auch das Parteiengesetz<br />

nicht, das ihm erlaubt, innerhalb seiner<br />

Partei jeden Bewerber um ein Bürgermeisteramt<br />

oder ein Parlamentsmandat<br />

persönlich auszuwählen. Altan hat sich zuletzt<br />

enttäuscht von Erdogan abgewendet.<br />

„Der Premier hört auf niemanden mehr“,<br />

sagt er. „<strong>Die</strong> Macht hat ihn vergiftet.“<br />

„Es ist traurig, dass es in der Türkei<br />

keine Meinungsfreiheit mehr gibt“, sagt<br />

ein Istanbuler Bauunternehmer, der aus<br />

Angst vor der AKP seinen Namen nicht<br />

gedruckt sehen will. „Es könnte sein, dass<br />

ich dann keine Aufträge mehr bekomme“,<br />

sagt er und spricht von „rücksichtsloser<br />

Bereicherung Erdogans und seiner Clique“.<br />

Wer kein AKP-Mitglied sei, erhalte<br />

keine staatlichen Aufträge. Wer welche bekomme,<br />

der müsse zahlen. Für ihre Wahlkämpfe<br />

hat die Partei ungleich mehr Geld<br />

zur Verfügung als die Gegner. Dem Bauunternehmer<br />

macht das Angst. „Plötzlich<br />

sind überall Kopftuchfrauen. <strong>Die</strong> Kinder<br />

in den öffentlichen Schulen werden religiös<br />

indoktriniert. Und die Armee, die früher<br />

eingegriffen hat, ist völlig paralysiert“,<br />

sagt er. Spätestens seit Erdogans jüngstem<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 69


| W e l t b ü h n e | T ü r k e i<br />

„Macht, was ihr wollt,<br />

die Kaserne wird gebaut“<br />

Recep Tayyip Erdogan, türkischer Regierungschef<br />

Wahlsieg müsse das Land den Preis für die<br />

Alleinherrschaft der „Emporkömmlinge<br />

aus Anatolien“ zahlen.<br />

Doch im Regierungslager und in der<br />

AKP wagt niemand offenen Widerspruch<br />

gegen den „Sultan“. Erdogan muss vor allem<br />

darauf achten, die mächtige Bauindustrie<br />

des Landes und ausländische Investoren<br />

nicht durch innere Unruhen zu verschrecken.<br />

Ihnen verspricht der Premier nun,<br />

die geplanten Großprojekte weiter abzuwickeln,<br />

schließlich sei er demokratisch legitimiert.<br />

Das bezweifeln auch die meisten<br />

Demonstranten nicht, aber sie wünschen<br />

sich, dass ihre Stimme gehört wird.<br />

Der 27-jährige Dokumentarfilmer Can<br />

Tanyeli und die 28-jährige Jurastudentin<br />

Elif Aksayan haben sich seit Beginn<br />

an den Protesten gegen Erdogan beteiligt.<br />

„Wer in den Gezi-Park kommt, kann<br />

sehen, dass wir keine Chaoten sind. Wir<br />

räumen sogar den Müll sofort weg“, sagt<br />

Tanyeli. „Erdogan greift unsere Demokratie<br />

an, er benimmt sich wie ein Diktator.“<br />

Beide wohnen wie die meisten jungen Türken<br />

noch bei ihren Eltern und diskutieren<br />

derzeit viel mit ihnen. Ihre Eltern sind Liberale,<br />

die sich noch an die blutigen Straßenkämpfe<br />

erinnern können, denen der<br />

Militärputsch von 1980 folgte. „Sie haben<br />

Angst, dass es wieder so wird. Aber sie stehen<br />

voll hinter uns“, sagt Aksayan.<br />

Ein Riss geht durch die Türkei, er verläuft<br />

nicht zwischen Alt und Jung, sondern zwischen<br />

dem konservativen, anatolischen Osten<br />

und dem liberalen, nach Europa blickenden<br />

Westen. Im Gezi-Park artikuliert<br />

sich der Aufbruch einer gut ausgebildeten<br />

Babyboomer-Generation, die Mitsprache<br />

verlangt, individuelle Freiheit, die Rettung<br />

der gefährdeten Umwelt und lebenswerte<br />

Städte – ähnlich wie in der Bundesrepublik<br />

der siebziger und achtziger Jahre. Eine<br />

Massenbewegung zur Verteidigung der Demokratie<br />

ist entstanden, wie sie die Türkei<br />

noch nie gesehen hat.<br />

„Bäume retten ist wichtiger als Jeans<br />

kaufen“, sagen die Demonstranten, auf<br />

deren Idealismus und Engagement die Türkei<br />

stolz sein könnte. <strong>Die</strong> Masse der Protestler<br />

will keine Revolution, sondern verlangt<br />

vor allem Mitsprache, Rücksichtnahme auf<br />

die Umwelt und ein Ende der Polizeigewalt.<br />

Wie bei den Protesten gegen die Startbahn<br />

West in Deutschland reagiert die etablierte<br />

Politik mit Unverständnis, Ignoranz und<br />

mit Härte. Anders als vor 30 Jahren in der<br />

Bundesrepublik aber werden die türkischen<br />

Protestler von einem großen Teil ihrer Eltern<br />

unterstützt.<br />

Statt auf die jungen Leute zuzugehen<br />

und das Land zu versöhnen, ließ Erdogan<br />

die Polizei tagelang Tränengas auf Teenager<br />

schießen. „Macht, was ihr wollt, die Kaserne<br />

wird gebaut“, rief er den Demonstranten<br />

zu. Doch sein Versuch, den Taksim-Platz<br />

mit der Hilfe von Polizei und<br />

Provokateuren zu „säubern“, scheiterte am<br />

11. Juni an der überwältigenden Solidarität<br />

der Demonstranten. Es ist ein historisches<br />

Paradox, dass ausgerechnet Erdogan<br />

auf dem besten Weg ist, die „marginalen<br />

Gruppen“ der türkischen Linken, Liberalen<br />

und Minderheiten politisch zu vereinen.<br />

Berühmt geworden ist ein Foto <strong>vom</strong><br />

Taksim-Platz, das zeigt, wie ein PKK-Anhänger<br />

eine junge Frau mit Atatürk-Fahne<br />

aus dem Strahl eines Wasserwerfers rettet,<br />

während im Hintergrund ein weiterer Demonstrant<br />

den Wolfsgruß der rechtsnationalistischen<br />

MHP zeigt.<br />

In der Not flüchtete sich der Ministerpräsident<br />

in haltlose Diffamierungen<br />

und die abgegriffenste Verschwörungstheorie<br />

überhaupt. Mehrfach erklärte er,<br />

hinter den Protesten stecke die „internationale<br />

Zinslobby“, die an einer abstürzenden<br />

türkischen Wirtschaft verdienen wolle.<br />

<strong>Die</strong> antisemitische Vorlage wurde von Erdogans<br />

Anhängern verstanden und millionenfach<br />

weitergetragen. Doch wer sehen<br />

wollte, sah einen Mann, der täglich mehr<br />

sein Gesicht verlor. Der Premier, der sein<br />

Land so erfolgreich reformiert hat, zeigte<br />

sich seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen.<br />

Am 14. Tag des Aufruhrs, einem Freitag<br />

um zwei Uhr morgens, hielten die Protestler<br />

auf dem Taksim-Platz, in Ankara und Antalya<br />

den Atem an. Es war der Moment, als<br />

Erdogans „letzte Warnung“ an die Demonstranten<br />

ablief, nach Hause zu gehen oder<br />

sie „mit voller Härte“ abzuräumen. Doch<br />

dann geschah – nichts. <strong>Die</strong> Polizisten setzten<br />

ihre Helme ab, viele gingen schlafen.<br />

Erdogan hatte überraschend eingelenkt. Er<br />

hatte sich sogar persönlich mit einer Abordnung<br />

des Taksim-Netzwerks getroffen<br />

und beschlossen, die endgültige Entscheidung<br />

über den Gezi-Park den Gerichten zu<br />

überlassen; falls das Berufungsgericht gegen<br />

die Osmanenkaserne entscheide, werde<br />

sie eben nicht gebaut. Plötzlich wurden die<br />

vormaligen „Marodeure“ als „besorgte Umweltschützer“<br />

bezeichnet.<br />

Inzwischen haben „die Marodeure“ aber<br />

doch noch die Härte und Häme des Regierungschefs<br />

zu spüren bekommen. Am<br />

15. Juni wurde der Taksim-Platz schließlich<br />

brutal geräumt. Erdogan verhöhnte<br />

die Demonstranten bei einer Kundgebung<br />

vor Hunderttausenden seiner Anhänger in<br />

Istanbul.<br />

In der Krise wirkt der mächtige Erdogan<br />

trotz aller Machtdemonstration wie ein<br />

Kaiser ohne Kleider. Wie ein Mann, der<br />

bislang so stark aussah, weil er noch nie mit<br />

einer ernst zu nehmenden Opposition konfrontiert<br />

war; die kemalistische Oppositionspartei<br />

CHP ist zerstritten und schwach.<br />

Deshalb ist nun die spannendste Frage, ob<br />

sich aus der Taksim-Gezi-Bewegung eine<br />

politische Opposition formt wie damals in<br />

Deutschland die Grünen.<br />

Ironischerweise hat Erdogan die heillos<br />

zerstrittenen „marginalen Gruppen“<br />

zusammengeführt und mit seiner Attacke<br />

auf den modernen Lebensstil eine ganze<br />

Generation auf die Straße gebracht.<br />

Wird diese Zivilgesellschaft es nun<br />

schaffen, aus dem Straßenprotest eine alternative<br />

Politik mit nichtkontaminierten<br />

Repräsentanten zu entwickeln? Nach<br />

zwei Wochen Aufruhr fehlte den Aktivisten<br />

noch der Wille dazu, vielleicht auch<br />

die Vorstellungskraft und eine charismatische<br />

Führungsfigur. Aber das Spiel hatte<br />

ja auch gerade erst begonnen.<br />

Frank Nordhausen<br />

lebt seit mehreren Jahren in<br />

Istanbul. Seither versucht er, das<br />

System Recep Tayyip Erdogan zu<br />

ergründen<br />

Foto: privat<br />

70 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Diktatur à la turque<br />

Warum Recep Tayyip Erdogan das Musterbeispiel für einen modernen <strong>Auto</strong>kraten ist<br />

von William J. Dobson<br />

Illustration: jan rieckhoff; Foto: Travis Daub<br />

W<br />

ährend der vergangenen<br />

zehn Jahre war Recep<br />

Tayyip Erdogan das leuchtende<br />

Vorbild moderner <strong>Auto</strong>kraten.<br />

Um seinen Herrschaftsanspruch<br />

zu untermauern, hat er<br />

mehr Journalisten verhaften lassen als die<br />

chinesische KP; seine politischen Verbündeten<br />

haben einen Großteil der türkischen<br />

Medien unter ihrer Kontrolle; er greift auf<br />

drakonische Gesetze wegen Beleidigungstatbeständen<br />

zurück, um seine Gegner<br />

einzuschüchtern. Mehr als 700 Oppositionelle<br />

– darunter Politiker, Generäle, Aktivisten<br />

und Gelehrte – sitzen im Gefängnis.<br />

Außerdem reagiert er auf öffentliche<br />

Proteste mit Tränengas und Wasserwerfern,<br />

wie die Weltöffentlichkeit in den vergangenen<br />

Wochen erleben durfte.<br />

Aber Diktatoren brauchen keine Nachhilfe,<br />

wenn es darum geht, wie man für<br />

Ruhe auf den Straßen sorgt oder Feinde<br />

wegsperrt. Was die autoritären Herrscher<br />

des 21. Jahrhunderts dagegen am türkischen<br />

Premierminister bewundern, ist<br />

dessen Fähigkeit, seinen Machtanspruch<br />

in ein demokratisches Gewand zu kleiden.<br />

Unabhängig davon, wie unerbittlich sein<br />

Regime auftritt, ist Erdogan ein populärer,<br />

demokratisch und mit großen Mehrheiten<br />

gewählter Anführer. Dafür gibt es<br />

gute Gründe: <strong>Die</strong> Bosporusregion boomt,<br />

das Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei<br />

hat sich in der zurückliegenden Dekade<br />

verdreifacht, Exporte florieren, und die<br />

Staatsfinanzen haben sich deutlich verbessert.<br />

Istanbul wurde zum Standort multinationaler<br />

Unternehmen wie Microsoft<br />

oder McKinsey. Außerdem plant Erdogan<br />

den Bau eines zehn Milliarden Dollar teuren<br />

Megaflughafens, dem größten der Welt.<br />

Kurzum, Erdogan ist das leuchtende<br />

Beispiel für einen bemerkenswerten Trend<br />

in der internationalen Politik: der Aufstieg<br />

der <strong>neuen</strong> <strong>Auto</strong>kraten. Anstatt ihre Länder<br />

in Polizeistaaten zu verwandeln, machen<br />

sich moderne Diktatoren Steuerbehörden,<br />

Gesundheitsämter oder Rechtsanwälte zunutze,<br />

um Dissidenten kleinzukriegen. Sie<br />

berufen sich in ihren Reden auf die Demokratie,<br />

verwenden das Recht aber wie eine<br />

Waffe gegen ihre Gegner. Aus der Entfernung<br />

wirken sie beinahe wie Demokraten.<br />

Aber je näher man ihnen kommt, desto<br />

deutlicher wird, dass sie die brutalen Formen<br />

der Unterdrückung lediglich gegen<br />

weniger harsch erscheinende Zwangsmechanismen<br />

eingetauscht haben.<br />

Erdogans Wahlerfolge sind unbestreitbar.<br />

Doch er hat seine Mehrheiten dazu benutzt,<br />

um sämtliche Institutionen auszuhebeln,<br />

die seinem Machtanspruch gefährlich<br />

werden könnten. Der türkische Premierminister<br />

schüchtert alle ein, die die Regierung<br />

zur Rechenschaft ziehen wollen. Deshalb<br />

hat er so viele Journalisten verhaften<br />

lassen, deshalb tritt er die Zivilgesellschaft<br />

und Nichtregierungsorganisationen mit<br />

Füßen, deshalb besetzt er das Justizwesen<br />

mit Gefolgsleuten. Erdogan erinnert stark<br />

an den verstorbenen Hugo Chávez, auch<br />

so ein demokratisch legitimierter <strong>Auto</strong>krat.<br />

Beide wurden regulär gewählt, um dann im<br />

Amt die Demokratie ihres Kernes zu berauben.<br />

Im Unterschied zu Chávez ist Erdogan<br />

aber eher ein Technokrat mit einer<br />

deutlich erfolgreicheren Wirtschaftspolitik.<br />

Doch Erdogans Bild eines gemäßigten<br />

<strong>Auto</strong>kraten gerät nun ins Wanken. Das<br />

brutale Vorgehen seines Regimes gegen<br />

die Demonstranten im Gezi-Park und auf<br />

dem Taksim-Platz stellen seine Herrschaft<br />

vor die größte Bewährungsprobe seit zehn<br />

Jahren. Anstatt mäßigend auf die Protestbewegung<br />

einzuwirken, hat er das Feuer noch<br />

zusätzlich angefacht, indem er am 15. Juni<br />

die Polizeikräfte brutal mit Tränengas,<br />

Gummigeschossen und mit Chemikalien<br />

versetzten Wasserstrahlen gegen die letzten<br />

Demonstranten im Gezi-Park hat vorgehen<br />

lassen. Tags darauf hielt er eine anfeuernde<br />

und unversöhnliche Rede vor Tausenden<br />

seiner Anhänger, in der er die aufbegehrenden<br />

Bürger erneut als „Plünderer“, „Kriminelle“<br />

und „Extremisten“ bezeichnete, die<br />

von Terroristen gesteuert seien.<br />

Erdogan wird seine polarisierende Rhetorik<br />

vielleicht noch bereuen. Andere moderne<br />

<strong>Auto</strong>kraten – Wladimir Putin etwa<br />

oder der malaysische Premierminister Najib<br />

Razak – hätten ihm womöglich geraten,<br />

weniger inkonziliante Formulierungen<br />

zu wählen. Erdogans konfrontative<br />

Taktik hat aus der Türkei ein gespaltenes<br />

Land gemacht, in dem sich beide Seiten<br />

mit gärendem Groll gegenüberstehen. Das<br />

könnte die Grundlage sein für weitere Proteste,<br />

Zusammenstöße und vielleicht noch<br />

weit Schlimmeres.<br />

Aber Erdogan beruft sich auf seine<br />

Popularität bei der eigenen Anhängerschaft.<br />

Würde er sich heute zur Wahl stellen,<br />

könnte er sich eines Sieges sicher sein.<br />

Dennoch sollte der moderne türkische <strong>Auto</strong>krat<br />

auf der Hut sein. Noch vor kurzer<br />

Zeit wäre es kaum vorstellbar gewesen, dass<br />

Hunderttausende Türken auf die Straßen<br />

gehen, um ihre Stimmen gegen seine Herrschaft<br />

zu erheben. Seine Alleinherrschaft<br />

mag bestehen bleiben – aber sie wird nie<br />

wieder dieselbe sein wie zuvor.<br />

William J. Dobson<br />

ist Außenpolitik-Chef des<br />

Online-Magazins Slate und<br />

<strong>Auto</strong>r des Buches „The Dictator’s<br />

Learning Curve“<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 71


| W e l t b ü h n e | P h ä n o m e n F e m e n<br />

Nackte Tatsachen<br />

Femen-Frauen scheuen keine Konfrontation. Auch nicht, wenn sie in einem tunesischen<br />

Gefängnis landen, wie jüngst die Deutsche Josephine Witt. Für ihre Überzeugungen<br />

kämpfen die Aktivistinnen mit blankem Körpereinsatz. Ungeachtet wachsender Kritik<br />

von Sabine Adler<br />

72 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Kampfbereit: Im<br />

„Lavoir Moderne<br />

Parisien“ in<br />

Paris trainieren<br />

die Femen für<br />

ihren Einsatz<br />

Foto: Leo Novel/Corbis<br />

W<br />

enn Inna Schewtschenko<br />

an der U-Bahn-Station<br />

Barbès-Rochechouart aussteigt,<br />

folgen ihr sämtliche<br />

Blicke. Munter hüpft<br />

sie die Treppen herunter, aber ihr Gesicht<br />

ist ernst, fast finster. In der Öffentlichkeit,<br />

erst recht auf Fotos ist für Femen Lachen<br />

streng verboten! Oben rauschen die Metrozüge<br />

auf der Hochbahn weiter, unten am<br />

Ausgang der Station teilt sich die Gruppe<br />

Schwarzafrikaner für die junge Frau mit<br />

der blonden Mähne. Sie starren ihr nach,<br />

auch wegen der makellosen langen Beine<br />

in den roten Shorts. Sie tut, als nehme sie<br />

niemanden zur Kenntnis. Den Blick aufs<br />

Pflaster geheftet, rennt sie den Boulevard<br />

Barbès hinauf, biegt in die Rue Myrha. Als<br />

sie vor wenigen Monaten nach Paris kam,<br />

glaubte sie, in eine andere Welt zu kommen.<br />

Aber auch hier pfeifen ihr die Kerle<br />

hinterher, machen sie an, versuchen, sie<br />

zu begrapschen.<br />

„In der Ukraine behandelt man Frauen,<br />

zumal junge, so und noch viel schlimmer“,<br />

sagt Schewtschenko. „Ukrainische Mädchen<br />

sind arm, ungebildet und sehr schön.<br />

Für Menschenhändler, Zuhälter gelten sie<br />

als extrem billige Arbeitskräfte, mit denen<br />

sich eine Menge Geld verdienen lässt. Jede<br />

Minute verschwindet ein Mädchen.“ Deswegen<br />

kämpften die Femen in der Ukraine<br />

anfangs gegen Sextourismus, Prostitution<br />

und Mädchenhandel.<br />

Doch Schewtschenkos Biografie<br />

scheint allem, was sie ihrer Heimat vorwirft,<br />

zu widersprechen. Sie stammt aus<br />

Hirsson, einem kleinen Ort im Süden<br />

der Ukraine, nahe der Krim. Sie hat ein<br />

Universitätsstudium (Journalistik) absolviert,<br />

bekam danach sofort eine Stelle. In<br />

Frankreich, im Westen, wo sie glaubte, alles<br />

sei ganz anders, erlebt sie keinen Tag,<br />

an dem sie nicht genauso wie in Kiew belästigt<br />

wird. So lautet die Schlussfolgerung<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 73


| W e l t b ü h n e | P h ä n o m e n F e m e n<br />

der 22-Jährigen: Frauen sind nirgendwo<br />

frei, sie werden von drei Feinden bedroht –<br />

Diktaturen, der Religion und der Sexindustrie.<br />

Eine Revolution müsse her, erstmals<br />

eine von Frauen angezettelte.<br />

Schewtschenkos Arbeitsweg führt sie<br />

durch Paris’ afrikanisch-arabische Viertel.<br />

Friseur- und Kosmetikläden für die<br />

schwarze Kundin, der Goldhändler, die<br />

Reisebüros, die Schlachter, die Lamm- und<br />

Hammelfleisch feilbieten, Gemüseläden mit<br />

Süßkartoffeln, vor allem aber die Erdnussverkäufer,<br />

die auf dem engen Bürgersteig<br />

in Blechtonnen Nüsse rösten. Der Kontrast<br />

könnte kaum größer sein: <strong>Die</strong> blonde<br />

Schönheit eilt im Sturmschritt vorbei an gemütlich<br />

schwatzenden Afrikanern vor den<br />

Teestuben. Endstation Rue Léon.<br />

Vor einem Szenetheater wartet eine<br />

Gruppe Frauen. Erstmals hellt sich Innas<br />

Gesicht auf. Sie schließt die Stahltür auf,<br />

drinnen umarmen sich die Frauen, Küsschen<br />

rechts, links, Lachen. Sie stürmen die<br />

Holztreppe zum ersten Stock hinauf. Hier<br />

ist ihr Reich! Ein 20 Meter langer Raum<br />

mit niedriger Decke. Trainingssaal und<br />

Versammlungsraum. Innas Arbeitsplatz.<br />

„Femen – New Feminism“, „Femen is the<br />

ideology of sextremism“, „No sharia“ steht<br />

an den Wänden. Dazu lebensgroße Zeichnungen<br />

von barbusigen Frauen mit Blumenkränzen<br />

auf den Köpfen und bemalten<br />

Oberkörpern: „No religion“, „No dictatorship“.<br />

Eindeutig Porträts der Frauen, die<br />

hier gleich schwitzen werden. Eine Mittdreißigerin,<br />

höchstens 1,55 Meter groß,<br />

<strong>vom</strong> Handrücken bis zu den Schulterblättern<br />

tätowiert, kurzer Bürstenhaarschnitt,<br />

harte Züge. Ganz anders die sanfte Sarah<br />

mit den pinkfarbenen Lippen im runden<br />

Schneewittchengesicht, der ihr langes<br />

dunkles Haar glatt über die Schultern fällt.<br />

Ihr hat die Zeichnerin ein Schild in die<br />

Hände gemalt, auf dem „Not A Sex Toy“<br />

steht. Sarahs ebenmäßige Schönheit gäbe<br />

eine gute Vorlage für eine Barbie-Puppe ab,<br />

eben jenes Spielzeug, das ihre deutschen<br />

Kampfgenossinnen aus den Kinderzimmern<br />

verbannt wissen möchten.<br />

<strong>Die</strong> 20 Frauen traben im Laufschritt.<br />

Zehn Runden. Alle hören auf Inna: „Liegestütze!<br />

Erst mal zehn, 100 heute insgesamt!<br />

Sit-ups! One, two, three … Ab zehn zählen<br />

sie französisch weiter, kichern: onze, douze,<br />

treize. 100 Mal – sofort – die Fäuste auf<br />

und zu. Ende des Warm-ups. Aufstellung<br />

in Doppelreihe. Jede nimmt ihre Gegenüber<br />

Huckepack, macht 20 breitbeinige<br />

Kniebeugen. Wechsel. Schweres Schnaufen.<br />

Dann treten sie einzeln vor die Gruppe,<br />

mit Plakat über dem Kopf. „Fuck your morals“,<br />

ruft die erste. „Free Amina“, fallen die<br />

anderen ein. <strong>Die</strong> Übung: Doppel-Slogans.<br />

„Go undressed and win – Pop no more.“<br />

Schreien strengt die Stimmbänder an, alle<br />

husten. Weiter: 20 Mal „Pop no more –<br />

basta Berlusconi“, dann: „Pop no more –<br />

in gay we trust.“ Geübt wird, bis der Chor<br />

klappt, wirklich alle mit einer Stimme rufen,<br />

keine nachklappt, sonst kommt die<br />

Botschaft stümperhaft rüber. Sie haben<br />

nur Sekunden. Wenn überhaupt. Den Petersdom<br />

im Vatikan durften sie nicht einmal<br />

betreten. Der Sicherheitsdienst griff sie<br />

draußen auf dem Platz ab. Da hatte noch<br />

keine ein Plakat gezückt oder die Jacke<br />

abgeworfen. Schewtschenko ist überzeugt,<br />

dass ihre Fotos auf informellen Fahndungslisten<br />

europäischer Sicherheitsdienste kursieren.<br />

Deswegen wird jede geplante Aktion<br />

in größter Konspiration vorbereitet.<br />

Enge Kontakte zu Fotografen sind unabdingbar,<br />

aber auch sie werden erst unmittelbar<br />

vor der Aktion informiert. Denn immer<br />

noch sind mehr Vorhaben zu Ende,<br />

bevor sie überhaupt losgingen. Jede Femen-Aktion<br />

verstehen die Frauen deswegen<br />

auch als einen Demokratietest.<br />

Nächste Aufgabe: Attacke in Kleinstbesetzung.<br />

Vier Frauen bilden eine Gruppe,<br />

stürmen die „Öffentlichkeit“. Sie sprechen<br />

„Frauen hört<br />

man nicht<br />

zu, Frauen<br />

will man nur<br />

anschauen.<br />

Wenn das so<br />

ist: bitte!“<br />

Inna Schewtschenko<br />

sich kurz ab, aber wer fängt an? Auch das<br />

will gekonnt sein: Gemeinsam loslegen,<br />

gemeinsam enden. „Nudity is freedom –<br />

topless Dschihad“, „Dschihad“, klappert<br />

eine hinterher. Es klingt dünn und dämlich,<br />

so einzeln. Sie schlägt die Hand vor<br />

den Mund. Schewtschenko muss nichts<br />

erklären. Noch mal. „Nudity is freedom<br />

– topless Dschihad“, jetzt sitzt der<br />

Chor, doch die Übung ist noch nicht geschafft.<br />

Alle anderen gehen auf die vier<br />

los, stoppen sie mit Gewalt, bis die nicht<br />

mehr schreien und sich nicht mehr rühren.<br />

Eine Aktivistin läuft davon. „Ganz falsch!<br />

Wenn du rennst, wirst du abgedrängt, bist<br />

getrennt von den anderen, erledigt. Wirf<br />

dich zu Boden und jetzt zappeln, was das<br />

Zeug hält, damit sie dich nicht zu fassen<br />

kriegen. Und schreien. Nie aufhören mit<br />

Schreien“, mahnt Schewtschenko. Mehrere<br />

Femen stürzen sich auf jeweils eine<br />

Aktivistin, versuchen sie in die Zange zu<br />

nehmen, zur Ruhe zu bringen. Wenn das<br />

trotz ihrer Überzahl erst nach einiger Zeit<br />

gelingt, lobt Inna: „Well done!“<br />

<strong>Die</strong> Trainings-Femen sind bekleidet. Mit<br />

ihren „Firmen-Shirts“, ärmellosen Tops<br />

mit dem „Femen“-Aufdruck in Bauchnabelhöhe.<br />

<strong>Die</strong> Frauen haben keinerlei Berührungsängste.<br />

<strong>Die</strong> in der Regel männlichen<br />

Sicherheitsleute ihrer „targets“, wie<br />

sie die attackierten Politiker nennen, dagegen<br />

haben deutliche Hemmungen, die<br />

Aktivistinnen zu packen, wenn die halbnackt<br />

sind, passen auf, nicht versehentlich<br />

die Brüste zu berühren. Femen-Vorteil.<br />

Bis die Bodyguards ihre Jackets ausgezogen<br />

und über die Frauen geworfen haben,<br />

vergehen weitere wertvolle Sekunden,<br />

ziehen die Aktivistinnen noch mehr Aufmerksamkeit<br />

auf sich. Vor diesen Handgreiflichkeiten<br />

haben die Frauen allerdings<br />

Angst, denn häufig werden sie brutal geschlagen,<br />

sobald die Kameras nicht mehr<br />

klicken. Schewtschenko hat bei einer Aktion<br />

einen Zahn eingebüßt (der längst<br />

ersetzt ist). „In dem Moment spürst du<br />

nichts, denn dein Körper ist überflutet mit<br />

Adrenalin. Aber am nächsten Tag, wenn<br />

du deine blauen Flecken zählst, kapierst<br />

du, wie hart sie zugegriffen haben.“<br />

Keine wird verdonnert zu einer Aktion,<br />

jede macht nur mit, wenn sie es selbst<br />

will. Einzige Voraussetzung: Vier Wochen<br />

Vorbereitung, denn die Frauen sollen<br />

sicher sein, dass sie der Konfrontation<br />

74 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Foto: Leo Novel/Corbis<br />

Als 17-jährige Studentin gründete Inna Schewtschenko mit drei Freundinnen<br />

in der Ukraine Femen. Inzwischen finden ihre Aktionen überall statt<br />

standhalten. Eine der wichtigsten und deshalb<br />

längsten Übungseinheiten ist diese:<br />

Alle positionieren sich in Doppelreihe einander<br />

gegenüber, weniger als eine Armlänge<br />

entfernt. Brüllen sich an, in voller<br />

Lautstärke, solange sie können. Erst die<br />

eine Reihe, dann die andere Reihe, dann<br />

alle zusammen, dann die Paare einzeln.<br />

Schon das Zuschauen kostet Nerven. „Kill<br />

Kirill, kill Kirill, kill Kirill.“ Natürlich wollen<br />

sie den Patriarchen der russisch‐orthodoxen<br />

Kirche nicht töten, aber der Spruch<br />

ist gut für Übungszwecke, seine Aussage<br />

jedoch auch unter den Aktivistinnen umstritten.<br />

So wie der Slogan „Arbeit macht<br />

frei“, den ausgerechnet die deutschen<br />

Mitstreiterinnen auf der Hamburger Reeperbahn<br />

ausgewählt hatten, um gegen Prostitution<br />

zu protestieren. „Klar wollen wir<br />

provozieren, aber vor allem experimentieren<br />

wir immer noch. Wir behaupten auch<br />

nicht, dass jede Aktion eine gelungene<br />

ist“, räumt Inna Schewtschenko ein. Zerknirscht<br />

wirkt sie darüber nicht. Denn bei<br />

aller Kritik war die öffentliche Wahrnehmung<br />

beachtlich. Auch dass sie den Betrieb<br />

auf dem „Porno-Forum“ in Paris, wo jeder<br />

für 15 Euro Eintritt Live-Akten beiwohnen<br />

kann, für eine Stunde lahmgelegt haben,<br />

verbuchen die Frauen als Erfolg.<br />

„Porn is not real life“, hat Georgina,<br />

die italienische Politikstudentin, auf ein<br />

schwarzes Tuch gepinselt. Textilplakate haben<br />

sich als praktisch erwiesen, denn Pappschilder<br />

fallen zu früh auf, nur oben ohne<br />

ist manchmal zu wenig. Den Stoff ziehen<br />

sie Sekunden vor der Aktion aus dem Hosenbund,<br />

die Überraschung gelingt fast immer.<br />

Auch in Mailand, wo Femen bei der<br />

italienischen Parlamentswahl gegen Silvio<br />

Berlusconi zu Felde zog.<br />

Es ist vor allem der Kontrast – blanker<br />

Busen vor Präsidenten, Premierministern,<br />

Promis –, der selbst im sexaufgeladenen<br />

Westen zieht. Andrej Portnow, Politologe<br />

und Landsmann von Inna Schewtschenko,<br />

hält den Protest lediglich für Show. <strong>Die</strong> den<br />

Femen freilich unerhört große Aufmerksamkeit<br />

beschert und in der Ukraine das<br />

Thema Gleichberechtigung erstmals in der<br />

Öffentlichkeit aufwarf. Ihn stört allerdings,<br />

dass die Aktivistinnen dafür das simpelste<br />

aller Mittel nutzen, denn sich auszuziehen,<br />

verschaffe absolut jedem ein Publikum.<br />

40 Frauen umfasst Femen France. Nur<br />

vier Femen, die ukrainischen Gründerinnen,<br />

arbeiten hauptamtlich bei der Happening-Organisation,<br />

finanzieren sich<br />

angeblich aus dem Internetverkauf von<br />

Femen-Tops und -Tassen. Aus der Ukraine<br />

haben sich die Femen vorübergehend<br />

zurückgezogen. So wie sich dort ihre Themen<br />

immer wahlloser ausweiteten, wird die<br />

Organisation jetzt immer internationaler.<br />

„Wir agitieren, rekrutieren niemanden“,<br />

sagt die Femen-Gründerin. „<strong>Die</strong> Frauen<br />

finden uns.“ Schewtschenko mit den katzengrünen<br />

Augen bestreitet auch, dass Bewerberinnen<br />

einen Optiktest bestehen<br />

müssen, weder komme es auf Schönheit<br />

noch auf Gewicht oder Jugend an. <strong>Die</strong> Älteste<br />

der französischen Gruppe sei 49 Jahre,<br />

es kämen Große und Kleine, Schlanke und<br />

Fülligere, mit vollen oder flachen Brüsten.<br />

<strong>Die</strong> ganze Bandbreite. Wenn die Frauen<br />

mit den Femen Kontakt aufnehmen, hätten<br />

sie für sich entschieden, so radikal aufzutreten.<br />

Allerdings würde sich jede zweite<br />

wieder zurückziehen, weil sie der Körpereinsatz,<br />

wenn es ernst wird, ängstigt. Vielen<br />

ist die Konfrontation dann doch zu direkt,<br />

zu massiv. Dazu könne und wolle sie<br />

niemanden überreden. Dass ausgerechnet<br />

die Medien den Vorwurf erheben, als Feme<br />

müsse man ein Casting durchlaufen, sei<br />

ein Witz. Inna Schewtschenko, die spielend<br />

ihr Geld als Mannequin verdienen<br />

könnte, gibt den Schwarzen Peter zurück.<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 75


| W e l t b ü h n e | P h ä n o m e n F e m e n<br />

Schließlich würden die Bildmedien, wenn<br />

sie von den Femen berichten, vor allem Fotos<br />

– und zwar nur von den schönsten – abdrucken.<br />

Berichte von Femen-Aktionen als<br />

reine Wortmeldung? Fehlanzeige!<br />

<strong>Die</strong> meisten, die jetzt bei der nächsten<br />

Runde Sit-ups, seitlichen Armstützen<br />

und den nächsten Liegestützen stöhnen,<br />

sind Studentinnen oder freiberuflich tätig.<br />

„Wenn ich mal wieder drei Tage von<br />

der Polizei festgehalten werde, kann ich<br />

schließlich schlecht meinen Chef anrufen<br />

und um Freistellung bitten“, erklärt Sarah<br />

Konstantine. Sie ist 27 Jahre alt und freie<br />

Musikkritikerin.<br />

<strong>Die</strong> Femen sagen der Männerwelt keineswegs<br />

als Ganzes den Kampf an. Immer<br />

mehr Freunde oder Ehemänner unterstützen<br />

die Frauen tatkräftig. Der Ukrainer<br />

Wiktor Swjatski sei der eigentliche, der kreative<br />

Kopf, schreibt Jaroslawa Koba, eine<br />

ukrainische Journalistin, und dass die Femen<br />

ihn gern verschweigen. Sarah Konstantine<br />

kommt von sich aus auf die Männer<br />

an ihrer Seite zu sprechen. Ihr Freund<br />

helfe der Organisation bei der Pflege ihrer<br />

Internetseite. Andere, Anwälte, leisteten<br />

rechtlichen Beistand, immer schön im<br />

Hintergrund.<br />

Femen sind nicht erklärtermaßen lesbisch,<br />

haben aber Lesben in ihren Reihen.<br />

Sie treten uneingeschränkt für die Gleichstellung<br />

von homosexuellen Partnerschaften<br />

ein, weswegen sie bei den Massendemonstrationen<br />

der vergangenen Wochen in<br />

Paris mehrmals schwere Prügel einstecken<br />

mussten. Sarah Konstantine hat diese brutale<br />

Intoleranz schockiert. In ihrer unmittelbaren<br />

Umgebung, in der Musikredaktion<br />

weiß jeder, dass sie seit einem halben Jahr<br />

zu den Femen gehört, niemand nimmt daran<br />

Anstoß. Manche Freunde oder Kollegen<br />

bewunderten sie sogar dafür, dass sie „etwas<br />

tut und nicht nur im Café diskutiert“. Ihr<br />

gefällt der Aktionismus: schnell und stets<br />

aufsehenerregend auf aktuelle politische Ereignisse<br />

zu reagieren. Das sei ihre Stärke. So<br />

wie andere packende Pamphlete verfassen<br />

oder gute politische Arbeit leisteten. Doch<br />

das sei eben nicht ihre Sache. „Selbst wenn<br />

wir nur zwei Minuten für unsere Botschaft<br />

bekommen: Sobald danach starke Videos<br />

oder Fotos um die Welt gehen, hat es sich<br />

gelohnt.“ Als Sarah Konstantine die französischen<br />

Femen als Zimmermädchen verkleidet<br />

vor dem Haus von Ex-IWF-Chef<br />

Sarah Konstantine hat sich vor einem halben Jahr Femen angeschlossen, weil ihr<br />

der Aktionismus gefällt, schnell und aufsehenerregend auf Politik zu reagieren<br />

Dominique Strauss-Kahn sah, stand ihr<br />

Entschluss fest: Sie wollte mitmachen. Ihre<br />

größte Genugtuung sei, dass „der Feminismus<br />

zurückgekehrt ist“.<br />

Inna Schewtschenko würdigt die ideologische<br />

Vorarbeit der Feministinnen der<br />

ersten Stunde. Allerdings sei es ihnen<br />

nicht gelungen, das Thema in der gesellschaftlichen<br />

Diskussion zu halten. <strong>Die</strong><br />

Feministinnen seien die Theoretikerinnen<br />

gewesen, die Femen nun die Praktikerinnen.<br />

Allerdings mit einem <strong>neuen</strong><br />

Verständnis von Nacktheit: statt Kalaschnikows<br />

Brüste im Kampf gegen die Rolle<br />

der Frau als Sexobjekt. Gleiches mit Gleichem<br />

bekämpfen?<br />

Sorgen, dass ihr politischer Körpereinsatz<br />

eines Tages ein Hindernis im Job<br />

werden könnte, treiben Sarah, die französische<br />

Femen-Aktivistin, nicht um. Eher<br />

würde sie auf ihre Karriere verzichten als<br />

auf ihre Freiheit, sich wo wie sie will politisch<br />

zu äußern. Schewtschenko hat das<br />

berufliche Aus wegen ihrer Femen-Aktivität<br />

bereits hinter sich. Sie flog sofort aus<br />

der Pressestelle der Stadt Kiew raus, als bekannt<br />

wurde, dass sie zu den Femen gehört.<br />

In ihrer ukrainischen Heimat herrschen<br />

nichts als Vorbehalte gegen Feministinnen.<br />

<strong>Die</strong> sind verschrien als unzufrieden<br />

mit sich und ihrem Äußeren, bärtig, lesbisch<br />

sowieso und voller Hass auf Männer.<br />

Fotos: Leo Novel/Corbis, Bettina Straub (<strong>Auto</strong>rin)<br />

76 <strong>Cicero</strong> 7.2013


In Frankreich dagegen erführen die Femen<br />

Solidarität, vor allem von denen, die sich<br />

über die Wiederbelebung der alten Debatten<br />

freuen. Wie der Besitzer des Theaters<br />

„Lavoir Moderne Parisien“, in dessen Räumen<br />

sie kostenlos trainieren dürfen. Für<br />

einen Feminismus, der sich kaum weiblicher,<br />

kaum aggressiver Gehör verschaffen<br />

könnte. <strong>Die</strong> Ukrainerin war sich durchaus<br />

nicht sicher, ob sich Frauen in Frankreich<br />

für den „Femen-ismus“ mobilisieren lassen<br />

würden. Oder in Italien, Belgien, Deutschland,<br />

Kanada, Brasilien, wo es inzwischen<br />

Femen-Ableger gibt. Und vielleicht bald<br />

in den USA – Interessentinnen hätten sich<br />

bereits gemeldet.<br />

Überall, das hat sie inzwischen verstanden,<br />

würden Frauen benachteiligt, als Sexobjekte<br />

betrachtet, in ihren Rechten und<br />

Freiheiten eingeschränkt. In der Ukraine<br />

<strong>vom</strong> Staat und, wie in vielen anderen Ländern<br />

auch, von der Kirche. „Dort, wo die<br />

Religion beginnt, enden die Rechte der<br />

Frauen. Religion und Glaube sollen sich<br />

auf Kirchen und Wohnungen beschränken<br />

und fernhalten von der Politik und der<br />

Straße.“ <strong>Die</strong> Religion betrachtet Schewtschenko<br />

daher als Gegner. Dessen Symbole<br />

sie auch schon mal beseitigt. In Kiew<br />

sägte sie als Zeichen der Solidarität mit den<br />

inhaftierten russischen Pussy-Riot-Frauen<br />

ein acht Meter großes Kreuz ab, das Demonstranten<br />

während der orangenen Revolution<br />

im Stadtzentrum aufgestellt hatten.<br />

Seither lässt Präsident Wiktor Janukowitsch<br />

sie wegen Blasphemie mit Haftbefehl<br />

suchen.<br />

Deswegen floh Schewtschenko nach<br />

Frankreich, bat um politisches Asyl und<br />

gründete die französischen Femen. Worüber<br />

Sarah, der die Busenaktionen der<br />

Ukrainerinnen schon lange gefallen haben,<br />

hocherfreut war. <strong>Die</strong> Französin versteht<br />

ihre „beschrifteten“ Brüste als eine<br />

Art Uniform, wie bei Soldaten. Drei Missstände<br />

haben sie zu einer unversöhnlichen<br />

Kämpferin gemacht: ungleiche Löhne für<br />

Männer und Frauen, die Pornoindustrie<br />

und kleine muslimische Mädchen, die<br />

Schleier tragen. „Das bricht mir das Herz.“<br />

Ihr sei egal, ob sich die islamischen Frauen<br />

freiwillig verhüllten, Konstantine nimmt<br />

für sich in Anspruch, diese Frauen als unfrei<br />

zu empfinden.<br />

Daher plädiert sie immer wieder für<br />

Aktionen zur Freilassung von Amina. Der<br />

Tunesierin, die nach dem Vorbild der<br />

ukrainischen Femen-Gründerinnen Slogans<br />

auf ihren nackten Oberkörper schrieb,<br />

die Fotos davon ins Internet stellte und<br />

seither im Gefängnis sitzt. Als der tunesische<br />

Präsident Moncef Marzouki Mitte<br />

April in Paris sein Buch „Eine Einladung<br />

zur Demokratie – Das tunesische Experiment“<br />

präsentieren wollte, stürmten Sarah<br />

Konstantine und zwei weitere französische<br />

„Sextremistinnen“ seine Pressekonferenz im<br />

„Selbst wenn<br />

wir nur zwei<br />

Minuten<br />

für unsere<br />

Botschaft<br />

bekommen:<br />

Sobald danach<br />

starke Videos<br />

oder Fotos um<br />

die Welt gehen,<br />

hat es sich<br />

gelohnt“<br />

Sarah Konstantine<br />

Pariser „Institut der arabischen Welt“. Auf<br />

Sarahs Brüsten prangte die Frage: „Where<br />

is Amina?“ Auch die Parole „Topless Dschihad“<br />

erlebte den Praxistest und „Women’s<br />

spring is coming“ nach dem für die Femen<br />

so enttäuschenden arabischen Frühling.<br />

Der tunesischen Regierung werfen<br />

sie vor, das Land islamisieren zu wollen.<br />

Der Kampf für Amina hat inzwischen einen<br />

vorläufigen Höhepunkt erreicht. Zwei<br />

Französinnen und die Deutsche Josephine<br />

Witt wurden wegen ihrer Aktion Ende Mai<br />

vor dem Justizpalast in Tunis zu einer Haftstrafe<br />

von vier Monaten verurteilt.<br />

Vor allem auch dieser Protest ist auf<br />

heftige Kritik gestoßen. Insbesondere<br />

tunesische Frauenrechtlerinnen sind besorgt.<br />

Sie sehen ihre über viele Jahre hart<br />

erkämpften Freiheiten durch Femen in Gefahr.<br />

Fast schon flehentlich fordern sie die<br />

Aktivistinnen auf, ihre Aktionen in Tunesien<br />

zu beenden. Schewtschenko aber lässt<br />

sich auch dadurch nicht beirren.<br />

Bevor ein Nachdenken auch nur beginnen<br />

kann, folgt schon die nächste Aktion,<br />

Schlag auf Schlag, an immer anderen<br />

Orten mit immer <strong>neuen</strong>, vor allem anderen<br />

Themen. So bleiben sie zwar in aller<br />

Munde, doch von einer Revolution sind<br />

sie weit entfernt, die findet noch nicht<br />

einmal virtuell statt. Deswegen hagelte es<br />

Kritik von Gegnern wie von potenziellen<br />

Verbündeten. „Jeden Morgen, wenn ich<br />

von den SMS auf meinem Handy aufwache,<br />

lese ich: ,Stirb! Schmor in der Hölle!<br />

Verbrennen sollte man dich!‘ Damit ich<br />

dann wenigstens einmal was Nettes höre,<br />

sage ich zu mir selbst: Guten Morgen,<br />

liebe Inna.“<br />

<strong>Die</strong> ukrainischen Femen gibt es seit fünf<br />

Jahren. Als 17-jährige Studentin gründete<br />

Inna Schewtschenko mit drei Freundinnen<br />

die Organisation. Bereits als kleines Mädchen<br />

fand sie es ungerecht, dass ihre Mutter,<br />

obwohl sie sich zwölf Stunden am Tag<br />

abrackerte und wie ihr Vater eine Hochschulbildung<br />

hat, nicht mehr als 100 Euro<br />

im Monat verdiente. „Mein Vater arbeitete<br />

nur sechs Stunden und bekam viel mehr.“<br />

<strong>Die</strong> Aussicht auf solch ein Frauenleben<br />

machte sie rebellisch. <strong>Die</strong> Wut schweißte<br />

die Frauen zusammen. Sie gingen auf die<br />

Straße, protestierten – für die politischen<br />

Beobachter waren sie Luft. Bis zu jenem<br />

7. Februar 2010, als sie in dem Wahllokal,<br />

in dem Janukowitsch seine Stimme abgab,<br />

vor ihm warnten: ein künftiger Diktator,<br />

mit dem die Freiheiten der orangenen Revolution<br />

der Vergangenheit angehören<br />

würden. Erstmals agierten sie „topless“.<br />

Auf einmal existierten sie. <strong>Die</strong> Femen.<br />

Alle Welt druckte ihre Fotos. Sie begriffen:<br />

„Frauen hört man nicht zu, Frauen<br />

will man nur anschauen. Wenn das so ist:<br />

bitte!“ Dank ihrer Brüste hatten sie nun<br />

eine Stimme.<br />

SAbine Adler<br />

ist Korrespondentin des Deutschlandfunks<br />

in Warschau. Sie<br />

findet, Femen-Aktionen müssen<br />

für zu Vieles herhalten<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 77


| W e l t b ü h n e | M o r d a u f r u f<br />

„Wanted Dead“<br />

Hamed Abdel-Samad hat vor einem Islamofaschismus gewarnt. Weil radikalen,<br />

ägyptischen Gelehrten das nicht passt, haben sie zur Ermordung des <strong>Cicero</strong>‐<strong>Auto</strong>rs<br />

aufgerufen. Doch der will sich davon nicht einschüchtern lassen<br />

von Hamed Abdel-Samad<br />

V<br />

or einigen Monaten sah ich auf<br />

Facebook ein mit Photoshop gefaktes<br />

Bild. Ein böse blickender,<br />

bärtiger Mann hielt ein Plakat,<br />

darauf stand: „Enthauptet diejenigen,<br />

die behaupten, der Islam sei die Religion<br />

der Gewalt.“ Ich habe herzlich gelacht<br />

und sah in dem gefälschten Foto eine<br />

elegante Beschreibung der bitteren Realität.<br />

An dieses Bild musste ich denken, als<br />

ich plötzlich mein eigenes Porträt mit dem<br />

Aufruf „Wanted Dead“ auf Facebook entdeckte.<br />

Das soziale Netzwerk, das wir 2011<br />

genutzt hatten, um den ägyptischen Diktator<br />

zu stürzen, wird heute von Islamisten<br />

missbraucht, um einen Mordaufruf gegen<br />

mich zu verbreiten.<br />

Alles begann am 4. Juni. Ich hielt in<br />

Kairo einen Vortrag über den „religiösen Faschismus<br />

in Ägypten“ und vertrat die These,<br />

dass das faschistoide Denken im Islam nicht<br />

erst mit dem Aufstieg der Muslimbrüder begonnen<br />

habe, sondern in der Urgeschichte<br />

des Islam begründet sei. Ich argumentierte:<br />

Der Islam habe die religiöse Vielfalt auf der<br />

arabischen Halbinsel beendet, verlange von<br />

seinen Angehörigen unbedingten Gehorsam,<br />

dulde keine abweichenden Meinungen<br />

und strebe seit seiner Gründung nach<br />

der Weltherrschaft. Bis heute ist diese Geisteshaltung<br />

im Islam dominanter als andere<br />

Aspekte dieser Religion. Daher kann man<br />

von Islamofaschismus sprechen.<br />

Mir war bewusst, dass man moderne<br />

Begriffe wie Faschismus, die aus einem bestimmten<br />

historischen und politischen Kontext<br />

und aus einer europäischen Erfahrung<br />

stammen, nicht auf Arabien im 7. Jahrhundert<br />

übertragen kann. Meine Botschaft war<br />

daher: Wenn die religiösen Muslime es ablehnen,<br />

dass der Prophet und der Koran<br />

mit Maßstäben des 21. Jahrhunderts beurteilt<br />

werden, müssen sie aus den gleichen<br />

Gründen akzeptieren, dass säkulare Muslime<br />

es ablehnen, dass ihr Alltag, die Politik<br />

und die Justiz im 21. Jahrhundert durch die<br />

Regeln des Korans bestimmt werden, die<br />

für eine andere Zeit entstanden sind und<br />

eine andere Erfahrung beschreiben.<br />

Kurz darauf versammelte sich eine<br />

Gruppe islamischer Gelehrter und wollte<br />

meine Argumente live im Fernsehen entkräften.<br />

Nachdem sie zahlreiche Beispiele<br />

aus der Biografie des Propheten und aus<br />

dem Koran zitiert hatten, die beweisen sollten,<br />

dass der Islam Vielfalt und andere Meinungen<br />

akzeptiere, diskutierten sie, wie ich<br />

für die Verunglimpfung des Islam bestraft<br />

werden sollte. Das Urteil fiel<br />

schnell und einstimmig: Ich<br />

soll getötet werden!<br />

Allein wie ich getötet werden<br />

solle, und wer die Macht<br />

habe, über meine Tötung zu<br />

verfügen, wurde weiter debattiert.<br />

Ein Fernsehprediger<br />

sagte, ich solle zur Reue und<br />

Rückkehr zum Islam eingeladen<br />

werden; sollte ich das ablehnen, müsse<br />

der Herrscher Ägyptens mich töten. Ein<br />

Professor aus der renommierten Al-Azhar-<br />

Universität und der Anführer der Terrorbewegung<br />

Dschamaa Islamiya forderten meinen<br />

sofortigen Tod ohne Reue, denn ich soll<br />

auch den Propheten beleidigt haben, und da<br />

helfe keine Reue. Einer von ihnen sah keine<br />

Notwendigkeit, den Herrscher Ägyptens vor<br />

meiner Tötung um Erlaubnis zu bitten.<br />

<strong>Die</strong>se Gelehrten leben in einem geschlossenen<br />

ideologischen Kreis, weshalb sie überhaupt<br />

nicht merken, dass ihr Urteil meine<br />

Argumente eher bekräftigt. Es ist die Ironie<br />

des Schicksals, dass diese Religionswächter<br />

im Frühjahr 2011 die Massendemonstrationen<br />

gegen Hosni Mubarak verurteilt haben<br />

und sie für unislamisch hielten, während ich<br />

Meine Gedanken<br />

können<br />

diese Fanatiker<br />

nicht<br />

erdrosseln<br />

mit Tausenden von Ägyptern auf dem Tahrir-Platz<br />

für den Sturz des Diktators demonstriert<br />

habe. Uns haben sie als Agenten des<br />

Westens bezeichnet, die durch die Demonstrationen<br />

Ägypten destabilisieren wollen.<br />

Ich hätte mir damals nie gedacht, dass<br />

mein Land nach dem Sturz Mubaraks<br />

noch unfreier sein würde. Aber ich bereue<br />

es trotzdem nicht. Mubarak war es gewesen,<br />

der durch seine Politik den Muslimbrüdern<br />

die richtige Atmosphäre bot, um<br />

zu wachsen und ihre Ideologie zu verbreiten.<br />

Durch seine Alleinherrschaft konnten sich<br />

die Islamisten als Opfer darstellen und damit<br />

die Sympathie vieler Ägypter gewinnen.<br />

In Ägypten gab es eine Diktaturzwiebel,<br />

die aus mehreren<br />

Schichten bestand: die<br />

Schicht des Mubarak-Clans,<br />

die Militärdiktatur und die<br />

religiöse Diktatur. Man muss<br />

eine Schicht nach der anderen<br />

abschälen, um zu einem<br />

demokratischen Kern zu gelangen.<br />

Freiheit ist eben teuer!<br />

Nun werden die Muslimbrüder demaskiert<br />

und verlieren allmählich die Sympathie<br />

der Ägypter. Den <strong>neuen</strong> Präsidenten<br />

Mohammed Mursi nennen einfache Ägypter<br />

„Mubarak mit Bart“. Das Land geht<br />

durch eine schwere wirtschaftliche Krise,<br />

die die neue Regierung nicht meistern<br />

kann. Überall fehlt es an Brot und Benzin.<br />

So waren meine islamkritischen Aussagen<br />

ein willkommener Anlass für den<br />

Sender der Muslimbrüder und der Salafisten,<br />

um von diesen Krisen abzulenken und<br />

stattdessen über die angeblich gefährdete<br />

religiöse Identität Ägyptens zu diskutieren.<br />

Normalerweise müssten selbst nach<br />

ägyptischem Recht die beiden Männer, die<br />

den Mordaufruf gemacht haben, sofort verhaftet<br />

werden. Aber gerade diese Männer<br />

78 <strong>Cicero</strong> 7.2013


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<strong>Cicero</strong> Probe lesen<br />

Foto: Antje Berghäuser<br />

braucht Präsident Mursi, weil er von der<br />

Opposition unter Druck gesetzt wird. Eine<br />

Unterschriftenaktion, die seine Amtsenthebung<br />

fordert, konnte binnen eines Monats<br />

mehrere Millionen Unterschriften sammeln.<br />

Für den 30. Juni ist eine Massendemonstration<br />

vor dem Präsidentenpalast geplant.<br />

<strong>Die</strong> Muslimbrüder versuchen nun, meine<br />

islamkritischen Ansichten als Meinung der<br />

gesamten Opposition darzustellen, um sie<br />

als Islamhasser zu diffamieren und dadurch<br />

mehr Unterstützung zu bekommen.<br />

<strong>Die</strong> Muslimbrüder haben bislang in allen<br />

Bereichen versagt. Nur in einem waren<br />

sie erfolgreich. Sie haben es geschafft,<br />

Ägypten in zwei Völker zu spalten: Gläubige<br />

und Ungläubige. <strong>Die</strong> Ressentiments<br />

in beiden Lagern wachsen und drohen, das<br />

Land ins politische Chaos zu stürzen. In<br />

Ägypten hat der innere Kampf der Kulturen<br />

begonnen. Es ist ein existenzieller, aber<br />

unvermeidbarer Kampf, den die Mubarak-<br />

Diktatur künstlich verzögert hatte.<br />

In diesem Kampf bin ich nur eine Person,<br />

die ihre Meinung sagt. Ich habe keine<br />

Angst, mache mir nur Sorgen um meine<br />

ägyptische Familie, die nun in Mitleidenschaft<br />

gezogen wurde und Ziel von Beschimpfungen<br />

und Drohungen ist. Wenn<br />

ich wieder in Deutschland bin, erwarte ich<br />

allerdings angemessene Schutzmaßnahmen<br />

durch den Staat. Überhaupt sollte die Bundesregierung<br />

in Ägypten anders auftreten<br />

als bislang. Zurückhaltung ist nicht mehr<br />

angebracht.<br />

Es ist zwar bedauerlich, dass ich mich<br />

verstecken muss, während die, die mich töten<br />

wollen, frei herumlaufen können. Aber<br />

meine Gedanken können diese Fanatiker<br />

nicht erdrosseln. Im Gegenteil. <strong>Die</strong>se Hetzkampagne<br />

gegen mich hat meinen Leserkreis<br />

in Ägypten vergrößert. Ich erfahre viel<br />

Zustimmung und Solidarität von Kreisen,<br />

die mir bislang verschlossen waren. Unter<br />

den vielen Nachrichten, die mich über Facebook<br />

erreicht haben, habe ich mich über<br />

eine besonders gefreut. Ein junger Ägypter<br />

schrieb mir: Ich danke den Terroristen<br />

dafür, dass sie mich mit Ihnen und Ihren<br />

Gedanken bekannt gemacht haben. Bitte<br />

machen Sie weiter!“<br />

hAMED ABDEL-sAMAD<br />

war während des Aufstands<br />

im Frühjahr 2011 in Kairo.<br />

Seither kämpft er für die<br />

Demokratisierung Ägyptens<br />

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| K a p i t a l<br />

Mit Uncle Sam nach oben<br />

Größenwahn oder Coup? Florian Schoeller greift die Ratingagenturen an. Den richtigen Mann dafür hat er an Bord<br />

von Heinz-Roger Dohms<br />

D<br />

as Hamilton House ist ein denkmalgeschützter<br />

Zwanziger-Jahre-<br />

Bau im Londoner Norden. Im<br />

zweiten Stock wartet ein drahtiger Mann<br />

in Jeans und Pulli. Im Gespräch weist er<br />

immer wieder auf einen Punkt hin: Für das,<br />

was Florian Schoeller, Chef der Ratingagentur<br />

Scope in Berlin, und er hier vorhätten,<br />

brauche man „deep pockets“, tiefe<br />

Taschen also, viel Geld. Später sieht er sich<br />

noch mal in seinem Büro um, deutet auf<br />

den alten Teppich und die schmierige Tapete,<br />

lacht und sagt: „Na ja, ganz so tief müssen<br />

die Taschen vielleicht gar nicht sein.“<br />

Der Mann in Jeans und Pulli heißt<br />

Sam Theodore. Der 61-Jährige gilt als Koryphäe,<br />

jedenfalls in der Welt der Ratingagenturen,<br />

jener Firmen, die mit ihren Bonitätsnoten<br />

über die Kreditwürdigkeit von<br />

Unternehmen, Banken und Staaten entscheiden.<br />

Bis 2005 war Theodore Chefanalyst<br />

für Bankenratings bei Moody’s, die seit<br />

einer gefühlten Ewigkeit mit Standard &<br />

Poor’s und Fitch die Ratingwelt beherrschen;<br />

gemeinsamer Marktanteil: 95 Prozent.<br />

Ein früherer Kollege sagt über ihn:<br />

„Sam steht für die gute, alte Zeit in unserer<br />

Branche.“<br />

Und nun heuert dieser Theodore bei<br />

der Ratingfirma Scope an. Es ist, als würde<br />

Pep Guardiola nicht zum FC Bayern, sondern<br />

zum VfL Bochum wechseln.<br />

Florian Schoeller ist der Mann mit den<br />

tiefen Taschen. Er hat Theodore zu Scope<br />

geholt. Entspannt sitzt er in der Bar eines<br />

Hamburger Hotels. Eben gerade hat der<br />

39-Jährige einen Vortrag bei einer Immobilientagung<br />

gehalten. „Gute Rede“, sagt<br />

der Kommunikationsmanager, den er sich<br />

seit neuestem leistet, doch Schoeller, Gründer<br />

und Chef von Scope, scheint eher gelangweilt<br />

von der Immobilienbranche. Er<br />

hat jetzt ein neues Thema, viel größer, viel<br />

spannender, eine andere Dimension: „In<br />

drei bis fünf Jahren soll Scope, was die Ratingkompetenz<br />

betrifft, auf Augenhöhe mit<br />

S&P, Moody’s und Fitch sein.“<br />

Schoeller ist nicht nur viel jünger, sondern<br />

auch stämmiger als Theodore. Unter<br />

seinem Hemd verbirgt sich ein kleiner Unternehmerbauch,<br />

was in Kombination mit<br />

dem jungenhaften Gesicht, gegelten Haaren<br />

und seiner hemdsärmlig-wurstigen Art<br />

eine interessante Melange ergibt: ein bisschen<br />

Barock. Ein bisschen Schelm. Ein<br />

bisschen BWL-Student.<br />

Dabei hat Schoeller nie studiert. Stattdessen<br />

machte er nach Abitur und Bundeswehr<br />

erst Praktika und dann Karriere. Mit<br />

23 Jahren zog er sein erstes größeres Immobilienprojekt<br />

an Land, den Verkauf eines<br />

Lofts in Berlin-Mitte, an die Adresse erinnert<br />

er sich noch, „Melchiorstraße 26“. Es<br />

folgten weitere Objekte, doch schnell interessiert<br />

Schoeller sich stärker für die Bewertung<br />

von Immobilien als für deren Verkauf.<br />

So gründete er 2002, mit 26 Jahren,<br />

Scope, eine Ratingagentur zur Bewertung<br />

von Immobilienfonds. <strong>Die</strong> ersten Jahre verliefen,<br />

gelinde gesagt, turbulent. Mal war<br />

Scope so gut wie pleite, mal hagelte es Kritik<br />

wegen vermeintlicher Interessenkonflikte,<br />

mal zog eine eifrige Analystin den Zorn der<br />

halben Fondsbranche auf sich. Man sei „unerfahren<br />

gewesen“ und habe „nicht immer<br />

gut kommuniziert“, sagt Schoeller heute. Er<br />

biss sich durch, erschloss weitere Nischen,<br />

beschäftigt heute 80 Mitarbeiter und erwirtschaftet<br />

einen Millionenumsatz. Profitabel?<br />

„Seit Jahren.“<br />

Jetzt will er raus aus der Nische. Hinein<br />

in die richtige Ratingwelt, den Wettbewerb<br />

mit den „Big Three“ aufnehmen. Nicht wenige<br />

in der Branche halten den Versuch<br />

für Größenwahn. Roland Bergers „Europäische<br />

Ratinginitiative“ ist gerade erst krachend<br />

gescheitert: <strong>Die</strong> Unternehmensberater<br />

hatten den Doppelpass mit der Politik<br />

gesucht, die Finanzelite aber nicht überzeugt.<br />

Schoeller will sich dagegen ganz auf<br />

die Emittenten von Wertpapieren und die<br />

Investoren konzentrieren: „<strong>Die</strong> Qualität<br />

der Ratings ist entscheidend. Aus Brüssel<br />

kommt nicht ein Cent Geschäft.“<br />

Um Sam Theodore hat Schoeller gebuhlt<br />

wie ein verliebter Teenager. Bis der nachgab,<br />

weil es ihn „reizt, noch einmal etwas völlig<br />

Neues aufzubauen“, mit einem kleinen<br />

Team von sieben Analysten im engen, mäßig<br />

repräsentativen Londoner Büro.<br />

Scope will zunächst nur Banken bewerten,<br />

Industriekonzerne sollen später folgen.<br />

Theodore entwickelt gerade eine neue Ratingmethodik,<br />

die sich von den zahlengetriebenen<br />

Modellen der „Big Three“<br />

abheben soll. Faktoren, die schwer quantifizierbar<br />

sind, räumt er größeres Gewicht<br />

ein: Überzeugt die Strategie der Bank? Passt<br />

das Geschäftsmodell des Geldhauses? Wie<br />

kompetent ist der Vorstand?<br />

Gelingt Scope damit die Rückkehr in<br />

die „gute, alte Zeit“? Der Zeitpunkt des Angriffs<br />

ist gut gewählt. Das Image der drei<br />

großen Konkurrenten aus den USA hat<br />

durch die Finanzkrise extrem gelitten. <strong>Die</strong><br />

US-Finanzaufsicht wirft ihnen vor, mit viel<br />

zu positiven Bewertungen hypothekenbesicherter<br />

Anleihen Anleger wissentlich getäuscht<br />

zu haben. Theodore kommt dagegen<br />

mit vergleichsweise weißer Weste zu<br />

Scope, während der Krise arbeitete er für<br />

Finanz- und Bankenaufsichtsbehörden.<br />

Im kommenden Jahr werden mit seinem<br />

Ratingmodell 40 bis 50 große europäische<br />

Banken ein Rating von Scope erhalten<br />

– unentgeltlich. In zwei, drei oder<br />

vielleicht auch erst in fünf Jahren sollen die<br />

Scope-Noten so etabliert sein, dass die Emittenten<br />

bereit sind, für sie zu zahlen. Gut eine<br />

Million Euro dürfte dieses Experiment bis<br />

dahin pro Jahr verschlingen. Sind Schoellers<br />

Taschen tief genug? An Selbstbewusstsein<br />

mangelt es ihm zumindest nicht: „Bislang<br />

bin ich in jedem Markt, in den ich reingegangen<br />

bin, auch dringeblieben.“<br />

Heinz-Roger Dohms<br />

ist in der Ratingwelt zu<br />

Hause, über die er lange als<br />

Korrespondent für FTD und<br />

Capital berichtet hat<br />

Fotos: Andreas Pein für <strong>Cicero</strong>, privat (<strong>Auto</strong>r)<br />

80 <strong>Cicero</strong> 7.2013


„Bislang bin ich in<br />

jedem Markt, in den<br />

ich reingegangen bin,<br />

auch dringeblieben“<br />

Florian Schoeller, Gründer und Chef der Ratingagentur Scope<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 81


| K a p i t a l<br />

Auf gottlosem FuSSe<br />

David Bonneys atheistische Schuhe im Bauhausstil verkaufen sich am besten in den gottesfürchtigen USA<br />

von Daniel Schreiber<br />

D<br />

avid Bonney weiSS, wie er die Aufmerksamkeit<br />

des Publikums auf<br />

sich zieht. Dafür stand er lange<br />

genug als Sänger und Kabarettist auf<br />

Berliner Kleinkunstbühnen. Sein komisches<br />

Talent stellt er mittlerweile aber lieber<br />

auf der Website seines Schuhe-Labels<br />

„Atheistberlin.com“ unter Beweis: Dort hält<br />

ein Model auf Richard Dawkins’ Wälzer<br />

„The God Illusion“ Mittagsschlaf, Charles<br />

Darwins Ururenkel lacht in die Kamera,<br />

und Michelangelos sixtinischer Kapellen-<br />

Adam drückt seinem Schöpfer ein Paar von<br />

Bonneys heidnischen Schuhen in die Hand.<br />

Darauf angesprochen, grinst der Wahlberliner.<br />

Um es gleich klarzustellen: Der<br />

34-jährige Designer hat nichts gegen Christen<br />

und Anhänger anderer Religionen. Obwohl<br />

er in Dublin aufgewachsen ist, einer<br />

der katholischen Bastionen Europas, zogen<br />

ihn seine Mutter, eine irische Hausfrau,<br />

und sein Vater, ein englischer Klempner,<br />

einfach nicht religiös auf. In den Kirchenchor<br />

kam er trotzdem, weil er gut sang.<br />

Abgefärbt hat auch das nicht: Auf der<br />

Sohle jedes Schuhes seiner Firma steht in<br />

großen, roten Buchstaben: „Ich bin Atheist.“<br />

Von der Form-folgt-Funktion-Idee der<br />

Bauhaus-Ära inspiriert, sehen die Schuhe<br />

wie unglaublich bequeme Vorkriegs-Sneaker<br />

aus. Per Hand werden sie in einer portugiesischen<br />

Schuhfabrik aus drei Stücken<br />

unbehandelten Nubukleders genäht und<br />

passen sich der Fußform schon beim ersten<br />

Tragen an. „Mein Leben lang habe ich<br />

nach Schuhen gesucht, die ich wirklich haben<br />

wollte“, sagt Bonney. „Irgendwann war<br />

es an der Zeit, sie selber herzustellen.“<br />

<strong>Die</strong> Schuhe sind noch nicht einmal<br />

teuer. <strong>Die</strong> Firma, zu der sechs Mitarbeiter<br />

gehören, die sich um Logistik und um Finanzen<br />

kümmern, vertreibt sie seit einem<br />

Jahr übers Internet und seit kurzem auch<br />

im eigenen Shop in Berlin-Kreuzberg. Sie<br />

kosten 150 Euro, inklusive Versandkosten<br />

und Mehrwertsteuer.<br />

<strong>Die</strong> meisten Bestellungen kommen aus<br />

den USA, wo „Atheismus“ noch ein regelrechtes<br />

Reizwort ist. „Mit unseren Schuhen<br />

versuchen wir auch, unsere entspannte,<br />

europäische Attitüde zu verbreiten. Atheismus<br />

ist doch nichts weiter als eine intelligente,<br />

leicht hedonistische Weltsicht“,<br />

sagt Bonney. Er wedelt nicht<br />

mit Flaggen oder Manifesten,<br />

aber 10 Prozent des Gewinns<br />

spendet die Firma an atheistische<br />

Organisationen wie<br />

Ärzte ohne Grenzen.<br />

<strong>Die</strong> Idee für die Schuhe<br />

entwickelte Bonney lange,<br />

bevor er ihr Design entwarf.<br />

Nach seinem Psychologie-<br />

Studium arbeitete er in einer<br />

Londoner Werbeagentur<br />

und schrieb nebenbei<br />

seine MBA-Arbeit, Thema:<br />

<strong>Die</strong> Zukunft der Werbewirtschaft.<br />

<strong>Die</strong> vor sich hin<br />

siechende Branche müsse<br />

sich dringend neu erfinden,<br />

konstatierte er damals, und<br />

Marken kreieren, welche die<br />

ethischen Glaubenssätze ihrer<br />

Käufer widerspiegeln.<br />

Um die Chancen von<br />

Atheist Shoes zu testen,<br />

stellte er den Prototyp des Schuhes in der<br />

Online-Community Reddit vor. Das Interesse<br />

daran war riesig. Über die Crowdfunding-Plattform<br />

Kickstarter sammelte er<br />

dann innerhalb von nur vier Wochen fast<br />

60 000 Dollar ein. <strong>Die</strong> Geldgeber konnten<br />

über Kickstarter entweder die Produktion<br />

der eigenen Schuhe vorfinanzieren<br />

oder durch kleinere Spenden die Umsetzung<br />

der Idee unterstützen. „Unsere Kunden<br />

haben dabei mitgeholfen, die Marke<br />

von Anfang an mitzugestalten – das ist unbezahlbar.<br />

Crowdfunding ist perfekt für<br />

Unternehmensgründer. Wir mussten zwar<br />

lange von Reis und Pasta leben, aber mit<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagt jetzt<br />

auch der Deutsche-<br />

Bank-Chef Anshu<br />

Jain. <strong>Cicero</strong> weiß das<br />

schon länger und stellt<br />

den Mittelstand in<br />

einer Serie vor. <strong>Die</strong><br />

bisherigen Porträts aus<br />

der Serie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

dem eingesammelten Geld konnten wir direkt<br />

loslegen“, sagt Bonney.<br />

Kulturwissenschaftler sprechen im Zusammenhang<br />

mit dieser Art der Finanzierung<br />

gerne von einer „Moralisierung der<br />

Märkte“, weil Kunde und Unternehmen<br />

emotional von Anfang an eng verbunden<br />

sind. Für Bonney gehen<br />

damit auch neue Anforderungen<br />

fürs Marketing einher.<br />

Als er bemerkte, dass<br />

es in den USA Zustellungsprobleme<br />

gab, verschickte<br />

er eine Reihe von Paketen<br />

ohne die Aufschrift Atheist<br />

Shoes. <strong>Die</strong> Pakete ohne<br />

Logo kamen im Schnitt<br />

drei Tage früher an. <strong>Die</strong> mit<br />

Logo waren nicht nur langsamer,<br />

sondern gingen in<br />

den gottesfürchtigen USA<br />

auch zehnmal so oft verloren.<br />

Der Zusteller bezog<br />

dazu keine Stellung, aber<br />

die US-Medien nahmen die<br />

von Bonney geschickt lancierte<br />

Story gerne auf.<br />

Bei der Expansion seines<br />

Unternehmens geht Bonney<br />

sehr behutsam vor. Das Angebot<br />

des amerikanischen<br />

Kaufhausriesen Target, seine Schuhe zu vertreiben,<br />

lehnte er ab. Für sein kleines, alternatives<br />

Label setzt er lieber auf temporäre<br />

Shops in London und New York. Dort gibt<br />

es ab Herbst auch die Atheist-Baby-Shoes zu<br />

kaufen, mit Teddybärfell gefüttert. Auf ihren<br />

Sohlen steht „I believe in Mummy“ und „I<br />

believe in Daddy“. Eigentlich das perfekte<br />

Taufgeschenk.<br />

Daniel Schreiber<br />

schreibt über Kunst und Kultur<br />

und ist <strong>Auto</strong>r des Buches<br />

„Susan Sontag. Geist und<br />

Glamour“ (Aufbau-Verlag)<br />

Fotos: Götz Schleser für <strong>Cicero</strong>, Andrej DAllmann (<strong>Auto</strong>r)<br />

82 <strong>Cicero</strong> 7.2013


„Mein Leben lang<br />

habe ich bequeme<br />

Schuhe gesucht. Jetzt<br />

habe ich sie einfach<br />

selbst hergestellt“,<br />

sagt David Bonney<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 83


| K a p i t a l<br />

Kubas Ernst & Young<br />

Adolfo Ajero ist Kubas erster selbstständiger Steuerberater – Folge der „stillen Revolution des Kapitals“<br />

von Claas Relotius<br />

H<br />

in und wieder wandelt sich ein<br />

Land oder System so leise und<br />

schleichend, schrieb Fidel Castro<br />

einst, dass selbst die Gewinner des Wandels<br />

ihre Chancen nicht auf Anhieb begriffen.<br />

So ging es auch Adolfo Ajero, als er vor<br />

etwas mehr als einem Jahr den an ihn adressierten<br />

Brief der Regierung öffnete, um<br />

darin seine rot-weiß-blaue Entlassungsurkunde<br />

zu finden. Bis zu diesem Tag hatte<br />

Ajero 29 Jahre lang als Fahrlehrer in Havanna<br />

gearbeitet, wie fast alle Kubaner<br />

<strong>vom</strong> Staat beschäftigt. Um der sozialistischen<br />

Idee zu dienen, wie es in Kubas Verfassung<br />

heißt.<br />

In dem Schreiben aber teilte man ihm<br />

mit, er sei einer jener 400 000 Staatsbediensteten,<br />

der jetzt eigenen Geschäften<br />

nachgehen könne. Zunächst war er verzweifelt:<br />

Wie sollte man, dachte der 51-Jährige,<br />

als privater Geschäftsmann ein Auskommen<br />

finden in einem System, in dem<br />

mehr als 50 Jahre lang jede Form von Privatwirtschaft<br />

verboten war?<br />

Seine Frau Ana brach vor den beiden<br />

Töchtern in Tränen aus. Er selbst schimpfte<br />

auf den Staat, rief „Nieder mit den Castros!“,<br />

grübelte Abend für Abend vor sich<br />

hin, wie sich Geld verdienen ließe, und<br />

ging schließlich doch in die nächste Bodega,<br />

um die Angst vor der Zukunft wegzutrinken.<br />

Dann, nach drei Wochen, hatte<br />

er plötzlich eine Idee, die aus einem Fahrlehrer,<br />

der wegen seiner Entlassung zu verzweifeln<br />

drohte, einen der gefragtesten Unternehmer<br />

Havannas gemacht hat.<br />

Eine simple Idee machte aus<br />

dem Ex-Fahrlehrer Havannas<br />

gefragtesten Unternehmer<br />

Ajero ist der erste kubanische Steuerberater,<br />

den die Insel in 60 Jahren gesehen<br />

hat. Vielleicht erkannte er am schnellsten,<br />

dass mit der <strong>neuen</strong> Selbstständigkeit auf<br />

Kuba nicht nur lang ersehnte Freiheiten,<br />

sondern auch ungewohnte Pflichten einhergehen.<br />

Wer eine Unternehmerlizenz<br />

besitzt, der darf Angestellte beschäftigen<br />

und weit mehr verdienen als den bisherigen<br />

Einheitslohn. Er muss aber auch Einkommensteuer<br />

zahlen und Beiträge zur Sozialversicherung<br />

leisten. Für die meisten Kubaner<br />

ein völlig neues System. Und für Ajero<br />

eine Marktlücke, die es zu füllen gilt.<br />

Ajeros Aufstieg hat viel mit der „stillen<br />

Revolution des Kapitals“ zu tun, von<br />

der sich die Menschen in den Gassen der<br />

Hauptstadt hinter vorgehaltener Hand erzählen.<br />

Drei schwere Hurrikans, die Weltwirtschaftskrise,<br />

vor allem aber Jahrzehnte<br />

kommunistischer Planwirtschaft hatten das<br />

Land ökonomisch an den Rand des Ruins<br />

gebracht, als sich Kubas Präsident Raúl<br />

Castro im Frühjahr 2011 für einen radikalen<br />

Kurswechsel entschied: Das Handelsverbot<br />

für Privatgüter wurde aufgehoben,<br />

Land und Immobilien privatisiert, der Anund<br />

Verkauf von <strong>Auto</strong>s, jahrzehntelang<br />

<strong>vom</strong> Staat untersagt, erlaubt.<br />

Das weitreichendste Eingeständnis des<br />

Scheiterns besteht aber darin, dass das Castro-Regime<br />

bis 2014 mehr als eine Million<br />

Angestellte aus dem Staatsdienst entlässt.<br />

Zimmermänner, Elektriker, Mechaniker,<br />

Friseure, Programmierer, die Liste der Berufe<br />

ist lang, insgesamt 178 Tätigkeiten<br />

sind betroffen. Als Ausgleich erhalten die<br />

Entlassenen Lizenzen, die ihnen erlauben,<br />

was anderen Kubanern weiterhin verwehrt<br />

bleibt – sie dürfen, und sie müssen, Geschäften<br />

auf eigene Rechnung nachgehen.<br />

Aber taugen die Kubaner nach all den Jahren<br />

noch zum Kapitalismus?<br />

An einem <strong>Die</strong>nstagvormittag, der so<br />

heiß ist, dass die streunenden Hunde in den<br />

Straßen wie tot auf den Bordsteinen liegen,<br />

stehen 70 Frauen und Männer Schlange<br />

vor einem zweistöckigen Gebäude, das Eisschrank<br />

heißt. Seinen Namen verdankt das<br />

Haus der angeblich besten Klima anlage der<br />

Stadt. Adolfo Ajero hat erst vor ein paar<br />

Wochen dem Staat zwei Etagen abgekauft<br />

und neue Büroräume einrichten lassen.<br />

Hinter breiten Stahlschreibtischen beschäftigt<br />

er ein Dutzend Angestellte, die meisten<br />

Klienten in der Schlange wollen aber nach<br />

wie vor zum Chef.<br />

Ajero, untersetzte Gestalt, Baseball-<br />

Kappe, gilt als Fachmann. Dabei sagt er<br />

selbst: Seine Arbeit, den Menschen mit ihren<br />

Problemen zu helfen, das könne eigentlich<br />

jeder: „Nur die Geschäftsidee, die habe<br />

eben ich allein gehabt.“<br />

„Wenn bald eine Million Menschen, die<br />

bisher <strong>vom</strong> Staat versorgt wurden, plötzlich<br />

selbst den Staat versorgen sollen“, sagt<br />

er, „dann braucht es jemanden, der ihnen<br />

zeigt, wie man das macht.“ Um die kubanische<br />

Version von Ernst & Young zu<br />

werden, besorgte sich Ajero zunächst die<br />

Gesetzestexte, studierte jeden Absatz und<br />

lud die Nachbarn des Viertels ein, um ihnen<br />

am eigenen Küchentisch Steuertipps<br />

zu erklären. Den Handwerkern zeigte er,<br />

wie sie ihre Werkstätten absetzen können,<br />

und den Einzelhändlern, wie sich bei der<br />

Verkaufssteuer ein paar Pesos sparen lassen.<br />

Das kubanische Steuerrecht, bereits Mitte<br />

der neunziger Jahre mithilfe des ehemaligen<br />

Hamburger SPD-Finanzsenators Klaus<br />

Foto: Claas relotius für <strong>Cicero</strong><br />

84 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Adolfo Ajero arbeitet im<br />

„Eisschrank“. In dem Gebäude mit<br />

der besten Klimaanlage Havannas<br />

gehören seiner Beratungsgesellschaft<br />

schon zwei Etagen<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 85


| K a p i t a l<br />

Gobrecht entwickelt, umfasst gerade mal<br />

70 Artikel. Anwendung finden die Regelungen<br />

erst jetzt, weil durch die „stille Revolution<br />

des Kapitals“ eine kubanische Privatwirtschaft<br />

entsteht.<br />

So wächst mit der Zahl der Selbstständigen<br />

auch die Nachfrage nach Beratung,<br />

und der Name Ajero spricht sich herum.<br />

Hostalbesitzer, Schreinermeister oder einfache<br />

Schuhputzer aus ganz Havanna kommen<br />

nun zu ihm, und aus dem Büro am<br />

Küchentisch entstand ein boomendes kubanisches<br />

Beratungsunternehmen. Im<br />

letzten halben Jahr warf Ajeros Firma fast<br />

20 000 Dollar ab – mehr als er zuvor in<br />

seinem ganzen Leben als Fahrlehrer verdiente.<br />

Er kann einen in Verzweiflung stürzen<br />

und manchmal doch so süß schmecken,<br />

der Kapitalismus.<br />

Als die ersten Entlassungen verkündet<br />

wurden, hielt Präsident Raúl Castro gemeinsam<br />

mit seinem Bruder und Amtsvorgänger<br />

Fidel eine Fernsehansprache.<br />

Wenn sich jeder mit Kraft und Schweiß<br />

für das Land zerreiße, beschworen die Castros,<br />

dann werde das neue Kuba keine gänzlich<br />

andere Welt sein – nur „más bonito“,<br />

noch schöner. Rund um die Uhr zeigten<br />

alle Sender tagelang das neue Evangelium<br />

der Castros.<br />

Für Ajero hat sich die frohe Botschaft<br />

erfüllt. Und auf der ganzen Insel ist eine<br />

Art Goldgräberstimmung spürbar. An der<br />

Universität von Havanna lernen bereits<br />

heute 400 Studenten, wie man Geschäftspläne<br />

erstellt, Güter auf den Markt bringt<br />

und Profit maximiert. Aktivitäten, die<br />

noch vor kurzem als konterrevolutionäre<br />

Straftaten galten, für die man auf direktem<br />

Weg ins Gefängnis wanderte. Kubas<br />

Machthaber bezeichnen die Bankrotterklärung<br />

der eigenen Politik als bloße „Aktualisierung“<br />

des Sozialismus. Was sie dabei<br />

verschweigen: Richtig attraktiv ist der freie<br />

Markt bisher vor allem für ausländische Investoren,<br />

die mit Privatflugzeugen und Aktenkoffern<br />

voll Dollarscheinen aus Miami<br />

kommen, um zu Schnäppchenpreisen Bauflächen<br />

und Immobilien zu kaufen.<br />

Kubas Machthaber bezeichnen<br />

den Bankrott ihrer Politik als<br />

„Aktualisierung“ des Sozialismus<br />

Für die Mehrheit der Einheimischen<br />

ist der Alltag dagegen mehr denn je zum<br />

Überlebenskampf geworden. Am Ende der<br />

Avenida Salvador Allende, einer der pulsierenden<br />

Hauptverkehrsadern Havannas, haben<br />

Hunderte junge und alte Kubaner, die<br />

noch vor gut einem Jahr als Handwerker,<br />

Taxifahrer oder Elektriker auf der staatlichen<br />

Gehaltsliste standen, ihre Stände aufgebaut.<br />

Haushaltsgeräte, Kleider, Hüte,<br />

Bücher, Schallplatten, Handys, Unterwäsche,<br />

Klobrillen, Kondome, an den Ständen<br />

auf der Plaza Conquistador liegt alles<br />

aus, was ein paar Pesos verspricht. Dazwischen<br />

ziehen schwitzende Gemüsehändler<br />

mit ihren Holzschubkarren durch die<br />

Straßen.<br />

Der lauteste unter den durcheinanderschreienden<br />

Händlern ist Joel, 36, weit<br />

aufgeknöpftes Hemd, ein Gesicht wie der<br />

junge Charles Bronson. „Ofertas, Ofertas!“<br />

<strong>Die</strong> Stimme krächzt, doch Joel jagt weiter<br />

wie ein Irrwisch vor seinen Stellwänden mit<br />

CDs auf und ab. Wo er die Sachen herbekommt,<br />

die er verkauft? „Von Roberto“,<br />

sagt Joel. Kubas gängigster Vorname ist unter<br />

Havannas Kleinunternehmern zum Synonym<br />

für einen Händler geworden, den<br />

es gar nicht gibt. „Von Roberto“ heißt so<br />

viel wie illegal – so beschaffen sich hier die<br />

meisten ihr schmales Angebot, um irgendwie<br />

zu überleben.<br />

„Als Selbstständiger musst du ein Chamäleon<br />

sein“, sagt Joel, und doch: „Sogar<br />

das beste Chamäleon braucht etwas, um<br />

den Motor zum Laufen zu bringen.“ Es<br />

ist diese Erkenntnis, welche die Leute hier<br />

eint: Der Kapitalismus funktioniert nur,<br />

wenn man auch Kapital hat. Den meisten<br />

Kleinfabriken, Werkstätten oder Handwerksbetrieben<br />

mangelt es an Maschinen<br />

und Material.<br />

„Es ist wie eine Schlinge um deinen<br />

Hals“, sagt Joel. „Wenn du nichts besitzt,<br />

lässt dich das neue System ins Leere fallen<br />

und bricht dir das Genick.“<br />

Der Erfolg von Ajero, dem Steuerberater,<br />

und die gleichzeitige Misere Joels –<br />

Welten scheinen dazwischen zu liegen und<br />

doch sind beides unmittelbare Folgen der<br />

Reformen. Ist das gerecht? Was bedeutet<br />

Gleichheit? Was Freiheit? Und: Wiegt Freiheit<br />

mehr als Sicherheit?<br />

In der Bar La Floridita, in welcher der<br />

Legende nach Hemingway den Daiquiri<br />

für sich entdeckte, sitzt der Ökonom Oscar<br />

Espinosa Alvarez, 46, an der holzvertäfelten<br />

Bar. Er stochert in seinem ersten Drink seit<br />

14 Monaten. So lange saß er im Gefängnis,<br />

weil er auf dem Höhepunkt der Krise im<br />

kubanischen Fernsehen gefragt hatte, wie<br />

es sein könne, dass eine Bananenrepublik<br />

nicht in der Lage sei, der darbenden Bevölkerung<br />

wenigstens ausreichend Bananen<br />

zur Verfügung zu stellen?<br />

Er leugnet nicht, dass die Reformen<br />

genau hier ansetzen und bereits erste Erfolge<br />

erkennbar sind. Seit kubanische Bauern<br />

ihr eigenes Land bewirtschaften dürfen,<br />

steigt die Produktivität, die Versorgungssituation<br />

entspannt sich. Und doch bebt<br />

Wut in Espinosas Stimme, wenn er über<br />

den Einzug des Kapitalismus in seiner Heimat<br />

spricht.<br />

„Das Land steht am Scheideweg, und<br />

die Frage ist, was wir Kubaner in Zukunft<br />

wollen“, sagt er. „Den zügellosen Individualismus<br />

der Amerikaner, bei denen die<br />

Armen weder Bildung noch Medikamente<br />

bekommen? Das rastlose Wachstum der<br />

Chinesen, die gleichzeitig ihre Umwelt ruinieren?<br />

Oder die Bankendiktatur Europas,<br />

die euer ganzes System kollabieren<br />

lässt?“<br />

Über solche Fragen zerbricht sich<br />

Adolfo Ajero nicht den Kopf. Er will expandieren.<br />

Erst kürzlich verabschiedete<br />

die Regierung ein Lohnsteuergesetz, das<br />

ab sofort alle Kubaner zur Kasse bitten<br />

wird. „Eine Riesenchance für mich“, sagt<br />

Ajero, doch er weiß auch: <strong>Die</strong> Konkurrenz<br />

schläft nicht. Weil das Geschäft mit den<br />

Steuern so lukrativ ist, werden Beratungsfirmen<br />

in Havanna schon bald wie Pilze aus<br />

dem Boden schießen. Dann gehe es darum,<br />

effizienter zu arbeiten und leistungsstärker<br />

zu sein als die anderen. „Wer das beste Angebot<br />

hat, entscheidet nicht mehr die Regierung“,<br />

sagt Ajero. Es entscheidet allein<br />

der Markt.<br />

Claas Relotius<br />

berichtet als freier<br />

Auslandsreporter regelmäßig<br />

aus Lateinamerika<br />

Foto: Philipp Wieland<br />

86 <strong>Cicero</strong> 7.2013


DAS GANZE SEHEN –<br />

MIT DER NEUEN CAPITAL<br />

Bio, Bauern und Bonanza – die Energiewende ist ein großes Projekt.<br />

Und eine große Geldmaschine. Alle zahlen, einige wenige werden reich.<br />

<strong>Die</strong> ganze Geschichte erzählt die neue Capital.


| K a p i t a l | M i l l i a r d ä r e<br />

„Deutsche UnternehmeR<br />

sind zu verklemmt“<br />

Drogerieketten-Inhaber Dirk Rossmann fordert einen höheren Spitzensteuersatz, hält<br />

die neue Rundfunkgebühr für unsinnig und findet Uli Hoeneß‘ Verhalten gefährlich<br />

„Wenn man das<br />

Glück hat, sehr viel<br />

Geld zu verdienen,<br />

dann erwächst<br />

daraus eine Pflicht,<br />

sich gesellschaftlich<br />

einzubringen“<br />

Foto: Silke Kirchhoff für <strong>Cicero</strong><br />

88 <strong>Cicero</strong> 7.2013


H<br />

err Roßmann, warum werden<br />

Eigentümer von Drogerieketten<br />

so häufig verhaltensauffällig?<br />

Wie kommen Sie denn darauf?<br />

Götz Werner propagiert seit Jahren die<br />

Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens,<br />

Anton Schlecker geht als<br />

Marktführer wortlos pleite, und Sie fordern<br />

mitten im Bundestagswahlkampf höhere<br />

Steuern für Reiche?<br />

Sie haben insofern recht, dass Götz Werner<br />

und ich uns häufiger in gesellschaftliche<br />

Debatten einmischen. Ich bin zwar<br />

in keiner Partei Mitglied, aber ich war<br />

schon immer ein politischer Mensch,<br />

der mitdenken und mitgestalten wollte.<br />

Wenn man das große Glück hat, erfolgreich<br />

zu sein und sehr viel Geld im Leben<br />

zu verdienen, dann erwächst daraus<br />

für mich auch eine Pflicht, sich gesellschaftlich<br />

einzubringen und sein Gesicht<br />

zu zeigen.<br />

Also handelt es sich nicht um eine geschickte<br />

Marketingmaßnahme oder das<br />

Ausleben eines Rampensau-Gens?<br />

Quatsch, glauben Sie ernsthaft, dass das<br />

Unternehmen Rossmann davon profitiert<br />

hat, als ich mich für den damaligen Bundespräsidenten<br />

Christian Wulff eingesetzt<br />

habe? Von den 1000 Zuschriften, die ich<br />

bekam, waren 800 vernichtend und nur<br />

200 positiv.<br />

Warum haben Sie es dann getan?<br />

Ich habe mich einfach über die Art der<br />

Berichterstattung aufgeregt. Das war für<br />

mich ein Schockerlebnis, diese Hetzjagd,<br />

die die Medien veranstaltet haben.<br />

Es ging mir dabei gar nicht so sehr um<br />

Wulff, der mit Sicherheit auch Fehler gemacht<br />

hat. Aber Sie müssen das doch<br />

nur mal mit dem Fall Hoeneß jetzt vergleichen,<br />

der Steuern in Millionenhöhe<br />

hinterzogen hat. Ich kann nicht erkennen,<br />

dass dazwischen irgendwie differenziert<br />

wird, obwohl es bei Wulff um wesentlich<br />

kleinere Beträge ging. <strong>Die</strong> Frage,<br />

die mich aber noch viel mehr beschäftigt:<br />

Warum mischen sich so wenige Unternehmer<br />

in Deutschland öffentlich ein?<br />

Haben Sie eine Theorie?<br />

Ja, ich glaube, viele Unternehmer in<br />

diesem Land sind zu schüchtern und<br />

vielleicht ein bisschen zu verklemmt.<br />

Meinen Sie das ernst?<br />

Ja, Politiker und Schauspieler müssen<br />

sich zwangsläufig ins Scheinwerferlicht<br />

der Öffentlichkeit begeben, um ihre Berufe<br />

ausüben zu können. Ich kenne aber<br />

viele Unternehmer, die als Person kein<br />

besonders ausgeprägtes Selbstbewusstsein<br />

haben. <strong>Die</strong> definieren sich nur über<br />

ihr Unternehmen, ihren Maschinenpark,<br />

ihr Vermögen, über das, was sie geschaffen<br />

haben. In diesem abgegrenzten Bereich<br />

gegenüber ihren Mitarbeitern oder<br />

am Verhandlungstisch treten sie auch<br />

sehr selbstsicher auf. In der Öffentlichkeit<br />

aber sind viele von ihnen unsicher,<br />

weil sie mit direkter Kritik nicht umgehen<br />

können. Das sind sie von ihren Mitarbeitern<br />

nicht gewohnt. Ich habe damit<br />

auch zu spät angefangen und musste den<br />

Umgang mit der Öffentlichkeit und den<br />

Medien erst mühsam erlernen.<br />

Haben die Reichen in Deutschland nicht<br />

viel mehr Angst vor Neid als ein Problem<br />

mit ihrem Selbstbewusstsein?<br />

Mag sein, dass auch Neid eine Rolle<br />

spielt. Wenn ich im Ausland bin, stelle<br />

ich aber ohnehin immer wieder fest, dass<br />

wir eine völlig verzerrte Selbstwahrnehmung<br />

haben. Nach einer aktuellen BBC-<br />

Umfrage ist Deutschland das beliebteste<br />

Land der Welt. Wir genießen also großes<br />

Ansehen in der ganzen Welt, aber<br />

das spiegelt sich in der Grundstimmung<br />

in Deutschland nicht wider. Es geht mir<br />

auch nicht um eine Nivellierung. Ich bin<br />

dafür, dass es Unterschiede gibt, und bin<br />

dagegen, dass alle das gleiche Gehalt bekommen<br />

und alle in identischen Häusern<br />

Dirk RoSSmann gründete 1972 den ersten<br />

Drogeriemarkt mit Selbstbedienung<br />

in Deutschland. Im vergangenen Jahr erzielte<br />

das Unternehmen des 66-Jährigen<br />

einen Rekordumsatz von 5,9 Milliarden<br />

Euro, eine Steigerung von 16,1 Prozent.<br />

Nach der Pleite des Marktführers Schlecker<br />

2012 ist Roßmann die Nummer zwei<br />

auf dem deutschen Drogeriemarkt hinter<br />

dm. Er beschäftigt 36 000 Mitarbeiter<br />

in 2776 Filialen, 1754 davon in Deutschland.<br />

Sein Vermögen wird auf 1,5 Milliarden<br />

Euro geschätzt.<br />

til<br />

wohnen. Wenn die Schere zwischen den<br />

Reichen und den Armen aber immer<br />

weiter auseinanderklafft, ist das gefährlich.<br />

Wenn die Reichen sich dann auch<br />

nicht mehr an Gesetze halten, wie es der<br />

Fall Uli Hoeneß zeigt, der eigentlich ein<br />

Sympathieträger ist, macht das eine Gesellschaft<br />

fragil. Ich bleibe dabei: Wer<br />

mehr hat, der trägt auch eine höhere Verantwortung<br />

für den Zusammenhalt der<br />

Gesellschaft.<br />

Womit wir bei Ihren Steuervorschlägen<br />

wären. Sie setzen sich für eine Erhöhung<br />

des Spitzensteuersatzes von 42 Prozent<br />

auf 49 Prozent ein. Warum wollen Sie<br />

mehr Steuern zahlen?<br />

Ich kenne einige vermögende Menschen.<br />

Acht von zehn reichen Leuten haben kein<br />

Problem mit der Idee, höhere Einkommenssteuer<br />

zahlen zu müssen. <strong>Die</strong> sehen<br />

das locker und liegen wegen der Reichensteuer<br />

schon jetzt bei einem Steuersatz<br />

von 45 Prozent.<br />

<strong>Die</strong> Grünen haben einen ähnlich lautenden<br />

Vorschlag in ihrem Wahlprogramm: Ab<br />

60 000 Euro soll man 45 Prozent zahlen,<br />

ab 80 000 Euro dann 49 Prozent. Sind<br />

diese Grenzen sinnvoll?<br />

Ich halte sie für etwas niedrig, aber ich<br />

werde mich jetzt nicht von Ihnen auf einen<br />

bestimmten Betrag festnageln lassen.<br />

<strong>Die</strong> Grenzen muss die Politik selbst<br />

festlegen.<br />

Haben Sie noch weitere Vorschläge?<br />

<strong>Die</strong> Steuer auf Zinserträge sollte von<br />

25 Prozent auf 30 Prozent erhöht werden.<br />

Bei den Krankenkassen sollte man überlegen,<br />

ob nicht alle verpflichtet werden,<br />

in die gesetzliche Krankenkasse einzuzahlen.<br />

Es hindert mich doch keiner, darüber<br />

hinaus auch noch private Zusatzversicherungen<br />

abzuschließen. Wenn jeder einzahlen<br />

muss, ließe sich der Beitragssatz<br />

von 14 Prozent auf 10 Prozent senken.<br />

Also Bürgerversicherung und höhere<br />

Zinsertragssteuer, das stammt jetzt aus<br />

dem SPD-Wahlprogramm. Wollen Sie<br />

auch einen Mindestlohn von 8,50 Euro<br />

netto, wie Sozialdemokraten und Grüne<br />

ihn fordern?<br />

Ich bin nicht gegen Mindestlöhne, solange<br />

dadurch keine Arbeitsplätze gefährdet<br />

werden. Bei uns verdient eine<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 89


| K a p i t a l | M i l l i a r d ä r e<br />

Verkäuferin im Monat etwa 2100 Euro<br />

brutto je nach Betriebszugehörigkeit. Das<br />

macht bei 150 Stunden im Monat einen<br />

Bruttolohn von 14 Euro. Damit liegt sie<br />

netto auch noch über den 8,50 Euro.<br />

Eben haben Sie noch Christian Wulff verteidigt,<br />

jetzt klingt es so, als wünschten<br />

Sie sich eine Neuauflage der rot-grünen<br />

Koalition?<br />

Unsinn, ich vertrete vor allem bei den<br />

Themen Vermögens- und Erbschaftssteuer<br />

ganz andere Ansichten als die SPD<br />

und die Grünen.<br />

Eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer<br />

lehnen Sie demnach ab?<br />

Davon halte ich überhaupt nichts, auch<br />

wenn selbst deren Befürworter das Betriebsvermögen<br />

davon ausnehmen wollen.<br />

Das linke Spektrum stellt sich das<br />

aber immer zu leicht vor. <strong>Die</strong> Abgrenzung<br />

von Privat- und Betriebsvermögen<br />

ist wahnsinnig kompliziert. Experten gehen<br />

davon aus, dass allein der Verwaltungsaufwand<br />

für die Erhebung einer<br />

Vermögenssteuer so hoch wäre, dass am<br />

Ende kaum etwas von den zusätzlichen<br />

Steuereinnahmen übrig bleiben würde.<br />

Das haben früher auch SPD und Grüne<br />

gewusst und unter Bundeskanzler Gerhard<br />

Schröder von einer Wiedereinführung<br />

abgesehen.<br />

Und für die Erbschaftssteuer gilt das<br />

ebenfalls?<br />

Wir haben ein sehr vernünftiges Erbschaftssteuerrecht<br />

in Deutschland mit einem<br />

Regelsteuersatz von 30 Prozent. Es<br />

gibt seit der Steuerreform 2008 die Möglichkeit,<br />

beim Übertragen eines Unternehmens<br />

auf die nächste Generation die<br />

Zahlung der Steuer zu vermeiden, wenn<br />

die Erben den Betrieb mindestens zehn<br />

Jahre weiterführen. Wer das ändern will,<br />

macht einen Fehler, weil dann die Substanz<br />

der Unternehmen besteuert wird.<br />

Daran kann keiner ein Interesse haben,<br />

weil dadurch viele Arbeitsplätze gefährdet<br />

werden.<br />

Also wünschen Sie sich eine neue Große<br />

Koalition?<br />

Es kommt nicht darauf an, was ich mir<br />

wünsche. Ich kann nur sagen, dass die<br />

Regierung Schröder und die Große Koalition<br />

unter Bundeskanzlerin Angela<br />

„Wie wichtig die<br />

Steuerreform für<br />

Unternehmen<br />

war, hat die Krise<br />

gezeigt. Mit dem<br />

alten Steuerrecht<br />

wären die Firmen<br />

reihenweise<br />

kollabiert“<br />

Merkel kluge und weitsichtige Unternehmenssteuerreformen<br />

durchgeführt haben.<br />

Davor war es gerade für Familienunternehmen<br />

schwierig, Eigenkapital<br />

für die Firma zu bilden. Als Exportland<br />

brauchen wir aber dringend finanziell gesunde<br />

Firmen, die investieren können,<br />

um international wettbewerbsfähig zu<br />

bleiben. Wie wichtig die Reformen waren,<br />

hat die Wirtschaftskrise gezeigt. Nur<br />

weil die Firmen vorher etwas Speck ansetzen<br />

konnten, sind wenige in die Insolvenz<br />

gegangen, als plötzlich die Aufträge<br />

wegbrachen. Mit dem alten Steuerrecht<br />

wären die Unternehmen in der Krise reihenweise<br />

kollabiert. So schnell hätten Sie<br />

gar nicht berichten können.<br />

Sie engagieren sich seit mehr als 20 Jahren<br />

mit Ihrer Stiftung Weltbevölkerung als<br />

Entwicklungshelfer in Ostafrika. Warum<br />

stecken Sie nicht mehr Geld in diesen<br />

Bereich, statt eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes<br />

zu fordern?<br />

Für mein soziales Engagement suche ich<br />

mir Bereiche, wo ich mit relativ geringem<br />

finanziellen Aufwand viel erreichen<br />

kann. Viele Menschen haben keinen<br />

Zugang zu Verhütungsmitteln, dabei<br />

kostet es nur 13 Euro, ein Paar pro Jahr<br />

damit zu versorgen. Das ist ein Anliegen<br />

der Stiftung Weltbevölkerung, weil wir<br />

dadurch helfen können, unkontrolliertes<br />

Bevölkerungswachstum, Aids, ungewollte<br />

Schwangerschaften und die daraus<br />

resultierenden Probleme zu vermeiden.<br />

In Ordnung, aber warum braucht der<br />

Staat noch mehr Geld? 2013 rechnet<br />

der Staat mit 615 Milliarden Euro an<br />

Steuereinnahmen – das ist Rekord.<br />

Ihr Argument ist bekannt und auch<br />

nicht falsch. Wir sollten immer auch<br />

die Kosten seite im Auge haben. Für<br />

mich ist es auch unfassbar, wie viel Geld<br />

bei Großprojekten wie dem Bau des<br />

Berliner Flughafens oder bei Stuttgart 21<br />

verschwendet wird. Wenn der Bau<br />

unseres <strong>neuen</strong> Zentrallagers plötzlich<br />

das Doppelte kosten würde, könnte ich<br />

mir das nicht leisten. Sie dürfen auf der<br />

anderen Seite aber auch nicht vergessen,<br />

dass die Aufgaben des Staates sehr<br />

vielfältig und breit angelegt sind.<br />

Gilt dasselbe nicht auch für die Aufgaben<br />

des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in<br />

Deutschland. Warum wehren Sie sich mit<br />

Händen und Füßen gegen die Zahlung der<br />

<strong>neuen</strong> Rundfunkgebühr?<br />

Ich erzähle Ihnen jetzt mal, wie das war:<br />

Ich war für ein Wochenende in einem<br />

Wellnesshotel im Spreewald. Abends<br />

guckte ich die „Tagesschau“ und erfuhr<br />

dort, dass die Firma Rossmann gegen die<br />

<strong>neuen</strong> GEZ-Gebühren klagt: „Das ist ja<br />

interessant“, dachte ich.<br />

Sie wussten das gar nicht?<br />

Nein, wir sind hier 20 Personen in der<br />

Geschäftsleitung mit klar abgegrenzten<br />

Kompetenzen. Der zuständige Geschäftsführer<br />

und unsere Anwälte hatten<br />

die Klage eingereicht. Es ist hier nicht<br />

so, dass alle erst loslegen, wenn der Boss<br />

eine Ansage macht. Nach meiner Rückkehr<br />

habe ich mir das erklären lassen und<br />

stehe voll hinter der Entscheidung.<br />

Es soll um Mehrausgaben von etwa<br />

200 000 Euro gehen. Ist das für die Firma<br />

Rossmann nicht mehr tragbar?<br />

Es geht hier überhaupt nicht ums Geld,<br />

sondern, auch wenn das etwas pathetisch<br />

klingen mag, um Gerechtigkeit. Wir<br />

klagen gegen eine unsinnig Regelung,<br />

weil es nicht in Ordnung ist, dass ich<br />

plötzlich für jeden einzelnen Standort<br />

Rundfunkgebühren zahlen soll, obwohl wir<br />

in unseren Filialen weder Radio, Fernsehen<br />

noch Internet haben. Ich werde zu Unrecht<br />

häufig als streitlustig bezeichnet. Ich bin<br />

friedfertig, aber gegen Ungerechtigkeit<br />

habe ich mich schon immer gewehrt.<br />

Das Gespräch führte Til Knipper<br />

90 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Jetzt<br />

im<br />

Handel.<br />

BISMARCK Der preußische Strippenzieher<br />

PAZIFISTEN Begeisterung für den Traum <strong>vom</strong> Frieden<br />

ZEPPELIN <strong>Die</strong> Erfindung der Luftfahrt<br />

www.spiegel-geschichte.de


| K a p i t a l | E s s a y<br />

<strong>Die</strong> Diktatur<br />

der Zukunft<br />

Hochwasser in Deutschland. Hochzeit für<br />

Klimaapokalyptiker. Im Namen unserer Urenkel<br />

verlangen sie, unsere Freiheitsrechte zu opfern.<br />

Ein Plädoyer für den Fortschrittsglauben<br />

von Hans-<strong>Die</strong>ter Radecke und Lorenz Teufel<br />

N<br />

och bis in die 1840er Jahre entführten<br />

Skidi-Pawnee-Indianer<br />

junge Mädchen von Nachbarstämmen<br />

und schlachteten sie<br />

auf einem kunstvoll errichteten<br />

Schafott. <strong>Die</strong>ses Opfer war notwendig, um<br />

die Fruchtbarkeit der Felder für die Zukunft<br />

zu sichern.<br />

Der Glaube, man könne die Zukunft<br />

durch ein Opfer in der Gegenwart günstig<br />

beeinflussen, war (und ist) in vielen Kulturen<br />

verbreitet. <strong>Die</strong> Verbindung zur Zukunft<br />

wird dabei von angesehenen Spezialisten<br />

hergestellt. Sie nennen sich Seher,<br />

Schamanen, Astrologen, Priester – oder<br />

Wissenschaftler.<br />

Im Zuge der Aufklärung übernahm die<br />

Wissenschaft immer häufiger das Geschäft<br />

der Zukunftsprognose. Basierend auf ihren<br />

Vorhersagen definierten die einflussreichsten<br />

Personen der Gesellschaft die Opfer,<br />

Illustration: Rüdiger Trebels c/o Claudia Schönhals<br />

92 <strong>Cicero</strong> 7.2013


die für das Glück der zukünftigen Generationen<br />

erbracht werden mussten. Und<br />

die waren nötig, denn Ende des 19. Jahrhunderts<br />

stand nach übereinstimmender<br />

Meinung der maßgeblichen Experten der<br />

Niedergang der Menschheit oder doch zumindest<br />

bestimmter Teile davon unmittelbar<br />

bevor.<br />

<strong>Die</strong>se Gewissheit basierte auf einem<br />

alternativlosen Wissenskonsens, Darwins<br />

Evolutionstheorie: <strong>Die</strong> Natur war durch<br />

verantwortungsloses menschliches Handeln<br />

aus dem Gleichgewicht geraten. Eine<br />

wachstumsorientierte Sozialpolitik, die der<br />

natürlichen Auslese, Darwins „survival of<br />

the fittest“ entgegenwirkte und auch die<br />

weniger „Fitten“ begünstigte, behinderte<br />

die nachhaltige Entwicklung der Menschheit<br />

und gefährdete den ohnehin brüchigen<br />

Weltfrieden. <strong>Die</strong> Diagnose war eindeutig,<br />

schmerzliche therapeutische Mittel waren<br />

also unumgänglich. „Es muss der menschliche<br />

Artprozess durch die Ausbildung einer<br />

Theorie und Praxis der Eugenik so weit<br />

rationell beeinflusst werden, dass die Fortpflanzung<br />

von konstitutionell Minderwertigen<br />

zuverlässig verhindert wird“, sagte der<br />

gesundheitspolitische Sprecher der SPD<br />

und Reichstagsabgeordnete Professor Alfred<br />

Grotjahn in den zwanziger Jahren.<br />

Ziel einer zukunftsorientierten Politik<br />

konnte es demnach nur sein, die Freisetzung<br />

„schädlichen“ Erbmaterials so weit als<br />

möglich zu verhindern. Der Ausstoß „giftiger“<br />

Erbfaktoren durch den hemmungslosen<br />

Wachstumswahn der weniger „Fitten“<br />

musste zwangsläufig zum Erbgutwandel<br />

und damit zur Verunreinigung der natürlichen<br />

Genosphäre führen.<br />

Viele Staaten suchten ihr Heil im alternativlosen<br />

Wissenschaftskonsens und<br />

setzten auf Genschutzprogramme. Das<br />

vermeintlich hehre Ziel, den Gen-Wandel<br />

aufzuhalten, rechtfertigte auch unorthodoxe,<br />

autoritäre staatliche Eingriffe.<br />

Zwangssterilisierungen, Heiratsverbote für<br />

Epileptiker, Zwangskastrationen für Geistesschwache<br />

waren die Mittel, mit denen<br />

der Genpool transformiert werden sollte.<br />

1933 forderte der Literaturnobelpreisträger<br />

und Sozialist George Bernhard Shaw,<br />

dass eine Zivilisation diejenigen ausrotten<br />

müsse, die den Ansprüchen nicht genügen.<br />

Um den Eugenikgott milde zu stimmen,<br />

war dem Menschheitsfreund kein Opfer<br />

zu groß.<br />

Heute liefert die Klimawissenschaft einen<br />

ähnlich alternativlosen Wissenskonsens:<br />

<strong>Die</strong> globale Durchschnittstemperatur<br />

steigt, und das <strong>vom</strong> Menschen gemachte<br />

CO 2 ist schuld. Wieder werden zum Wohl<br />

zukünftiger Generationen drastische<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 93


| K a p i t a l | E s s a y<br />

Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen vorgenommen.<br />

<strong>Die</strong> Opferung enormer finanzieller<br />

Ressourcen und rücksichtslose Naturzerstörung<br />

durch Flächenverbrauch für<br />

ökonomisch und teilweise auch ökologisch<br />

fragwürdige erneuerbare Energieträger sind<br />

leider nur die Spitze des Eisbergs.<br />

Der Potsdamer Klimaforscher Hans Joachim<br />

Schellnhuber ist gar bereit, die Demokratie<br />

aufzugeben. Er will die Macht<br />

der demokratischen Mehrheit auf „ein paar<br />

wenige Leute, die eine ethische Elite darstellen“,<br />

übertragen. Zusammen mit seinem<br />

Kollegen Stefan Rahmstorf fordert<br />

er eine große Transformation der Gesellschafts-<br />

und Wirtschaftsordnungen. Ziel ist<br />

ein Planwirtschaftssystem, in dem „sämtliche<br />

Planungsmaßnahmen zu Raumordnung,<br />

Stadtentwicklung, Küstenschutz<br />

und Landschaftspflege unter einen obligatorischen<br />

Klimavorbehalt gestellt werden“.<br />

Der amerikanische Klimaforscher<br />

James E. Hansen ruft die chinesischen Despoten<br />

auf, die Menschheit vor dem Klimatod<br />

zu retten. Das kommunistische China<br />

sei die „letzte Hoffnung der Welt“. Weather-Channel-Klimaexpertin<br />

Heidi Cullen<br />

will allen Meteorologen, die die Rolle<br />

des Menschen bei der globalen Erwärmung<br />

leugnen, die berufliche Zulassung<br />

entziehen.<br />

<strong>Die</strong> Beamten im deutschen Umweltbundesamt<br />

bezichtigen Journalisten und<br />

Wissenschaftler, die den „Kenntnisstand<br />

der Klimawissenschaft“ kritisch hinterfragen,<br />

gar der Unfähigkeit und Käuflichkeit.<br />

Elitenherrschaft, Totalitarismus, Berufsverbot<br />

und Pranger, was noch? Um<br />

den Klimagott nachhaltig zu besänftigen,<br />

fehlt eigentlich nur noch das Menschenopfer.<br />

Der Grazer Professor Richard Parncutt<br />

hat diese Lücke geschlossen: Er forderte die<br />

„Todesstrafe für einflussreiche Leugner der<br />

globalen Erderwärmung“. Eine Erklärung,<br />

woher ausgerechnet Parncutt als Musikwissenschaftler<br />

seine Expertise herleitet, blieb<br />

er den Lesern seines Pamphlets schuldig.<br />

Nach heftigen Protesten hat er sich inzwischen<br />

für seine Äußerungen entschuldigt.<br />

Ganz offensichtlich sind viele Menschen<br />

bereit, fast alles zu tun, wenn ihnen<br />

jemand sagt, das Wohl zukünftiger<br />

Generationen hänge davon ab. Sie opfern<br />

Geld, Freiheit und das Leben anderer.<br />

Aus der Geschichte lässt sich dieses<br />

Vertrauen in die Prognosefähigkeit der<br />

Um die<br />

Klimagötter<br />

gnädig zu<br />

stimmen,<br />

fehlt nur noch<br />

der Ruf nach<br />

Menschenopfern<br />

Zukunftsspezialisten nicht ableiten. <strong>Die</strong><br />

Liste falscher Vorhersagen ist lang.<br />

Als Mitte des 19. Jahrhunderts Experten<br />

errechneten, die Straßen New Yorks<br />

würden spätestens 1910 unter Pferdemist<br />

ersticken, da klang diese Prognose durchaus<br />

glaubwürdig. <strong>Die</strong> exzessive Nutzung<br />

des „Rohstoffs“ Pferd musste zwangsläufig<br />

zu Problemen mit den dabei anfallenden<br />

Abfallstoffen führen. <strong>Die</strong> New Yorker<br />

widerstanden der Versuchung, die Innenstadt<br />

zur Umweltzone zu erklären und<br />

nur noch Ponys vor Kutschen zu erlauben.<br />

Auch Mist-Emissionszertifikate blieben ihnen<br />

erspart. Unsere Vorfahren taten etwas,<br />

was in den Modellrechnungen nicht vorkam:<br />

Sie erfanden das <strong>Auto</strong>.<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts erklärte<br />

der Physiker Lord Kelvin in einer „Science<br />

is settled“-Rede die Physik für abgeschlossen:<br />

„Jetzt gibt es nichts Neues mehr in<br />

der Physik zu entdecken. Wir müssen jetzt<br />

nur noch zunehmend genauere Messungen<br />

durchführen.“ Kurz darauf revolutionierten<br />

Quanten- und Relativitätstheorie die<br />

Physik grundlegend und gaben Kelvin der<br />

Lächerlichkeit preis.<br />

<strong>Die</strong> These, wir könnten die Entwicklung<br />

der Wissenschaft oder Menschheit zuverlässig<br />

vorhersagen, ist empirisch nicht<br />

zu begründen und logisch nicht zu beweisen.<br />

Und wie der Philosoph <strong>Die</strong>ter Birnbacher<br />

treffend feststellt, ist „der Glaube an<br />

ein zukünftiges Glück, das durch die Opfer<br />

der Gegenwart ermöglicht wird, durch<br />

nichts belegt. Das Glück der Zukünftigen,<br />

für das der Terror der Gegenwart das unerlässliche<br />

Mittel sein soll, ist kein Ergebnis<br />

wissenschaftlicher Prognostik, sondern<br />

einer den Anspruch der Wissenschaftlichkeit<br />

usurpierenden Prophetie.“<br />

Auch wenn das zweite Jahrhunderthochwasser<br />

innerhalb von elf Jahren und<br />

andere Wetterkatastrophen die Klimaforscher<br />

zu bestätigen scheinen, ist die Treffsicherheit<br />

der bestehenden Modelle zur<br />

Vorhersage des Klimas aus wissenschaftlicher<br />

Sicht von der des reinen Ratens kaum<br />

zu unterscheiden. Denn beim Klima haben<br />

wir es mit einem perfekt chaotischen<br />

physikalischen System zu tun, dessen mittel-<br />

und langfristige Entwicklung prinzipiell<br />

nicht vorhersagbar ist. Dennoch gibt<br />

es nun angeblich einen Klimakonsens, der<br />

mit breiter gesellschaftlicher Zustimmung<br />

als Prognosegrundlage für eine düstere Zukunft<br />

der Menschheit instrumentalisiert<br />

wird und in dessen Namen massive Eingriffe<br />

in die individuelle Freiheit gerechtfertigt<br />

werden.<br />

Für die überwältigende Akzeptanz dieses<br />

herbeigeredeten Menschheitsnotstands<br />

scheinen mehrere nur teilweise bewusste<br />

Prozesse verantwortlich zu sein: <strong>Die</strong> uralte<br />

menschliche Angst vor dem Weltuntergang<br />

erzeugt in Tateinheit mit einer fehlgeleiteten<br />

Wissenschaftsgläubigkeit und<br />

an animistische Vergötterung erinnernde<br />

Naturverklärung ein zivilisationsfeindliches<br />

Gemenge, das die Menschen zu Geißeln<br />

einer virtuellen Zukunft macht, die<br />

nicht weniger von uns verlangt, als dass<br />

wir ihr unsere Art zu leben zum Opfer<br />

bringen.<br />

Bezeichnend ist, dass fast sämtliche geforderten<br />

Maßnahmen zur Vermeidung der<br />

sogenannten Klimakatastrophe auf weniger<br />

Konsum, weniger Wachstum, weniger<br />

Illustration: Rüdiger Trebels c/o Claudia Schönhals<br />

94 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Fotos: Privat (<strong>Auto</strong>ren)<br />

Wohlstand, weniger Markt, weniger individuelle<br />

Freiheit abzielen. Kontrolle und<br />

Beschränkung sind das Ziel. Fast nie ist<br />

die Rede von Kreativität, ergebnisoffener<br />

Forschung oder <strong>neuen</strong> markttauglichen<br />

Technologien. Der eigentliche Feind der<br />

Klimaretter ist nicht das CO 2 . Der Feind<br />

sind Fortschritt und Freiheit. <strong>Die</strong> zukünftigen<br />

Generationen werden missbraucht,<br />

um die eigene Ideologie in der Gegenwart<br />

durchzusetzen. Kritik an dieser Strategie<br />

wird durch eine Erweiterung des Moralbegriffs<br />

auf Menschen, die als Bürger einer<br />

fernen Zukunft dem ihnen zugesprochenen<br />

Rechtsgut noch gar nicht zustimmen<br />

können, regelrecht geächtet.<br />

<strong>Die</strong> Berufung auf das Wohl künftiger Generationen<br />

leidet aber an einer unerträglichen<br />

Selbstherrlichkeit. <strong>Die</strong> ständig erhobenen<br />

Forderungen nach „Gleichgewicht“<br />

und „Nachhaltigkeit“ sind nichts anderes<br />

als der Ausdruck eines stockkonservativen<br />

Denkens, das in letzter Konsequenz<br />

dazu führen würde, unseren Nachfahren<br />

eine ganz bestimmte Lebens- und Denkweise<br />

aufzuzwingen. Woher wissen wir<br />

denn, dass unsere Urenkel dem zustimmen,<br />

was „Ökophilosophen“ als „nachhaltiges<br />

Leben im Gleichgewicht mit der<br />

Natur“ bezeichnen? Wird das, was Nachhaltigkeitsapostel<br />

heute als alternativlose<br />

Handlungsweise verkaufen, jenen Generationen<br />

überhaupt von Nutzen sein? Wer<br />

könnte heute ernst bleiben, wenn unsere<br />

Vorfahren unter großen finanziellen Opfern<br />

sämtliche Planungsmaßnahmen zu<br />

Raumordnung, Stadtentwicklung, Küstenschutz<br />

und Landschaftspflege unter einen<br />

obligatorischen Pferdemistvorbehalt<br />

gestellt hätten?<br />

Freiheit ist die unabdingbare Grundvoraussetzung<br />

für Fortschritt jedweder<br />

Art, insbesondere aber für den wissenschaftlich-technischen.<br />

Nur dort, wo das<br />

Infragestellen von Prämissen, das Bezweifeln<br />

von Folgerungen und das Entwickeln<br />

von Alternativen nicht nur geduldet, sondern<br />

gefördert werden, sind bisher die großen<br />

Wissensdurchbrüche gelungen. Doch<br />

statt nach Fortschritt streben die Propheten<br />

des Untergangs nach Gleichgewicht, statt<br />

Kreativität fordern sie Konsens – ein bestürzendes<br />

Drehbuch für die Rückkehr zur<br />

mittelalterlichen Fortschrittsfeindlichkeit.<br />

Konsens, Kontrolle, Einschränkung<br />

der individuellen Freiheit, Vorsorge durch<br />

Selbstbeschränkung – diese Rezepte für<br />

den Schutz späterer Generationen sind genau<br />

das Gegenteil dessen, was der Menschheit<br />

zu ihrem heutigen Maß an Wohlstand,<br />

Gesundheit, Lebenserwartung und individueller<br />

Selbstentfaltung verholfen hat.<br />

Doch statt dies zu würdigen, wettern die<br />

Prediger der Nachhaltigkeit gegen „übermäßigen<br />

Wohlstand“ und „sinnlosen Luxus“.<br />

Vor menschlichem Wohlergehen wird<br />

gewarnt, zu Risiken und Nebenwirkungen<br />

fragen sie Ihren Nachhaltigkeitsschamanen<br />

oder Klimaseher.<br />

Heute festlegen zu wollen, wie die Bedürfnisse<br />

der Menschen in hundert Jahren<br />

aussehen werden, ist an Überheblichkeit<br />

nicht zu überbieten, es sei denn, wir<br />

setzen das auf Konsensdenken basierende<br />

Stillstandsprogramm unserer Umweltpriester<br />

tatsächlich um.<br />

Aber was gestern noch Abfall war, kann<br />

heute ein wertvoller Rohstoff sein und umgekehrt.<br />

Derzeit zeichnet sich beispielsweise<br />

ab, dass die Transmutations-Technologie<br />

es künftig erlaubt, strahlenden<br />

Reaktorabfall zumindest teilweise in harmlose<br />

Stoffe umzuwandeln und dabei noch<br />

Energie zu gewinnen. Und Unternehmen<br />

wie Planetary Resources planen bereits<br />

die ersten Erkundungsmissionen zu Asteroiden,<br />

deren Metalle und Mineralien die<br />

<strong>vom</strong> Club of Rome 1972 prognostizierten<br />

„Grenzen des Wachstums“ ins Kosmische<br />

erweitern werden. Solche oft als naiver<br />

Fortschrittsglaube geschmähten Projekte<br />

sind in Wahrheit Ausdruck eines liberalen<br />

Humanismus, der den Menschen heute genauso<br />

dient wie künftigen Generationen,<br />

weil er auf ihre Kreativität vertraut.<br />

Unsere Nachkommen werden uns aber<br />

nicht danach beurteilen, wie viel CO 2 wir<br />

eingespart haben, sondern danach, welchen<br />

Spielraum für Freiheit und Entfaltung wir<br />

ihnen gesichert haben. Damit bereiten wir<br />

der Zukunft einen fruchtbaren Boden, nicht<br />

mit kleinkarierten Opfergaben wie CO 2 -<br />

Ablass , Dosenpfand und Biosprit.<br />

Hans-<strong>Die</strong>ter radecke<br />

und Lorenz Teufel<br />

sind studierte Physiker und<br />

Fachjournalisten. Gemeinsam<br />

veröffentlichten sie zuletzt bei<br />

Droemer das Buch „Was zu<br />

bezweifeln war. <strong>Die</strong> Lüge von<br />

der objektiven Wissenschaft“<br />

Anzeige<br />

© Foto Peter Sloterdijk: Axel Heiter; Martin Walser: Philippe MATSAS/Opale<br />

Mehr als schön<br />

ist nichts<br />

Zwei Meinungen über den<br />

Zustand der Welt.<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer<br />

im Gespräch mit Peter Sloterdijk und<br />

Martin Walser.<br />

Sonntag, 29. September 2013, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

29. 9. 2013:<br />

Peter Sloterdijk<br />

& Martin Walser<br />

im Gespräch mit<br />

Frank A. Meyer<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 95


| S t i l<br />

SIE WERDEN ES WOLLEN<br />

Justin O’Shea sitzt als Chefeinkäufer eines Online-Modehändlers an der Schaltstelle eines globalen Geschäfts<br />

von anne Waak<br />

V<br />

OLLBART, bis unters Kinn tätowiert,<br />

das offene Hemd bietet einen<br />

Blick auf das Brusthaar: Justin<br />

O’Shea sieht aus, als spiele er Gitarre in<br />

einer Rockband der wüsteren Sorte. Sein<br />

Job jedoch ist zu wissen, welche Kleider<br />

die sehr modeinteressierten Frauen dieser<br />

Welt kaufen wollen – und zwar bevor die<br />

es selbst auch nur ahnen.<br />

O’Shea ist Buying Director bei dem<br />

Münchner Unternehmen mytheresa.com,<br />

also Chefeinkäufer bei einem der weltgrößten<br />

Online-Versandhändler für Luxusmode.<br />

Als solcher reist der 34-Jährige<br />

eigentlich andauernd von London über Paris,<br />

Mailand und New York, nach Stockholm,<br />

Florenz, Rom und wieder zurück.<br />

Neun Monate des Jahres ist er damit beschäftigt,<br />

neben Moderedakteurinnen und<br />

einschlägigen Promis in den ersten Reihen<br />

der Fashion Weeks zu sitzen und in den<br />

Showrooms der Designer die Stücke der<br />

aktuellen Kollektionen anzuschauen, sie zu<br />

befühlen, auf ihr Verkaufspotenzial hin zu<br />

untersuchen und sie schließlich in großen<br />

Stückzahlen zu bestellen. Wer sich seinen<br />

Beruf anschaut, versteht ein bisschen besser,<br />

wie das globale Geschäft mit der Mode<br />

heutzutage funktioniert.<br />

Denn es sind die Einkäufer der Online-Shops,<br />

die dafür sorgen, dass die <strong>neuen</strong><br />

Kollektionen erhältlich sind, lange bevor<br />

sie in den Modemagazinen gezeigt werden<br />

oder in den Geschäften hängen. <strong>Die</strong><br />

Chefeinkäufer von mytheresa.com, Net-aporter<br />

und Luisaviaroma setzen die Trends.<br />

O’Sheas Kundinnen sitzen in 110 Ländern,<br />

in Argentinien, Australien, Abu<br />

Dhabi – sogar in mehr als ein Dutzend<br />

afrikanischer Länder liefert der Shop. Er<br />

sagt, durch die ständigen Reisen habe er<br />

ein Verständnis dafür entwickelt, wie sich<br />

Frauen in den unterschiedlichen Regionen<br />

der Welt kleiden. Speziell im Nahen Osten<br />

sei es wichtig, den örtlichen Lifestyle einzubeziehen.<br />

„Wenn ich Lanvin kaufe, entscheide<br />

ich mich für lange Kleider oder<br />

größere Größen – weil ich weiß, dass das<br />

Label im streng religiösen Saudi-Arabien<br />

gerade sehr angesagt ist.“<br />

Anders als die Modekritiker ist O’Shea<br />

begeistert von den Kollektionen des Designers<br />

Hedi Slimane für das Pariser Traditionshaus<br />

Saint Laurent. Während die<br />

Süddeutsche Zeitung stänkerte, für die<br />

Frühjahrskollektion hätte Slimane „den alten<br />

Yves mitsamt seinem Le Smoking unter<br />

harte Aufputschmittel gesetzt und ins<br />

Nachtleben von L. A. gezerrt“, sagt der Einkäufer:<br />

„Mir gefällt die Richtung, die die<br />

Marke nimmt.“ Anders als unter Slimanes<br />

Vorgänger Stefano Pilati sei Saint Laurent<br />

nun wiedererkennbar und verständlich.<br />

Der Erfolg gibt ihm recht: <strong>Die</strong> Käuferinnen<br />

lieben die bodenlangen Seidenkleider<br />

und die Schlapphüte aus Filz.<br />

Doch auch der Profi tätigt mal Fehlkäufe.<br />

Erst vor kurzem orderte er eine ordentliche<br />

Anzahl Sneakers eines bekannten<br />

Labels, weil er davon überzeugt war,<br />

dass der Schuh richtig erfolgreich werden<br />

würde. „Aber er hat sich einfach nicht verkauft.<br />

So ist das eben manchmal.“ Vielleicht<br />

sahen die Schuhe auf dem Foto<br />

auch einfach nicht gut genug aus. Beim<br />

Versandhandel entscheidet der erste Blick.<br />

Was nicht sofort gefällt, bestellt die Kundin<br />

nicht. Egal, wo auf der Welt sie vor dem<br />

Bildschirm sitzt.<br />

O’Sheas abenteuerliche Erwerbsbiografie<br />

ist so global wie sein Job. Aufgewachsen<br />

in einem kleinen australischen Dorf, begann<br />

er seine Karriere als Stylist der britischen<br />

Alternative-Rock-Band Snow Patrol.<br />

Mit der befand er sich gerade auf Tour, als<br />

seine Eltern sich scheiden ließen. „Mein<br />

Vater ist ein eher traditioneller Mann, der<br />

keine Ahnung hat, wie man kocht oder<br />

Wäsche wäscht. Ich ging also nach Hause<br />

zurück, um mich eine Zeit lang um ihn zu<br />

kümmern“, sagt O’Shea in einem Englisch,<br />

in dem sich die australische Angewohnheit,<br />

die Melodie am Satz ende fragend anzuheben,<br />

mit der nordamerikanischen Marotte<br />

mischt, möglichst viele Lückenfüller-likes<br />

einzubauen. Vater und Sohn jedenfalls<br />

kauften ein Haus, richteten es ein und<br />

O’Shea brachte seinem Vater bei, wie man<br />

sich eine anständige Mahlzeit zubereitet.<br />

Um, wie er sagt, „die Midlifecrisis meines<br />

Vaters auszuleben“, besorgten sie sich dann<br />

zwei Harley Davidsons. Weil O’Shea senior<br />

in einer Mine arbeitet, verdiente auch<br />

Justin in jenem Jahr sein Geld mit dem<br />

Kupferabbau unter Tage. <strong>Die</strong> Erzählungen<br />

eines Kollegen von Tahitis schwarzen Perlen<br />

führten ihn anschließend in den Südpazifik.<br />

Er stieg in den Perlenhandel ein.<br />

Just als er nach London gegangen war, um<br />

eine eigene Schmuckkollektion aufzuziehen,<br />

kam er zu seinem ersten Job als Einkäufer<br />

für ein Modegeschäft. Nach London<br />

folgten Amsterdam und Kuwait, bis<br />

er vor drei Jahren schließlich bei seinem<br />

jetzigen Arbeitgeber in München landete.<br />

<strong>Die</strong> Stadt, in der er lediglich drei Monate<br />

im Jahr verbringt, sagte ihm lange<br />

nicht zu. Bis er sich in seine Kollegin Veronika<br />

Heilbrunner verliebte. <strong>Die</strong> beiden<br />

sind so etwas wie das coole Powercouple<br />

der Mode. Meistens prägen sein<br />

Gesicht zwei steile Falten zwischen den<br />

Augenbrauen, aber wenn O’Shea von<br />

seiner Freundin spricht, hellt sich seine<br />

Miene auf.<br />

Er selbst trägt im Grunde seit Jahren das<br />

gleiche Outfit: maßgeschneiderte Dreiteiler<br />

des schwedischen Labels Acne und Prada-<br />

Schuhe. Dazu eigens für ihn angefertigte<br />

Sonnenbrillen, hinter denen er seine jetlagmüden<br />

Augen versteckt. Wie das ruhige<br />

Auge des Orkans, der zweimal jährlich die<br />

Laufstege, Magazine und Shops umwälzt,<br />

setzt der Mann, der die Trends steuert, modisch<br />

vor allem auf: Beständigkeit.<br />

Anne Waak<br />

ist freie <strong>Auto</strong>rin, schreibt am<br />

liebsten über Mode und Pop und<br />

lebt in Berlin<br />

Fotos: Gerhardt Kellermann, Joachim Bessing (<strong>Auto</strong>rin)<br />

96 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Stücke, die<br />

Justin O’Shea für<br />

mytheresa.com<br />

einkauft, haben<br />

eine realistische<br />

Chance, Trend<br />

zu werden<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 97


| S t i l<br />

„ICH heule immer“<br />

Fiona Leahy, die gefragteste Hochzeitsplanerin der Briten, erzählt, worauf es am großen Tag ankommt<br />

F<br />

rau Leahy, kann man Hochzeiten<br />

überhaupt bis zum letzten Detail<br />

durchplanen? Am Ende ruiniert<br />

ein betrunkener Onkel mit einer spontanen<br />

Rede die Stimmung.<br />

Natürlich nicht. Ich würde dem betrunkenen<br />

Onkel übrigens nie verbieten zu<br />

reden. Hochzeiten brauchen auch diese<br />

peinlichen Momente. Trotzdem blockiert<br />

der Gedanke an unkalkulierbare Familienmitglieder<br />

viele Paare schon bei der<br />

Planung. Ich versuche, das aufzulockern.<br />

Also einfach ohne die Familie abhauen?<br />

<strong>Die</strong> romantischste Hochzeit, die ich je<br />

geplant habe, war die Flucht eines Londoner<br />

Paares, das komplett ohne Gäste<br />

sein wollte. Sie fand im New Yorker<br />

Gramercy Park statt, einem Privatpark.<br />

Nur Priester und Trauzeuge waren anwesend,<br />

nicht mal ich durfte dabei sein.<br />

Für welche Hochzeit haben Sie bisher den<br />

meisten Aufwand betrieben?<br />

Das war für die königliche Familie von<br />

Katar, mitten in der Wüste. Traditionell<br />

feiern Frauen und Männer dort die<br />

meiste Zeit getrennt. Ich habe die Party<br />

für die 1000 Frauen organisiert. „Marie<br />

Antoinette“ war das Thema für die Dekoration.<br />

Das war kurz nach dem Film<br />

von Sofia Coppola, übrigens eine Idee<br />

der Braut.<br />

Veranstalten Sie nur Hochzeiten für Berühmtheiten<br />

und Majestäten?<br />

Überhaupt nicht. <strong>Die</strong> Stimmung ist sowieso<br />

viel besser, wenn unter hundert<br />

Leute anwesend sind. Und wenn das Paar<br />

nicht versucht, seine Gäste zu beeindrucken,<br />

sondern sich auf seine Gefühle füreinander<br />

konzentriert.<br />

Weinen Sie auf Hochzeiten Ihrer Klienten?<br />

Immer. Ich lerne ja die Paare und andere<br />

Familienmitglieder oft gut kennen. Der<br />

Moment, wenn die Braut zum Altar läuft<br />

und der Bräutigam sie zum ersten Mal<br />

sieht, ist immer magisch. 80 Prozent meiner<br />

Kunden heiraten übrigens kirchlich.<br />

Amerikanische Filme zum Thema Hochzeiten<br />

haben im Kino Hochkonjunktur.<br />

Was ist das Faszinierende an Junggesellenabschieden,<br />

Polterabenden und einem<br />

Vorbereitungsmarathon?<br />

Es spitzt sich alles auf einen Tag zu. Der<br />

Spannungsbogen steigt, ständig kann etwas<br />

schiefgehen. <strong>Die</strong> Amerikaner beweisen<br />

in ihren Filmen viel Selbstironie. Dabei<br />

ist die dortige Hochzeitsindustrie<br />

sehr dogmatisch, alles ist ritualisiert. <strong>Die</strong><br />

meisten Bräuche, von den gleichen Outfits<br />

für die Brautjungfern über reportageartig<br />

gestaltete Hochzeitsfotografie und<br />

personalisierte Gastgeschenke, sind längst<br />

in Europa angekommen.<br />

Das dürfte Sie als Planerin ja nicht nerven.<br />

Es nervt dann, wenn kein Raum für Zufälle<br />

bleibt. Da sind britische Hochzeiten<br />

oft wesentlich entspannter. Natürlich<br />

hilft der britische Humor dabei. Spontanreden<br />

und ein hysterisch lachendes<br />

Publikum kann man nicht planen.<br />

Es sei denn, man bucht Hugh Grant als<br />

Trauzeugen.<br />

Ich kenne einen Mann, der auf mehreren<br />

britischen Hochzeiten, die ich organisiert<br />

habe, sensationell komische Reden<br />

gehalten hat. Er war von verdächtig vielen<br />

Männern zum Trauzeugen gemacht<br />

worden, obwohl nicht jedes Mal eine<br />

tiefe, langjährige Freundschaft der Auslöser<br />

gewesen sein kann. Selbst ich hätte<br />

ihn gerne als Trauzeugen, wenn ich so darüber<br />

nachdenke.<br />

Eine Praktikantin Ihres Teams hat im<br />

Internet beklagt, sie hätte bei Ihnen zwei<br />

Wochen lang nur gebastelt.<br />

Das war wahrscheinlich für die Hochzeit<br />

in Aserbaidschan. Wir haben Wände<br />

und Decken mit Papierblumen verkleidet.<br />

30 Leute haben in meinem Londoner<br />

Studio tagelang gebastelt. Später haben<br />

wir die Blumen nach Aserbaidschan geschickt.<br />

Ich mag visuelle Dekadenz, sie<br />

darf nur nicht vulgär wirken.<br />

Gibt es auch simple Tipps, die man ohne<br />

Hochzeitsplaner umsetzen kann?<br />

Eine gute Sitzordnung verrät einen sensiblen<br />

Gastgeber. Ich trenne Paare gerne,<br />

setze sie aber immer an den gleichen<br />

Tisch. Man sollte nicht krampfhaft Gäste<br />

mischen, die sich nicht kennen. Smalltalk<br />

kann so anstrengend sein. Und bitte: Singles<br />

sollte man immer ermutigen, einen<br />

Freund oder eine Freundin mitzubringen.<br />

Ein Fest der Liebe alleine zu überstehen,<br />

kann deprimierend sein. Redebeiträge<br />

würde ich vorher zeitlich begrenzen, auch<br />

wenn es hart klingt.<br />

Man ist den Gästen ja auch etwas schuldig.<br />

Immerhin reisen sie an, buchen ein<br />

Hotel und kaufen noch ein Geschenk.<br />

Im Idealfall reisen die Gäste mit einem<br />

guten Gefühl wieder ab. Sowohl die<br />

Braut als auch der Bräutigam sollten ein<br />

paar ausgewählte Worte an sie richten,<br />

kein spontanes Dahingeplänkel. Neulich<br />

war ich auf einer Landhochzeit. Es<br />

gab Schaukeln, auch für die Erwachsenen,<br />

mehrere Lagerfeuer und Ruderboote<br />

am See. Alle fühlten sich wie Kinder. Das<br />

schafft Intimität.Wenn sich fremde Menschen<br />

gemeinsam amüsieren und ein<br />

Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht,<br />

dann ist das ein Zeichen für ein gelungenes<br />

Fest. Selbst wenn sie sich danach nie<br />

mehr wiedersehen.<br />

Für welches Brautpaar würden Sie gerne<br />

eine Hochzeit veranstalten?<br />

Für Arthur Miller und Marilyn Monroe.<br />

Auch wenn es dann geknallt hat. Ob die<br />

Ehe hält oder nicht, sehe ich am großen<br />

Tag leider immer noch keinem Paar an.<br />

Das Gespräch führte Lena Bergmann<br />

Foto: Courtesy Curio Magazine<br />

98 <strong>Cicero</strong> 7.2013


„Hochzeiten brauchen auch<br />

Peinlichkeiten“ – Fiona<br />

Leahys Buch „Just Married“<br />

erscheint diesen August<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 99


| S t i l | K l e i d e r o r d n u n g<br />

Warum ich trage, was ich trage<br />

SAMUEL FINZI, SCHAUSPIELER<br />

F<br />

ASSEN SIE MAL AN. Fast so weich<br />

wie Samt, man nennt es Babycord.<br />

Von weitem sieht man nicht einmal,<br />

dass es Cord ist. Groben Cord ordnet<br />

man schnell einer bestimmten Art<br />

von Menschen zu. Er ist normalerweise<br />

schlabbrig und spießig. <strong>Die</strong>ser Baldessarini-Anzug<br />

ist eng und elegant geschnitten.<br />

Trotzdem ist er bequem, mein Körper<br />

fühlt sich wohl. Es ist mir wichtig, dass sich<br />

das Kleidungsstück sofort dem Körper anpasst.<br />

Dass es organisch wirkt.<br />

Ich mag Widersprüchliches, das schafft<br />

Lebendigkeit. Ich habe mich nie einem bestimmten<br />

Stil zugeordnet. Heute trage ich<br />

zum Beispiel diese genähten Lederschuhe<br />

von Riccardo Cartillone aus Berlin. Dabei<br />

würde man zum dunkelblauen Anzug<br />

eher dunkle Schuhe erwarten. <strong>Die</strong> Farbe<br />

des Anzugs begeistert mich. Ein Blau, das<br />

fast schwarz ist. Ich glaube, Blau steht mir.<br />

Kann auch sein, dass ich mir das einbilde.<br />

Das begann schon als Kind, ich verbinde<br />

es mit dem Meer, mit der Weite. Dort habe<br />

ich viel Zeit verbracht. Ich könnte meinen<br />

ganzen Schrank mit hellblauen Hemden<br />

und dunkelblauen T-Shirts füllen. Früher<br />

habe ich Wert auf Vielfalt gelegt. Jetzt weiß<br />

ich, was gut ist, was ich tragen kann. Durch<br />

die Reduktion komme ich zur Essenz.<br />

Ich zog 1989 von Bulgarien nach Westberlin.<br />

Das war ein besonderer Ort, man<br />

trug Klamotten anders, präsentierte die<br />

Härte des Lebens, musste draufhauen, exzentrisch<br />

sein. Ich habe mir gleich eine<br />

schwarze Lederjacke angeschafft. Und<br />

heute trage ich Babycord. Ich kann mir<br />

vorstellen, dass man sich damit gern umarmen<br />

lässt. Ich kann Menschen gut in den<br />

Arm nehmen. Hierzulande streichelt oder<br />

klopft man sich oft den Rücken bei der<br />

Begrüßung. Ich kann das nicht leiden, das<br />

zeugt alles von Angst, Angst vor Berührung.<br />

Mein silbernes Armband trage ich seit<br />

25 Jahren. Wenn ich es verlieren sollte,<br />

wüsste ich nicht weiter. Schon in der Schule<br />

hatte ich einen Hang zu Armbändern.<br />

Mein erstes habe ich mir mit neun Jahren<br />

gekauft, bei einer dieser kitschigen Buden<br />

im Ferienlager. Es war aus goldenem<br />

Blech. Ich gab mein ganzes Taschengeld dafür<br />

aus und war sehr stolz. Eingraviert auf<br />

der kleinen Plakette stand: I love you. Ich<br />

glaube, ich wusste nicht einmal, was das<br />

bedeutete.<br />

Aufgezeichnet von Marie Amrhein<br />

1989 zog der Schauspieler Samuel Finzi<br />

aus seiner Heimat Bulgarien nach Berlin.<br />

Damals war er 23 Jahre alt. Heute erlebt<br />

man Finzi unter anderem an der Volksbühne,<br />

am Deutschen Theater, dem Maxim-Gorki-<br />

Theater, dem Schauspielhaus Leipzig – und<br />

in Til Schweigers Komödie „Kokowääh 2“<br />

Foto: Thomas Rusch für <strong>Cicero</strong><br />

100 <strong>Cicero</strong> 7.2013


02.–07. JULI 2013


| S t i l | M u t t e r - K i n d - B l o g s<br />

Das Fremde Kind,<br />

das ich kenne<br />

Vom ersten Ultraschallbild an beobachtet unsere <strong>Auto</strong>rin das<br />

Leben eines Jungen, das seine Mutter im Netz dokumentiert.<br />

Bis sie ihm auf einem New Yorker Spielplatz gegenübersteht.<br />

Geschichte eines unheimlichen Phänomens<br />

von LENA BERGMANN<br />

N<br />

eW YORK, im September 2012.<br />

Meine Tochter schaukelt. Noch.<br />

Lange wird sie nicht mehr durch<br />

die Luft wirbeln können, denn<br />

auf dem Spielplatz im West Village<br />

ist viel los. <strong>Die</strong> Kleinkinder stehen mit<br />

ihren Müttern und Nannies Schlange. Wir<br />

werden erwartungsvoll angeschaut.<br />

Ein Junge scheint sich nicht für die<br />

Schaukeln zu interessieren. Auch nicht für<br />

das Klettergerüst. Abseits und selbstvergessen<br />

steht er da, mit dem Rücken zu mir, ich<br />

sehe einen dichten dunklen Haarschopf, einen<br />

Kapuzenpulli und ein grinsendes Affengesicht<br />

auf seinem Rucksack. Als er sich<br />

zur Seite dreht, erkenne ich den Jungen.<br />

Unfassbar. Aber er ist es. Toby.<br />

Erschrocken mustere ich die großen<br />

braunen Augen und die vollen Lippen im<br />

runden Gesicht, aus dem ich schon von<br />

Geburt an beide Eltern herauslesen konnte.<br />

Mir fällt ein, dass seine Babysitterin Naudia<br />

ihm den Affenrucksack geschenkt hat,<br />

für den ersten Tag in der Spielgruppe, das<br />

muss im Juli gewesen sein. Am liebsten<br />

würde ich das voll beladene Ding jetzt von<br />

den kleinen Schultern ziehen. Ich kann<br />

doch nicht zulassen, dass er so schwer trägt.<br />

Toby schiebt sich etwas aus einer durchsichtigen<br />

Tüte in den Mund, wahrscheinlich<br />

„Honey Nut Loops“ von Kellogg’s, die<br />

mag er besonders. Seine Mutter versucht<br />

manchmal vergeblich, ihm die Variante<br />

ohne Zucker unterzujubeln. Aber Kinder<br />

merken so etwas sofort. Toby wirkt reifer<br />

als meine Tochter. Doch ich weiß ja, dass er<br />

elf Tage jünger ist. Am 25. Mai hat er Geburtstag.<br />

Seine Geburt vor zweieinhalb Jahren<br />

verlief ohne Komplikationen, obwohl<br />

seine Mutter die Wehen erst ignorierte und<br />

dann fürchten musste, ihr Sohn würde im<br />

Taxi zur Welt kommen.<br />

Ich weiß das alles. Jedes Detail. Obwohl<br />

ich weder ihn noch seine Mutter je<br />

gesprochen habe. Obwohl die beiden nicht<br />

wissen können, wer ich bin. Sie wissen ja<br />

nicht mal, dass es mich gibt.<br />

Da hinten, auf der Bank, das könnte<br />

Naudia sein, die Babysitterin. Sie betreut<br />

ihn montags und dienstags, bis nachmittags<br />

um vier. Andererseits ist vier Uhr lange<br />

vorbei, insofern müsste seine Mutter hier<br />

irgendwo sein. Mir fällt ein, dass sie die<br />

späten Nachmittage oft mit Toby auf dem<br />

„Bleecker Playground“ verbringt, sie genießt<br />

diese Stunden mit dem Sohn.<br />

Ich suche also eine zierliche Frau mit<br />

langem, dunklem Pferdeschwanz, Brille<br />

und Lippenstift. Oder ist Toby mit seinem<br />

Vater hier? Mir ist mittlerweile klar:<br />

Meine Tochter und ich müssen auf unserem<br />

Spaziergang durch das West Village<br />

Illustration: Henrik Abrahams<br />

102 <strong>Cicero</strong> 7.2013


7.2013 <strong>Cicero</strong> 103


| S t i l | M u t t e r - K i n d - B l o g s<br />

auf Tobys Stammspielplatz gelandet sein.<br />

Er wohnt ja auch um die Ecke. Ich glaube,<br />

in der West 11th Street. Ob ich das Haus<br />

mit der Feuerleiter von der Straße aus erkennen<br />

würde? Immerhin weiß ich, wie es<br />

von innen aussieht. Wenig Platz. Das Gästebett,<br />

in dem manchmal die Oma mütterlicherseits<br />

übernachtet, steht deswegen auch<br />

im Kinderzimmer. Es sieht recht gemütlich<br />

aus, seit es renoviert wurde. Wann war das<br />

noch mal? Auf jeden Fall erst nach Tobys<br />

Geburt. Am Anfang hat er noch bei seinen<br />

Eltern im Bett geschlafen. Inzwischen<br />

hängt über seinem weißen Gitterbett ein<br />

antikes Mobile mit Schiffchen. So etwas<br />

wollte ich auch für unser Kinderzimmer,<br />

habe aber in Berlin nichts Vergleichbares<br />

gefunden. Toby schläft durch, derzeit bis<br />

sechs Uhr morgens, meist ohne Decke, das<br />

Hinterteil in die Luft gestreckt.<br />

Von Berlin aus habe ich das Leben<br />

dieses Jungen und seiner Familie beobachtet.<br />

Es fühlt sich an, als hätte ich daran<br />

teilgenommen. Seine Mutter hat<br />

ihr Leben und das ihres Kindes unter<br />

joannagoddard . blogspot . com ins Netz<br />

gestellt; Lieblingstier, Lieblingsbuch, Lieblingsschlaflied.<br />

Erster Schritt, erster Zahn,<br />

erster Toilettenbesuch.<br />

Selbst über die Kinder guter Freunde<br />

weiß ich nicht annähernd so viel. Noch<br />

nie habe ich von einem Kind so viele Bilder<br />

gesehen, Toby beim Baden, beim Schlafen,<br />

beim Weinen und mit frischer Naht<br />

am Knie, nachdem er zu wild getobt hatte.<br />

Würde ich alle Bilder, die ich im Laufe der<br />

Jahre von Toby gesehen habe, in Fotoalben<br />

kleben, wären das vermutlich mehr als<br />

die von zwei Generationen meiner eigenen<br />

Familie.<br />

Trotz all dieser Einblicke ist Toby für<br />

mich aber immer eine Internetfigur geblieben.<br />

Ein Protagonist auf meinem Bildschirm.<br />

Jetzt steht er vor mir auf dem Spielplatz.<br />

Ein Fremder, den ich kenne.<br />

Vor fünf Jahren fing ich an, in meinem<br />

Berliner Büro regelmäßig den Blog seiner<br />

Mutter zu lesen. Damals war ich Redakteurin<br />

bei einem Wohnmagazin und schrieb<br />

über Einrichtungsstile. Recherchen im Internet<br />

gehörten zu meiner Arbeit. Irgendwann<br />

landete ich zufällig auf „A Cup of Jo“.<br />

Dort schrieb Joanna Goddard über Dates,<br />

Klamotten und Lippenstiftfarben. Aber<br />

auch über Bücher, Fernsehserien und perfekte<br />

Wochenenden in Upstate New York.<br />

Durch sie erfuhr ich, wann es im Winter<br />

in New York zum ersten Mal schneite, in<br />

welchem Café man am besten in Ruhe am<br />

Laptop arbeiten konnte und wen Don Draper<br />

in „Mad Men“ am Vorabend rauchend<br />

flachgelegt hatte. Joanna postete auch Entdeckungen<br />

aus anderen Blogs. Ein wenig<br />

wie das deutsche Kultur-Portal „Perlentaucher“,<br />

nur eben für Lifestyle- und Frauenthemen.<br />

Besser als die redaktionellen Inhalte<br />

der deutschen Frauenmagazine waren<br />

die Einträge und Tipps auf ihrem Blog allemal.<br />

Es half, dass man beim Lesen in ein<br />

angenehmes Layout mit guten Bildern<br />

eintauchte.<br />

Wie ich selbst, war Joanna Goddard<br />

früher Redakteurin, zunächst festangestellt<br />

bei einem Magazin, dann freiberuflich.<br />

Sie wurstelte sich durch die Branche,<br />

entwickelte Magazine, schrieb Kolumnen,<br />

beriet Firmen in Marketingfragen. Parallel<br />

zu dieser eher zufälligen Mischung aus Tätigkeiten,<br />

die alle inzwischen auch meine<br />

Mir wurde<br />

klar: Ich weiß<br />

alles über ein<br />

Kind, das ich<br />

persönlich<br />

nicht kenne<br />

berufliche Laufbahn prägten, startete sie<br />

2007 ihren Blog „A Cup of Jo“. Ihr erster<br />

Eintrag zum Jahresbeginn: Ihr Geständnis,<br />

sie habe Silvester in New York alleine verbracht.<br />

<strong>Die</strong> Offenheit war mir sympathisch.<br />

Nachdem ich den Blog entdeckt hatte,<br />

wurde Joanna Goddard zu einer Art New<br />

Yorker Freundin, bei der ich täglich vorbeischaute.<br />

Im Englischen gibt es den Begriff<br />

„guilty pleasure“ – ein Vergnügen, das<br />

von Schuldgefühlen begleitet wird. Joanna<br />

Goddards Blog war ein tägliches Vergnügen,<br />

für das ich mich aber schämte – wie<br />

wenn man beim Zahnarzt in der Gala blättert<br />

und dabei nicht ertappt werden will.<br />

Vor allem stillte der Blog meine permanente<br />

New-York-Sehnsucht mit Beiträgen<br />

über Orte, die ich kannte. Ich merkte:<br />

Nicht nur unsere Jobs in der Magazinbranche<br />

hatten Joanna und ich gemeinsam,<br />

denn mittlerweile ist Joanna an Silvester<br />

nicht mehr alleine – sie hat sich<br />

verliebt, verlobt und verheiratet. Auch ich<br />

habe mich verliebt, verlobt und verheiratet.<br />

Unsere Männer haben sogar denselben Vornamen.<br />

Und den gleichen Beruf. Den gleichen<br />

Bart auch. Im Wallsé im West Village,<br />

unserem romantischen Lieblingsrestaurant,<br />

waren Joanna und ihr Mann am Abend ihrer<br />

Verlobung. All das habe ich von meinem<br />

Berliner Bürostuhl aus verfolgt.<br />

Dann, im September 2009, wurde ich<br />

zum ersten Mal schwanger. Direkt danach<br />

verkündete auch Joanna Goddard per Blog<br />

ihre Schwangerschaft. Mir ging es am Anfang<br />

ziemlich mies. Einmal habe ich mich<br />

im Büro heimlich zum Schlafen unter den<br />

Schreibtisch gelegt. Joanna ging es blendend.<br />

Ich hatte keine Lust auf Fachliteratur,<br />

sie las alles. Ich selbst hatte keine Mutter<br />

mehr, die ich hätte fragen können, Joanna<br />

befragte die ihre und teilte deren Weisheiten<br />

mit ihren Leserinnen. Am 9. Januar<br />

2010 postete sie das erste Ultraschallbild<br />

ihres Sohnes. Elf Tage nach meiner Tochter<br />

kam Toby zur Welt.<br />

Joanna empfahl auf ihrem Blog biologische<br />

Babyprodukte. Nun war sie eine<br />

Art Streberfreundin, deren Präsenz mich<br />

irgendwie beruhigte.<br />

Längst sind auch andere Frauen fasziniert<br />

<strong>vom</strong> Alltag Joanna Goddards. Über<br />

fünf Millionen monatliche Klicks erhält ihr<br />

Blog. Das Magazin Forbes nannte „A Cup<br />

of Jo“ eine der „Top 10 Lifestyle Websites<br />

for Women“. Lucky, ein erfolgreiches<br />

Foto: Joanna Goddard<br />

104 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Fotos: Joanna Goddard, Jens Bösenberg (<strong>Auto</strong>rin)<br />

Eine neue<br />

Generation von<br />

Bloggerinnen<br />

präsentiert<br />

ihre Kinder im<br />

Internet<br />

amerikanisches Frauenmagazin, schrieb:<br />

„Der Blog, den die komplette Mode- und<br />

Schönheitsindustrie liest“. Selbst Martha<br />

Stewart, Königin der Häuslichkeit, lobte:<br />

„Wir alle lieben Joanna für ihre Sag-es-wiees-ist-Einträge<br />

über die Mutterschaft.“<br />

Joanna Goddard gehört zu den erfolgreichsten<br />

Vertreterinnen einer <strong>neuen</strong><br />

Bloggergeneration, die das tägliche Erleben<br />

der Mutterschaft im Internet miteinander<br />

teilt. Längst haben Mütter in europäischen<br />

Großstädten nachgezogen: <strong>Die</strong><br />

eine schreibt von Amsterdam aus über Babymassagen<br />

für Neugeborene, die andere<br />

postet aus London eine Bastelanleitung für<br />

Girlanden, Hunderte von Leserinnen loben<br />

und verbreiten diese weiter. Wenn eine<br />

ehemalige Führungskraft des US State Department<br />

im Intellektuellen-Heft The Atlantic<br />

erklärt, warum sie den Kindern zuliebe<br />

den Traumjob augegeben hat, folgen<br />

die Blogkommentare wie der Donner auf<br />

den Blitz. Viele der Bloggerinnen sind<br />

Hausfrauen und zelebrieren die selbst gewählte<br />

Häuslichkeit – inzwischen kursiert<br />

in der Szene der Begriff „Feminist Housewife“.<br />

Zur Darstellung dieser <strong>neuen</strong> Häuslichkeit<br />

werden Tausende von Bildern gemacht,<br />

die eigenen Kinder dokumentieren<br />

darauf das heimisch-familiäre Glück. Dafür<br />

interessieren sich wiederum die Marketingabteilungen<br />

von Babynahrungsherstellern,<br />

Spielzeugmanufakturen, Kinderkleidungsund<br />

Möbelproduzenten.<br />

Aber auch Pädophile nutzen die Seiten.<br />

Nach der Begegnung auf dem Spielplatz<br />

habe ich ein wenig recherchiert. <strong>Die</strong><br />

Diplom-Psychologin Laura F. Kuhle <strong>vom</strong><br />

Zentrum für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin<br />

der Berliner Charité weiß aus der<br />

klinischen Arbeit mit pädophilen Männern,<br />

dass nicht nur explizite Missbrauchsabbildungen<br />

zur Erregung genutzt werden. In<br />

geschlossenen Netzwerken, die zum Tausch<br />

von Kinderpornografie, aber auch zum<br />

Tausch von nichtexpliziten Abbildungen<br />

genutzt werden, gibt es Kategorisierungen<br />

wie „Windelkinder“, „FKK“ oder „schlafende<br />

Kinder“. Als Quellen für solche Aufnahmen<br />

begegnen Kuhle in diesem Zusammenhang<br />

regelmäßig Mütterblogs.<br />

Beate Krafft-Schöning, die im Jahr<br />

2000 die Initiative „NetKids“ gründete,<br />

weist darauf hin, dass per Bildmontage<br />

regelmäßig die Köpfe „noch unbekannter“<br />

Kinder auf explizite Missbrauchsszenen<br />

gesetzt werden, die unter Usern schon<br />

die Runde gemacht haben. Sie warnt davor,<br />

jegliches Bildmaterial von Kindern im Internet<br />

zu verbreiten, und sieht darin sogar<br />

eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte<br />

der Kinder durch die eigenen Eltern.<br />

„Immerhin“, sagt Krafft-Schöning,<br />

„gibt es inzwischen Richtlinien für Eltern,<br />

die einen bewussten Umgang mit dem<br />

Internet bewirken und das Navigationsverhalten<br />

regulieren. Etwa, wie viel Zeit<br />

Kinder entsprechend ihrer Altersgruppe<br />

überhaupt im Internet verbringen sollten.<br />

Darüber hinaus gibt es Methoden, das Internet<br />

durch Sicherungen ‚kinderfreundlich‘<br />

zu machen, indem nur einige ausgewählte<br />

Seiten freigeschaltet werden. Das<br />

war vor zehn Jahren noch anders.“ Allerdings<br />

gebe es ausgerechnet bei Eltern von<br />

Kleinkindern oft kein Problembewusstsein.<br />

Erst wenn die Kinder sozialen Netzwerken<br />

beitreten wollen, fangen viele Eltern mit<br />

dem Nachdenken darüber an, inwieweit<br />

sich ihre Kinder im Internet exponieren<br />

sollten. Zu spät, denn: „Was einmal im<br />

Netz gelandet ist, kann nicht mehr entfernt<br />

werden“, sagt Krafft-Schöning.<br />

Toby, der dreijährige Sohn von Joanna<br />

Goddard, wird also immer im Netz bleiben,<br />

mit allen Bildern, allen Details. Es<br />

werden mehr werden. Ohne seine Mitwirkung<br />

würde der Blog seiner Mutter bei<br />

den Besucherzahlen einen Einbruch erleben.<br />

All das wird mir klar, als ich Toby in<br />

New York begegne. Jetzt, wo ich den Jungen<br />

aus der Nähe gesehen habe, entsteht<br />

eine Distanz. Der Blog, die Bilder, das Produkt<br />

ist mir unheimlich, weil Toby gar kein<br />

Produkt ist. Sondern echt.<br />

Auf ihrem Blog textet Joanna Goddard<br />

in Marketingsprache: „Meine Leserinnen<br />

sind enthusiastische, stilsichere Frauen, die<br />

Online-Shopping lieben und gerne Neues<br />

entdecken.“ Es geht hier nicht mehr um<br />

die sympathische Single-Frau, die ihre<br />

New-York-Beobachtungen teilt. Es werden<br />

unentwegt Produkte empfohlen, aus<br />

der Perspektive einer scheinbar perfekten<br />

Familie, mit Sätzen wie: „Es hat sich gut auf<br />

Tobys Haut angefühlt.“ So gewinnt man<br />

Anzeigenkunden.<br />

Joanna sucht nun schon seit einiger<br />

Zeit nach einer größeren Wohnung für<br />

ihre Familie.<br />

<strong>Die</strong>ses Detail erzählt sie mir auf dem<br />

Spielplatz bei den Schaukeln höchstpersönlich.<br />

Nicht mal ansprechen muss ich sie. Sie<br />

mag den Hut, den ich trage, und macht mir<br />

ein Kompliment. Als ich erwähne, dass ich<br />

in Berlin lebe, erzählt sie, dass sie vor der<br />

Geburt ihres Sohnes auch mal da war. Dass<br />

sie mit ihrem Mann im Tiergarten Fahrrad<br />

gefahren ist und Döner gegessen hat. Das<br />

weiß ich natürlich alles schon. Aber ich lasse<br />

mir nichts anmerken. Ich erzähle ihr nicht,<br />

dass ich ihren Blog lese.<br />

Für diesen Artikel hingegen habe ich<br />

angefragt, ob sie Zeit für ein telefonisches<br />

Interview habe. Leider nicht, schrieb sie zurück.<br />

Sie bereite gerade ihre Mutterschaftspause<br />

vor und sei quasi schon auf dem Weg<br />

ins Krankenhaus. Toby bekommt die Tage<br />

ein Geschwisterchen. Das erste Ultraschallbild<br />

steht schon im Netz.<br />

LENA BERGMANN<br />

leitet das Stil-Ressort von <strong>Cicero</strong>.<br />

Sie hat nur einmal voller Stolz<br />

ein Bild ihrer Tochter auf Facebook<br />

veröffentlicht<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 105


| S t i l | K ü c h e n k a b i n e t t<br />

Tischlein,<br />

versteck dich<br />

Der Imbiss ist längst nicht mehr Notbehelf<br />

für das Proletariat, sondern steht für kreative<br />

Großstadtküche und flexible Konsumenten<br />

Von Julius Grützke und Thomas Platt<br />

D<br />

ER sommer ist die saison der Gartenfeste. Nicht nur<br />

Privatleute nutzen die hohen Außentemperaturen, um<br />

Freunde einzuladen, ohne die Innenräume beanspruchen<br />

zu müssen, sondern auch öffentliche Institutionen veranstalten<br />

große Freiluftpartys, bei denen sie sich präsentieren können, ohne<br />

dabei die Büros neugierigen Blicken preiszugeben. So bleibt der<br />

Muff in der Amtsstube erhalten, während draußen auf dem Rasen<br />

ein frisches und modernes Image zelebriert wird.<br />

Zu dem <strong>neuen</strong> und schmeichelhaften Bild, das auf solchen<br />

Partys gezeichnet wird, gehören auch Speisen, die schon längst<br />

nicht mehr nur aus der Gulaschkanone geschöpft oder <strong>vom</strong><br />

Grill genommen werden. Stattdessen ist das ganze Spektrum der<br />

Gourmetküche vertreten, <strong>vom</strong> Marshmallow aus Rote-Bete-Saft<br />

bis zur braisierten Jakobsmuschel. <strong>Die</strong> Cateringfirmen, die solche<br />

Veranstaltungen beliefern, haben mit Sterneköchen und voll<br />

ausgestatteten mobilen Küchen so aufgerüstet, dass es inzwischen<br />

keine Schwierigkeiten mehr bereitet, Tausende von Gästen auf<br />

höchstem Niveau zu verköstigen.<br />

Damit folgen sie einem Trend, der auch außerhalb der Sommerfeste<br />

zu beobachten ist. Der Imbiss und das Essen im Stehen<br />

erfahren seit Jahren eine kontinuierliche Aufwertung. Was früher<br />

ein Notbehelf zur Nahrungsaufnahme für Proletarier auf Montage<br />

war, die dafür den Weg zur Arbeit nicht lange unterbrechen<br />

mussten, hat sich zu einem zentralen Element der Esskultur entwickelt,<br />

das in allen Qualitätsstufen am Straßenrand angeboten<br />

wird – und nicht nur dort.<br />

<strong>Die</strong> Auflösung des starren Arbeitszeitregimes, die zunehmende<br />

Mobilität und der Verlust des Mittagessens im familiären<br />

Rahmen haben den Bedarf an Mahlzeiten für zwischendurch<br />

gesteigert – auch von Leuten, die mit einer Currywurst nichts<br />

anzufangen wissen. Auf sie zielten Innovationen des bestecklosen<br />

Essens wie Hamburger, Döner Kebab, Falafel, Sushi und<br />

Wraps, die dann anderen althergebrachten Fastfood-Konzepten<br />

wie Erbsensuppe und Schaschlik den Garaus machten. <strong>Die</strong> neue<br />

Vielfalt ermöglichte schließlich auch eine Differenzierung des<br />

Angebots durch Verfeinerung und gewann dadurch noch mehr<br />

Zuspruch. Inzwischen werden manche <strong>neuen</strong> Nahrungstrends an<br />

der Bordsteinkante gesetzt, das vietnamesisch gefüllte Baguette<br />

Banh-Mi zum Beispiel oder Onigiri, Dreiecke aus gewürztem<br />

und gepresstem Reis. Zu wünschen ist auch, dass ein mächtiger<br />

Trend aus Amerika sich bei uns durchsetzt. Der Food-Truck<br />

als mobiles Imbissrestaurant ist eine voll ausgestattete, fahrbare<br />

Küche, wie man sie von Filmdreharbeiten her kennt. Dort werden<br />

meist ethnisch grundierte Spezialitäten an per Facebook und<br />

twitter avisierten Orten zubereitet und dann einem Flashmob<br />

aus Gourmets verkauft.<br />

Gemeinsam ist all diesen Richtungen, dass sie sich <strong>vom</strong> Zeremoniell<br />

des Essens verabschiedet haben. Besteck ist meistens<br />

nicht mehr nötig, selbst der Teller wird nicht gebraucht. <strong>Die</strong> gedeckte<br />

Tafel hat ausgedient. Sie weicht einem kontinuierlichen<br />

Picknick auf dem Asphalt mit wechselnden Personen und Portionen.<br />

<strong>Die</strong> Speisenfolge ordnet sich keinem Menü unter und<br />

entbehrt dessen Stringenz. Das Gleiche gilt auch für Begegnungen<br />

und Tischgespräche. Was einstmals noch eine Grundform<br />

des politischen Diskurses war, löst sich in informellen Gelegenheitsgesprächen<br />

auf, deren Gehalt weniger substanziell erscheint.<br />

So sehr man aber darüber wehklagen könnte, dass die<br />

oft zitierte Gesprächskultur mit den Tischsitten verschwindet,<br />

stellt es doch auch einen Fortschritt dar, wenn die gesetzten Essen<br />

in geschlossenen Zirkeln an Einfluss verlieren gegenüber einer<br />

offenen Tischgesellschaft, zu der praktisch jeder geladen ist.<br />

<strong>Die</strong> Ergebnisse dieser Entwicklung sind schon heute zu sehen:<br />

Nicht nur dank des Internets ist die Politik durchlässiger geworden<br />

und gibt mehr Bürgern Gelegenheit zur Beteiligung. Nur<br />

zur Sommerparty des Bundespräsidenten braucht man weiterhin<br />

eine persönliche Einladung.<br />

Julius Grützke und Thomas Platt<br />

sind <strong>Auto</strong>ren und Gastronomiekritiker.<br />

Beide leben in Berlin<br />

illustration: Thomas Kuhlenbeck/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser<br />

106 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Das geht besser!<br />

Zum Beispiel mit einem personalisierten Roman!<br />

Ob für den Partner, die Freundin, die Eltern oder die Großeltern:<br />

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| S a l o n<br />

Lizenz zum Wehtun<br />

Seit 20 Jahren gibt Martin Brinkmann die „Krachkultur“ heraus, Deutschlands frechste Literaturzeitschrift<br />

von Alexander Kissler<br />

D<br />

rei Personen, mindestens, wohnen<br />

in Martin Brinkmann: Herausgeber<br />

der Zeitschrift Krachkultur<br />

ist er seit 20 Jahren, Schriftsteller<br />

wurde er, und nun ging er auch unter die<br />

Literaturagenten, in München, unweit jener<br />

pittoresken Straßenzüge, wo einst der<br />

Pumuckl seine Späße trieb, Meister Eder<br />

tischlerte und mit putzigem Lokalkolorit<br />

ein Kinderbuchklassiker verfilmt wurde.<br />

Hier ist München die glatte Antithese zu<br />

allem, was das Leben und Schreiben des<br />

Martin Brinkmann bestimmt.<br />

„Wie“, fragt Brinkmann, der mit seinen<br />

36 Jahren einen zornigen jungen Mann abgibt,<br />

„wie“, fragt er in seinem Büro in einer<br />

Mansarde unweit des Wiener Platzes, „wie<br />

kommt es denn, dass immer mehr Menschen<br />

psychologische Betreuung brauchen,<br />

obwohl sie tagein, tagaus Ratgeber lesen,<br />

die ihnen das schöne Leben beibringen sollen?“<br />

<strong>Die</strong> Antwort hat der schlaksige Mann<br />

mit den dünnen Haaren und dem norddeutsch<br />

trommelnden Zungenschlag parat:<br />

Weil die Menschen abgespeist werden<br />

mit Künstlichkeit. Weil ihnen der „Kontakt<br />

mit der Weltliteratur“ fehlt. Weil die<br />

Bücher, die sie lesen, „nicht wehtun, keine<br />

Erkenntnisse eintreiben, sondern nur den<br />

Kopf streicheln und die Sinne ablenken“.<br />

Nach solchen Sätzen, die auch nach<br />

freundlichst dargebotenem Erdbeerkuchen<br />

eine klirrende Weile in der Luft stehen bleiben,<br />

klingt es wie eine Gegenwartsbeschreibung,<br />

wenn Brinkmann sich und Ko-Herausgeber<br />

Fabian Reimann rückblickend als<br />

„general-oppositionell gesinnt“ bezeichnet.<br />

Auf dem Gymnasium von Bad Bederkesa<br />

saßen die beiden Schüler, lasen Horrorbücher<br />

und wollten ihrer Sehnsucht nach der<br />

„<strong>neuen</strong> Sicht auf die Dinge“ ein Gefäß geben.<br />

<strong>Die</strong> Krachkultur war geboren. Es gibt<br />

sie noch, im Gegensatz zu den meisten Literaturzeitschriften<br />

der neunziger Jahre.<br />

<strong>Die</strong> Jubiläumsausgabe, Nummer 15, ist ein<br />

kraftstrotzender Lebensbeweis der <strong>neuen</strong><br />

Sicht, Literatur ohne Schminke.<br />

Geändert hat sich gleichwohl viel. Dem<br />

Faible für das Horrorgenre schwor Brinkmann<br />

ab. Auch ist keine „Avantgarde um<br />

jeden Preis“ das Ziel, wohl aber ein „unkonventioneller,<br />

ein noch nicht etablierter<br />

oder schon wieder nicht mehr etablierter<br />

Zugriff auf die wesentlichen Themen“.<br />

<strong>Die</strong>sem Anspruch kann ebenso der verstorbene<br />

Ostberliner Underground-Poet Matthias<br />

Baader Holst genügen („ich bin am<br />

ende doch das hat nichts zu heißen / wer<br />

zu lang lebt verliert sich schnell“) als auch<br />

Ernst Jünger, wie er auf dem Titelbild von<br />

Ausgabe 8 traulich seinen Sittich anblickt.<br />

Spätere Branchengrößen wie Karen Duve,<br />

Tanja Dückers, Saša Stanišić hatten in der<br />

Krachkultur frühe Auftritte. Büchner-Preisträgerin<br />

Sibylle Lewitscharoff steuerte eine<br />

Betrachtung über „Hoffnung“ bei.<br />

Soll also ein neuer Kanon entstehen,<br />

ein Gegengift gegen das „Wellness-Paradies<br />

deutscher Buchmarkt“? Brinkmann<br />

lächelt: Ja, über die Jahre sei man tatsächlich<br />

zu Bewahrern geworden. <strong>Die</strong> Krachkultur<br />

will auch Gedächtnis sein. Darum gelang<br />

es Brinkmann bereits 2004, Richard<br />

Yates dem Publikum näherzubringen – ehe<br />

2008 die Verfilmung von „Zeiten des Aufruhrs“<br />

mit Leonardo DiCaprio und Kate<br />

Winslet für eine globale Renaissance sorgte.<br />

Heimito von Doderer dürfte es schwerer<br />

haben. Brinkmann holt aus dem Nebenzimmer<br />

seine Dissertation. Sie ist 700 Seiten<br />

stark, kostete ihn fünf Lebensjahre und<br />

handelt von Musik und Melancholie. <strong>Die</strong><br />

Recherchen im Nachlass sorgten für eine<br />

komplett ausverkaufte Ausgabe der Krachkultur.<br />

Brinkmann konnte die Erzählung<br />

„Chronique scandaleuse oder René und die<br />

dicken Damen“ erstveröffentlichen. War<br />

Doderer nicht Formenbewahrer, während<br />

Krachkultur eine Lust am Formenzertrümmern<br />

hat? Da täuscht sich der Gast: „Eigentlich“,<br />

sagt Brinkmann, „war Doderer<br />

ein Postmodernist. Er schrieb das beste<br />

Deutsch des 20. Jahrhunderts. Was er der<br />

Literatur abverlangte, gilt noch heute.“ Das<br />

sprechende Zitat folgt: Literatur, so Doderer,<br />

müsse „eine gewisse Krudität des Griffes<br />

ins innere Geweid“ wagen. Also das Wesentliche<br />

ganz unlieblich sagen.<br />

Für Brinkmanns eigene Dichtung steht<br />

die Probe aus. Er schaut auf das Buch auf<br />

dem Küchentisch, den Roman von 2001,<br />

„Heute gehen alle spazieren“, fixiert die<br />

Kirchturmspitze von St. Johannes, draußen,<br />

oberhalb des Wiener Platzes, blickt in die<br />

Stube: „Ich dachte damals, ich hätte es geschafft.<br />

Dann aber ruhte ich mich auf den<br />

Lorbeeren aus.“ Erzählungen schreibt er<br />

regelmäßig, jüngst für Lettre International.<br />

Der Roman war die für ein Debut „typische<br />

autoanalytische Bearbeitung der eigenen<br />

Biografie“. Zwischen Zivildienst und<br />

Studium bemitleidet sich ein junger Mann<br />

in Norddeutschland: „Was soll nur aus mir<br />

werden?“ Witz und Selbstironie machen<br />

das schmale Buch zur feinen Sommerlektüre.<br />

Auch der Tod von Brinkmanns Vater,<br />

der zur See fuhr, verfängt sich dort im Gitter<br />

der Lakonie: „<strong>Die</strong> Frau, die meinen Vater<br />

anscheinend gekannt hat, wünscht mir<br />

nicht mal herzliches Beileid.“<br />

In der <strong>neuen</strong> Krachkultur gehen Schriftstellerinnen<br />

der Frage nach, was die „Pornografisierung<br />

der Männergehirne“ mit<br />

den Frauen macht. Nicht die teils grellen<br />

Stimmen aber aus den USA sind die wahre<br />

Entdeckung, sondern die Skizze „Glatt“ des<br />

deutschen <strong>Auto</strong>rs Torsten Wohlleben ist es.<br />

<strong>Die</strong>ser schildert in einer musikalisch präzisen<br />

Sprache, die Doderer gefallen hätte, die<br />

unheilige Schönheitsbehandlung der reichen,<br />

schönen Viktoria. Grundiert wird<br />

„Glatt“ von jener lässigen Melancholie, die<br />

getrost die vierte Person genannt werden<br />

kann, die in Martin Brinkmann fröhlich<br />

Quartier genommen hat.<br />

Alexander Kissler<br />

leitet bei <strong>Cicero</strong> den Salon.<br />

Von ihm erschien zuletzt „Papst<br />

im Widerspruch. Benedikt XVI.<br />

und seine Kirche 2005 – 2013“<br />

Fotos: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong>, Andrej Dallmann (<strong>Auto</strong>r)<br />

108 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Martin Brinkmann,<br />

Zeitschriftenmacher<br />

und Schriftsteller,<br />

wünscht sich eine<br />

Literatur, die verstört<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 109


| S a l o n<br />

Offene Rechnungen<br />

<strong>Die</strong> Suhrkamp-Verlegerin Ulla Berkéwicz gibt Rätsel auf. Ist sie die Totengräberin eines großen Erbes?<br />

von Wiebke Porombka<br />

W<br />

er die Nachfolge erfolgreicher<br />

Männer antritt, wird argwöhnisch<br />

beobachtet. Pep Guardiola<br />

steht das noch bevor. Auf Markus Lanz ist<br />

die Häme bereits niedergeprasselt. <strong>Die</strong> heftigste<br />

Nachfolgediskussion aber spielt sich<br />

nicht im Unterhaltungsgenre ab, sondern<br />

dort, wo sich die Hochkultur zu Hause<br />

wähnt: bei Suhrkamp, dem Verlag, der<br />

das intellektuelle Selbstverständnis der alten<br />

Bundesrepublik wie kein anderer verkörpert.<br />

Nun, da diese Geschichte mit der<br />

Schutzinsolvenz am vorläufigen Ende angelangt<br />

ist, scheint eine Frage noch ungeklärt:<br />

Ist Ulla Berkéwicz, die 2003 auf den charismatischen<br />

Siegfried Unseld folgte, die<br />

Lady Macbeth des Literaturbetriebs? Oder<br />

ist die Suhrkamp-Verlegerin die von geldhungrigen<br />

Teilhabern geschröpfte Verteidigerin<br />

der schönen Literatur?<br />

Ulla Berkéwicz, geboren als Ulla<br />

Schmidt, ist eine Frau mit schillerndem<br />

Vorleben. <strong>Die</strong> gelernte Schauspielerin, die<br />

sich ihren wohlklingenden Künstlernamen<br />

in Abwandlung des Nachnamens ihrer<br />

Großmutter zugelegt hat, war seit 1990<br />

mit Siegfried Unseld verheiratet. So viel<br />

ist sicher. Nicht verbürgt hingegen ist, ob<br />

1948 oder 1951 ihr korrektes Geburtsjahr<br />

ist oder aber, wie die Welt jüngst mitteilte,<br />

1949. Als sie 55 wurde, habe sie sich, nach<br />

alter Schauspielerinnen-Manier, um drei<br />

Jahre jünger gemacht, ließ die Verlegerin<br />

einst verlauten. Allerdings findet sich die<br />

Verjüngung bereits im Klappentext zu ihrer<br />

ersten Erzählung „Josef stirbt“ aus dem<br />

Jahr 1982. Sei es drum.<br />

Zu dieser Zeit hat Berkéwicz, um sich<br />

vollends dem Schreiben zu widmen, ihre<br />

Theaterlaufbahn bereits beendet. Geblieben<br />

ist von den neun Jahren auf der Bühne<br />

eine ganze Reihe beeindruckender Namen:<br />

Stationen am Staatstheater Stuttgart, den<br />

Städtischen Bühnen Köln, an den Münchner<br />

Kammerspielen, am Residenztheater,<br />

am Hamburger und Bochumer Schauspielhaus,<br />

dazu Regisseure wie Peymann und<br />

Zadek und eine erste Ehe mit dem Regisseur<br />

und Bühnenbildner Wilfried Minks.<br />

Konnte es wirklich angehen, dass Unseld<br />

eine branchenfremde Frau, die als bekennende<br />

Esoterikerin gilt und die noch<br />

dazu Bücher schreibt, deren immerzu um<br />

expressives Pathos ringender Ton – je nach<br />

Tagesform – schaudern oder schmunzeln<br />

macht, zu seiner Nachfolgerin bestimmt<br />

hat? Anstelle beispielsweise seines Sohnes<br />

Joachim Unseld?<br />

Immerhin hat Siegfried Unseld diese<br />

Bücher in seinem Verlag herausgebracht –<br />

wo sie bis heute erscheinen. Eins muss man<br />

Berkéwicz lassen: Sie schert sich erstaunlich<br />

wenig darum, ob man das als Pikanterie<br />

wahrnehmen könnte. Ihr nächstes Buch,<br />

für dieses Frühjahr angekündigt, ist allerdings<br />

auf den späten Herbst verschoben.<br />

Genauso wenig schert Berkéwicz der Beigeschmack,<br />

den andere ihrer durchaus unkonventionellen<br />

Methoden hervorrufen.<br />

Zum Mythos geworden ist die abendliche<br />

Inszenierung, zu der Berkéwicz die<br />

Suhrkamp-Mitarbeiter nach dem Tod ihres<br />

Mannes bat. Zwei Gäste sollen in Ohnmacht<br />

gefallen sein, als die Stimme des verstorbenen<br />

Verlegers ertönte und das Team<br />

auf seine Gattin als Nachfolgerin einschwor.<br />

Am Totenbett soll die Aufnahme<br />

entstanden sein. Episoden wie diese kann<br />

man problemlos zu einer Geschichte zusammenstricken,<br />

der es an übler Nachrede<br />

und süffisanter Missgunst nicht mangelt.<br />

Aufschlussreicher erscheint ein Blick<br />

auf das, was in der Struktur des Verlags<br />

nach Unselds Tod vor sich gegangen ist.<br />

Namhafte <strong>Auto</strong>ren wie Martin Walser oder<br />

Daniel Kehlmann haben Suhrkamp den<br />

Rücken gekehrt. Auch die Leitungsebene<br />

wurde fast komplett ausgetauscht – ging<br />

oder wurde gegangen: Von Günter Berg<br />

über Rainer Weiss bis zu Lektor Thorsten<br />

Ahrend oder Vertriebschef Georg Rieppel.<br />

Enttäuschte Kronprinzen? Zweifelsohne<br />

zeigt es: Man unterschätzt Ulla Unseld-Berkéwicz,<br />

wie sie mit vollem Namen<br />

heißt, wenn man sie als verirrte Esoterikerin<br />

abzustempeln versucht. Sie ist eine Verlegerin,<br />

die ihre Macht, jedenfalls intern,<br />

professionell auszubauen verstanden hat.<br />

Selbst Neider müssen anerkennen, dass<br />

Suhrkamp unter ihr und aller Unkenrufe<br />

zum Trotz Saison für Saison ein ebenso anspruchsvolles<br />

wie erfolgreiches, wenn auch<br />

wirtschaftlich riskantes Programm vorlegt.<br />

Der Umzug des Verlags von Frankfurt<br />

nach Berlin war also wohl eher Souveränitätsbeweis<br />

denn der frevelhafte Bruch mit<br />

der Suhrkamp-Tradition. Vielleicht ist es<br />

umgekehrt: Vielleicht hat Berkéwicz nicht<br />

mit Tradition gebrochen, sondern zu kompromisslos<br />

an einer althergebrachten auratischen<br />

und autokratischen Verlegerposition<br />

festgehalten. Man kann die legitimen<br />

finanziellen Forderungen des Medienunternehmers<br />

Hans Barlach an den Verlag für<br />

verwerflich halten. Fakt ist, dass die Lage<br />

brenzlig geworden ist, weil Berkéwicz es<br />

nicht gelang, sich mit dem Minderheitsgesellschafter<br />

zu einigen. Weil sie nicht abließ<br />

von einem Alleinherrscheranspruch,<br />

der moralisch legitim sein mag, faktisch<br />

aber nicht bestand.<br />

Symptomatisch ist die viel diskutierte<br />

Villa in Berlin-Nikolassee, Gegenstand in<br />

einem der unzähligen Prozesse zwischen<br />

Suhrkamp-Geschäftsführung und Barlach.<br />

Das Haus ist Privatbesitz der Verlegerin<br />

und wird gleichzeitig für Veranstaltungen<br />

des Verlags genutzt – gegen Mietzahlungen<br />

an Berkéwicz. Zum juristischen Stolperstein<br />

wurde, dass die Miete den per Gesellschaftervertrag<br />

gestatteten Betrag geringfügig<br />

überschreitet. Nimmt man die Villa als<br />

Indiz für das Ganze, dann liegt der Schluss<br />

nah: Hier ist eine Rechnung ganz grundsätzlich<br />

nicht aufgegangen.<br />

Wiebke Porombka<br />

arbeitete ebenfalls einige Jahre<br />

am Theater, bevor sie zur<br />

Literaturkritik wechselte<br />

Fotos. Markus Tedeskino, Synnove Duran (<strong>Auto</strong>rin)<br />

110 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Ulla Unseld-Berkéwicz,<br />

einst Schauspielerin,<br />

nun Schriftstellerin und<br />

Verlegerin, könnte das<br />

Ende von Suhrkamp<br />

eingeläutet haben<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 111


| S a l o n<br />

Der Hexer<br />

Musikproduzent Rick Rubin hat Black Sabbath zu einem späten Meisterwerk verholfen – durch Reduktion<br />

von thomas Winkler<br />

D<br />

ie überraschende nachricht<br />

ist nicht, dass eine legendäre<br />

Band nach mehr als drei Jahrzehnten<br />

der Trennung zusammengefunden<br />

hat. Auch nicht, dass es drei Mittsechzigern<br />

gelungen ist, ein neues Album einzuspielen.<br />

<strong>Die</strong> Nachricht ist es ebenfalls nicht, dass<br />

Starproduzent Rick Rubin die Rentnercombo<br />

zu ihrem faszinierend vitalen Auftritt<br />

angeleitet hat. <strong>Die</strong> Überraschung ist,<br />

dass sich alle Welt auf Black Sabbath einigen<br />

kann. Tatsächlich hat „13“, das erste<br />

in Originalbesetzung aufgenommene Album<br />

seit 35 Jahren, sich zur Konsensplatte<br />

des Jahres entwickelt. Sie stürmt weltweit<br />

die Verkaufscharts – trotz sperriger, schwer<br />

dräuender, abweisender Songs.<br />

Black Sabbath, die 1968 in der Stahlstadt<br />

Birmingham gegründete Rockband,<br />

gelten als Erfinder des Heavy Metal. Sie<br />

waren stilprägend, von der Einführung<br />

des als Teufelsakkord bekannten Tritonus<br />

in die Rockmusik über die Endzeitsymbolik<br />

bis zu den abgebissenen Tauben- und<br />

Fledermausköpfen, mit denen sich Sänger<br />

Ozzy Osbourne nicht nur bei Tierschützern<br />

unbeliebt machte. Seitdem hat Osbourne<br />

eine Reality-TV-Show und unzählige<br />

Entziehungskuren überlebt, während<br />

Gitarrist Tony Iommi erst während der<br />

Aufnahmen zu „13“ eine Chemotherapie<br />

gegen Lymphdrüsenkrebs hinter sich<br />

brachte. Bassist Geezer Butler, seit Jahrzehnten<br />

als weitgehend skandalfreier Veganer<br />

der ruhende Pol der Band, schrieb<br />

wieder die Texte, in denen religiöse Zweifel,<br />

Konsumwahn und Weltfrieden, vor allem<br />

aber Tod und Teufel verhandelt werden.<br />

Das große Thema der Band ist die Vergänglichkeit.<br />

Damit prägte sie den Heavy<br />

Metal bis in seine letzten Verästelungen.<br />

Metal ist sich immer bewusst, dass etwas<br />

nur lebt, um zu sterben: die Liebe, der<br />

Mensch, das System, die Welt, wie wir<br />

sie kennen. Seit der Kapitalismus in einer<br />

Dauerkrise festsitzt, ist das Genre noch am<br />

ehesten von der Krise des Popgeschäfts<br />

verschont geblieben. Metal-Fans sind treu,<br />

und die Musik setzt dem Vergehen des Lebens<br />

die schwergewichtige Wertigkeit eines<br />

traditionellen Handwerks entgegen.<br />

Um sich auf diese Qualitäten zu besinnen,<br />

engagierten Black Sabbath den richtigen<br />

Produzenten: Rick Rubin hat sich<br />

im Laufe der vergangenen Jahrzehnte etabliert<br />

als der große Restaurator und Wertbewahrer<br />

der Popmusik. Der mittlerweile<br />

50 Jahre alte New Yorker hat auch die Red<br />

Hot Chili Peppers, Glenn Danzig oder die<br />

Beastie Boys zu Branchengrößen geformt.<br />

Seinen legendären Ruf als Soundgestalter<br />

aber verdiente er sich, indem er scheinbar<br />

hoffnungslos versackte Karrieren von<br />

ausgemusterten Altstars wie Johnny Cash,<br />

Neil Diamond, ZZ Top wieder in Gang<br />

brachte. Dazu wendet Rubin stets dieselbe<br />

Methode an: Er reduziert das Werk seiner<br />

Schützlinge auf deren unverzichtbare Essentials,<br />

auf das schlichtweg Wesentliche.<br />

Das Ergebnis, sagt Rubin nun, sei „Black<br />

Sabbath being Black Sabbath“.<br />

Rubin sieht mit seinem Weihnachtsmannbart<br />

nicht nur aus wie ein Guru, er<br />

arbeitet auch so. Seinen Jugendjahren verpflichtet,<br />

die er in Punkbands verbrachte,<br />

beherrscht er bis heute kein einziges Instrument.<br />

Rubin kann keine Noten lesen<br />

und dürfte der einzige erfolgreiche Musikproduzent<br />

der Welt sein, der nicht einmal<br />

rudimentär ein Mischpult bedienen kann.<br />

Büroräume meidet Rubin aus Prinzip,<br />

hat aber lange Jahre erfolgreich Plattenlabel<br />

geleitet, darunter die legendäre<br />

Firma Def Jam, die er noch im Studentenwohnheim<br />

gründete. Als er <strong>vom</strong> Entertainment-Konzern<br />

Sony eingekauft wurde,<br />

um das berühmte Label Columbia zu retten,<br />

schaffte er nicht nur Hierarchien ab<br />

und führte neue, mitunter esoterische Geschäftsprinzipien<br />

ein, sondern ließ sich angeblich<br />

auch vertraglich garantieren, dass<br />

er niemals einen Anzug tragen muss und<br />

dass niemals eine Telefondurchwahl für ihn<br />

eingerichtet wird. Einem schwerkranken<br />

Johnny Cash verschaffte er neben einer unerwarteten<br />

Spätkarriere auch einen Kinesiologen,<br />

der den Country-Helden mit Alternativmedizin<br />

verjüngte.<br />

Vor allem aber erzählen Musiker, die<br />

mit ihm gearbeitet haben, von einem<br />

Fleischbündel, das auf einer Couch ruht,<br />

mit geschlossenen Augen im Takt der<br />

<strong>neuen</strong> Aufnahmen hin und her wogt, bevor<br />

Rubin seltsam orakelhafte, aber erstaunlich<br />

hilfreiche Ratschläge aussendet.<br />

Er versuche zu vermeiden, seinen Auftraggebern<br />

konkrete Verbesserungsvorschläge<br />

zu machen, erzählt Rubin, „in neun von<br />

zehn Fällen kommen die von selbst auf eine<br />

Lösung, die besser ist als alles, was ich mir<br />

ausdenken könnte“.<br />

Auch Osbourne, Iommi und Butler irritierte<br />

der erklärte Black-Sabbath-Fan Rubin,<br />

indem er sie ausführlich mit der Musik<br />

konfrontierte, der sie ihren Legendenstatus<br />

verdanken. Black Sabbath mussten sich<br />

immer wieder das eigene Frühwerk anhören,<br />

um zu erkennen, was Black Sabbath<br />

eigentlich ausmacht. Wer das herausgefunden<br />

hat, der kann den ganzen überflüssigen<br />

Ballast eliminieren.<br />

Folgerichtig klingt „13“ nun grundsätzlich,<br />

ja zeitlos. Osbournes Stimme quengelt<br />

sich durch Nahtoderfahrungen und existenzielle<br />

Fragestellungen wie „Is god really<br />

dead?“, Butlers Bass grummelt bösartig<br />

und Iommis Gitarre sägt tiefer gelegte<br />

Riffs, die, wenn sie nicht die Abgründe<br />

menschlicher Ängste durchschreiten, das<br />

Bauchfell gewaltig zum Flattern bringen.<br />

Und dass es drei Rentner sind, die unsere<br />

Zeit so quicklebendig und passgenau zum<br />

Klingen bringen, ist angesichts des demografischen<br />

Wandels vermutlich nur eine<br />

kleine Überraschung.<br />

thomas Winkler<br />

durchlebte eine<br />

schwermetallgeschwängerte<br />

Jugend in der Provinz und<br />

schreibt über Pop, Film, Sport<br />

Fotos: Martin Schöller/August Images, privat (<strong>Auto</strong>r)<br />

112 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Lehrmeister der Reduktion, mit<br />

sich im Reinen: Rick Rubin hat<br />

sein Gleichgewicht gefunden<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 113


| S a l o n | P a u l u s u n d M o s e s<br />

Moses, der Seelenentzweite,<br />

sah nie das Gelobte Land<br />

Mein Paulus,<br />

Mein Moses<br />

Gott hasst die Erschlaffung. Und die alte Zeit ist<br />

nicht vergangen: Was ich über die modernen Bürger<br />

lernte, als ich hinabstieg in die Schriften der beiden<br />

Urväter des Judentums und des Christentums<br />

von Feridun ZaimogLu<br />

I<br />

m Jahre 2012 nahm ich zwei Auftragsarbeiten<br />

an: ein Hörspiel für den<br />

Hessischen Rundfunk über Paulus<br />

und ein Theaterstück über Moses. Es<br />

wird Anfang Juli beim Passionstheater<br />

Oberammergau in der Regie Christian<br />

Stückls uraufgeführt werden. Der Apostel<br />

stritt für das Himmelreich mit der Wortgewalt<br />

eines Philosophen. Der Prophet galt<br />

als zungenlahmer Israelit. Es ist überliefert,<br />

dass beide Gottesmänner die Götzen ihrer<br />

Zeit zermalmten. Sie wollten Schande und<br />

Schandtat nicht länger dulden.<br />

Moses wurde von Bithiah, der Schwester<br />

des Pharao, höfisch erzogen. Paulus<br />

war ein gebildeter schriftkundiger Jude, er<br />

sprach die Sprache des damaligen Imperiums.<br />

Pharaos Ziehsohn schlug einen ägyptischen<br />

Aufseher tot und floh. Der Apostel<br />

hingegen zog sich den Unmut der Urgemeinde<br />

zu, weil er den Menschensohn Joschua<br />

vergöttlichte. Er verließ die Getreuen<br />

des Heilands. In der Bibel hatte ich oft geblättert,<br />

ich schrieb das über Jahrzehnte angelagerte<br />

Wissen auf. Wie konnte es mir gelingen,<br />

diese Krieger im <strong>Die</strong>nste des Herrn<br />

zu zeichnen? Reichte das bloße Quellenstudium<br />

aus? Sah ich in ihnen Figuren der Heiligen<br />

Fabel, mit der man die Völker narkotisiert?<br />

Waren sie derart anfechtbar, dass ich<br />

den Stoff zu Ungunsten des Jüngers und des<br />

Gesandten aktualisieren musste?<br />

<strong>Die</strong> Lieblingsfloskel des kulturschaffenden<br />

Bürgers heißt „die heutige Sicht“. Ein<br />

Gott wird bestenfalls vermutet. Der Bürger<br />

stellt ihn sich vor als einen konservierten<br />

Leichnam, der jenseits des Alls in der<br />

Schwärze treibt. Ein Stückeschreiber unserer<br />

Zeit findet es vergnüglich, Gott zu lästern.<br />

Allein sein Zugriff und sein Verständnis<br />

zählen und also psychologisiert er: Er<br />

fühlt sich ein. In Gott, in das fleischgewordene<br />

Wort, in das Insekt und das erlegte<br />

Wild, in den Urschlamm und in die<br />

Pflanze. Einen von Gottes Licht beglänzten<br />

Mann kann er nur verlächerlichen. Schließlich<br />

arbeitet er mit den Mitteln der Verstörung.<br />

Man hat sich daran zu halten, dass er<br />

die heiligen Männer durchschaut; es sind<br />

allesamt gemütserregte Kerle.<br />

Was also tut der heutige Schreiber, da er<br />

die schönen Legenden bearbeitet? Er verschleiert<br />

die Grandiosität und unterdrückt<br />

das Ungestüm. Aus Moses wird ein schwätzender<br />

Krüppel, eine Monologmaschine,<br />

ein Verkündigungsgerät. Ein fluchsprotzender<br />

Greis, der den Infusionsschlauch<br />

Foto: Contrasto/Laif<br />

114 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Foto: Hermann Buresch/BPK<br />

benagt. Paulus dichtet er eine manifeste<br />

Geistesverwirrung an: Der Apostel, seiner<br />

Heiligkeit beraubt, nackt bis auf das Lendentuch,<br />

übergießt sich mit dem Blut des<br />

Gekreuzigten. Er liest seitenlange Briefe vor,<br />

die er nie abgeschickt hat. Den Holzsplitter<br />

<strong>vom</strong> Kreuz des Heilands zeigt er dem Publikum<br />

vor und stochert damit zwischen den<br />

Zähnen. <strong>Die</strong>se Entwürfe, der Phantasie des<br />

Provokateurs entsprungen, begeistern bestimmt<br />

den einen oder anderen Großkritiker.<br />

<strong>Die</strong> Wahnverstrickung großer Frauen<br />

und Männer gilt als wesenhaft.<br />

Übertreibe ich? Zeigt man nicht tatsächlich<br />

die abgehackten Köpfe von Heilsbringern<br />

auf der Bühne? Zeichnet man nicht<br />

Frösche und Säue, die ans Kreuz genagelt<br />

sind? Beschimpft man nicht einen Gottesgesandten<br />

als Kinderschänder und Sodomisten?<br />

Gott selbst aber will der Aufklärer<br />

am Erschöpfungsinfarkt gestorben wissen.<br />

Er habe die Welt erschaffen und sich dabei<br />

übernommen.<br />

Ich scherte mich wenig um die Leugner<br />

und ihre Deutung. <strong>Die</strong> in Zerrbildern<br />

zum Fratzen-Ich verzeichnete Seele:<br />

Sie taugt höchstens als Porträt eines Irren.<br />

In eherner Zeit fielen auf die Häupter<br />

der Gläubigen und der Heiden herab die<br />

Trümmer des alten Himmels. <strong>Die</strong> Herren<br />

in den Palästen, sie ahnten den Zerfall der<br />

Reiche; und doch hoffte ein jeder Tyrann,<br />

er werde das Weltende überleben. Kein<br />

Reich gedieh ohne verknechtete Männer<br />

und Frauen, Ägypten war ein Sklavenstaat<br />

von vielen. Ausgerechnet Moses, den Sohn<br />

einer Sklavin, ernannte der Pharao zu seinem<br />

Nachfolger.<br />

Der Thronanwärter niederer Herkunft<br />

wurde also nicht seinem Volk zugeschlagen.<br />

<strong>Die</strong> Hebräer brannten Lehmziegel für die<br />

Häuser der Ägypter. Der Glaube ihrer Vorväter<br />

hielt sie am Leben. Was sahen sie in<br />

des Königs Günstling Moses, wenn er sich<br />

zu ihrem Zeltlager stahl? Einen Verräter, einen<br />

mit allen Salben geschmierten Lumpen?<br />

Wer Stamm und Sippe verließ, konnte<br />

nur irregehen – musste man nicht den Abtrünnigen<br />

nach Ahnengesetz steinigen?<br />

In der jüdischen Legendensammlung<br />

suchte ich vergebens nach Auskünften über<br />

Moses als jungen Höfling. <strong>Die</strong> fünf Bücher<br />

Mose geben einen Abriss über Taten und<br />

Wunder des Propheten. Sie wurden Aberhunderte<br />

Jahre nach seinem Tod von Priestern<br />

niedergeschrieben. <strong>Die</strong> Geschichten<br />

über den Gesandten wurden zu einer<br />

heiligen Schrift verkittet. Allein den Bibeltreuen<br />

geht es um die Originaltreue; ich<br />

aber wollte <strong>vom</strong> vorgefundenen Stoff ausgehen:<br />

Moses hängt dem Einen Heiligsten<br />

an. Thron, Sippe, Stamm – vor dem Auge<br />

des Herrn werden sie nicht bestehen. Über<br />

ein Reich hätte er herrschen können, jeder<br />

Untertan wäre vor ihm, dem fleischgewordenen<br />

Götzen, zu Boden gegangen.<br />

Er aber entschied: Huld gebührt nur<br />

dem einen Gott. Was nützen Standbilder<br />

in den Tempeln, vor denen man Räucherwerk<br />

verbrennt? Er entschied: Ich will nicht<br />

beflecken meine Seele, da ich heiligte Stein<br />

und bröckeligen Lehm. Um des Ruhmes<br />

der Macht, die uns überragt, floh er die<br />

Selbstüberhöhung. Sein Ziehvater im Palast,<br />

seine Mutter eine Leibeigene – die Hagiographen<br />

bemühten eine seelenentzweite<br />

Figur, um den Mann Moses dem Dunkel<br />

zu entreißen. Er war ein Prophet, der Brot<br />

aß, und der Herr ließ ihn nicht sinken.<br />

Der Aufseher, den er mordete, hatte die<br />

Frau eines Knechtes geschändet, und also<br />

musste er sterben. Der Pharao erkannte<br />

darin kein Aufbegehren wider seine Herrschaft,<br />

er hätte es bei einer harten Mahnung<br />

belassen. Moses waren Ruhm und<br />

Rüge einerlei, und noch hatte Gott den Seinen<br />

nicht gerufen. Er verließ aber das Land,<br />

bot einem anderen König seine <strong>Die</strong>nste an,<br />

nahm eine schwarze Kuschitin zur Frau.<br />

Erst Jahrzehnte später kehrte er zurück, er<br />

war zum Kriegerpropheten gereift.<br />

Ich verstand: Aller Glaube ist wüstenländisch,<br />

und die Wüste ist Ursprung.<br />

Hartgesichtig sind die Gläubigen. Der<br />

Gott ihrer Anbetung hasst die Erschlaffung,<br />

das milde Wort, die Abart, den fremden<br />

Einfluss und die Vermischung. Ich erschrak:<br />

<strong>Die</strong> Israeliten, die sich mit Frauen<br />

fremder Stämme vermählen und verpaaren,<br />

werden ausgemerzt. Moses’ Schwester Miriam<br />

zankt den Gesandten deshalb aus; der<br />

Herr straft die Todsünder und belohnt aber<br />

Mit dem großen<br />

Offenbarungskünstler Paulus<br />

begann das Christentum<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 115


| S a l o n | P a u l u s u n d M o s e s<br />

Moses, der mit einer Kuschitin das Zelt<br />

teilte. Miriam erbleicht augenblicklich, ihr<br />

Gesicht wird schneeweiß, sie muss als Aussätzige<br />

außerhalb des Lagers leben. Ist das<br />

gerecht? Hat sich das wirklich zugetragen,<br />

oder haben die späteren Verfasser absichtsvoll<br />

gedichtet?<br />

In der Stunde des großen Kampfes<br />

muss der Zweifler gebrochen werden.<br />

Gott versetzt ein Volk von mehreren Tausend<br />

Männern und Frauen. <strong>Die</strong>se Schar der<br />

Knechte soll das verheißene Land erobern;<br />

und also wird der gemeine Sklave durch<br />

Zucht und Drill, durch Tod und Verdammung<br />

diszipliniert. Am Ende werden die<br />

Israeliten in geordneten Schlachtreihen gegen<br />

die feindlichen Krieger ziehen. In der<br />

kinderfreundlichen Fassung begegnen wir<br />

einem rauschebärtigen Moses, der mit den<br />

Gesetzestafeln den Berg Sinai herabsteigt.<br />

Was aber steht tatsächlich geschrieben?<br />

Nach dem ersten Abstieg zerbrach er<br />

voller Zorn die Steintafeln – die Knechte<br />

hatten, verdrossen ob Jahwes Regelwerk,<br />

ein Abbild in Gold gegossen. Der Gesandte<br />

ordnete den massenhaften Mord an, die<br />

Getreuen metzelten die Frevler nieder. Moses<br />

stieg ein zweites Mal auf den Berg, und<br />

als er nach 40 Tagen zurückkehrte, wichen<br />

die Israeliten vor ihm zurück. Moses’ Gesicht<br />

war entstellt. Gott hatte ihn berührt<br />

und verbrannt. Für den Rest seines Lebens<br />

musste er sein Antlitz verhüllen. Manchmal<br />

legte er den Gesichtsschleier ab, wenn<br />

er mit seinem Bruder Aaron sprach.<br />

Aaron wurde <strong>vom</strong> Herrn zum Hohepriester<br />

erhöht: Er widersprach Gott nicht, als<br />

Er zwei seiner Söhne im Feuer umkommen<br />

ließ. Sie hatten Jahwe zur ungelegenen Zeit<br />

Räucherwerk geopfert. Aaron schwieg, da<br />

Gott Miriam des Lagers verwies. Das Volk<br />

liebte ihn, den guten Redner und Rechtsprecher.<br />

Moses stammelte; er war der härteste<br />

Krieger des Herrn. Man büßte mit<br />

dem Leben, wenn man seinen Ratschluss<br />

anzweifelte. Moses sprach Gottes Gesetz.<br />

Laut der Schrift und den Legenden sind<br />

dies die wahren Geschichten. Ich verstand:<br />

<strong>Die</strong> alte Zeit ist nicht vergangen.<br />

Ich schrieb in mächtigen Worten, ohne<br />

Zagen und Glaubensschwäche. Ich verbot<br />

mir Gewäsch und Gerede, das postprophetische<br />

Übelschwätzen. Kein Klamauk,<br />

keine heutige Prosa, keine Blasphemie. <strong>Die</strong><br />

Frömmelei ist eine Erfindung der niederträchtigen<br />

Kreatur: Sie zimmert im Geiste<br />

jedem, der nicht ihres Sinnes ist, ein Galgengerüst.<br />

Also verbot sich mir auch die<br />

Verkitschung und Verknirpsung eines großen<br />

Mannes.<br />

In unserer Zeit glaubt jeder Bürger, er<br />

könne mitreden, weil er Streitgespräche im<br />

Fernsehen verfolgt hat. Welch ein Irrtum,<br />

welch eine Verblendung. Im Glauben gibt<br />

es kein Expertentum. <strong>Die</strong> Pharisäer und<br />

Jeder Bürger glaubt, er könne<br />

mitreden, weil er Streitgespräche<br />

im Fernsehen verfolgt hat<br />

Philister, die Höker und Theologen: Sie<br />

deuten, sie zerren den unfassbaren Gott in<br />

die Nähe. Für mich, der ich für die Bühne<br />

schrieb, war Deutung nicht statthaft. Moses,<br />

der Anführer eines verknechteten Volkes.<br />

Moses, von Gott geliebt und geschützt.<br />

<strong>Die</strong>ser Moses blieb zurück: Der Herr verwehrte<br />

ihm den Einzug ins Gelobte Land.<br />

Joschua Meschiach, Sohn des Zimmermanns,<br />

Gottes Liebling, der gesalbte Heiland:<br />

Wer ihn sah, mit unvertrübten Augen,<br />

wurde verwandelt. Wer seinen Worten <strong>vom</strong><br />

nahenden Himmelreich glaubte, wurde berührt.<br />

Ihn schickte der Herr, dass er erfülle<br />

das Gesetz und erneuere den Bund. Es<br />

scharten sich um ihn die einfachen Männer<br />

und Frauen. <strong>Die</strong> Gebildeten und Gelehrten<br />

beschauten ihn aus der Ferne wie ein<br />

wildes Tier. Der Mann brach mit der Überlieferung,<br />

er heiligte nicht den Feiertag, er<br />

bespuckte die Geldwechsler im Tempelhof.<br />

Es gab im Lande viele glühende Männer,<br />

die das Weltende weissagten: Stein wird<br />

bersten, Holz wird splittern, und die Erde<br />

spuckt alles Gebein heraus.<br />

Menschensohn Joschua: Über ihn hielt<br />

der Vater im Himmel seine Hand. Saulus<br />

begriff: Weisheit zähmt den Geist; die<br />

Offenbarung peitscht die Seele. Joschua<br />

brachte das Schwert, mit dem Eisen<br />

schied er die Schläfer von den Erwachten.<br />

Saulus lernte ihn zu hassen. <strong>Die</strong> Männer,<br />

die dem jungen Prediger nachliefen,<br />

nannte er Gesindel. <strong>Die</strong> Frauen, die Joschuas<br />

Füße salbten und mit ihrem Haar<br />

trockneten, hieß er hurenhaft. Bei Tage<br />

durfte man kein Licht aufstecken – dieser<br />

wirre Jüngling aber war beglänzt. Saulus<br />

stand in <strong>Die</strong>nsten des Hohen Rates zu<br />

Jerusalem, er wurde als Ketzerrichter bestallt.<br />

Es steht geschrieben: Auf dem Weg<br />

nach Damaskus hörte er die Stimme des<br />

Meisters. Traumbild, Erleuchtung, Bekehrung.<br />

Er änderte seinen Namen nicht. Im<br />

Griechischen sprach man Saulus als Paulus<br />

aus.<br />

Der Name des Predigers bedeutet:<br />

Gott ist Rettung. Also sah Saulus den <strong>vom</strong><br />

Herrn geschickten Erlöser. Einen Mann aus<br />

Fleisch und Blut. Den an den Schandpfahl<br />

genagelten Menschensohn – hat Saulus ihn<br />

auch sehen können? Von seiner Gottesnatur<br />

konnte der im strengen Eingottglauben<br />

aufgewachsene Joschua nicht gesprochen<br />

haben. Ich entdeckte: Saulus’ Trauer<br />

über den Tod des Rabbi war unermesslich.<br />

Er vergöttlichte ihn. Ich las die Evangelien,<br />

überflog die Briefe an die Gemeinden.<br />

<strong>Die</strong> Bücher von Bibelexegeten und<br />

Theologen hatte ich in den letzten 30 Jahren<br />

verschlungen, und also musste ich nicht<br />

nachschlagen.<br />

Ich betrachtete Schwarz-Weiß-Fotografien<br />

von jungen Philippinos in San Fernando.<br />

Am Karfreitag lassen sie sich ans<br />

Kreuz nageln. Über die Schmerzensnachahmung<br />

kommen sie dem Liebling Gottes<br />

nah und näher. <strong>Die</strong> Menschen des einfachen<br />

Volkes, sie kümmert nicht die orthodoxe<br />

Lehre. Auch damals, zu Saulus’ Lebzeiten,<br />

gab es viele Männer und Frauen,<br />

denen man die Geistesgaben der Prophetie<br />

und Zungenrede zuschrieb. Der gebildete<br />

Apostel floh ihre Gesellschaft, verließ<br />

das Heilige Land. Nur die Ekstase auf dem<br />

Papier empfand er als reizvoll.<br />

Der tote Gesandte, das ausbleibende<br />

Weltende, die Anfeindungen der Altgläubigen,<br />

die Macht des Imperiums: Saulus ersann<br />

einen Gegenschlag, er schrieb die Geschichte<br />

um. Gottes und Volkes Liebling<br />

Jesus wurde zum Weltenlenker, zu Christus<br />

mit dem Strahlenkranz. Er baute an<br />

einer <strong>neuen</strong> Kirche, um der alten Kirche<br />

zu trotzen. Es durfte der Feind nicht gesiegt<br />

haben, Feindes Triumphgesang würde<br />

verklingen. <strong>Die</strong> Frauen und Männer der<br />

116 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Foto: Bettina Fürst-Fastré<br />

ersten Stunde gingen den Apostel hart an.<br />

Das Heidentum sickerte in den Glauben,<br />

ihr Heiland wurde verklärt – sie stemmten<br />

sich dagegen und unterlagen.<br />

Ich bin auf der Seite der Propheten. Priester<br />

und Theologen lehne ich ab. Der Handel<br />

mit Gottes Gnade widert mich an. Kein<br />

Stellvertreter des Herrn ist unfehlbar. <strong>Die</strong><br />

unerbittlichsten Feinde der gottgeliebten<br />

Gesandten waren immer die Priester des alten<br />

Glaubens. <strong>Die</strong> Abtrünnigen und Spalter:<br />

Sie erfanden neue Dogmen, und sie<br />

erfanden neue Ketzer. Ihr törichtes Geschwätz,<br />

ihre Richtersprüche, ihre Arrangements<br />

mit den Herrschern der Zeit; ihre<br />

Massenmorde, ihre Preisungen und Anrufungen,<br />

ihre Vergötzung der Heilsbringer –<br />

sie beriefen sich dabei immer auf Gott.<br />

Doch sollen die Aufklärer bei diesen<br />

Worten nicht frohlocken. Ihre Heilsgestalten<br />

waren und sind Fortschrittsmaschinen.<br />

Ihre rassenreinen und klassenlosen Gesellschaften<br />

glichen Höllenreichen. Es braucht<br />

eines Satans nicht, um das abscheulich<br />

Böse zu wirken. Ich erkannte: Moses und<br />

Joschua, geheiligte Männer, <strong>vom</strong> Herrn in<br />

diese Welt gesetzt, auf dass sie den Götzendienst<br />

mit aller Macht bekämpfen. Und<br />

Paulus? Der geläuterte Inquisitor warnte<br />

und mahnte die Getreuen des Heilands;<br />

die alten Gesetze waren erloschen, das neue<br />

Gesetz hieß Christus.<br />

Saulus hat um des Überlebens willen<br />

Joschua Meschiach geopfert. Wie kann<br />

ich mich dem Apostel anverwandeln, auf<br />

dem Papier, das dieser Mann so liebte?<br />

Viele Tage denke ich nach, verwerfe viele<br />

Ideen. Der Offenbarungskünstler sprach in<br />

Gleichnissen. Saulus legte in Worten das<br />

Glaubensbekenntnis fest. Ich verstand: Er<br />

hat überlebt, und also wird er ein harmonisches<br />

Bild zeichnen. Ich verstand: Er ist<br />

umstellt, und also wird er nicht mit sich<br />

verhandeln lassen. Er weiß, dass seine Tage<br />

gezählt sind. Er schreibt an die Jünger und<br />

Führer der Gemeinden … und sie schreiben<br />

zurück: Das ist der rettende Einfall.<br />

Was kann ich sagen, nach Tagen und<br />

Wochen der harten Arbeit? Moses und Paulus<br />

– ich bezeuge: Sie haben gelebt.<br />

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| S a l o n | T i m e i t e l i m G e s p r ä c h<br />

„<strong>Die</strong> reine Präsenz“<br />

Tim Eitel, einst Shootingstar der Leipziger Schule, fürchtet den Verlust der Ernsthaftigkeit<br />

in der Kunst. In <strong>neuen</strong> Bildern wendet er sich dem Prekariat zu<br />

Gut zehn Jahre ist es her, dass der Begriff<br />

„Neue Leipziger Schule“ zum Synonym<br />

wurde für eine unverbrauchte Strömung<br />

in der deutschen Gegenwartskunst.<br />

Früh als Shootingstar der Szene rund um<br />

die Leipziger Hochschule für Grafik und<br />

Buchkunst wurde der 1971 in Leonberg<br />

geborene Tim Eitel gehandelt. Anlässlich<br />

einer Ausstellung in der Sammlung Essl<br />

bei Wien mit <strong>neuen</strong> Bildern erklärt Eitel,<br />

warum er seine Werke als lebensbejahend<br />

empfindet und was ihn am Prekariat<br />

interessiert.<br />

H<br />

err Eitel, es schien in den vergangenen<br />

Jahren ruhiger um Sie<br />

geworden zu sein. Ihre letzte<br />

Einzelausstellung in Deutschland liegt<br />

fünf Jahre zurück. Sie selbst leben mittlerweile<br />

in Paris. Brauchten Sie Abstand?<br />

Ich bin nicht komplett umgezogen, ich<br />

habe noch immer meinen Wohnsitz<br />

und ein Atelier in Berlin. Für mich ist es<br />

aber gut, eine Dualität im Leben zu haben.<br />

Ich mag es, die Dinge einmal aus einer<br />

anderen Perspektive zu sehen. Vorher<br />

habe ich eine Zeit lang in New York<br />

gelebt und bin dann wieder nach Berlin<br />

gezogen. Jetzt lebe ich zwischen Berlin<br />

und Paris. Ich finde diese Ortswechsel<br />

produktiv. Dadurch relativiert sich alles<br />

ein wenig. Was in einem Land ungeheuer<br />

wichtig erscheint, wird im anderen fern<br />

und unbedeutend.<br />

In der Sammlung Essl in Klosterneuburg<br />

bei Wien werden nun neben bereits<br />

bekannten Arbeiten auch fünf neue Bilder<br />

von Ihnen zu sehen sein. Hat sich die<br />

räumliche Veränderung in Ihrer Arbeit<br />

niedergeschlagen?<br />

Meine Arbeit hängt immer stark davon<br />

ab, was um mich herum passiert.<br />

Ich male auf Grundlage von eigenen<br />

Fotografien. Das heißt, dass alle Bilder<br />

aus Situationen stammen, die ich selbst<br />

erlebt habe. Dadurch hat der Ort, an<br />

dem eine Arbeit beginnt, selbstverständlich<br />

großen Einfluss. Es braucht allerdings<br />

immer etwas Zeit, bis ich wirklich<br />

anfange, mit dem Material einer Stadt<br />

zu arbeiten. Gerade am Anfang habe ich<br />

noch eine touristische Perspektive. Das<br />

Besondere verstellt mir den Blick. Mich<br />

interessieren in meiner Malerei aber viel<br />

mehr die darunter liegenden Schichten,<br />

Dinge, die dann wieder viel universeller<br />

sind.<br />

Das Besondere einer Stadt scheint auf<br />

Ihren Bildern gar nicht aufzutauchen. Es<br />

gibt keine Exotik und keine fest verortbaren<br />

Architekturen.<br />

Ich vermeide das Exotische. Exotik ist etwas<br />

für Postkarten. Ich denke, man sollte<br />

in der Kunst die Dinge verhandeln, die<br />

man kennt, Dinge, über die man auch etwas<br />

zu sagen hat.<br />

Bei vielen Ihrer jüngeren Arbeiten erscheinen<br />

soziale Texturen – Motive, die auf<br />

Obdachlosigkeit verweisen oder Armut.<br />

Solche Wirklichkeiten haben nicht unmittelbar<br />

etwas mit der Lebenssituation eines<br />

Künstlers zu tun, dessen Werke Preise im<br />

sechsstelligen Bereich erzielen.<br />

Als ich erstmals nach Berlin kam, hatte<br />

ich ein Atelier im Künstlerhaus Bethanien.<br />

Morgens, auf dem Weg zur Dusche,<br />

kam ich immer an einer Glastür<br />

vorbei. Auf der einen Seite der Tür waren<br />

die Künstlerateliers, auf der anderen<br />

Seite befand sich das Sozialamt. Doch<br />

die Tür war nur in einer Richtung hin offen:<br />

von hier nach da. <strong>Die</strong>ses Bild ist mir<br />

immer im Kopf geblieben. In meiner Arbeit<br />

steckt allerdings kein direktes politisches<br />

Statement oder gar eine Anklage.<br />

Ich transponiere das Vorgefundene in<br />

eine andere Realität. Das ist vielleicht<br />

ein bisschen wie im Theater: Personen<br />

oder Dinge, die aus der Realität gegriffen<br />

sind, werden auf meinen Bildern zu<br />

Symbolen. Es ist ja Malerei und keine<br />

Dokumentation.<br />

Sie haben sich in <strong>neuen</strong> Bildern mit der Lebensweise<br />

der Roma auseinandergesetzt.<br />

Das Prekariat ist eben eine Realität. Eine<br />

Realität, die heute allgegenwärtig ist. In<br />

diesen Situationen findet eine starke<br />

Konzentration auf das wirklich Wesentliche<br />

statt. Das Wesentlichste der Existenz<br />

ist es doch vermutlich, am Leben zu bleiben.<br />

<strong>Die</strong>se Konzentration würde ich auf<br />

meinen Bildern gerne in eine Analogie<br />

überführen. Und was die Roma angeht:<br />

In Frankreich ist das ein viel diskutiertes<br />

Thema. Regelmäßig werden hier Lager<br />

platt gewalzt. Gegenüber von meinem<br />

Atelier in Saint-Denis ist im vergangenen<br />

Jahr ein Camp entstanden. Das war gebaut<br />

aus Materialien, die die Bewohner<br />

ausschließlich auf der Straße gefunden<br />

haben. <strong>Die</strong> Improvisation hatte einen eigenen<br />

Stilwillen und eine eigene Ästhetik<br />

– fast schon wie bei einer abstrakten<br />

Skulptur.<br />

Auf Ihren Gemälden hat man oft den<br />

Eindruck, dass Mitgefühl nicht gewollt ist.<br />

Viele Figuren drehen dem Betrachter den<br />

Rücken zu. Kann da Empathie entstehen?<br />

Ich glaube, dass der Akt der Identifikation<br />

über eine Rückenfigur viel leichter<br />

geschehen kann als über ein Gesicht.<br />

Man kann gemeinsam mit der Figur ins<br />

Bild schauen. Auch wenn dieser Bildraum<br />

bei mir meistens sehr wenig Tiefe<br />

besitzt und ein bisschen wie ein Kasten<br />

funktioniert. Schaut man indes direkt<br />

auf ein Gesicht, dann hat man ein<br />

Foto: Uwe Walter, Berlin; Tim Eitel, selbstporträt, 2005. courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin und The Pace Gallery, © VG Bild-kunst, Bonn 2013<br />

118 <strong>Cicero</strong> 7.2013


„Eigentlich finde ich<br />

meine Bilder eher<br />

lebensbejahend. Sie<br />

sind viel positiver, als<br />

ich selbst es bin“<br />

Tim Eitel, hier auf einem Selbstporträt von 2005<br />

Gegenüber. Je nachdem, wie nah dieses<br />

an einem dran ist, kann man sich<br />

mit dem identifizieren – oder eben auch<br />

nicht.<br />

Einige Denker attestieren unserer Gesellschaft<br />

einen Mangel an Kontakt mit dem<br />

„anderen“. <strong>Die</strong>ses Defizit führe, so etwa<br />

Byung-Chul Han, zu Müdigkeit. Melancholie<br />

und Ermattung sind auch jene Begriffe,<br />

die viele Beobachter mit Ihren Bildern in<br />

Verbindung bringen.<br />

Ich frage mich oft, ob diese Melancholie<br />

und auch das Romantische, das manche<br />

sehen, in meinen Bildern wirklich drin<br />

ist. Das liegt vielleicht an der Dunkelheit.<br />

Eigentlich finde ich meine Bilder aber<br />

eher lebensbejahend. Sie sind für mich<br />

viel positiver, als ich es selbst bin.<br />

Ihre Bildräume wirken wie leer geräumte<br />

Plateaus, die auf ein Ereignis warten, das<br />

dann nicht eintrifft. Warum sind Ihre<br />

Bilder immer so handlungsarm?<br />

Ich will die ganze Konzentration auf die<br />

Figuren selbst legen. Es soll da kein Vorher<br />

und kein Nachher geben. Bei Figurationen<br />

fangen die Betrachter meistens<br />

automatisch an, narrativ zu denken. Sie<br />

sehen eine Figur und fragen sich, wo die<br />

herkommt und wo die hingeht. Mir geht<br />

es nur um die reine Präsenz einer Figur –<br />

und somit natürlich auch um die Präsenz<br />

des Bildes selbst.<br />

<strong>Die</strong> Romantik hat die Figur des freien<br />

Künstlers etabliert. Was als Gegenentwurf<br />

zur bürgerlichen Gesellschaft verstanden<br />

wurde, scheint heute fast ein Prototyp des<br />

urbanen Menschen zu sein. Fühlen Sie als<br />

Künstler noch eine Form von Exklusivität?<br />

Das ist schwer zu sagen. Wir sind heute<br />

ja tatsächlich in einer merkwürdigen Situation.<br />

Jeder ist irgendwie kreativ, und<br />

es gibt keine Subkultur mehr. Alles ist assimiliert.<br />

Nicht zuletzt durch das Internet<br />

ist heutzutage jeder Gegenentwurf<br />

binnen kürzester Zeit Mainstream. Da<br />

ist es schon schwer, sich als Künstler eine<br />

Form von Eigenständigkeit zu bewahren.<br />

Hinzu kommt noch diese immens<br />

gestiegene Akzeptanz für die Kunst. Das<br />

ist einerseits natürlich schön; andererseits<br />

verliert das Ganze dadurch ein Stück<br />

Ernsthaftigkeit.<br />

Das Gespräch führte Ralf Hanselle<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 119


| S a l o n | M a n s i e h t n u r , w a s m a n s u c h t<br />

Bunte Fluchten<br />

Pop-Art vor der Pop-Art: Eine patriotische<br />

Bäuerin lieferte den USA das Pflaster<br />

für die Wunden des Kalten Krieges.<br />

Wie Grandma Moses die Idylle wieder<br />

salonfähig machte<br />

Von Beat Wyss<br />

M<br />

enschen strömen aus dem<br />

Bürgerhaus eines Dorfes, beflaggt<br />

mit den Fahnen der Vereinigten<br />

Staaten. Es ist Nationalfeiertag.<br />

Der Zug bewegt sich entlang des Fuhrwegs<br />

zum Garten eines Bauernhauses, wo<br />

einige Frauen, umschwärmt von Kindern,<br />

Tische für das Festmahl gedeckt haben.<br />

Auf der Wiese spielen Burschen Baseball.<br />

Der Himmel ist bedeckt, vielleicht entlädt<br />

sich da noch ein Sommergewitter.<br />

Am Rand dieser ländlichen Idylle stehen<br />

zwei Soldaten, einer mit Gewehr, der<br />

andere lädt die Kanone, beide bereit für<br />

die obligaten 13 Salutschüsse zum Fest.<br />

Sie erinnern daran, dass die Unabhängigkeitserklärung<br />

der 13 britischen Kolonien<br />

an der Ostküste Nordamerikas am 4. Juli<br />

1776 von einem achtjährigen Krieg begleitet<br />

war.<br />

<strong>Die</strong> Malerin der Szene, Anna Mary<br />

Robertson, weltberühmt geworden als<br />

Grandma Moses, war eine große Patriotin.<br />

Schon längst Witwe und Mitte siebzig,<br />

entdeckte die zehnfache Mutter das<br />

Malen als Hobby neben ihrer vielfältigen<br />

Tätigkeit als Hausfrau, Bäuerin und<br />

Großmutter. Das Heimatmuseum von<br />

Bennington in Vermont, etwa 25 Kilometer<br />

entfernt <strong>vom</strong> Gehöft der Künstlerin<br />

in Eagle Bridge, New York, besitzt<br />

die größte öffentliche Grandma-Moses-<br />

Sammlung samt Memorabilien, darunter<br />

den reich bemalten Küchentisch, an dem<br />

die Greisin zu malen pflegte.<br />

<strong>Die</strong> naiven Bilder aus dem Landleben<br />

passen gut in ein Museum, das zugleich<br />

lokale Gedenkstätte des amerikanischen<br />

Revolutionskriegs ist. In der Schlacht von<br />

Bennington am 16. August 1777 erlitten<br />

die britischen Truppen, darunter auch<br />

verbündete Indianer und 200 Braunschweiger<br />

Dragoner, eine erste empfindliche<br />

Niederlage gegen die rebellierenden<br />

Amerikaner. Grandma Moses war stolz<br />

auf ihren Ururgroßvater Archibald Alexander,<br />

der damals in einem Kampfverband<br />

aus Albany mitmarschiert war. Sie<br />

widmete ihr Gemälde „July Fourth“ dem<br />

amerikanischen Präsidenten Harry Truman.<br />

Das Werk gelangte 1952 <strong>vom</strong> Bauernhof<br />

direkt ins Weiße Haus in Washington.<br />

Der Kalte Krieg nach außen<br />

fördert die Idylle im Innern.<br />

Der kometenhafte Aufstieg von<br />

Grandma Moses begleitete das amerikanische<br />

Selbstbewusstsein nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg, als die Armeen der<br />

USA das seit Jahrhunderten verzankte<br />

und in Totalitarismen zerfallene Europa<br />

unter der Pax Americana zivilisiert haben.<br />

Und Westeuropa schloss sich willig<br />

dem Grandma-Moses-Triumph an: Bereits<br />

im Sommer 1950 zog eine Wanderausstellung<br />

von Wien über München,<br />

Salzburg, Bern, Den Haag nach<br />

Paris. Ich erinnere mich, als Kind von<br />

Grandma Moses gehört zu haben. Von<br />

den großen Namen des abstrakten Expressionismus,<br />

Jackson Pollock oder<br />

Mark Rothko, erfuhr ich erst als Student.<br />

Grandma Moses war die Schwalbe,<br />

die den Frühling amerikanischer Vorherrschaft<br />

im Kunstsystem der Nachkriegszeit<br />

„July Fourth“<br />

widmete<br />

Grandma<br />

Moses 1952<br />

US-Präsident<br />

Harry Truman<br />

eröffnete. Es wäre zu kurz gegriffen, sie<br />

als naive Bauernmalerin abzutun. Zehn<br />

Jahre vor Andy Warhol hat die Bäuerin<br />

aus Eagle Bridge gegenständliche<br />

Kunst, damals verpönt in intellektuellen<br />

Kreisen, wieder salonfähig gemacht.<br />

Ihr Werk ist Pop-Art avant la lettre.<br />

Seit den frühen fünfziger Jahren überschwemmten<br />

Grandma-Moses-Motive<br />

Tapeten, Sofakissen, Gardinenstoffe<br />

und Zuckerdosen, ganz zu schweigen<br />

von den Postkarten mit Bauernszenen<br />

Fotos: Grandma Moses: July Fourth. Copyright © 1951<br />

(renewed 1979), Grandma Moses Properties Co., New<br />

York/Courtesy of The White House Art Collection<br />

120 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Foto: artiamo (<strong>Auto</strong>r)<br />

und Winterlandschaften: Bei ihrem Tod<br />

1961, so wurde geschätzt, waren deren<br />

100 Millionen in Umlauf gesetzt.<br />

Eine 6-Cent-Briefmarke nach dem Gemälde<br />

„July Fourth“ wurde im Mai 1969<br />

ausgegeben.<br />

Anekdoten säumen ihren späteren<br />

Weg zur Malerei: Gestickt und gehäkelt<br />

hatte sie ja seit ihrer Zeit als Hausmädchen,<br />

doch zu malen habe sie begonnen,<br />

als Arthritis in den Fingern es ihr zunehmend<br />

schwerer machte, die dünne Nadel<br />

zu halten als den Pinsel. Zudem war Malerei<br />

haltbarer als ihre von Familie und<br />

Freundeskreis so geschätzten Stickereien,<br />

von denen einige durch Mottenfraß beschädigt<br />

wurden. Solch hausfrauliche Sinnesart<br />

machte es dem Feminismus der<br />

ersten Stunde nicht leicht, die spät berufene<br />

Malerin als Kampfgenossin anzuerkennen;<br />

die emanzipierte Frau sah im<br />

malenden Mütterchen mit der gestärkten<br />

Küchenschürze ein Opfer weiblichen<br />

Rollenzwangs.<br />

Der Laufbahn in den Olymp schadete<br />

das kaum. Im Alter von 92 Jahren wurde<br />

Grandma Moses für ihre Verdienste um<br />

ihr Vaterland in die Frauenvereinigung<br />

„Töchter der Amerikanischen Revolution“<br />

aufgenommen.<br />

B e at W y s s<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt in Karlsruhe<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 121


| S a l o n | 1 9 3 3 – u n t e r w e g s i n d i e D i k t a t u r<br />

Fromme Illusionen<br />

Das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl war Hitlers erster völkerrechtlicher Vertrag und<br />

sorgte für einen Ansehensgewinn. Er brach ihn dennoch. Sechste Folge einer Serie<br />

von Philipp Blom<br />

E<br />

in halbes Jahr, nachdem er<br />

Reichskanzler geworden war,<br />

sah sich Hitler mit der Tatsache<br />

konfrontiert, dass das Ausland<br />

das neue deutsche Regime noch<br />

immer mit Skepsis beobachtete. Natürlich:<br />

Deutschland war nicht die einzige europäische<br />

Diktatur, aber als großer Verlierer<br />

des Ersten Weltkriegs und als strategisch<br />

unumgänglicher Partner für jede Neuordnung<br />

Europas wurde es besonders intensiv<br />

beobachtet. Der Führer brauchte einen außenpolitischen<br />

Erfolg, der die Kritiker beruhigen<br />

konnte.<br />

Nichts war dafür besser geeignet als ein<br />

Konkordat mit dem Heiligen Stuhl, der<br />

seine eigenen Gründe hatte, außenpolitische<br />

Erfolge zu suchen. Als Staat von Mussolinis<br />

Gnaden musste er seine völkerrechtliche<br />

Stellung absichern und gleichzeitig<br />

die Interessen der Kirche fördern. Ein Konkordat<br />

mit dem Deutschen Reich würde<br />

ihn stärken. Eine Garantie der Nichteinmischung<br />

der jungen Diktatur in kirchliche<br />

Belange konnte darüber hinaus sicherstellen,<br />

dass die Kirche auch weiterhin Konfessionsschulen,<br />

Priesterseminare und karitative<br />

Einrichtungen führen und so ihre<br />

Stellung im Land behaupten konnte.<br />

Hitler hatte zudem ein innenpolitisches<br />

Interesse. <strong>Die</strong> katholisch dominierte Zentrumspartei,<br />

geleitet von Prälat Ludwig<br />

Kaas und anderen einflussreichen Priestern,<br />

war ihm ein ständiges Hindernis im<br />

Parlament. Immerhin waren ein Drittel<br />

der Deutschen Katholiken. Wenn die Regierung<br />

im Gegenzug für ihre Neutralität<br />

in kirchlichen Belangen eine Garantie bekam,<br />

dass sich kirchliche Amtsträger nicht<br />

mehr politisch engagieren würden, wäre<br />

das Zentrum praktisch ausgeschaltet.<br />

<strong>Die</strong> Verhandlungen über ein Konkordat<br />

fanden in Rom statt. Auf kirchlicher<br />

Seite verhandelte Kardinalstaatssekretär<br />

Eugenio Pacelli, der spätere<br />

Papst Pius XII. Noch wenige Monate<br />

zuvor hatten die deutschen<br />

Bischöfe gemeinsam die Position<br />

vertreten, man könne<br />

nicht gleichzeitig Katholik<br />

und Nazi sein. Jetzt aber,<br />

als der Staat immer stärker<br />

schien, änderte sich ihre Meinung.<br />

Schon im März ließen<br />

sie verlauten, sie vertrauten Hitler:<br />

„Ohne die in unseren früheren Maßnahmen<br />

liegende Verurteilung bestimmter<br />

religiös-sittlicher Irrtümer aufzugeben,<br />

glaubt daher der Episkopat das Vertrauen<br />

hegen zu können, dass die vorbezeichneten<br />

allgemeinen Verbote und Warnungen<br />

nicht mehr als notwendig betrachtet werden<br />

brauchen.“<br />

Lange haben Historiker angenommen,<br />

Kardinal Pacelli habe von Rom aus im<br />

Hintergrund die Strippen gezogen und<br />

die deutsche katholische Kirche verraten,<br />

aber tatsächlich war er irritiert über die<br />

nationale Linie der meisten deutschen Bischöfe.<br />

Der katholische Journalist Walter<br />

Dirks erinnerte sich: „Als diese bösen Nazis<br />

mit einem Mal legal, wie es schien, an<br />

die Macht gekommen waren, entdeckte<br />

man plötzlich eine Menge von Übereinstimmungen,<br />

ein hierarchisches Denken<br />

von oben nach unten, den Antibolschewismus,<br />

den Antiliberalismus, der ja bei<br />

1933<br />

Anno<br />

Als Deutschland die<br />

Demokratie verlor<br />

den konservativen Katholiken immer eine<br />

große Rolle gespielt hat.“<br />

Das „nationale Erwachen“ Deutschlands<br />

begrüßten die Bischöfe und stellten<br />

fest: „Ein abwartendes Beiseitestehen<br />

oder gar eine Feindseligkeit der Kirche<br />

dem Staat gegenüber müsste Kirche<br />

und Staat verhängnisvoll<br />

treffen.“ Nicht alle Kirchenfürsten<br />

waren aber glücklich<br />

über diesen <strong>neuen</strong>, anschmiegsamen<br />

Kurs der<br />

Kirche. Der Kölner Kardinal<br />

Joseph Schulte meinte, mit „einer<br />

Diktatur kann man kein Konkordat<br />

schließen“, auch Kardinal von<br />

Galen in Münster war kritisch, aber ihre<br />

Stimmen wurden <strong>vom</strong> Chor der national<br />

eingestellten Kollegen übertönt.<br />

Pacelli, der lange als päpstlicher Nuntius<br />

in Berlin gewesen war, stellte die Staatsräson<br />

des Vatikans über die Botschaft der<br />

Kirche. Als Papst Pius XI. ihn am 1. April<br />

1933 angesichts des Judenboykotts beauftragte,<br />

über Maßnahmen der Kirche nachzudenken,<br />

notierte er, „es könnten Tage<br />

kommen, in denen man sagen können<br />

muss, dass in dieser Sache etwas gemacht<br />

worden ist“. Er tat aber nichts.<br />

Im April war das „Gesetz zur Wiederherstellung<br />

des Berufsbeamtentums“ verabschiedet<br />

worden, das es der Berliner Regierung<br />

erlaubte, jüdische und politisch<br />

missliebige Beamte loszuwerden. Pacelli<br />

wies seinen Nuntius an, der Vatikan könne<br />

sich nicht in die inneren Angelegenheiten<br />

eines anderen Staates einmischen. Stellungnahmen<br />

zur „Judenfrage“ seien allein<br />

Sache der deutschen Bischöfe. Seine<br />

122 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Am 20. Juli 1933 wurde in Rom das Reichskonkordat zwischen dem Deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl unterzeichnet.<br />

Vizekanzler Franz von Papen und der päpstliche Nuntius in Berlin, Eugenio Pacelli, später Pius XII., führten die Griffel<br />

Fotos: BPK Images, Peter Rigaud (<strong>Auto</strong>r); Grafik: <strong>Cicero</strong><br />

eigene Haltung in diesen Fragen, nachdem<br />

er 1939 selbst zum Papst gewählt wurde, ist<br />

bis heute umstritten.<br />

Das Reichskonkordat wurde am<br />

20. Juli 1933 in Rom feierlich unterzeichnet.<br />

<strong>Die</strong> Glocken des Petersdoms läuteten.<br />

Beide Seiten waren hochzufrieden und sahen<br />

sich als Gewinner der Verhandlungen.<br />

Besonders Hitler kostete seinen Triumph<br />

voll aus. Seine Regierung hatte ihren ersten<br />

völkerrechtlichen Vertrag abgeschlossen<br />

und konnte sich mit dem moralischen Status<br />

der Kirche schmücken, die ihm den gewünschten<br />

politischen Sieg beschert hatte.<br />

Gleichzeitig hatte sich die Zentrumspartei<br />

bereits während der Verhandlungen aufgelöst.<br />

Jede politische Einmischung vonseiten<br />

der deutschen Katholiken war jetzt effektiv<br />

unmöglich geworden. Hitler zählte<br />

darauf, dass sie sich „von jetzt an rückhaltlos<br />

in den <strong>Die</strong>nst des nationalsozialistischen<br />

Staates stellen werden“.<br />

<strong>Die</strong> katholische Hierarchie bestärkte<br />

ihn darin. Der Münchner Kardinal Michael<br />

von Faulhaber schrieb dem Führer:<br />

„Was die alten Parlamente und Parteien<br />

in 60 Jahren nicht fertigbrachten, hat Ihr<br />

staatsmännischer Weitblick in sechs Monaten<br />

weltgeschichtlich verwirklicht.“<br />

Selbstverständlich hielten sich die Nationalsozialisten<br />

nicht an ihren Teil des<br />

faulen Handels. <strong>Die</strong> Kirche wurde zusehends<br />

gleichgeschaltet. Aller kirchlicher<br />

Widerstand und alle Hilfe für Verfolgte<br />

waren zur lebensgefährlichen Sache einiger<br />

mutiger Priester und Ordensleute geworden,<br />

etwa des Berliner Dompropsts<br />

Bernhard Lichtenberg. 1942 rang sich Pius<br />

dazu durch, in der Weihnachtsansprache<br />

das Schicksal von „Hunderttausenden, die,<br />

persönlich schuldlos, bisweilen nur um ihrer<br />

Volkszugehörigkeit oder Abstammung<br />

willen dem Tode geweiht (…) sind,“ zu bedauern.<br />

Weiter ging er nicht.<br />

Konkordate, die der Heilige Stuhl mit<br />

faschistischen Diktatoren abschloss, sind<br />

bis heute gültig. Das gilt für Mussolinis<br />

Konkordat von 1929 ebenso wie für die<br />

1933 ratifizierten Konkordate mit dem<br />

Dollfuß-Regime in Österreich und mit<br />

Hitler-Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat diese Regelung 1957<br />

bestätigt.<br />

Wir werden den Weg in die Diktatur von<br />

1933 weiterhin nachzeichnen. In der nächsten<br />

Ausgabe wenden wir uns der Einführung<br />

des Volksempfängers zu.<br />

Philipp Blom ist Historiker<br />

und <strong>Auto</strong>r. Seine Bücher „Der<br />

taumelnde Kontinent“ und<br />

„Böse Philosophen“ wurden<br />

mehrfach ausgezeichnet<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 123


Jetzt im Handel! Oder für 3,70 € zzgl. Versandkosten bequem per Telefon<br />

unter 040/5555 78 00 bzw. online unter neon.de/heft bestellen.


B e n o t e t | S a l o n |<br />

illustration: anja stiehler/jutta fricke illustrators<br />

Musik macht den<br />

Unterschied<br />

Weil Phantasie ein bedrohter Rohstoff ist, darf<br />

an der Kunsterziehung nicht gespart werden<br />

Von Daniel Hope<br />

N<br />

e ulich sprach ich bei dem Branchenforum Classical<br />

Next. Über 800 internationale Fachbesucher waren nach<br />

Wien gekommen, Konzerthausmanager, Musiker, Künstleragenten,<br />

Vertreter von Labels und Vertrieben sowie Journalisten<br />

aus 40 Ländern. Zufällig fiel dieses Datum exakt auf den 100. Jahrestag<br />

der skandalösen Pariser Première von Igor Strawinskis „Le<br />

Sacre du Printemps“. Es gibt nicht viele Werke, die in den vergangenen<br />

100 Jahren einen solchen Aufruhr ausgelöst haben.<br />

<strong>Die</strong> Musikwelt hat sich seitdem radikal verändert. Wenn wir<br />

den Kassandrarufen glauben würden, wären wir klassischen Musiker<br />

schon am Ende. Schreckensbilder tauchen auf von Künstlern,<br />

die wie Mozart von Gläubigern verfolgt werden oder wie<br />

Schubert den Winter in ungeheizten Dachkammern verbringen<br />

und mit klammen Fingern ihr verstimmtes Fortepiano bedienen.<br />

Und was ist aus den Sponsoren-Millionen geworden, mit denen<br />

„Lehman Brothers“ und die anderen Pleite-Banken Musik und<br />

Theater unterstützen wollten? Darf man noch hoffen, dass die<br />

Schecks ausgehändigt werden? Wird es auch überhaupt Leute geben,<br />

die das Geld für eine Konzertkarte, eine CD, zumindest einen<br />

Download erübrigen?<br />

Wer Musik liebt oder wer sie nur verkauft, beschäftigt sich mit<br />

solchen Fragen nicht erst seit der Finanzkrise. <strong>Die</strong> Musik hatte immer<br />

schon heilende Kräfte, und sei es nur, dass sie die Nerven beruhigt<br />

– so wie anno 1873, als Johann Strauss gleich nach dem großen<br />

Börsenkrach in Wien in seiner „Fledermaus“ schrieb: „Glücklich<br />

ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“<br />

Man sollte aber nicht vergessen, dass Krisen den Anstoß zu<br />

<strong>neuen</strong> Überlegungen geben, dass sie, wie es Max Frisch formuliert<br />

hat, in einen „produktiven Zustand“ übergehen können, sofern<br />

man ihnen „den Beigeschmack der Katastrophe nimmt“. Das<br />

Problem ist nur: Vor allem die jungen Menschen haben immer<br />

seltener Gelegenheit, klassische Musik zu entdecken. Der Ursachenkatalog<br />

wurde oft genug aufgezählt: Hausmusik ist zur Ausnahme<br />

geworden, der Musikunterricht in den Schulen unzureichend;<br />

klassische, angeblich antiquierte Konzerte schrecken ab;<br />

die Oper ist häufig elitär; die Eintrittspreise sind gesalzen, manche<br />

Zeitungskritiken abgehoben; gewisse Radioprogramme verbreiten<br />

nur belangloses Gedudel.<br />

Es gibt aber keine Krise der klassischen Musik. Sie ist vital wie eh<br />

und je. <strong>Die</strong> Krise liegt in der Geringschätzung, die der Musik entgegengebracht<br />

wird. Was kann man dagegen tun? In Deutschland<br />

gibt es Künstler und Institutionen, die unermüdlich kämpfen, um<br />

die Musik an die Jugend zu bringen: Von Lars Vogts „Rhapsody in<br />

School“ bis zum „Netzwerk Junge Ohren“, von „Live Music Now“<br />

bis zu „Jedem Kind ein Instrument“. <strong>Die</strong>se großartigen Organisationen<br />

machen Deutschland zum Vorreiter. Aber sie brauchen unsere<br />

Unterstützung, von Künstlerseite wie auch von der Musikbranche.<br />

Ich bin ein großer Befürworter der musischen Erziehung. Der<br />

Zweck der Kunsterziehung ist es aber nicht, Künstler zu produzieren.<br />

Ihr Zweck ist es, unserer Jugend eine humanistische Ausbildung zu<br />

ermöglichen, damit sie ein erfülltes und produktives Leben in einer<br />

freien Gesellschaft verwirklichen kann.<br />

Wenn wir uns in einem globalen Markt wirtschaftlich behaupten<br />

wollen, brauchen wir Kreativität, Einfallsreichtum und Innovation.<br />

Aber echte Innovation kommt nicht nur durch Technologie,<br />

sie kommt durch Kunst. Kunst ist ein unverzichtbares Hilfsmittel,<br />

die Welt zu verstehen und zu definieren. Das Erwachsenwerden<br />

beginnt in der Phantasie eines Kindes. Aber in den vergangenen<br />

20 Jahren blieb die Phantasie zugunsten des Marktes auf der<br />

Strecke. Und ein Markt macht nur eins – er legt Preise fest. <strong>Die</strong><br />

Rolle von Kultur muss jedoch über das Wirtschaftliche hinausgehen.<br />

Ihr Fokus sollte der Wert sein und nicht der Preis.<br />

Es gibt nur eine einzige soziale Kraft, die stark genug ist, um<br />

der Vermarktung von kulturellen Werten gegenzusteuern: unser<br />

Bildungssystem. Doch im Jahr 2013 werden die Kinder in unseren<br />

Schulen meistens ausgebildet ohne Musik, ohne bildende<br />

Kunst, Tanz oder literarische Künste. <strong>Die</strong> Ausbildung fördert in<br />

erster Linie die analytische Seite des Gehirns, während die andere<br />

Hälfte, die ganzheitliche, intuitive und ästhetische, unterentwickelt<br />

bleibt.<br />

Musik lohnt sich – und das meine ich nicht materiell, auch<br />

wenn ich von der Musik lebe. Musik lohnt sich, weil sie jeden, der<br />

sie mit wachen Sinnen in sich aufnimmt, bereichert und mit Sphären<br />

vertraut macht, die ohne Musik verschlossen blieben. Lasst uns<br />

gemeinsam kämpfen, die Musik zu stärken, damit ihre Strahlkraft<br />

noch mehr Menschen erreicht und bereichert.<br />

Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch<br />

„Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt)<br />

und die CD „Spheres“ (Deutsche Grammophon). Er lebt in Wien<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 125


| S a l o n | G e i s e l d r a m a v o n g l a d b e c k<br />

xxxx<br />

126 <strong>Cicero</strong> 7.2013


xxxx<br />

Der tod trug<br />

viele masken<br />

Vor 25 Jahren wurden Journalisten zu Handlangern<br />

des Verbrechens. Das Geiseldrama von Gladbeck<br />

markiert einen Tabubruch. Offene Fragen bleiben<br />

von Peter Henning<br />

Sie starb im Kugelhagel<br />

auf der A 3:<br />

Silke Bischoff war eines<br />

der drei Todesopfer.<br />

Entführer Degowski<br />

saß mit im Wagen<br />

M<br />

eine schreckliche faszination<br />

begann vor 25 Jahren,<br />

am 16. August 1988. Ich<br />

war damals 29 Jahre alt und<br />

davon überzeugt, dass Bilder<br />

nicht lügen. Eine Hitzewelle hielt das<br />

Land seit Wochen im Griff, als sich in der<br />

nordrhein-westfälischen Stadt Gladbeck<br />

in den frühen Morgenstunden zwei Männer<br />

anschickten, jenes Verbrechen zu begehen,<br />

das zum öffentlichsten der deutschen<br />

Nachkriegsgeschichte werden sollte.<br />

Bis zu jenem unheilvollen 16. August<br />

war der Name Gladbeck den meisten Westdeutschen<br />

eher unbekannt. Wie die Wasser<br />

der bei Holzwickede entspringenden Emscher,<br />

die auf ihrem Weg zur Mündung in<br />

den Rhein bei Dinslaken-Eppinghoven einen<br />

Bogen um Gladbeck macht, war auch<br />

sonst alles Dramatische bis dahin an dem<br />

67 000 Einwohner zählenden Ort vorbeigezogen.<br />

Doch dann, gegen 7.45 Uhr jenes<br />

abermals hochsommerliche Temperaturen<br />

versprechenden Tages, fiel das Dramatische<br />

mit lautloser Wucht in Gladbeck ein. Was<br />

sich von dort ausgehend in den folgenden<br />

54 Stunden ereignen sollte, sollten nicht<br />

nur jene, die direkt oder indirekt an den<br />

Geschehnissen beteiligt waren, anschließend<br />

für immer mit dem Namen Gladbeck<br />

verbinden.<br />

<strong>Die</strong> beiden 31 und 32 Jahre alten, in<br />

Gladbeck aufgewachsenen Männer Hans-<br />

Jürgen Rösner und <strong>Die</strong>ter Degowski setzten<br />

sich am Morgen des 16. August auf<br />

ein gestohlenes Motorrad und fuhren von<br />

der City aus schwer bewaffnet in Richtung<br />

Nordwesten, nach Rentford-Nord,<br />

um eine Filiale der Deutschen Bank zu<br />

überfallen.<br />

Was folgte, ging als „Geiseldrama von<br />

Gladbeck“ sowohl in die europäische Kriminal-<br />

als auch in die bundesdeutsche<br />

Fernsehgeschichte ein: Zwei Berufskriminelle<br />

hielten das Land zweieinhalb Tage<br />

lang in Atem, nahmen Geiseln und kaperten<br />

einen Bus, töteten einen 15-jährigen<br />

Jungen, gaben ungezählte Radio- und<br />

TV-Interviews – und ein Millionenpublikum<br />

sah ihnen vor dem heimischen Fernseher<br />

live zu: staunend und irritiert, erregt<br />

und ungläubig, abgestoßen und fasziniert.<br />

Zwei ehemalige Sonderschüler mutierten<br />

zu Feldherren im Bilderkrieg, Reporter<br />

wurden zu Handlangern. Auch ich saß gebannt<br />

vor dem Fernseher, bis zum blutigen<br />

Showdown auf der <strong>Auto</strong>bahn A 3.<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 127


| S a l o n | G e i s e l d r a m a v o n G l a d b e c k<br />

Das Geiseldrama hatte innerhalb von<br />

54 Stunden ein ganzes Land verändert,<br />

hatte die Fratze des Journalismus und der<br />

Medien ans Licht gezerrt, hatte auch meine<br />

Art zu sehen und zu fühlen erschüttert.<br />

Journalisten machten sich mit Verbrechern<br />

auf irritierende Art und Weise gemein, holten<br />

ihnen Kaffee, Eis und Zigaretten. <strong>Die</strong><br />

Polizei schaute tatenlos zu.<br />

Ich wollte verstehen, was damals in<br />

Gladbeck und mit mir geschah. Aber erst<br />

2009 konnte ich beginnen, im Internet zu<br />

recherchieren; auch trieb ich mich stundenlang<br />

in den Zeitungsarchiven des Hessischen<br />

Rundfunks und des WDR herum,<br />

kopierte Hunderte von Artikeln und lud<br />

immer neue Videos hoch. Einen Plan aber,<br />

wie ein Gladbeck-Roman aussehen könnte,<br />

hatte ich nicht. Bis ich im Netz auf das<br />

knapp fünf Minuten lange Video des Kölner<br />

Filmemachers Florian Jung stieß, in<br />

welchem ich den ehemaligen Dortmunder<br />

SEK-Beamten Rainer Kesting unter Tränen<br />

den Satz sagen hörte: „Ich bin schuld, dass<br />

Silke Bischoff tot ist!“<br />

Ich blickte in das Gesicht eines Mannes,<br />

der nicht fertig wurde mit seiner Schuld.<br />

Er, der am 18. August, gegen Mittag, in<br />

der Kölner Breiten Straße am Geiselwagen<br />

zwischen den Journalisten, die den Gangstern<br />

ihre Mikrofone hinstreckten, gestanden<br />

und seinen Arm um Rösners Schulter<br />

gelegt hatte. „Ich hätte bloß nicken müssen“,<br />

erzählte Kesting mir später, „und<br />

der auf dem Kofferraum sitzende Kollege<br />

hätte Degowski auf mein Zeichen hin per<br />

Kopfschuss eliminiert. Gleichzeitig hätte<br />

ich Rösner ausschalten und durchs offene<br />

Fenster aus dem Wagen ziehen können.<br />

Doch die Einsatzleitung in Recklinghausen<br />

hat es mir unter Androhung eines Disziplinarverfahrens<br />

strikt verboten. Ich habe<br />

nie verstanden, weshalb.“<br />

Gestorben ist die 18-jährige Bremer<br />

Anwaltsgehilfin Silke Bischoff auf der A 3<br />

in Fahrtrichtung Frankfurt beim Zugriff<br />

des Sondereinsatzkommandos der Kölner<br />

Polizei, das auf Höhe der Raststätte<br />

Siegburg unkontrolliert das Feuer auf das<br />

Fluchtfahrzeug eröffnete und dabei mehr<br />

als 60 Schuss auf den von Hans-Jürgen<br />

Rösner gesteuerten BMW abfeuerte.<br />

Ich nahm Kontakt auf mit dem aus dem<br />

Polizeidienst ausgeschiedenen ehemaligen<br />

SEK-Beamten. Wir trafen uns mehrfach<br />

in Köln und Dortmund. Und als ich später<br />

eine Telefonnummer in Hamburg-Harburg<br />

Hans-Jürgen Rösner lieferte den Kameras bereitwillig jene Bilder, nach denen<br />

diese gierten. <strong>Die</strong> Kumpanei der Medien mit den Entführern war ohne Beispiel.<br />

Welche Rolle aber spielte die Polizei? Könnte Silke Bischoff tatsächlich noch leben?<br />

Rösner, überlebensgroß und doch ein Krimineller, kein Archetyp<br />

Zwang und Gewalt: Degowski saß, Rösner stand. Was dachten die Entführten?<br />

Fotos: Peter Meyer (Seiten 126 bis 128), Privat (<strong>Auto</strong>r)<br />

128 <strong>Cicero</strong> 7.2013


wählte, um den Fotografen Peter Meyer um<br />

Mithilfe zu bitten, begann der geplante Roman<br />

Konturen anzunehmen. Doch Meyer,<br />

der im August 1988 für AP und den Stern fotografierte<br />

und in seiner Funktion als freiwilliger<br />

Mittler zwischen Rösner und der Polizei<br />

als Erster in den von den Gangstern gekaperten<br />

Linienbus stieg, um Bilder zu machen,<br />

lehnte meine Anfrage kategorisch ab.<br />

Mit den Worten „Lassen Sie mich mit<br />

dem Scheiß in Ruhe!“ erteilte er meiner<br />

Bitte eine schroffe Absage. Meyer war die<br />

erste, wichtigste Verbindung zwischen<br />

den damals involvierten Journalisten und<br />

den Geiselnehmern. Er hatte eine wichtige<br />

Rolle gespielt. Trotzdem trieb ich mein<br />

Vorhaben voran.<br />

Als ich mich Anfang 2013 wieder bei<br />

Meyer meldete und ihn bat, das bislang<br />

Geschriebene vorlesen zu dürfen, willigte<br />

er zu meiner großen Erleichterung ein. So<br />

erzählte ich ihm die Geschichte von Menschen,<br />

die direkt oder indirekt in die Ereignisse<br />

hineingezogen wurden – und deren<br />

Leben sich dadurch innerhalb von 54 Stunden<br />

für immer veränderten. Rainer Kesting,<br />

der im Buch Rolf Kirchner heißt, war einer<br />

von ihnen, Peter Meyer, dem ich den Namen<br />

Peter Ahrens gab, ein weiterer. Hinzu<br />

kamen eine Kölner Schriftstellerin und<br />

eine Bremer Taxifahrerin sowie der Busfahrer,<br />

der den gekaperten Linienbus von<br />

Bremen bis nach Enschede steuerte, wo es<br />

zum Schusswechsel mit der holländischen<br />

Polizei kam.<br />

<strong>Die</strong> Ereignisse ließen sich anhand der<br />

Bild-, Ton- und Printdokumente, die während<br />

der 54 Stunden entstanden waren, nahezu<br />

lückenlos rekonstruieren. Doch als<br />

ich versuchte, über das Material hinaus<br />

Kontakt zu dem zu lebenslanger Haft plus<br />

anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilten,<br />

seit Jahren in der Justizvollzugsanstalt<br />

Bochum einsitzenden Hans-Jürgen<br />

Rösner aufzunehmen, begannen die Probleme,<br />

Ungereimtheiten und Widersprüche.<br />

Mit der Formulierung „Ich kann es rein<br />

juristisch betrachtet nicht verhindern, dass<br />

Sie Rösner besuchen, doch ich werde alles<br />

tun, damit es Ihnen nicht gelingt“, schmetterte<br />

der zuständige Gefängnispsychologe,<br />

der Rösner seit seinem 17. Lebensjahr<br />

kennt, mein Ansinnen ab, den inzwischen<br />

56 Jahre alten Straftäter, der die interne<br />

Poststelle der Vollzugsanstalt leitet, zu besuchen.<br />

Auf die Frage, weshalb er den Zugang<br />

verweigere, erhielt ich zur Antwort:<br />

Das damalige<br />

Vorgehen der Polizei<br />

erweist sich als eine<br />

Serie vermeidbarer<br />

Fehler<br />

„Weil wir nicht wollen, dass der noch mehr<br />

überschnappt. Außerdem ist der Typ eiskalt.<br />

Um es Ihnen zu illustrieren: Für den<br />

ist ein Menschenleben genauso viel wert<br />

wie eine Schnake, die Sie in den Arm sticht.<br />

Da haut man drauf und schnippt sie weg.“<br />

Auch mein Versuch, über Rösners<br />

Aache ner Anwalt Rainer <strong>Die</strong>tz Kontakt zu<br />

seinem Mandanten zu bekommen, schlug<br />

fehl. Auf die Frage, welche Chance bestünde,<br />

zu Rösner vorzudringen, antwortete<br />

<strong>Die</strong>tz unmissverständlich: „Keine! <strong>Die</strong><br />

halten ihn total unter Verschluss. Außerdem<br />

gab es für Rösner in 25 Jahren nicht<br />

die geringste Hafterleichterung, nichts! <strong>Die</strong><br />

behandeln ihn, als sei er gestern eingefahren.<br />

Warum wohl?“<br />

Ja, warum wohl? Weil er es mit seiner<br />

bornierten Unnachgiebigkeit vermochte,<br />

in nur 54 Stunden ganze Zünfte – nämlich<br />

die der Polizei und jene der Journalisten<br />

– in bis heute anhaltende Krisen zu<br />

stürzen? Weil er einen ganzen Polizeiapparat<br />

an seine Grenzen führte, indem er dessen<br />

Schwachstellen aufdeckte?<br />

Tatsächlich erweist sich das damalige<br />

Vorgehen der Polizei bei genauerer Betrachtung<br />

als eine Serie vermeidbarer Fehler und<br />

Pannen, die unverändert Fragen aufwirft:<br />

Weshalb etwa gewährte die Polizei den Geiselnehmern<br />

in Gladbeck freien Abzug aus<br />

der Bank, wo doch ein ungeschriebenes Polizeigesetz<br />

lautet: Geiselgangster dürfen den<br />

Ort der Geiselnahme nicht verlassen!<br />

Weshalb war kein Krankenwagen vor<br />

Ort, als der 15-jährige Emanuele de Giorgi<br />

auf der <strong>Auto</strong>bahnraststätte Grundbergsee<br />

bei Bremen durch eine Kugel aus <strong>Die</strong>ter<br />

Degowskis Colt lebensgefährlich verletzt<br />

wurde? Wieso verweigerte die Polizei den<br />

Geiselnehmern ab Bremen jeglichen Kontakt?<br />

Weshalb griff sie nicht zu, als <strong>Die</strong>ter<br />

Degowski sich minutenlang von dem<br />

nur noch mit den beiden Geiseln besetzten<br />

Fluchtfahrzeug zum Wasserlassen entfernte,<br />

während Hans-Jürgen Rösner zeitgleich<br />

mit seiner Freundin Monika Löblich<br />

einen Einkaufsbummel durch die Stadt unternahm?<br />

Und warum stoppte das Mobile<br />

Einsatzkommando das Fluchtfahrzeug tags<br />

darauf bei Siegburg unter willentlicher Inkaufnahme<br />

der Tötung der beiden weiblichen<br />

Geiseln mit Dutzenden von scheinbar<br />

wahllos abgefeuerten Schüssen? Und<br />

zuletzt: Verschwand, wie Gerold Bischoff,<br />

der Onkel der getöteten Silke Bischoff später<br />

behauptete, das angebliche Projektil aus<br />

Rösners Waffe, mit dem sie getötet worden<br />

sein soll, tatsächlich im Zuge der Obduktion,<br />

ehe es Stunden später bis zur Unkenntlichkeit<br />

verformt wieder auftauchte?<br />

Fragen an die Kölner Pressestelle dazu<br />

wurden abgeblockt, und die beim SEK<br />

Köln vorliegenden Akten, die Antworten<br />

auf einige der hier gestellten Fragen geben<br />

könnten, sind bis auf den heutigen Tag<br />

nicht zugänglich für Zivilpersonen. <strong>Die</strong><br />

Verlagsleitung des Kölner Express, der seinerzeit<br />

das Kunststück fertigbrachte, in drei<br />

Tagen fast 40 Sonderseiten zum Thema zu<br />

produzieren, hat die entsprechenden Seiten<br />

hausintern gesperrt: Einsichtnahme nicht<br />

möglich! Warum? Allein aus Scham über<br />

die unrühmliche Rolle, die der damalige<br />

stellvertretende Chefredakteur des Blattes,<br />

Udo Röbel, spielte, indem er in der<br />

Breiten Straße zu den Geiselgangstern ins<br />

<strong>Auto</strong> stieg und sie aus der Stadt auf die A 3<br />

in Richtung Frankfurt lotste? Oder steckt<br />

mehr dahinter?<br />

Das Verbrechen forderte damals in zuvor<br />

nicht gekannter Weise die Phantasie<br />

der Berichterstatter heraus. Und ob Fernsehen,<br />

Rundfunk oder Presse: Im aufgeregten<br />

Eifer der Journalisten geriet das<br />

Verbrechen zur Tragödie, zur makabren<br />

Inszenierung, zur gefälschten Wirklichkeit.<br />

Kleinkriminelle wurden zu Archetypen<br />

stilisiert, durch Schlagzeilen verzerrt,<br />

aufgebläht ins Monströse; Wesen, die dem<br />

Wunsch der Angepassten nach Chaos, Anarchie<br />

und Zerstörung scheinbar ein Gesicht<br />

geben, tatsächlich aber nichts anderes<br />

waren als abgestumpfte Menschen hinter<br />

viel zu großen Masken.<br />

Inzwischen bin ich 54 und habe die Bilder<br />

nie vergessen. Doch meine schreckliche<br />

Faszination für sie ist verflogen.<br />

Peter Henning<br />

schrieb den Roman „Ein deutscher<br />

Sommer“ (Aufbau) über<br />

das Geiseldrama von Gladbeck<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 129


| S a l o n | e s s a y<br />

Der Freiheit falsche Freunde<br />

<strong>Die</strong> Ichlinge verdammen den Staat, weil er ihrem Egoismus eine<br />

Grenze setzt. Gegenrede zu Alexander Kissler – und ein Plädoyer<br />

Von Christoph Schwennicke<br />

A<br />

rme, geschundene Freiheit, wofür sie alles herhalten<br />

muss. Neulich, als der SPD-Chef Sigmar Gabriel<br />

Tempo 120 auf deutschen <strong>Auto</strong>bahnen forderte, da<br />

wurde sie wieder ausgiebig missbraucht, die unschuldige Freiheit.<br />

Ein Angriff auf – jawohl! – die Freiheit sei das gewesen, auf<br />

die Freiheit des <strong>Auto</strong>fahrers, die in Deutschland offenbar eine<br />

besonders hoch anzusiedelnde Freiheit ist, den einen oder anderen<br />

Verkehrstoten wert und höhere Emissionen sowieso. Zahlt<br />

ja der Raser im Namen der Freiheit, einerseits als Tankfüllung,<br />

manchmal mit dem eigenen Leben. Aber es ist schließlich sein<br />

Leben, oder?<br />

Es sei Zeit für eine „neue Philosophie und eine neue Praxis<br />

der Freiheit“, postulierte an dieser Stelle in der Juni-Ausgabe zitatenschwer<br />

und wortgewittrig der Kollege Alexander Kissler.<br />

Wie zu vermuten stand, ortete er die Angreifer auf die individuelle<br />

Freiheit dort, wo sie immer zu suchen sind: bei den notorischen<br />

Etatisten der Sozialdemokratie. Weil diese sich den etwas<br />

ungelenken Wahlkampfspruch „Das Wir entscheidet“ zulegte,<br />

ließ Kissler seine Blitze <strong>vom</strong> liberalen Himmel fahren. Der kluge<br />

Kollege stellte sich ahnungslos und behauptete, es bleibe im<br />

Dunkeln, „wer dieses absolut souveräne, radikal dezisionistische<br />

Wir sein soll, wen es umfasst, wen es auschließt“. Und schloss<br />

aus der eigenen Behauptung: „Der Verdacht liegt nahe, es<br />

könnte mit dem Wir ein sozialdemokratisch verwalteter Staatsapparat<br />

gemeint sein.“<br />

Da nun irrt Kollege Kissler zugunsten seiner Thesen und in<br />

seinem Furor gegen alles Sozialdemokratische absichtlich. Es<br />

geht nicht um einen von wem auch immer verwalteten Staatsapparat,<br />

sondern um ein Ding namens Gesellschaft, die am Ende<br />

diesen Staat bildet, die dieser Staat am Ende ist. Zu den grundlegenden<br />

Irrtümern der gerade verstorbenen Margaret Thatcher<br />

gehörte die Behauptung: „There is no such thing as society.“<br />

Eine Gesellschaft gebe es nicht. Das war Thatchers zweitschlimmster<br />

Satz. Der schlimmste war der von der steigenden<br />

Flut, die alle Schiffe anhebe, die Urlüge des Neoliberalismus.<br />

Es gibt sie aber eben doch, diese Gesellschaft. Sie ist die Gesamtheit<br />

aller Individuen in einem definierten Raum. Sie verständigt<br />

sich auf Normen des Verhaltens im Zusammenleben,<br />

diese Normen sind entweder festgeschrieben, dann sind sie Gesetze<br />

(wie in allen anderen Ländern der Welt zum Beispiel jene<br />

zur Geschwindigkeitsbeschränkung auf <strong>Auto</strong>bahnen), oder es<br />

sind ungeschriebene Verhaltensmuster im Umgang miteinander,<br />

die sich bewährt haben. Zum Beispiel, für den Nachbarn die<br />

Sandsäcke mitzufüllen. <strong>Die</strong> Menschen fahren seit Jahrhunderten<br />

ganz gut mit dem Modell Gesellschaft.<br />

In diesem Modell sehen Kissler und die Anhänger der These<br />

von der Über-Wirung die Gefahr der Bevormundung des Ich. Ist<br />

das so? Ja, das ist so. <strong>Die</strong> Freiheit des Einzelnen findet in einer<br />

Gemeinschaft ihre Grenzen an der Freiheit des anderen. Und<br />

das ist gut so. Dazu könnte man nun von der Bergpredigt bis zu<br />

Illustration: Jan Rieckhoff<br />

130 <strong>Cicero</strong> 7.2013


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Foto: Andrej Dallmann<br />

Kants kategorischem Imperativ viele Quellen anführen, die des<br />

sozialistischen Etatismus völlig unverdächtig sind.<br />

Wo das Ich angeblich bevormundet wird, da strebt es meistens<br />

in Wahrheit danach, sich – Vorsicht, jetzt kommt ein ganz<br />

schreckliches Wort für alle Kämpfer für die totale Freiheit – dem<br />

Solidarsystem zu entziehen; es geht um die Freiheit der Ichlinge.<br />

<strong>Die</strong> Flucht aus dem Solidarsystem haben übrigens prompt<br />

alle jungen, gesunden Ichlinge vollzogen, als die privaten Krankenkassen<br />

eingerichtet wurden: War billiger und versprach eine<br />

bessere Versorgung. Inzwischen sind die einst jungen, gesunden<br />

Ichlinge alt und siech geworden und mit ihnen das unsolidarische<br />

Privatversicherungswesen. Jetzt stöhnen viele Gesundheits-Ichlinge<br />

und wollen zurück ins System. Ich habe da wenig<br />

Mitgefühl. Das ist die Folge der Freiheit der Ichlinge. Franz<br />

Müntefering hat das Freiheitsversprechen des Neoliberalismus so<br />

persifliert: Jeder denkt an sich, dann ist an alle gedacht.<br />

Genau so geht es eben nicht in einer intakten Gesellschaft.<br />

Da irrte schon Adam Smith mit seiner wunderlichen unsichtbaren<br />

Hand: Wenn jeder tut, was für sein Geschäft gut ist, entsteht<br />

daraus eben kein Gemeinwohl. Es gibt sie nicht, diese unsichtbare<br />

Hand, die aus Versehen Gutes tut. Es gibt nur eine sichtbare.<br />

Und die heißt Gesellschaft, die heißt Staat.<br />

Ichlinge haben ein seltsames Staatsverständnis. Der Staat<br />

ist aus ihrer Sicht ein fettes, gemästetes, gefräßiges Etwas, das<br />

den Menschen das Mark aus den Knochen saugt. Kein Über-<br />

Ich, sondern ein Über-Wir, ein Moloch, der nichts mit den Bewohnern<br />

des definierten Raumes zu tun hat. Das ist ein Zerrbild<br />

<strong>vom</strong> Staat. Natürlich gibt es Auswüchse. Natürlich krankt<br />

etwa Frankreich an seiner Staatsquote von fast 60 Prozent. Aber<br />

der Staat an sich ist kein zu bekämpfendes Ungeheuer. Der Staat<br />

sind wir, der Staat bin ich: In einer Demokratie darf der Citoyen<br />

zu Recht sagen, was einst der König für sich reklamierte.<br />

Wenn der Mensch perfekt wäre, dann könnte man gerne<br />

über die Herrschaft der Freiheit nachdenken. Wenn jeder<br />

Mensch die Kant’sche Einsicht in sich trüge und auch beherzigte,<br />

dass man stets so handle, dass die Maxime des eigenen<br />

Handelns zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden könnte,<br />

dann ließe ich mit mir über die Herrschaft der totalen individuellen<br />

Freiheit reden. Dem ist aber nicht so. Da können wir unseren<br />

Kindern noch so oft und noch so richtigerweise die Kindervariante<br />

von Kant vorbeten: Was du nicht willst, das man dir tu’,<br />

das füg auch keinem andern zu.<br />

Wir werden uns nicht daran halten, zumindest nicht durchgängig.<br />

Deshalb braucht es einen Staat, deshalb braucht es eine<br />

Definition des Wir, auf das sich die große Mehrheit eines Gemeinwesens<br />

verständigt.<br />

Dafür hat der liebe Gott übrigens den Juden und Christen<br />

die Zehn Gebote gegeben. Du sollst dies nicht, du sollst das nicht,<br />

sagt darin der liebe Gott. Es muss sich bei diesem Gott auch um<br />

einen schlimmen Freiheitsfeind und Etatisten handeln.<br />

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Christoph Schwennicke<br />

ist Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 131


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Aus einem<br />

Doppelleben<br />

Der Verleger Hubert Burda hat seine Bücher<br />

auf drei Orte verteilt. In München sind<br />

Petrarca und Diderot die Brückenpfeiler in<br />

eine Vergangenheit, die kommen wird<br />

Von holger fuSS<br />

Z<br />

uweilen gerät etwas samtiges in seine Stimme. Etwa<br />

wenn Hubert Burda im Bildband „Im Garten der Dichter“<br />

von Isolde Ohlbaum blättert, einer Dokumentation<br />

der Verleihungen des von ihm 1975 gestifteten Petrarca-<br />

Literaturpreises. Ein bisschen elegisch schweift sein Blick<br />

über die Seiten. „Das sind fast 40 Jahre meines Lebens. Hier sehen<br />

Sie Peter Handke, Nicolas Born, Michael Krüger. Das waren<br />

die einzigen zwei Tage im ganzen Jahr, an denen ich das Gefühl<br />

hatte, dass sie toll waren.“<br />

Oder wenn Hubert Burda über Pop-Art räsoniert. Immerhin<br />

wurde der heute 73-Jährige in Kunstgeschichte promoviert –<br />

über „<strong>Die</strong> Ruine in den Bildern Hubert Roberts“. Auf die Frage,<br />

ob er sich für die Pop-Art begeistere, weil die Pop-Art wie die<br />

alten Meister eine Verzauberung des Gewöhnlichen betreibe, gerät<br />

Burda ins Schwelgen: „Caravaggio ist schon die Mystifizierung<br />

des Alltags, Rembrandt ist so alltäglich, Jan Steen, die ganzen Holländer<br />

eigentlich. In diesem Geist bin ich groß geworden. Es ist<br />

eben immer dieser Spagat: Sie müssen das Leben aushalten zwischen<br />

der Metaphysik und der alltäglichen Trivialität.“<br />

Wer wüsste so etwas besser als Hubert Burda? Zeitlebens hat<br />

dieser Mann ein Doppelleben geführt – zwischen „high and low“,<br />

wie er gern sagt, zwischen Hoch- und Massenkultur. Als Zeitschriftenverleger<br />

setzt er mit Blättern wie Bunte, Focus und Freizeit<br />

Revue jährlich mehr als zwei Milliarden Euro um. Als Kunsthistoriker<br />

empfindet er sich im 18. Jahrhundert geistig beheimatet,<br />

fühlt sich den Renaissance-Bankern der Medici verwandt, die als<br />

132 <strong>Cicero</strong> 7.2013


Ist es eine<br />

Infografik? Ist es ein<br />

Piranesi? Immer<br />

sind es Bilder, die<br />

zu Bildern werden<br />

Foto: Jan Röder für <strong>Cicero</strong><br />

Mäzene das intellektuelle Klima ihrer Zeit geprägt haben, und ist<br />

überzeugt, dass „die Begegnung mit der Antike eine Revolution<br />

im Denken“ hervorrufen kann.<br />

Seine Bücher hat Hubert Burda über mehrere Domizile verteilt:<br />

am Tegernsee, in St. Moritz und in München. Zu einem<br />

Mittagessen hat er in seine gelb getünchte Gründerzeitvilla im<br />

feinen Münchner Stadtteil Bogenhausen geladen. Wie es sich für<br />

einen viel beschäftigten Wirtschaftskapitän gehört, verspätet er<br />

sich um einige Minuten. In der dunkel getäfelten Bibliothek im<br />

Erdgeschoss scheint die Zeit ohnehin stehen geblieben. Antike<br />

Stein- und Gipsköpfe blicken stumm aus den Regalen zwischen<br />

den Bücherrücken hervor. Neben dem Fenster thronen die ledergebundenen<br />

Original-Folianten der kompletten 35-bändigen<br />

„Encyclopédie“ von Diderot und d’Alembert, eine Art Solarplexus<br />

der Aufklärung.<br />

Hubert Burda stürmt herein. Im Gefolge Chauffeur Fröschl, der<br />

mit einer Digitalkamera behend Erinnerungsfotos knipst, und Berater<br />

Stephan Sattler, ein silbrig ergrauter Vertrauter seit 30 Jahren,<br />

bildungsgesättigter Sekundant während des Gesprächs. Ein<br />

schwarz gekleidetes Hausmädchen deckt einen runden Tisch zum<br />

Lunch. Burda wuchtet einen „Encyclopédie“-Folianten aus dem<br />

Regal und faltet die Illustrationen des italienischen Kupferstechers<br />

Piranesi auf: „Hier die Stadtpläne von Rom. So was hat<br />

mich immer interessiert. Das hat mich zu den Infografiken im<br />

Focus inspiriert.“<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 133


| S a l o n | B i b l i o t h e k s p o r t r ä t<br />

Als Franz Knebel 1858 seine Vedute mit Wasserfall malte, waren die meisten Bücher in Hubert Burdas Bibliothek schon<br />

geschrieben. Und auch die meisten Gedanken der Philosophen, die sie säumen, waren schon gedacht. Doch spricht das gegen sie?<br />

Auch dies gehört zum Doppelleben Hubert Burdas: Was auf<br />

den ersten Blick trivial anmutet, wird auf kurzem <strong>Die</strong>nstweg mit<br />

der Hochkultur verknüpft. Wirken die Infografiken in Focus nicht<br />

wie ein Lasso, damit auch die Lesefaulen sich an ein Nachrichtenmagazin<br />

herantrauen? Aber nein: Schon Diderot machte seine<br />

„Encyclopédie“ mit diesem Stilmittel zum „meistverkauften Buch<br />

des 18. Jahrhunderts“. Wurde die Bunte in den neunziger Jahren<br />

nicht zum People-Magazin umgeklempnert, weil die Burda-Illustrierte<br />

es nie zu einer Wundertüte schaffte wie der Stern? Nicht<br />

doch: Vorbild für die People-Bunte war kein Geringerer als Pop-<br />

Art-Ikone Andy Warhol mit seinem Interview-Magazin. „Warhols<br />

Lifestyle hat mich fasziniert“, sagt Burda. „Er ist der Erfinder der<br />

Celebrity-Culture. Ich begriff: Don’t care about Spiegel, don’t care<br />

about Stern – make a people magazine!“<br />

Auch seinen mittlerweile etablierten Lyrikpreis machte Burda<br />

zum großen Bildungskino. Er geht zu einer Regalwand und weist<br />

mit ausladender Geste: „<strong>Die</strong>s alles ist Petrarca.“ Oben die Werke<br />

des italienischen Renaissance-Dichters, darunter die Preisträger.<br />

Zu den Erstprämierten gehörten Rolf <strong>Die</strong>ter Brinkmann und<br />

Sarah Kirsch. Im dritten Jahr wies Herbert Achternbusch den<br />

Preis zurück. Petrarca als Patron eines Literaturpreises war Mitte<br />

der Siebziger eine konservative Provokation: „Es war ein Gegenprogramm,<br />

eine Alternative zum damaligen Mehrheitskonsens<br />

in der Literatur. <strong>Die</strong> deutsche Literatur war ja sehr stark politisch<br />

engagiert.“<br />

Doch hier hatte Burda ebenfalls weit mehr im Sinn. Alljährlich<br />

hielt er mit einer Schar Kulturschaffender, darunter Freunde<br />

wie Peter Handke, Bazon Brock und Michael Krüger, zweitägige<br />

Prozessionen zu Wallfahrtsstätten der Renaissance ab wie<br />

Siena, Verona und Florenz. Vorbild war die Grand Tour, jene rituelle<br />

Bildungsreise junger englischer Adliger und Bürgersöhne<br />

nach Italien und Griechenland auf den Spuren der Antike. „Das<br />

war in Europa das große Bildungsereignis“, erklärt Burda. „<strong>Die</strong><br />

Idee war, dass erst die Auseinandersetzung mit der Antike das<br />

Neue schafft.“<br />

Neulich hat er im Frankfurter Liebighaus die Ausstellung „Zurück<br />

zur Klassik – Ein neuer Blick auf das alte Griechenland“ besichtigt.<br />

Seither liest er in den Essays des dickleibigen Ausstellungskatalogs.<br />

<strong>Die</strong> griechische Kunst wollte „das Leben in seinem<br />

gesamten Umfang abbilden“, zitiert Burda aus dem Vorwort, und<br />

„den Antagonismus der Kräfte vollständig“ darstellen. <strong>Die</strong> Polarität<br />

des Lebens – allenthalben stößt Burda auf seinen biografischen<br />

Spagat zwischen high and low, sogar in der Antike.<br />

Der Lunch ist serviert. Berater Sattler sitzt mit am Tisch und<br />

verteilt die Vorspeise auf die Teller: gebeizten Lachs und Salat.<br />

Als Hauptgang folgen Steaks auf Blattspinat. Nebenan im Regal<br />

stehen die Bücher von Peter Sloterdijk. Aus den dicken Bänden<br />

seiner „Sphären“-Trilogie ragen Dutzende von Notizzetteln. Mit<br />

Sloterdijk ist Burda befreundet, der Verleger überlässt ihm tageweise<br />

sein Ferienhaus im Schwarzwald. „Eine kolossale Sprachbegabung“<br />

nennt Burda den Vielschreiber. „Er kann die ganze<br />

Philosophiegeschichte in Heldenerzählungen packen.“ Sattler erklärt<br />

nicht ohne Stolz: „Ich habe dich ja Mitte der Neunziger mit<br />

Sloterdijk zusammengebracht. Seitdem ist er eine Art Hausphilosoph<br />

für dich.“<br />

Ein anderer Denker aus Burdas Schwarzwälder Heimat steht vollzählig<br />

in zwei Regalreihen: die Gesamtausgabe von Martin Heidegger.<br />

„Den kannte ich auch, den Heidegger“, erzählt Burda. „Ich<br />

hab mich relativ blöd aufgeführt bei ihm. Ich könnte mich noch<br />

immer in den Arsch beißen. Das war die ganz linke Zeit als Student,<br />

1963. Bei der Einweihung einer Schule sagte ich zu ihm:<br />

Wie werden Sie damit fertig, dass die jetzige Generation nichts<br />

mehr von Ihnen wissen will? Heidegger reagierte sehr nett und<br />

freundlich. Aber ich wusste natürlich, dass ich unten durch gefallen<br />

bin. Man merkte, wie er dachte: Das ist so einer dieser modernen,<br />

linken Vögel.“<br />

Hubert Burda war mal ein Linker? „In den sechziger Jahren<br />

waren das doch viele“, sagt er. „Aber dann kam die Niederschlagung<br />

des Prager Frühlings 1968 durch die Truppen des<br />

Warschauer Paktes. Da war klar, dass der Kommunismus keine<br />

Zukunft hat.“ Und heute? Ein Konservativer? Mit dem Begriff<br />

kann Burda nichts anfangen. „Ich bin für 8000 Leute verantwortlich,<br />

die für uns arbeiten.“ Sogar das Mitarbeiter-Modell des<br />

Spiegel-Verlags („einer der bislang bestgeführten Verlage“) findet<br />

er „hochinteressant, aber riskant“. Kein mögliches Vorbild für<br />

den Burda-Verlag? „Nein, nein. Das weltweit erfolgreichste Wirtschaftsmodell<br />

ist das mittelständische baden-württembergische<br />

Familienunternehmen.“ Dynastisches Denken spiele eine Rolle.<br />

„<strong>Die</strong> Kinder werden sehr früh dazu erzogen, Verantwortung zu<br />

Fotos: Jan Röder für <strong>Cicero</strong>, CAROLINE ELIAS (<strong>Auto</strong>r)<br />

134 <strong>Cicero</strong> 7.2013


übernehmen. Ich habe dieses Unternehmen ja geerbt. Wenn Sie<br />

etwas erben, dürfen Sie nie das Gefühl haben, es sei Ihr Besitz.<br />

Sie müssen das weitergeben.“<br />

Überbleibsel aus den umstürzlerischen Sechzigern haben sich<br />

in Burdas Rhetorik erhalten. An einem Regal hängt ein kleines<br />

Gemälde der Wasserfälle von Tivoli. „Wasserfälle haben immer<br />

eine Bedeutung für mich.“ Als Symbol des Kreativen, des Lebendigen?<br />

„Auch des Stürzens und Risikeneingehens. Im Stürzen<br />

verändert sich alles. Kreativsein heißt unternehmerisch tätig<br />

sein. Sie müssen in Sprüngen denken.“ Als Unternehmer „müssen<br />

Sie in diesen Umbrüchen drin sein und ein Gefühl entwickeln,<br />

dass Zeitenwende ist. Jetzt ist Zeitenwende.“ Der Epochenwechsel<br />

<strong>vom</strong> Schriftzeitalter Gutenbergs zum Bildzeitalter<br />

der elektronischen Medien. „Iconic Turn“ nennt das Burda. Ein<br />

eigenes Buch hat er darüber geschrieben: „In Medias res“. Darin<br />

führt er mit Gegenwartsdiagnostikern wie dem verstorbenen<br />

Friedrich Kittler, Sloterdijk oder Bazon Brock Gespräche darüber,<br />

wie die neue Herrschaft der Bilder die menschliche Wahrnehmung<br />

verändert.<br />

In solchen Projekten erblüht der Kunsthistoriker in Burda.<br />

Entstanden ist dieses Buch in den frühen Morgenstunden. Burda<br />

geht spätestens um 22 Uhr schlafen und wacht um 4 Uhr auf.<br />

Noch im Bett diktiert er seine Traumsequenzen ins digitale Aufnahmegerät<br />

– bis ihn Ehefrau Maria Furtwängler aus dem Schlafzimmer<br />

scheucht. Bis halb acht Uhr währt seine „Zeit der Freiheit“,<br />

wie Sattler einwirft. Da gehört Burda ganz sich selbst.<br />

Verschlingt Bücher, schreibt und diktiert. Am liebsten Aphorismen<br />

wie: „Schon die Teppiche der Nomaden waren so etwas wie<br />

mobile Bilder.“ Oder: „Entlastend oder belastend: Sex im Internet.“<br />

Oder: „Das Schöne, die große Idee des Klassizismus, ist<br />

aus der zeitgenössischen Kunst fast verschwunden. Wohin? In<br />

die Werbefotografie, den Tourismus, den Sport und vor allem<br />

ins Design.“<br />

Burda schaut auf die Uhr. <strong>Die</strong> nächsten Termine drängen.<br />

Ein letzter Blick in die Bücherregale. Neben Geschichtsliteratur<br />

und kunsthistorischen Werken von Ernst Gombrich, Karl<br />

Kerényi und Aby Warburg steht die Münchner Goethe-Ausgabe.<br />

Sein Freund Handke, der „jeden Tag eine Seite Goethe liest“, hat<br />

ihm den Dichter nahegebracht. „An Goethe interessiert mich vor<br />

allem, wie er sich selber als Künstler inszeniert hat“, sagt Burda.<br />

Und eilt davon.<br />

Von Goethe kann sich Burda obendrein abgeguckt haben, wie<br />

der seinen Spagat zwischen Weimarer Staatsdienst und Poesie kultiviert<br />

hat. Auch Goethe wusste um die Kluft zwischen high and<br />

low. Womöglich besteht das Doppelleben des Hubert Burda weniger<br />

in einer Zerrissenheit zwischen unüberwindbar scheinenden<br />

Gegensätzen als vielmehr in einer Schwebeübung zwischen<br />

Möglichkeit und Notwendigkeit. In unserer Zeit, die Widersprüche<br />

lieber übertüncht, müssen wir uns Hubert Burda als Avantgarde<br />

vorstellen.<br />

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136 <strong>Cicero</strong> 7.2013


D i e l e t z t e n 2 4 S t u n d e n | S a l o n |<br />

Nicht mehr fliehen<br />

Der Schriftsteller John von Düffel mag nicht mehr im Meer<br />

sterben, seit er sich mit der Palliativmedizin beschäftigt.<br />

Stattdessen hat er einen <strong>neuen</strong> Traum von seinem Ende<br />

Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz<br />

D<br />

en letzten Tag meines Lebens<br />

stelle ich mir anders vor, seit<br />

ich zusammen mit der Palliativmedizinerin<br />

Petra Anwar das Buch<br />

„Geschichten <strong>vom</strong> Sterben“ geschrieben<br />

habe. Es handelt sich dabei um wahre<br />

Geschichten, nicht um Fiktion. Insofern<br />

gab es eine Phantasie <strong>vom</strong> eigenen Tod<br />

vor diesem Buch, und es gibt eine danach.<br />

Beide unterscheiden sich grundlegend.<br />

Meine erste Todesphantasie hatte mit<br />

meiner Schwimmleidenschaft zu tun.<br />

Beim Schwimmen gehe ich oft an meine<br />

Grenzen und bin dem Tod manchmal<br />

sehr nah gewesen. Insofern war für mich<br />

immer klar, dass ich im Wasser sterben<br />

würde, genauer gesagt: im Meer, in einer<br />

Dimension von Unendlichkeit.<br />

Natürlich war mir bei dieser Sterbevision<br />

immer bewusst, dass der Tod im<br />

Wasser auch ein literarischer Mythos ist.<br />

Man denke nur an Shakespeares Ophelia<br />

oder an die junge Unbekannte aus der<br />

Seine, deren Totenmaske die Wände vieler<br />

Künstlerwohnungen geschmückt hat.<br />

Vermutlich hatte meine Vorstellung, im<br />

unendlichen Meer zu verschwinden, etwas<br />

von dem eitlen Wunsch einer scheinbaren<br />

Unversehrtheit. Aber das Ganze<br />

war mehr als bloß ein Traum oder eine<br />

Vision. Es war auch etwas, was mich beim<br />

wirklichen Schwimmen sehr begleitet hat.<br />

Dann ergab sich die Möglichkeit einer<br />

Zusammenarbeit mit Petra Anwar, die<br />

durch den Andreas-Dresen-Film „Halt auf<br />

freier Strecke“ bekannt geworden ist, in<br />

dem sie sich selbst spielt. Für einen vielleicht<br />

schicksalhaften Moment stand ich<br />

Der 1966 in Göttingen geborene<br />

und heute in Potsdam lebende<br />

John von Düffel schwimmt<br />

leidenschaftlich gerne und zieht<br />

hauptberuflich als Schriftsteller,<br />

Dramaturg und Übersetzer seine<br />

Bahnen. Gemeinsam mit Petra<br />

Anwar hat er zuletzt „Geschichten<br />

<strong>vom</strong> Sterben“ veröffentlicht<br />

www.cicero.de/24stunden<br />

vor der Frage, ob ich mich mit dem Sterben<br />

so konkret und unverblümt beschäftigen<br />

will. Ich hatte nicht nur Respekt vor<br />

dem Thema, sondern regelrecht Angst.<br />

Doch im selben Moment wusste ich,<br />

dass ich dieser Angst nicht ausweichen<br />

darf, nicht im Schreiben und nicht im<br />

Leben. Ich bin jetzt in einem Alter, wo in<br />

der Generation meiner Eltern das Sterben<br />

ganz real beginnt, auch in meinem Freundes-<br />

und Kollegenkreis sind die ersten gestorben.<br />

Mithin hat der Tod aufgehört,<br />

ein literarisches, ein geahntes, ein vorgestelltes<br />

Thema zu sein. Er ist eine Realität.<br />

<strong>Die</strong> Palliativmedizinerin Petra Anwar<br />

ermöglicht mit ihrer Arbeit vielen Menschen<br />

einen anderen Traum <strong>vom</strong> Tod: das<br />

Sterben in den eigenen vier Wänden. <strong>Die</strong><br />

meisten Menschen wollen dort sterben,<br />

wo sie gelebt haben. Ich glaube, dass sich<br />

jeder Mensch in seinem Sterbeprozess<br />

wiedererkennen will, anstatt am Ende<br />

seines Lebens im Krankenhaus zu einer<br />

Nummer zu werden, die man – um es<br />

brutal auszudrücken – am finalen Punkt<br />

abschnallt und verklappt. Das Sterben gehört<br />

zum Leben. Es soll das Gesicht tragen,<br />

das der Sterbende sich wünscht. Das<br />

ist der Sinn der Palliativmedizin.<br />

Darum habe ich jetzt eine neue Sterbeutopie.<br />

Ich bin atheistisch erzogen worden<br />

und nicht religiös. Aber ich glaube,<br />

dass es etwas Geistiges, etwas Seelisches<br />

gibt. Ein entschiedener Empiriker oder<br />

Materialist bin ich nicht. Ich möchte auf<br />

keinen Fall im Krankenhaus sterben, sondern<br />

meinen Tagesablauf im Sterben weitgehend<br />

so gestalten wie einen ganz normalen<br />

Tag in der Mitte des Lebens. Mein<br />

großer Traum wäre es, ein paar wache<br />

Stunden zu haben, in denen ich mit meiner<br />

Familie frühstücke, vielleicht ein paar<br />

Sätze aufschreibe und im Grunde das<br />

mache, was ich im Leben auch gemacht<br />

habe. Alles jedoch in dem klaren Wissen:<br />

Das ist mein letzter Tag. Ich möchte so<br />

sterben, wie ich gelebt habe, und möchte<br />

dabei die Menschen um mich haben, die<br />

zu meinem Leben gehören.<br />

Ich würde mir wünschen, dass wir gemeinsam<br />

voneinander <strong>Abschied</strong> nehmen,<br />

uns die Hände reichen und uns noch einmal<br />

spüren, bis der Zeitpunkt gekommen<br />

ist, loszulassen für immer. Und das ist<br />

vielleicht der größte Unterschied zu meiner<br />

früheren Todesvision <strong>vom</strong> Verschwinden<br />

im Schwimmen: dass ich nicht mehr<br />

allein sterben will, sondern zu Hause im<br />

Kreis meiner Familie. Ich will vor dem<br />

letzten <strong>Abschied</strong> nicht länger fliehen.<br />

Aufgezeichnet von Ingo Langner<br />

7.2013 <strong>Cicero</strong> 137


C i c e r o | P o s t S c r i p t u m<br />

Herrlich, dämlich<br />

Von Alexander Marguier<br />

H<br />

errlich, was konnten wir uns wieder über diese dämlichen<br />

Gutmenschen aufregen! Da beschließt die Universität<br />

Leipzig doch tatsächlich, beide Geschlechter<br />

als „Professorin“ zu titulieren. „Herr Professorin“ soll es künftig<br />

also in Sachsen heißen. Es handelte sich bei dieser sprachlichen<br />

Maßnahme offenbar zwar nur um die pragmatische Lösung zur<br />

Vermeidung der <strong>vom</strong> Hochschulsenat als umständlich empfundenen<br />

Schrägstrichvariante „Professor/Professorin“. Aber<br />

manchmal macht Pragmatismus die Dinge eben nicht leichter,<br />

sondern schwieriger. Denn in der ideologisch ohnehin schon<br />

aufgeheizten Männer-Frauen-Debatte vertiefen solche Eingriffe<br />

in die gewohnte Ausdrucksweise die Gräben zwischen den<br />

gegnerischen Lagern. Wer den Feminismus schon immer als<br />

Grundübel und Gefahr für die abendländische Zivilisation angesehen<br />

hat, wird sich nun im Hass auf die vermeintliche Diktatur<br />

des Gender Mainstreaming bestätigt sehen – während von<br />

der anderen Seite unangenehmes Triumphgeschrei zu vernehmen<br />

ist nach dem Motto: „Jetzt wird der Spieß mal umgedreht!“<br />

Natürlich hätte ich keine Lust darauf, offiziell als „stellvertretende<br />

Chefredakteurin“ zu firmieren. Andererseits kann man<br />

sich schon fragen, warum im Impressum dieses Magazins zwei<br />

Frauen ganz selbstverständlich als „Ressortleiter“ bezeichnet werden<br />

und eine weitere Kollegin den Titel „Art Director“ trägt.<br />

Nein, in der Geschlechterfrage, die naturgemäß zuallererst eine<br />

Frage der Gerechtigkeit ist, liegt immer noch einiges im Argen.<br />

Und ich frage mich ernsthaft, wie sehr mir selbst diese offensichtlich<br />

immer noch existierende Gerechtigkeitslücke eigentlich<br />

am Herzen liegt.<br />

Der Schweizer <strong>Auto</strong>r Markus Theunert hat in seinem unlängst<br />

erschienenen Buch „Co-Feminismus: Wie Männer Emanzipation<br />

sabotieren – und was Frauen davon haben“ sehr schön<br />

die Figur des „Co-Feministen“ herausgearbeitet, der Gleichstellung<br />

eine gute Sache findet, solange er damit nichts zu tun hat.<br />

„Aus Indifferenz, Angst oder Kalkül gibt er den Frauenversteher<br />

und drückt sich damit erfolgreich vor der Auseinandersetzung<br />

mit seinem Mann-Sein“, so Theunert. Da ist mehr dran, als einem<br />

lieb sein kann.<br />

Meine bisherige Argumentationsweise als klassischer Co-Feminist<br />

ging ungefähr so: Natürlich bin ich für die bedingungslose<br />

Gleichberechtigung von Männern und Frauen, was denn<br />

sonst! Aber deswegen brauchen wir doch keine Quote, denn<br />

die Frauen holen uns schon seit Jahren ein und werden demnächst<br />

in allen gesellschaftlichen Bereichen mindestens genauso<br />

zahlreich vertreten sein wie Männer. Marissa Mayer ist immerhin<br />

Vorstandschefin bei Yahoo; Angela Merkel Bundeskanzlerin.<br />

Und überhaupt sind Mädchen in der Schule erfolgreicher als<br />

Jungs. Also bitte nicht noch mehr staatliche Eingriffe und erst<br />

recht keine weitere Verhunzung der deutschen Sprache – die berühmte<br />

Binnenversalie war schon schlimm genug. Lauter Sätze,<br />

die einem halt so einfallen, wenn man eigentlich nicht will, dass<br />

sich irgendetwas ändert. So ist es nämlich: <strong>Die</strong> meisten Männer,<br />

die treuherzig von Frauenrechten schwafeln, setzen insgeheim<br />

auf den Status quo. Was auch verständlich ist, wer freut sich<br />

schon über Konkurrenz?<br />

An der Universität Leipzig liegt der Anteil der Professorinnen<br />

übrigens bei unter 20 Prozent (was sicher nicht daran<br />

liegt, dass Frauen über weniger wissenschaftliches Talent verfügen<br />

als Männer). Auf dieses krasse Missverhältnis hat die Leipziger<br />

Hochschulrektorin hingewiesen, als sie sich wegen der auf<br />

den ersten Blick bizarr erscheinenden Sprachregelung öffentlich<br />

rechtfertigen musste. Aber an solche Zahlen ist man ja gewöhnt,<br />

genau deswegen verursachen sie auch keine Empörungswellen.<br />

Ein läppischer „Herr Professorin“ dagegen schon. Solange sich<br />

daran nichts ändert, sollten sich die aufgeregten Hüter der deutschen<br />

Sprache fragen, ob es ihnen in Wahrheit nicht um etwas<br />

ganz anderes geht: Besitzstandswahrung nämlich.<br />

Alexander Marguier<br />

ist stellvertretende Chefredakteurin von <strong>Cicero</strong><br />

Illustration: Christoph Abbrederis; Foto: Andrej Dallmann<br />

138 <strong>Cicero</strong> 7.2013


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