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Cicero Die 500 wichtigsten Intellektuellen (Vorschau)

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Januar 2013<br />

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So wird es kommen<br />

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So wird es kommen


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C I C E R O | A T T I C U S<br />

Von: <strong>Cicero</strong><br />

An: Atticus<br />

Datum: 20. Dezember 2012<br />

Thema: <strong>Die</strong> Liste der <strong>500</strong>, Colin Crouch, der Countdown zur Bundestagswahl<br />

Vermessung des Geistes<br />

TITELBILD: WIESLAW SMETEK; ILLUSTRATION: CHRISTOPH ABBREDERIS<br />

W<br />

IRTSCHAFTLICHE LEISTUNGSKRAFT IST MESSBAR. Man kann ermitteln, welchen<br />

Geldwert die Waren und <strong>Die</strong>nstleistungen haben, die ein einzelner Mensch<br />

erwirtschaftet. Wie steht es aber mit den geistigen Leistungen? Kann man<br />

messen, welchen Einfluss ein Mensch auf eine Debatte genommen hat? Wie wirkmächtig<br />

einer ist?<br />

Vor sechs Jahren hat <strong>Cicero</strong> es erstmals gewagt, eine Liste der <strong>500</strong> <strong>wichtigsten</strong><br />

<strong>Intellektuellen</strong> im deutschsprachigen Raum vorzulegen. 2007 wurde diese Vermessung des<br />

Geistes wiederholt. Nun hat <strong>Cicero</strong> den Datensammler MAX A. HÖFER erneut gebeten, seine<br />

Maschine anzuwerfen. <strong>Die</strong> Vorgehensweise ist dieselbe geblieben: Höfer misst Präsenz<br />

im Diskurs. Er zählt die Namensnennungen in vier verschiedenen Datensätzen (Details<br />

zur Methode auf den SEITEN 20 UND 26). Herausgekommen ist zum Jahresauftakt 2013 die<br />

dritte <strong>Cicero</strong>-Liste der <strong>wichtigsten</strong> <strong>Intellektuellen</strong> – mit einem neuen Spitzenreiter, vielen<br />

Neueinsteigern und einer Menge Verschiebungen.<br />

Das Ranking erfasst keine Politiker, weder aktive noch ehemalige, weil sonst<br />

unweigerlich ein Politiker-Ranking entstanden wäre. Helmut Schmidt stünde mit weitem<br />

Abstand auf Platz 1, Thilo Sarrazin auf Platz 17. Mit Sicherheit fände sich auch MICHAEL<br />

NAUMANN darauf. Der frühere Kulturstaatsminister und <strong>Cicero</strong>-Chefredakteur schreibt eine<br />

Vermisstenanzeige in 19 Schritten. Gesucht wird in Naumanns ganz eigener Liste: der<br />

Intellektuelle (SEITE 30).<br />

Geistig bereichert hat uns Deutsche unbestreitbar der britische Sozialwissenschaftler<br />

COLIN CROUCH. Nirgendwo sonst fand sein Buch „Postdemokratie“ eine vergleichbare<br />

Resonanz. Ein Jahr nach Erscheinen seines Zweitlings „Das befremdliche Überleben des<br />

Neoliberalismus“ stellt sich Crouch im <strong>Cicero</strong>-Gespräch angesichts des Siechtums der FDP<br />

der Frage: Stirbt er jetzt vielleicht doch, der Neoliberalismus? Crouchs Widerworte finden<br />

Sie AB SEITE 96.<br />

<strong>Die</strong> Landtagswahl in Niedersachsen am 20. Januar läutet den Bundestagswahlkampf<br />

2013 ein (ein Porträt des amtierenden Ministerpräsidenten DAVID MCALLISTER auf SEITE 34).<br />

<strong>Cicero</strong> begleitet in einer Serie die <strong>wichtigsten</strong> Läufer im Rennen um die Regierung.<br />

CONSTANTIN MAGNIS fragt frühere Lehrer nach Tugenden und Schwächen ihrer einstigen<br />

Schützlinge (Christel Braun über Peer Steinbrück auf SEITE 59), Persönlichkeiten aus Kultur<br />

und Gesellschaft stellen ihr Wunschkabinett zusammen (ANNA THALBACH auf SEITE 40).<br />

Und <strong>Cicero</strong> greift den Ereignissen schon mal vor: Drei Zukunftsreportagen beschreiben<br />

die dramatischen Stunden von ANGELA MERKEL, PEER STEINBRÜCK und JÜRGEN TRITTIN am<br />

Wahlabend im Herbst 2013 (AB SEITE 42).<br />

In den „Epistulae ad Atticum“ hat<br />

der römische Politiker und Jurist<br />

Marcus Tullius <strong>Cicero</strong> seinem<br />

Freund Titus Pomponius Atticus<br />

das Herz ausgeschüttet<br />

Mit besten Grüßen<br />

Christoph Schwennicke, Chefredakteur<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 3


C I C E R O | I N H A L T<br />

TITELTHEMA<br />

18<br />

DIE LISTE DER <strong>500</strong><br />

Intellektuelle, die in der Debatte durchdringen: das Ranking, die Aufsteiger, die Absteiger, die Newcomer<br />

26<br />

KRISENTREMOLO<br />

<strong>Die</strong> Debatte im deutschsprachigen Raum dominieren<br />

alte Patriarchen, die warnen und mahnen<br />

VON MAX A. HÖFER<br />

30<br />

DER INTELLEKTUELLE<br />

Noch eine Liste: 19 Eigenschaften einer ruhig<br />

gestellten, wenn nicht gar ermordeten Spezies<br />

VON MICHAEL NAUMANN<br />

ILLUSTRATION: WIESLAW SMETEK<br />

4 <strong>Cicero</strong> 1.2013


I N H A L T | C I C E R O<br />

42 Das Rennen<br />

94<br />

<strong>Die</strong> Zeitungsfrau<br />

66<br />

Der Präsident<br />

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />

34 | DIE ONE-MAC-SHOW<br />

David McAllister kämpft um<br />

Niedersachsen. Auftritte berauschen ihn<br />

VON GEORG LÖWISCH<br />

60 | JOHN OHNELAND<br />

John Boehner, oberster Republikaner,<br />

steht zwischen Obama und Ultrarechten<br />

VON JACOB HEILBRUNN<br />

90 | „WIR GEHEN DIE WETTE EIN“<br />

Spinnen die Letten? Daniels Pavluts, ihr<br />

Wirtschaftsminister, will den Euro<br />

INTERVIEW VON TIL KNIPPER<br />

36 | AM TISCH VOM STRAUSS<br />

<strong>Die</strong> CSU-Politikerin Gerda Hasselfeldt<br />

übt ohne Gehabe Einfluss aus<br />

VON HARTMUT PALMER<br />

62 | DIE SCHOTTER-MIZZI<br />

Österreichs Finanzministerin Maria<br />

Fekter denkt, was sie sagt<br />

VON BARBARA TÓTH<br />

92 | ER LIEBT DAS PUTZEN<br />

Für Frank Becker ist die Schuhpflege ein<br />

kulturvoller Akt – und ein Geschäft<br />

VON STEFFEN UHLMANN<br />

38 | UNTER DRUCK<br />

Seit knapp einem Jahr Staatsoberhaupt:<br />

Wie agiert Joachim Gauck?<br />

VON ALEXANDER MARGUIER<br />

64 | PEKINGER ORIGINAL<br />

Chinas oberster Copyright-Schützer<br />

bildet sich in Deutschland fort<br />

VON BERNHARD BARTSCH<br />

94 | DIE GRENZGÄNGERIN<br />

Julia Jäkel führt Gruner und Jahr in der<br />

Medienkrise. Glaubt sie an Journalismus?<br />

VON THOMAS SCHULER<br />

FOTOS: PICTURE ALLIANCE/DPA, LAIF; ILLUSTRATIONEN: JAN RIECKHOFF, CHRISTOPH ABBREDERIS<br />

40 | MEIN WUNSCHKABINETT<br />

Wahlserie: Schauspielerin Anna Thalbach<br />

besetzt Kanzleramt und Ministerien<br />

42 | „AUF DIE PLÄTZE …“<br />

Merkel, Steinbrück, Trittin. Wie der<br />

Wahlabend 2013 für sie ablaufen wird<br />

VON GEORG PAUL HEFTY, CHRISTOPH<br />

SCHWENNICKE UND PETER UNFRIED<br />

49 | FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… wo eigentlich heute die Front verläuft<br />

VON AMELIE FRIED<br />

52 | DER BOLOGNA-FEHLER<br />

<strong>Die</strong> Reform der Hochschulen ist zum<br />

Exzess der Gleichmacher geworden<br />

VON KONRAD ADAM<br />

56 | RAUS AUS DEM REGELKORSETT<br />

Eine Privatuniversität in Friedrichshafen<br />

bricht den durchregulierten Bachelor auf<br />

VON CHRISTIAN FÜLLER<br />

59 | MEIN SCHÜLER<br />

Christel Braun unterrichtete Steinbrück<br />

VON CONSTANTIN MAGNIS<br />

66 | IM AUGE DES STURMS<br />

Frankreich ist in einer tiefen Krise. Kann<br />

François Hollande sein Land retten?<br />

VON JOHANNES WILLMS<br />

72 | DIE SIEBEN IRRTÜMER<br />

Egal, wer die Wahlen in Israel gewinnt,<br />

das Land muss sich den Realitäten stellen<br />

VON JUDITH HART<br />

76 | SOZIALARBEITER MIT RAKETEN<br />

Wer und was ist die Hamas wirklich?<br />

VON FRÉDÉRIC SAUTEREAU (FOTOS) UND<br />

MOHAMAD BAZZI (TEXT)<br />

84 | „SIE HABEN UNS DIE<br />

REVOLUTION GEKLAUT“<br />

Youssria Ghorab half, Mubarak zu<br />

stürzen – heute ist sie desillusioniert und<br />

kämpft dennoch weiter<br />

AUFGEZEICHNET VON JULIA GERLACH<br />

86 | DER FAHRSCHÜLER<br />

Leben nach dem Krieg: Ein Irak-Veteran<br />

muss das Autofahren neu lernen<br />

VON JOHANNES GERNERT<br />

96 | „DEM KAPITALISMUS<br />

FEHLT DER FEIND“<br />

Bestsellerautor Colin Crouch im<br />

Interview über die Europäer, den reinen<br />

Markt und den Tanz am Finanzmarkt<br />

INTERVIEW VON JUDITH HART UND<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

100 | DIE QUADRATUR DER KÜGELCHEN<br />

Wenn Roboter anthroposophische<br />

Heilmittel herstellen. Ein Fabrikbesuch<br />

VON STEFAN TILLMANN<br />

106 | KULTURSCHWINDEL<br />

Ackermann, die Majestäten der<br />

Deutschen Bank und ihre Feigheit<br />

VON FRANK A. MEYER<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 5


C I C E R O | I N H A L T<br />

CICERO ONLINE<br />

112 Richard Wagner<br />

2013 jährt sich zum 200. Mal<br />

der Geburtstag Richard Wagners.<br />

Deshalb wird das Rückenbild der<br />

<strong>Cicero</strong>-Ausgaben von 2013 den<br />

Komponisten zeigen, Heft für Heft<br />

wird sich sein Konterfei zusammen<br />

setzen. Einen analytischen Vergleich<br />

mit Guiseppe Verdi, einem anderen<br />

Jahrhundert-Künstler finden Sie<br />

in dieser Ausgabe auf Seite 112<br />

MEINUNGSSTARK:<br />

WAHLEN, WÄHLER UND<br />

INTRIGEN<br />

Immer montags schreibt<br />

Online-Ressortleiter<br />

Christoph Seils in seiner<br />

Kolumne über die Parteien<br />

und ihren täglichen<br />

Überlebenskampf.<br />

WWW.CICERO.DE/KOLUMNEN/<br />

CHRISTOPH-SEILS<br />

SALON<br />

108 | HEUTE EIN KÖNIG<br />

Sabin Tambrea spielt in einer<br />

Neuverfilmung Ludwig II von Bayern<br />

VON IRENE BAZINGER<br />

138 | BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />

<strong>Die</strong> private Bücherwand des Direktors<br />

der Anna-Amalia-Bibliothek<br />

VON EVA GESINE BAUR<br />

AKTUELL:<br />

NIEDERSACHSEN WÄHLT<br />

In Niedersachsen wird am<br />

20. Januar 2013 ein neuer<br />

Landtag gewählt. Bei <strong>Cicero</strong><br />

Online lesen Sie, wer bei der<br />

Wahl triumphiert und warum.<br />

WWW.CICERO.DE<br />

110 | OHNE PATHOS KEIN LEBEN<br />

Krassimira Stoyanova ist die große<br />

Unbekannte der Opernwelt<br />

VON EVA GESINE BAUR<br />

112 | DIE SOUNDWERKER EUROPAS<br />

Warum die politische Vereinnahmung<br />

von Verdi und Wagner töricht ist<br />

VON AXEL BRÜGGEMANN<br />

120 | MAN SIEHT NUR, WAS MAN SUCHT<br />

Clemens von Wedels Bilder mit der<br />

Mailbox-Nachricht Christian Wulffs<br />

VON BEAT WYSS<br />

124 | DIE EWIGEN ZOMBIES<br />

Warum Led Zeppelin, die Stones und<br />

Neil Young heute noch Erfolg haben<br />

VON ARNE WILLANDER<br />

126 | DIE LETZTEN TAGE VOR DEM STURM<br />

Im Jahr 1913 öffnete sich die<br />

Tür zu einer neuen Zeit<br />

VON KONSTANTIN SAKKAS<br />

134 | BENOTET<br />

Wie Rostropowitsch eine Komposition<br />

von Benjamin Britten bekam<br />

VON DANIEL HOPE<br />

137 | KÜCHENKABINETT<br />

Der gesellschaftliche Wandel ist jetzt<br />

auch beim Dessert angekommen<br />

VON JULIUS GRÜTZKE UND THOMAS PLATT<br />

142 | DAS SCHWARZE SIND<br />

DIE BUCHSTABEN<br />

Neue Literatur über den<br />

Narzissmus der Deutschen<br />

VON ROBIN DETJE<br />

144 | DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />

<strong>Die</strong> finale Broadway-Show und ein<br />

Abgang in der Gospel-Messe<br />

VON THOMAS HERMANNS<br />

Standards<br />

ATTICUS —<br />

Von Christoph Schwennicke — SEITE 3<br />

STADTGESPRÄCH — SEITE 8<br />

FORUM — SEITE 12<br />

IMPRESSUM — SEITE 45<br />

POSTSCRIPTUM —<br />

Von Alexander Marguier — SEITE 146<br />

<strong>Die</strong> nächste <strong>Cicero</strong>-Ausgabe<br />

erscheint am 24. Januar 2013<br />

Einer wird in Niedersachsen<br />

gewinnen: Ministerpräsident David<br />

McAllister (CDU, links) oder sein<br />

Herausforderer Stephan Weil (SPD)<br />

UNTERHALTSAM:<br />

20 GRÜNDE …<br />

Warum brauchen wir<br />

Tageszeitungen? Warum<br />

nerven Ökobürger? Warum<br />

sollten Politiker nicht<br />

twittern. Es gibt immer ein<br />

paar Gründe, irgendetwas<br />

aufzuspießen. <strong>Die</strong> Kultserie<br />

bei <strong>Cicero</strong> Online.<br />

WWW.CICERO.DE/<br />

DOSSIER/20-GRUENDE<br />

AUSBLICK:<br />

WAS BRINGT DAS NEUE JAHR?<br />

Im September 2013 wird ein<br />

neuer Bundestag gewählt.<br />

Stürzt Merkel über den Euro?<br />

Übernimmt Rot-Rot-Grün<br />

die Macht? Verliert die CSU<br />

in Bayern? <strong>Cicero</strong> Online<br />

wagt den etwas anderen<br />

Blick in die Zukunft.<br />

WWW.CICERO.DE/AUSBLICK2013<br />

ILLUSTRATION: CHRISTOPH ABBREDERIS; FOTO: PICTURE ALLIANCE/DPA; RÜCKENBILD CICERO 2013: PRISMA/UNIVERSAL HISTORY ARC<br />

6 <strong>Cicero</strong> 1.2013


C I C E R O | S T A D T G E S P R Ä C H<br />

HANNELORE KRAFT versucht sich als filmende Ulknudel, Peer Steinbrück entdeckt<br />

Andrea Nahles’ Stärken, die Bundespressekonferenz verschickt eine Steuer-CD,<br />

die Zahl der Euro-Gläubigen sinkt, und Papst Benedikt XVI twittert jetzt<br />

ROLLENTAUSCH:<br />

ULKNUDEL KRAFT<br />

D<br />

IE ROLLENVERTEILUNG zwischen<br />

Politik und Medien ist eigentlich<br />

klar. <strong>Die</strong> einen berichten,<br />

über die anderen wird berichtet. Kürzlich<br />

hat nun Hannelore Kraft einen Rollentausch<br />

versucht. <strong>Die</strong> Ministerpräsidentin<br />

des Landes Nordrhein-Westfalen drehte<br />

den Spieß um und selbst einen Film –<br />

über den ZDF-Humoristen Oliver Welke.<br />

Der pflegt in seiner „heute-show“ Politiker<br />

zu veräppeln. Er zeigt dann kleine Filmchen,<br />

auf denen man Bundestagsabgeordnete<br />

oder Minister sieht, die im Plenarsaal<br />

gähnen, popeln oder auf dem iPad Kreuzworträtsel<br />

lösen. Das Ganze nennt sich „Satire“<br />

und wird jeden Freitagabend mit hohen<br />

Einschaltquoten gesendet.<br />

Weil sie das spaßig fand, hat die Große<br />

Karnevalsgesellschaft der Stadt Mülheim<br />

dem Komiker den diesjährigen Satirikerpreis<br />

„Spitze Feder“ verliehen. Hannelore<br />

Kraft wiederum, die den Preis im vorigen<br />

Jahr bekommen hatte und deshalb die Laudatio<br />

auf Welke halten musste, hatte die<br />

Idee, ihre Rede in Form einer selbst produzierten<br />

„heute-show“ vorzutragen. In<br />

den Berliner Redaktionsräumen der Rheinischen<br />

Post fand sie die ideale Bühne für<br />

ihren Auftritt als Fernsehreporterin.<br />

Hier nämlich steigt jedes Jahr im November<br />

eine der wichtigen Polit-Partys in<br />

der Hauptstadt. Auf engstem Raum tummeln<br />

sich – und zwar immer ein paar Tage<br />

vor dem Bundespresseball – Minister, Lobbyisten,<br />

Journalisten und Bundestagsabgeordnete.<br />

Das Kabinett ist fast immer komplett<br />

vertreten und die Großkopferten der<br />

Opposition natürlich auch. Man steht beieinander,<br />

schwätzt, isst und trinkt.<br />

Dort also erschien Frau Kraft mit ihrer<br />

privaten Kamera und begann die Gäste zu<br />

filmen und zu interviewen. Erst befragte sie<br />

Bildungsministerin Annette Schavan, später<br />

ihren Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel,<br />

dann den FDP-Vorsitzenden Philipp Rösler,<br />

die Obergrüne Katrin Göring-Eckardt,<br />

den Chef des ARD-Hauptstadtstudios Ulrich<br />

Deppendorf und zum Schluss auch<br />

Bundeskanzlerin Angela Merkel. An alle<br />

richtete sie dieselbe Frage: „Wie finden<br />

Sie es eigentlich, dass dem ZDF-Moderator<br />

Oliver Welke in diesem Jahr die „Spitze<br />

Feder“ verliehen worden ist.“<br />

Tja, wie fand man das? Man fand<br />

Welke „immer für eine Überraschung gut“<br />

(Merkel) und „klasse, besonders wenn<br />

er über mich herfällt“ (Gabriel), „seine<br />

Witze nicht immer gelungen, aber hochpolitisch“<br />

(Rösler) und die Auszeichnung<br />

einfach „Spitze“ (Schavan). Obwohl der<br />

nervige Spaßvogel sie alle schon mal lächerlich<br />

gemacht hat, wollte niemand<br />

es ihm richtig heimzahlen. Alle tranken<br />

den Kakao, durch den er sie gezogen hat –<br />

kreuzbrav und politisch korrekt. Dadurch<br />

bekommt der Film der Ulknudel Kraft<br />

über den Blödel-Moderator Welke eine<br />

unverhoffte Komik. Wahrscheinlich ist er<br />

auch deshalb ein Renner im Netz geworden.<br />

hp<br />

(Das Video unter: www.cicero.de/kraft)<br />

SPD-SPITZEN<br />

STEINBRÜCKS FLAMME<br />

Z<br />

UNEIGUNG UND Antipathie, sagen<br />

die Verhaltensforscher, stellen<br />

sich in den ersten paar Minuten<br />

ILLUSTRATIONEN: CORNELIA VON SEIDLEIN<br />

8 <strong>Cicero</strong> 1.2013


EINE WEGBEREITERIN,<br />

DIE AUF ANDERE ZUGEHT.<br />

INTERKULTURELLE ZUSAMMENARBEIT FÖRDERN.<br />

Mehtap-Buesra Mut weiß aus eigener Erfahrung, dass das<br />

Leben und Arbeiten in einer fremden Kultur mit Herausforderungen<br />

verbunden ist. Als eine von über 45 freiwilligen<br />

Gesundheitsbotschaftern im BMW Werk in München, in dem<br />

Menschen aus mehr als 50 Nationen zusammenarbeiten,<br />

spricht Mehtap deshalb gezielt Kolleginnen und Kollegen<br />

aus anderen Kulturkreisen an. Denn ihr ist aufgefallen,<br />

dass gerade sie Angebote zur gesundheitlichen Vorsorge<br />

weniger nutzen. Das liegt zum Teil an unterschiedlichen<br />

kulturellen Mentalitäten, oder auch schlicht an Verständigungsproblemen.<br />

Der Erfolg gibt ihr recht: Seit Einführung<br />

der Gesundheitsbotschafter ist die Beteiligung an Aktionen<br />

des Gesundheitsmanagements und der BMW BKK um 20 %<br />

gestiegen. Mehr Gesundheit durch mehr Verständigung.<br />

<strong>Die</strong> BMW Group ist zum achten Mal in Folge<br />

nachhaltigster Automobilhersteller der Welt.<br />

Erfahren Sie mehr über den Branchenführer<br />

im Dow Jones Sustainability Index auf<br />

www.bmwgroup.com/whatsnext<br />

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C I C E R O | S T A D T G E S P R Ä C H<br />

des Kennenlernens ein und halten dann<br />

ein Leben lang. Bisher bewahrheitete sich<br />

diese wissenschaftliche These auch bei Peer<br />

Steinbrück und Andrea Nahles. Wann immer<br />

der heutige SPD-Kanzlerkandidat in<br />

den vergangenen Jahren den Namen der<br />

Parteifreundin hörte, konnte man entweder<br />

Zeuge seines sehr feinen englischen Humors<br />

werden oder einfach nur miterleben,<br />

wie der Mann lästern kann. Einmal hat er<br />

sogar öffentlich gesagt, sein Leben sei ohne<br />

die Nahles genauso reich. Dafür hat er sich<br />

inzwischen nicht nur öffentlich entschuldigt:<br />

Er flötet im Hintergrund nachgerade<br />

über die Generalsekretärin der Partei, mit<br />

der er Bundeskanzler werden will: Fähig,<br />

verlässlich, hat was auf dem Kasten. Manche<br />

in der SPD erklären sich diese späte<br />

Zuneigung Steinbrücks mit dem Eindruck,<br />

den der Kandidat von anderen SPD-Spitzen<br />

gewonnen hat. Gemessen daran sei ihm<br />

Nahles dann regelrecht ans Herz gewachsen.<br />

swn<br />

NOCH EINE STEUER-CD:<br />

SCHOCK NACH DEM BALL<br />

D<br />

AS WAR WIRKLICH eine hübsche<br />

Idee der Kollegen, die jedes Jahr<br />

zum Presseball den sogenannten<br />

„Almanach“ gestalten. Der „Almanach“ hat<br />

eine inzwischen 60-jährige Tradition, die<br />

ersten Exemplare aus den fünfziger Jahren<br />

werden längst als antiquarische Kostbarkeiten<br />

gehandelt. Über die Jahre wurde<br />

das Heft immer dicker und glänzender,<br />

inzwischen ist es 146 Seiten stark, eine<br />

bunte Mixtur – halb Titanic, halb Pardon –<br />

mit vielen Cartoons, Fotomontagen und<br />

fröhlichen Geschichten aus dem Berliner<br />

Politik-Betrieb. Natürlich hat jedes Heft<br />

sein Titelthema. <strong>Die</strong>smal hatte die Redaktion<br />

das Schweizer Steuerabkommen im<br />

Visier. Der Umschlag war in den Farben<br />

Schwarz, Rot, Gold gehalten, und in der<br />

Mitte, also im roten Feld, klebte eine rote<br />

CD mit weißem Schweizer Kreuz. Darauf<br />

stand (wie mit einem Filzstift gekritzelt)<br />

„Konten Gäste Bundes Presseball 2012“.<br />

Und darunter im gelben Feld: „Ihr seid<br />

alle Sünder.“ <strong>Die</strong> Scheibe war aber nicht<br />

wirklich festgeklebt, sondern wurde nur<br />

lose von einem runden Stück Filz gehalten.<br />

Und sobald man das Heft öffnete,<br />

fiel sie ab. Darunter stand: „Lieber Ball-<br />

Gast. Vermissen Sie hier die Steuer-CD<br />

mit Ihrem Schwarzgeldkonto? Dann ist<br />

sie schon auf dem Weg zu Ihrem Finanzamt.<br />

Sorry.“<br />

Wenn man die Scheibe dann in ein CD-<br />

Laufwerk steckt, kann man sich elektronisch<br />

durch den Heftinhalt blättern. Dass<br />

das satirische Werk auch in diesem Jahr erst<br />

post festum verschickt wurde, war eine besonders<br />

nette Geste. Keinem der festlich<br />

gekleideten Damen und Herren sollte der<br />

Spaß am Feiern verdorben werden.<br />

Der Schock kam erst nach dem Ball.<br />

Reiner Zufall aber war es, dass das Tanzvergnügen<br />

in diesem Jahr genau an dem<br />

Freitag stattfand, an dem der Bundesrat<br />

endgültig den Daumen über das zwischen<br />

Berlin und Bern fertig ausgehandelte Abkommen<br />

gesenkt hatte, das allen Steuerhinterziehern<br />

gegen ein geringes Entgelt<br />

Straffreiheit verschafft hätte. Aber auch das<br />

passte zum Heft, als wäre es so von Anfang<br />

an geplant gewesen. hp<br />

MODERNER VATIKAN:<br />

BENEDIKT XVI TWITTERT<br />

S<br />

CHON ERSTAUNLICH: Zum Papstbesuch<br />

in Rom durfte der deutsche<br />

Bundespräsident seine Freundin<br />

nicht mitbringen – das päpstliche Protokoll<br />

ließ es nicht zu. Gleichzeitig aber gab<br />

der Heilige Vater sich ganz fortschrittlich.<br />

Wohldosiert öffnet er sich der Moderne –<br />

auf 140-Zeichen-Basis. Der Papst hat einen<br />

Vogel. Oder besser: ein Vögelchen. Er<br />

zwitschert. Benedikt XVI ist seit neuestem<br />

digital – @Pontifex, um genau zu sein –<br />

und twittert göttlichen Segen via Internet.<br />

Irgendwie praktisch, dann können die Sünden<br />

gleich verlinkt werden.<br />

Noch bevor der Heilige Vater überhaupt<br />

ein einziges Zeichen, eine einzige<br />

päpstliche Silbe in die Virtualität entließ,<br />

folgten ihm bereits über eine halbe Million<br />

zwitschernde Schäfchen auf Twitter.<br />

Rekord! Wer seine Fragen direkt an Joseph<br />

Aloisius Ratzinger richten möchte, bedient<br />

sich des Schlagworts beziehungsweise<br />

„Hashtags“ #askpontifex und öffnet den direkten<br />

Kanal nach oben. Greg Burke, Medienberater<br />

des Papstes, versicherte denn<br />

auch sichtlich stolz: „Alle Tweets des Papstes<br />

sind die Worte des Papstes.“ ts<br />

SCHWÄCHE DES EURO –<br />

NUR EINE MEDIENKRISE?<br />

E<br />

S GIBT SIE TATSÄCHLICH noch: die<br />

unerschütterlichen Euro-Verteidiger.<br />

Zu dieser vielleicht schon<br />

bald vom Aussterben bedrohten Spezies<br />

gehört Elmar Brok (CDU). Der EU-Parlamentarier<br />

erklärte unlängst bei einer<br />

Podiumsdiskussion in Berlin, dem Euro<br />

und der Eurozone gehe es hervorragend.<br />

<strong>Die</strong> weltweite Euroskepsis könne er daher<br />

überhaupt nicht verstehen. In Wahrheit<br />

sei die Krise eine Erfindung der Medien.<br />

Vor allem der angelsächsischen. Sie<br />

allein seien schuld am schlechten Image<br />

des Euro, sagte der Vorsitzende des Ausschusses<br />

für Auswärtige Angelegenheiten<br />

des Europäischen Parlaments. Da sich die<br />

internationale Finanzwelt an englischsprachigen<br />

Medien orientiere und diese ja bekanntermaßen<br />

euroskeptisch seien, wirke<br />

sich das entsprechend negativ aus. Es sei<br />

daher höchste Zeit, eine publizistische Gegenoffensive<br />

zu starten. Nur noch deutsche<br />

Blätter lesen? Das hilft nicht weiter. Denn<br />

auch hierzulande sinkt die Zahl der Euro-<br />

Gläubigen, während die der Gläubiger dramatisch<br />

steigt. jh<br />

ILLUSTRATIONEN: CORNELIA VON SEIDLEIN<br />

10 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Auch in 40'000 Fuss<br />

noch atemberaubend.<br />

«Siehst du das?»<br />

Spitfire Chronograph. Ref. 3878: Vorbeiziehende Küsten, von<br />

Sonnenlicht durchbrochene Wolken – auch Piloten von Jagdflugzeugen<br />

bekommen einige schöne Dinge zu sehen, die einem den<br />

Atem stocken lassen. In der Glaskanzel einer Spitfire hatten sie dafür<br />

auch die perfekte Sicht. Ähnlich beeindruckend gestaltet sich der<br />

Blick auf Ihre IWC Spitfire Chronograph – mit mechanischem Flyback<br />

Chronographen, 43mm grossem Gehäuse und Alligatorleder-Armband<br />

auch am Boden ein beneidenswerter Anblick. IWC. Engineered for men.<br />

Mechanisches Chronographenwerk | Automatischer Aufzug |<br />

Gangreserve nach Vollaufzug 68 Stunden | Datumsanzeige |<br />

Stoppfunktion Minute und Sekunde | Flybackfunktion |<br />

Kleine Sekunde mit Stoppvorrichtung | Doppelklinkenaufzug<br />

(Bild) | Verschraubte Krone | Saphirglas, gewölbt,<br />

beidseitig entspiegelt | Wasserdicht 6 bar | 18 Kt. Rotgold<br />

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C I C E R O | L E S E R B R I E F E<br />

FORUM<br />

Über Gott und die Welt, Hitler und die Homöopathie<br />

ZU CICERO I NSGES AMT, OH N E BE ZUG<br />

AU F EIN EN BES TIMMTEN BEITR AG,<br />

ERREICHTE UNS DIES ER BRIEF AU S<br />

H AMBURG:<br />

GLOCKEN-<br />

GELÄUT<br />

Aufgrund Ihres Namens hätte ich noch nicht einmal in ein Heft hineingeschaut,<br />

geschweige denn, es gekauft. Meine Schwiegertochter hat mich auf <strong>Cicero</strong> aufmerksam<br />

gemacht, und ich bin sofort Abonnent geworden. Sie brauchen nicht<br />

rot zu werden ob des Lobes. Auch der liebe Gott hört es gern, wenn für ihn die<br />

Glocken läuten. Mir gefallen die geistreichen, spritzigen, kaum verletzenden<br />

Formulierungen. Es wird nicht mit dem Säbel gerasselt, sondern mit dem Florett<br />

punktgenau getroffen. Wie früher zu meiner aktiven Zeit, ich bin Jahrgang 1935,<br />

Schmidt-Schnauze contra Strauß, wobei beide hochintelligent sind, Strauß aber<br />

Bayer war. Das, was früher in meinem Jungbullenalter der Spiegel für mich war,<br />

wird wohl <strong>Cicero</strong> werden – auch aufgrund der Eleganz der Formulierungen, hoffentlich<br />

auch wegen gründlicher Recherchen.<br />

Heinrich Barthel, Hamburg<br />

ZUM ARTIK EL „MEHR RELIGIO N<br />

WAGEN“ VON ALEX A N DER KISSLER/<br />

D E ZEMBER 2012<br />

FREI ZU GOTT? UNMÖGLICH<br />

Um die philosophische Tiefe der<br />

kryptischen Aussage „Es gibt keinen<br />

Gott, außer in der Freiheit“ auszuloten,<br />

mangelt es mir an zureichenden Geistesgaben.<br />

Nachvollziehbar war, was für<br />

den Verfasser ein Gott ist, ob dieser nun<br />

durch einen Elefantenrüssel Süßigkeiten<br />

aufnimmt oder Menschen mit Vernunft<br />

begabt. Aber was verstand in diesem<br />

Zusammenhang Alexander Kissler<br />

unter „Freiheit“? Doch wohl nicht, erst<br />

einmal „vernünftig zu denken“, um sich<br />

danach zu einer religiösen Überzeugung<br />

„frei“ entscheiden zu können. Es<br />

gibt gewiss Menschen, die nach einem<br />

„Damaskuserlebnis“, einer dramatischen<br />

Krankheits- oder Traumerfahrung zum<br />

Glauben an Gott, Engel oder ein Leben<br />

nach dem Tode gelangten … Doch zu<br />

einem religiösen Bekenntnis aufgrund<br />

eigener, vorurteilsfreier rationaler Überlegungen<br />

zu gelangen, ist schlechthin<br />

nicht möglich.<br />

Ernst-Gust Krämer, Kalletal<br />

RESPEKTLOSER UMGANG<br />

Den Artikel empfinde ich als respektlosen<br />

und überheblichen Umgang eines<br />

Anhängers einer Religion gegenüber<br />

Nichtgläubigen. Ich selbst unterliege<br />

nicht einem „Irrglauben an die Ökonomisierbarkeit<br />

aller Lebensbezüge“ und<br />

„rufe nicht das Ich zum unumschränkten<br />

Herrscher, dessen Willen sich die Welt<br />

zu fügen habe“ aus. So wie mir wird es<br />

vielen anderen gehen, die nicht Anhänger<br />

einer Religion sind.<br />

<strong>Die</strong> Vorstellung, zu kritisierende<br />

Zustände der Welt seien Folge mangelnder<br />

Gottgläubigkeit, deutet auf die<br />

Selbstüberhebung eines Gläubigen hin.<br />

Eckehard Rüther, Hamburg<br />

SEHR ENTLARVEND<br />

Herr Kissler gibt in seinem Artikel selbst<br />

ein Musterbeispiel, warum sich viele<br />

Menschen von den Religionen wegen<br />

ihrer Intoleranz abwenden. „Profilneurotiker<br />

… abschaffen, verfolgen, verunglimpfen,<br />

zensieren …“ Kennen wir das<br />

nicht schon alles aus der Religionsgeschichte?<br />

<strong>Die</strong>ser Hass gegen Nichtreligiöse!<br />

Von der von ihm propagierten<br />

Demut keine Spur. Sehr entlarvend!<br />

Bruno Rodenbüsch, Bayerbach<br />

ZUM BEITR AG „COP YRIGHT AU F<br />

EIN TABU“ VON PHILIPP BLO M U N D<br />

„HITLERS LETZ TE BOMBE, WARUM<br />

H ITLERS ‚ M EIN KAMPF‘ F R EIG EGEBEN<br />

W ERDEN M USS“ / N OVEMBER 2012<br />

BRILLANT UND SCHLÜSSIG<br />

Philipp Blom zeichnet einen brillant<br />

schlüssigen Appell, die Last der Verantwortung<br />

für die Gräueltaten des Holocaust<br />

der gesamten deutschen Gesellschaft<br />

unter demokratisch legitimierter<br />

NS-Regierung zuzuordnen, und fordert<br />

zu Recht einen offenen Zugang zur<br />

Nazi-Literatur, inklusive „Mein Kampf“.<br />

Sein Vergleich von Holocaust-Leugnern<br />

ILLUSTRATION: CORNELIA VON SEIDLEIN<br />

12 <strong>Cicero</strong> 1.2013


ÜBERZEUGT DAVON, DASS<br />

ER 1951 DEN RICHTIGEN<br />

GESCHMACK BEWIESEN HAT.<br />

NICHTS FÜR UNENTSCHLOSSENE. SEIT 1842.


C I C E R O | L E S E R B R I E F E<br />

R ÜCKBLICK<br />

ZU BESUCH BEIM ALTEN RÖMER<br />

In der 100. Ausgabe lud <strong>Cicero</strong> Leserinnen und Leser zu<br />

einer Werkstattschau ein. <strong>Die</strong> Gäste kamen und sahen<br />

<strong>Die</strong> Redakteure fest im Blick und ganz Ohr: Lutz Quester, Hans und Christa<br />

Wallau, David Meuresch und Marie Kirchner (v. l.) beim <strong>Cicero</strong>-Besuch in Berlin<br />

Im August-Heft bedankte sich <strong>Cicero</strong><br />

bei seinen Lesern mit einer Einladung:<br />

Wer wollte, konnte uns kennenlernen,<br />

eine Redaktionssitzung miterleben,<br />

mit dem Chefredakteur angeln<br />

gehen oder unserem Illustrator bei der<br />

Arbeit über die Schulter schauen. Von<br />

den vielen Hundert Interessenten hatten<br />

etwa drei Dutzend das Losglück<br />

und kamen nach Berlin. Unser durchgängiger<br />

Eindruck aus den Gesprächen:<br />

Wir sind froh über unsere Leser.<br />

Das machen wir wieder. Nicht erst in<br />

100 Monaten. swn<br />

mit Kreationisten unter dem Dach fanatischer<br />

Ewiggestriger fällt allerdings als<br />

überraschende Entgleisung vollständig<br />

aus dem Rahmen seiner ansonsten so<br />

scharfen Analyse. Weil sowohl Evolutionstheorie<br />

als auch Schöpfungslehre<br />

ihren Wahrheitsanspruch wissenschaftlich<br />

auf gleichermaßen unvollständigen<br />

wie umstrittenen Beweisen aufbauen,<br />

setzen beide einen Glauben voraus. Und<br />

gerade von der Glaubensfrage distanziert<br />

Blom sich in seiner historisch ordentlich<br />

nachvollziehbaren Entkräftung der<br />

Aussagen der Holocaust-Leugner. Ohne<br />

Beim Meister in der Werkstatt: Kerstin<br />

Voigt und Frank Bossmann im Gespräch<br />

mit <strong>Cicero</strong>-Illustrator Wieslaw Smetek<br />

diesen irritierenden und ein wenig subtil<br />

ideologischen Bezug wäre ihm beinahe<br />

eine vollständige Objektivierung<br />

gelungen.<br />

Matthias Schultz, Bremen<br />

GEIST IN DER FLASCHE<br />

Solange sich eine Person des öffentlichen<br />

Lebens, wie in diesem Falle Frau<br />

Knobloch, aufgrund ihrer bekannten<br />

politischen Ansichten zu diesem und<br />

ähnlich gelagerten Themen derart schützen<br />

muss, ist offensichtlich, wie tief die<br />

faschistische Ideologie hierzulande noch<br />

verwurzelt ist … <strong>Die</strong> Empfänglichkeit<br />

für rassistisch eingefärbte, populistische<br />

Thesen ist nicht erst mit den Platzierungen<br />

von Herrn Sarrazins Werken in den<br />

Bestsellerlisten offenkundig geworden …<br />

<strong>Die</strong> endlos peinliche Serie von Unwillen<br />

und/oder Unfähigkeit bei der Aufklärung<br />

der Verbrechen des NSU zeigt<br />

anschaulich den Stand der Auseinandersetzung<br />

mit den gesellschaftlichen Fakten,<br />

die aus der Existenz dieser Ideologie<br />

hervorgegangen sind.<br />

Ob dem Wegbereiter der größten<br />

Katastrophe in der deutschen<br />

Geschichte und seinem Werk jetzt oder<br />

später eine erneute Plattform – quasi<br />

mit dem Siegel gesellschaftlicher<br />

Akzeptanz – gegeben werden sollte, die<br />

Erfahrungen mit Wahlergebnissen unter<br />

anderem in Deutschland, Österreich<br />

und Frankreich warnen uns eindringlich,<br />

den (Un-)Geist lieber in der Flasche<br />

zu lassen.<br />

Johannes Mörlein, Gera<br />

RAUS AUS DER NAZI-ECKE<br />

Ich verstehe nicht, warum „Mein<br />

Kampf“ nicht vollständig und vor allem<br />

unbearbeitet veröffentlicht werden soll.<br />

Wir wurden in der Schule und<br />

werden im, fast täglichen, politischen<br />

Leben damit konfrontiert, wie schlecht<br />

wir waren und dass das Täterblut immer<br />

noch an uns klebt und in uns ist … Aber<br />

haben wir nicht dennoch ein Anrecht,<br />

auf die Zeiten davor und danach stolz<br />

sein zu dürfen? Stolz, ein(e) Deutsche(r)<br />

zu sein! Warum lassen wir uns immer<br />

wieder einreden, dass wir schlecht und<br />

grausam sind, sobald wir sagen, dass<br />

es toll ist, Deutsche(r ) zu sein? … Wir<br />

haben Gutenberg, Luther, Beethoven,<br />

Schiller und Goethe, wir haben Widerstandskämpfer<br />

in unserer Geschichte<br />

und sind heute einer der Exportweltmeister.<br />

Unsere Ingenieure sind weltweit<br />

anerkannt. Ist das kein Grund, darauf<br />

stolz zu sein? Das hat mir in Ihren<br />

FOTOS: ANDREJ DALLMANN, CICERO<br />

14 <strong>Cicero</strong> 1.2013


C I C E R O | L E S E R B R I E F E<br />

Artikeln gefehlt: die differenzierte<br />

Aus einandersetzung mit deutschem<br />

Nationalstolz, ohne gleich ein Nationalsozialist<br />

sein zu müssen … Meiner Meinung<br />

nach ist dies nur möglich, wenn<br />

wir uns vollständig unserer Vergangenheit<br />

bewusst sind. Uns bringt man<br />

bei, sich in der Ecke stehend für Fehler<br />

zu schämen, für die wir nichts können.<br />

Aber die Chance, aus Fehlern zu lernen<br />

und ihre Ursprünge zu verstehen, gibt<br />

man uns nicht. Dazu würde auch die<br />

unkommentierte Veröffentlichung von<br />

„Mein Kampf“ gehören. Ich denke, es<br />

ist an der Zeit zu beweisen, dass man<br />

vollmündig ist: mit eigenem Sachverstand<br />

und Reflexion selbst beurteilen,<br />

selbst entscheiden und besonders selbst<br />

seine Vergangenheit und die damals<br />

damit verbundenen Fehler verstehen zu<br />

können. Nur so lernt man. Nicht, indem<br />

man in die Ecke verwiesen wird und nie<br />

wieder da heraus darf.<br />

Kathrin S. Winkelmann (29), Ravensburg<br />

ZU DEN KO LUMNEN VON AMELIE<br />

FRIED „MUTTER-MYTHOS“ UND<br />

„HOM ÖOPATHIE“/ DE ZEMBER UND<br />

N OVEMBER 2012<br />

DER MYTHOS LEBT<br />

Man mag zu der Debatte um die Definition<br />

der familienbewussten Frau stehen,<br />

wie man will, und Anlass, eine solche<br />

anzustoßen, gibt es dank der Einführung<br />

des Betreuungsgeldes genug. Trotz<br />

alledem erscheint mir der Beitrag von<br />

Amelie Fried dramatisch unangemessen<br />

und nicht zeitgemäß. Frau Fried fragt<br />

abschließend, ob der Gute-Mutter-<br />

Mythos denn nie aussterbe. <strong>Die</strong> Antwort<br />

darauf ist denkbar einfach. Nein,<br />

nie, und das ist auch gut so. Denn die<br />

Familie ist der Nukleus der Gesellschaft,<br />

und dieser Nukleus beginnt auseinanderzufallen,<br />

wenn Frauen gegen ihre<br />

biologische Bestimmung aufbegehren<br />

und in der Männerwelt ihre vermeintliche<br />

Selbstverwirklichung suchen. Das<br />

können sie tun, das sei jeder Frau selbst<br />

überlassen. Beides gleichzeitig ist jedoch<br />

zum Scheitern verurteilt. Daher möchte<br />

ich nur davor warnen zu glauben,<br />

Emanzipation bedeute, dass man in<br />

der heutigen Gesellschaft als Frau alles<br />

haben könne.<br />

Martina Lüth (zweifache Mutter), Berlin<br />

FRECH UND PRIMITIV<br />

<strong>Die</strong>sen Brief schreibe ich mit einem<br />

inneren Auftrag für die Frauen, die ihre<br />

Kinder in den ersten drei Jahren selbst<br />

erziehen. Solche kenne ich sehr viele.<br />

<strong>Die</strong>se Frauen als trutschig zu bezeichnen,<br />

finde ich schlicht und einfach mehr als<br />

frech und primitiv.<br />

Hilde Ilg, Uhingen<br />

MERCI, AMELIE<br />

Danke für diesen schönen Artikel,<br />

endlich mal nicht so unbedingt „political<br />

correct“, der die Lage so beschreibt,<br />

wie sie ist. Als Französin (seit 40 Jahren<br />

in Deutschland lebend) kann ich<br />

nur sagen: Wann wird man endlich<br />

in Deutschland sagen können, ich bin<br />

ganz einfach eine Frau, die ihren Beruf<br />

weiter ausüben möchte, die Spaß daran<br />

hat, die sich nicht mit Pampers und<br />

Kinderrutsche und Gesprächen über<br />

den besten Hipp-Brei zufrieden gibt, die<br />

dieses – um bei der Wahrheit zu bleiben<br />

– total öde findet. Trotzdem liebe<br />

ich Kinder. <strong>Die</strong> meisten Französinnen,<br />

die nach Deutschland kommen – und<br />

ich kenne eine ganze Menge – beäugen<br />

diese deutschen Supermütter, als wären<br />

sie Menschen von einem anderen Stern,<br />

und verstehen einfach nicht, „wie die<br />

ticken“. Merci, Amelie Fried, de votre<br />

engagement pour la cause des femmes.<br />

Marie-Catherine Meyer, Düsseldorf<br />

KOMISCHE NADELN<br />

Frau Fried ist offensichtlich eine gestandene<br />

Frau mitten im Leben und spricht<br />

hier in der Tat ganz erfrischend ein<br />

aktuelles Thema an. Wir können ihren<br />

Unmut auch irgendwie nachvollziehen,<br />

obwohl uns vieles daran an die seinerzeit<br />

heftigen Diskussionen über die chinesische<br />

Akupunktur erinnert – „so ein<br />

Blödsinn“ war noch eine milde Beschreibung<br />

dieser doch „völlig unwirksamen<br />

Nadeln“. Dann jedoch gab es „schmerzfreie<br />

Operationen bei vollem Bewusstsein“,<br />

und flugs vermuteten „einige<br />

Leute vom Fach“ „Taschenspielertricks“<br />

und Schlimmeres. Inzwischen werden<br />

Akupunktur und auch sehr viel „andere<br />

komische Dinge“ sogar von vielen<br />

Kassen bezahlt; vermutlich wurde ein<br />

Nachweis der Wirksamkeit erbracht.<br />

Helga Viets und Günter Achtergang, Soltau<br />

ZUM POST S C R IPTU M „STR EIT T U T<br />

G U T “ VON ALEX A N DER MA R G U IER ,<br />

UND ZUM TITELTHEMA „STILLE<br />

M ACHT“ VON GER T RUD HÖHLER /<br />

DEZEMBER 2012<br />

ZUM HOFFEN KEIN ANLASS<br />

Für Ihr Postscriptum „Streit tut gut“<br />

danke ich Ihnen. Ihr Satz: „Hauptsache<br />

keine deutschen Fernsehkorrespondenten<br />

mehr, die mit sorgenvoller Miene …“<br />

befreite mich von dem Gefühl, allein<br />

zu sein. Zumal ich mich des Eindrucks<br />

nicht erwehren konnte, dass all diese<br />

Herren auf Romney gesetzt, ergo<br />

Obama bereits abgeschrieben hatten.<br />

Kein leichtes Unterfangen, vom Nachruf<br />

auf Deutung eines unerklärlichen<br />

Vorfalls umzuschwenken … Wenn man<br />

wenigstens ein wenig journalistische<br />

Konsequenz besäße. Wo blieb der mediale<br />

Widerspruch zu einem der markantesten<br />

Sprüche aus dem alles andere als<br />

wortgewaltigen Arsenal der Kanzlerin:<br />

„Fällt der Euro, fällt Europa.“ Wer hat<br />

da nicht den Albtraum von einem<br />

durch den Fall des Euro hervorgerufenen<br />

Tsunami, der den alten Kontinent<br />

von der Landkarte tilgt? Wenigstens<br />

da bestand die einmalige Chance, die<br />

verschwiegene Kanzlerin einmal beim<br />

Wort zu nehmen, denn – dafür ist<br />

besonders zu danken – die „Stille Macht“<br />

war ein außerordentlich erhellendes<br />

Thema, auch wenn es keinen Anlass zur<br />

Hoffnung gab.<br />

Wieland Becker, Berlin<br />

(<strong>Die</strong> Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.)<br />

ILLUSTRATIONEN: CORNELIA VON SEIDLEIN<br />

16 <strong>Cicero</strong> 1.2013


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T I T E L<br />

DIE LISTE DER <strong>500</strong><br />

18 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Wer dringt durch? Wer wird gehört? Zum dritten Mal präsentiert<br />

<strong>Cicero</strong> eine Rangliste der <strong>Intellektuellen</strong> des deutschsprachigen<br />

Raumes. Ein Panoptikum alter Streiter und neuer Stimmen<br />

„Ein Intellektueller<br />

ist ein Mensch,<br />

dessen Geist<br />

sich selbst<br />

beobachtet“<br />

Albert Camus<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 19


T I T E L<br />

VORGEHENSW EISE<br />

DIE METHODE DES<br />

CICERO-RANKINGS<br />

<strong>Die</strong> <strong>Cicero</strong>-Liste spiegelt den geistigen<br />

Einfluss der deutschsprachigen<br />

<strong>Intellektuellen</strong> wider. Sie bildet deren<br />

öffentliche Deutungsmacht ab,<br />

misst aber keine inhaltliche Qualität.<br />

<strong>Die</strong> Erhebung bezieht sich auf<br />

die vergangenen zehn Jahre. Sie basiert<br />

1. auf der Präsenz in den 160<br />

<strong>wichtigsten</strong> deutschsprachigen Zeitungen<br />

und Zeitschriften. <strong>Die</strong>se werden<br />

über elektronische Datenbanken<br />

nach Referenzhäufigkeiten durchsucht.<br />

2. werden Zitationen im Internet<br />

ermittelt. 3. werden Treffer<br />

in der wissenschaftlichen Literaturrecherche<br />

Google Scholar gezählt.<br />

4. reflektieren Querverweise im biografischen<br />

Archiv Munzinger die Bedeutung<br />

der <strong>Intellektuellen</strong> im Networking.<br />

Aktive und Ex-Politiker<br />

wurden nicht berücksichtigt.<br />

Hinter den aktuellen Platzierungen<br />

ist die Zahl der gewonnenen oder<br />

verlorenen Positionen im Vergleich<br />

zum Rang im Jahr 2007 angegeben,<br />

als die <strong>Cicero</strong>-Liste zuletzt veröffentlicht<br />

wurde.<br />

Das aufwendige Messverfahren<br />

wurde von Max A. Höfer entwickelt,<br />

der bereits 2005 ein erstes <strong>Intellektuellen</strong>-Ranking<br />

veröffentlichte. <strong>Die</strong><br />

erste <strong>Cicero</strong>-Liste erschien 2006.<br />

„An interlectual<br />

(sic!) is a person<br />

who takes more<br />

words than<br />

necessary to tell<br />

more than they<br />

know“<br />

Schild vor einer Buchhandlung in<br />

Rockhampton, Australien<br />

1 +2 Günter Grass, Schriftsteller<br />

2 +4 Peter Handke, Schriftsteller<br />

3 -1 Martin Walser, Schriftsteller<br />

4 +5 Alice Schwarzer, Journalistin<br />

5 +2 Elfriede Jelinek,<br />

Schriftstellerin<br />

6 +4 Jürgen Habermas, Philosoph<br />

7 -2 Marcel Reich-Ranicki,<br />

Journalist<br />

8 +12 Peter Sloterdijk, Philosoph<br />

9 -8 Joseph Ratzinger, Theologe<br />

10 +8 Frank Schirrmacher,<br />

Journalist<br />

11 ±0 Hans Magnus Enzensberger,<br />

Schriftsteller<br />

12 +15 Wolfgang Huber, Theologe<br />

13 -9 Harald Schmidt, Kabarettist<br />

14 +22 Hans-Werner Sinn, Ökonom<br />

15 -1 Paul Kirchhof, Jurist<br />

16 -4 Wolf Biermann, Schriftsteller<br />

17 -4 Botho Strauß, Schriftsteller<br />

18 +16 Alexander Kluge, Publizist<br />

19 +12 Siegfried Lenz, Schriftsteller<br />

20 +19 Hans Küng, Theologe<br />

21 -13 Elke Heidenreich, Publizistin<br />

22 -3 Hans-Olaf Henkel, Ökonom<br />

23 -7 <strong>Die</strong>ter Hildebrandt,<br />

Kabarettist<br />

24 +1 Peter Stein, Theaterregisseur<br />

25 +80 Günter Wallraff, Journalist<br />

26 NEU Margot Käßmann, Theologin<br />

27 +1 Peter Schneider, Schriftsteller<br />

28 +102 Daniel Kehlmann,<br />

Schriftsteller<br />

29 +17 Guido Knopp, Historiker<br />

30 -8 Stefan Aust, Journalist<br />

31 -1 Ulrich Wickert, Journalist<br />

32 ±0 Joachim Kaiser, Journalist<br />

33 -4 Christoph Hein, Schriftsteller<br />

34 NEU Hans-Jürgen Papier, Jurist<br />

35 +31 Heribert Prantl, Journalist<br />

36 +2 Bert Rürup, Ökonom<br />

37 +57 Henryk M. Broder, Journalist<br />

38 +124 Herta Müller, Schriftstellerin<br />

39 -15 Roger Willemsen, Publizist<br />

40 +23 Ulrich Beck,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

41 +20 Durs Grünbein, Schriftsteller<br />

42 -16 Claus Peymann,<br />

Theaterregisseur<br />

43 +2 Adolf Muschg, Schriftsteller<br />

44 +10 Rainald Goetz, Schriftsteller<br />

45 +25 Benjamin von Stuckrad-Barre,<br />

Schriftsteller<br />

46 -4 Peter Scholl-Latour, Journalist<br />

47 +22 Cornelia Funke,<br />

Schriftstellerin<br />

48 ±0 Rolf Hochhuth, Dramatiker<br />

49 -28 Hellmuth Karasek, Journalist<br />

50 +3 Gesine Schwan,<br />

Politikwissenschaftlerin<br />

51 +93 Gerhard Roth, Schriftsteller<br />

52 +50 Götz Aly, Historiker<br />

53 -38 Doris Dörrie, Schriftstellerin<br />

54 +31 Bernhard Schlink,<br />

Schriftsteller<br />

55 -22 Walter Jens, Schriftsteller<br />

56 +19 Ralph Giordano, Schriftsteller<br />

57 +20 Wolfgang Franz, Ökonom<br />

58 +50 Peter Bofinger, Ökonom<br />

59 -15 Julian Nida-Rümelin,<br />

Philosoph<br />

60 +30 Uwe Timm, Schriftsteller<br />

61 -4 Jan Philipp Reemtsma,<br />

Publizist<br />

62 +295 Axel Weber, Ökonom<br />

63 +65 Feridun Zaimoglu,<br />

Schriftsteller<br />

64 +4 Volker Braun, Schriftsteller<br />

65 +19 Hans-Ulrich Wehler,<br />

Historiker<br />

66 +57 Bernd Ulrich, Journalist<br />

67 NEU Charlotte Roche, Schriftstellerin<br />

68 -6 Gerhard Polt, Kabarettist<br />

69 +118 Claus Leggewie,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

70 +97 Fritz J. Raddatz, Journalist<br />

71 -6 Patrick Süskind, Schriftsteller<br />

72 +79 Thomas Straubhaar, Ökonom<br />

73 +204 Udo Di Fabio, Jurist<br />

74 +27 Christian Kracht, Schriftsteller<br />

75 +11 Ingo Schulze, Schriftsteller<br />

76 -33 Josef Joffe, Journalist<br />

77 +191 Herfried Münkler,<br />

Politikwissenschaftler<br />

78 +28 Giovanni di Lorenzo,<br />

Journalist<br />

79 -21 Fritz Pleitgen, Journalist<br />

80 +143 Necla Kelek, Publizistin<br />

81 +67 Micha Brumlik, Pädagoge<br />

82 +61 Michael Stürmer, Historiker<br />

83 +27 Ernst Ulrich von Weizsäcker,<br />

Naturwissenschaftler<br />

84 +40 Wolfgang Benz, Historiker<br />

85 +19 Stefan Klein, Publizist<br />

86 NEU Mathias Döpfner, Publizist<br />

87 NEU Andreas Voßkuhle, Jurist<br />

88 -38 Peter Härtling, Schriftsteller<br />

89 -42 Leander Haußmann, Regisseur<br />

90 -39 Frank Castorf,<br />

Theaterregisseur<br />

ILLUSTRATIONEN: WIESLAW SMETEK (SEITEN 18 BIS 21)<br />

20 <strong>Cicero</strong> 1.2013


GÜNTER GRASS<br />

Moralist, Literat, Grafiker, Dichter,<br />

Denker, Mahner und Nervensäge: Seit<br />

jeher hat Günter Grass sich ungefragt<br />

in den öffentlichen Diskurs des Landes<br />

eingemischt, oft mit treffsicherem<br />

Gespür für das Vergessene,<br />

Totgeschwiegene, mal weniger<br />

treffsicher, wie zuletzt mit seinem<br />

Israel-Gedicht „Was gesagt werden<br />

muss“. Doch dass ein paar Zeilen eines<br />

inzwischen 85-Jährigen das Land über<br />

Wochen beschäftigen können, zeigt,<br />

wie relevant der Nobelpreisträger noch<br />

immer ist.<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 21


T I T E L<br />

ALICE SCHWARZER<br />

Als „Schwanz-ab-Schwarzer“ wurde sie beschimpft, als<br />

„Hexe der Nation“. Kaum eine Frau zog in der Bundesrepublik<br />

derartig viel Häme, ja Hass auf sich wie Alice Schwarzer.<br />

Trotzdem – oder gerade deshalb – haben wenige in den<br />

letzten 40 Jahren so viel bewegt wie sie, die Galionsfigur des<br />

deutschen Feminismus, ob mit Aktionen wie ihrem Protest<br />

gegen den Paragrafen 218 oder ihrem Buch „Der kleine<br />

Unterschied“. Im Dezember ist sie 70 Jahre alt geworden.<br />

22 <strong>Cicero</strong> 1.2013


ILLUSTRATION: WIESLAW SMETEK, FOTOS: JOSEF FISCHNALLER, IZA, PICTURE ALLIANCE (3)<br />

91 +9 Florian Illies, Publizist<br />

92 +35 Christian Meier, Historiker<br />

93 +63 Thomas Mayer, Ökonom<br />

94 -22 Franz Xaver Kroetz,<br />

Dramatiker<br />

95 +94 Juli Zeh, Schriftstellerin<br />

96 +37 Franz Walter,<br />

Politikwissenschaftler<br />

97 +254 Wladimir Kaminer,<br />

Schriftsteller<br />

98 -27 Thomas Brussig, Schriftsteller<br />

99 +299 Martin Suter, Schriftsteller<br />

100 +96 Hermann Simon, Ökonom<br />

101 +35 Rüdiger Safranski, Philosoph<br />

102 +59 Hartmut von Hentig,<br />

Pädagoge<br />

103 +166 Manfred Spitzer, Psychologe<br />

104 -31 Arnulf Baring, Historiker<br />

105 NEU Miriam Meckel,<br />

Medienwissenschaftlerin<br />

106 +41 Otmar Issing, Ökonom<br />

107 -72 Jürgen Flimm,<br />

Theaterregisseur<br />

108 NEU Navid Kermani, Schriftsteller<br />

109 +135 Karl Heinz Bohrer,<br />

Schriftsteller<br />

110 +36 Wolf Lepenies,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

111 +5 Wolf Singer, Neurophysiologe<br />

112 +313 Harald Welzer,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

113 ±0 Hans Leyendecker, Journalist<br />

114 -17 Ulrich Greiner, Journalist<br />

115 +198 Ernst-Wolfgang Böckenförde,<br />

Jurist<br />

116 +65 Paul Nolte, Historiker<br />

117 +63 Hans-Peter Schwarz,<br />

Historiker<br />

118 +17 Jan Assmann,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

119 +54 Iris Radisch, Journalistin<br />

120 ±0 Matthias Horx, Publizist<br />

121 -14 Theo Sommer, Journalist<br />

122 +20 Heinrich August Winkler,<br />

Historiker<br />

123 -30 Hans Mommsen, Historiker<br />

124 -3 Meinhard Miegel,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

125 -70 Helmut Markwort, Journalist<br />

126 +102 <strong>Die</strong>ter Grimm, Jurist<br />

127 -29 Eugen Drewermann,<br />

Theologe<br />

128 +132 Anselm Grün, Theologe<br />

129 -88 Robert Leicht, Journalist<br />

130 +154 Stefan Niggemeier,<br />

Journalist<br />

131 -39 Richard Schröder, Theologe<br />

„Ein großer Geist<br />

irrt sich so gut<br />

wie ein kleiner;<br />

jener, weil er<br />

keine Schranken<br />

kennt, und dieser,<br />

weil er seinen<br />

Horizont für die<br />

Welt hält“<br />

Johann Wolfgang von Goethe<br />

<strong>Die</strong> größten Aufsteiger<br />

Gerald Hüther (+328)<br />

Der Göttinger Hirnforscher wurde durch<br />

seine populärwissenschaftlichen Schriften<br />

und zuletzt als vehementer Kritiker<br />

des deutschen Schulsystems bekannt.<br />

Klaus F. Zimmermann (+325)<br />

Der gestürzte Präsident des<br />

renommierten Wirtschaftsforschungsinstituts<br />

DIW leitet heute das Bonner<br />

Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA).<br />

Harald Welzer (+313)<br />

Lange Experte für Vergangenheitsbewältigung<br />

(„Opa war kein Nazi“), nun auch<br />

Spezialist für Zukunftsfragen („Das Ende<br />

der Welt, wie wir sie kannten“).<br />

Martin Suter (+299)<br />

<strong>Die</strong> Bücher des Ex-Werbetexters – ob<br />

über Alzheimer oder Molekularküche –,<br />

gehören inzwischen zu den <strong>wichtigsten</strong><br />

Schweizer E xportgütern.<br />

Axel Weber (+295)<br />

Ehemals pragmatischer Forscher, dann<br />

Chef der Bundesbank, heute Verwaltungsratschef<br />

der kriselnden Schweizer<br />

Großbank UBS.<br />

132 -36 Günter Kunert, Schriftsteller<br />

133 +52 Norbert Frei, Historiker<br />

134 +3 Oskar Negt, Sozialphilosoph<br />

135 +57 Jean Ziegler, Publizist<br />

136 +106 Christoph Schmidt,<br />

Ökonom<br />

137 -5 Rolf Schneider, Schriftsteller<br />

138 +7 Thomas Steinfeld, Journalist<br />

139 -65 Hans Neuenfels, Theaterautor<br />

140 -61 Christoph Marthaler,<br />

Theaterregisseur<br />

141 -60 Sven Regener, Schriftsteller<br />

142 +203 Norbert Bolz,<br />

Medienwissenschaftler<br />

143 +156 Peter von Matt, Germanist<br />

144 +24 Martin Meyer, Journalist<br />

145 NEU Reinhard Marx, Theologe<br />

146 -47 Friedrich Schorlemmer,<br />

Theologe<br />

147 -65 Wilhelm Genazino,<br />

Schriftsteller<br />

148 -37 Friederike Mayröcker,<br />

Schriftstellerin<br />

149 -69 Max Goldt, Schriftsteller<br />

150 +155 Harald Martenstein, Publizist<br />

151 -10 Urs Widmer, Schriftsteller<br />

152 +328 Gerald Hüther, Neurobiologe<br />

153 -66 Wiglaf Droste, Schriftsteller<br />

154 NEU Richard David Precht,<br />

Philosoph<br />

155 +56 René Pollesch, Dramatiker<br />

156 +54 Ruth Klüger, Schriftstellerin<br />

157 +31 Michael Hüther, Ökonom<br />

158 +62 Bernd Raffelhüschen,<br />

Ökonom<br />

159 +166 Peter Weibel, Publizist<br />

160 +203 Klaus Hurrelmann,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

161 +25 Günter de Bruyn,<br />

Schriftsteller<br />

162 -47 Axel Hacke, Schriftsteller<br />

163 +263 Hans Ulrich Gumbrecht,<br />

Schriftsteller<br />

164 +214 Friedrich Schneider,<br />

Ökonom<br />

165 +102 Martin Mosebach,<br />

Schriftsteller<br />

166 +263 Thomas Schmid, Journalist<br />

167 -18 Ernst Nolte, Historiker<br />

168 +325 Klaus F. Zimmermann,<br />

Ökonom<br />

169 -35 Ulla Hahn, Schriftstellerin<br />

170 -106 Tankred Dorst, Dramatiker<br />

171 -82 Walter Moers, Schriftsteller<br />

172 -69 Erich Loest, Schriftsteller<br />

173 -82 Sigrid Löffler, Publizistin<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 23


T I T E L<br />

174 -115 Peter Hahne, Journalist<br />

175 -15 Wolf Schneider, Publizist<br />

176 -26 <strong>Die</strong>drich <strong>Die</strong>derichsen,<br />

Publizist<br />

177 NEU Gert G. Wagner, Ökonom<br />

178 +5 Gertrud Höhler, Publizistin<br />

179 ±0 Renate Köcher,<br />

Sozialwissenschaftlerin<br />

180 +201 Axel Honneth, Philosoph<br />

181 +17 Robert Menasse, Schriftsteller<br />

182 -17 John von Düffel, Schriftsteller<br />

183 +111 Hans-Ulrich Jörges, Journalist<br />

184 NEU Julius H. Schoeps, Historiker<br />

185 +243 Jutta Allmendinger,<br />

Sozialwissenschaftlerin<br />

186 +31 Heiner Flassbeck, Ökonom<br />

187 -138 Karl Kardinal Lehmann,<br />

Theologe<br />

188 +74 Christoph Ransmayr,<br />

Schriftsteller<br />

189 NEU Patrick Bahners, Journalist<br />

190 +287 Gustav Horn, Ökonom<br />

191 +89 Hans Bertram,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

192 +169 Robert Spaemann,<br />

Philosoph<br />

193 -79 Marlene Streeruwitz,<br />

Schriftstellerin<br />

194 +81 Friedrich Wilhelm Graf,<br />

Theologe<br />

195 +180 <strong>Die</strong>ter Lenzen, Pädagoge<br />

196 -24 Jürgen Kocka, Historiker<br />

197 +92 Raoul Schrott, Schriftsteller<br />

198 -5 Ilse Aichinger, Schriftstellerin<br />

199 +8 Hans Albert, Philosoph<br />

200 +40 Sasha Waltz,<br />

Theaterregisseurin<br />

201 +24 Monika Maron,<br />

Schriftstellerin<br />

202 -33 Gustav Seibt, Journalist<br />

203 -78 Michael Wolffsohn,<br />

Historiker<br />

204 NEU Uwe Tellkamp, Schriftsteller<br />

205 -79 Klaus Harpprecht, Journalist<br />

206 +170 Rudolf Hickel, Ökonom<br />

207 NEU Hans Joachim Schellnhuber,<br />

Klimaforscher<br />

208 NEU Claudia Kemfert, Ökonomin<br />

209 +18 Hans Herbert von Arnim,<br />

Jurist<br />

210 +78 Hubertus Knabe, Historiker<br />

211 +47 Thea Dorn, Publizistin<br />

212 -35 <strong>Die</strong>tmar Dath, Journalist<br />

213 +161 Heinz Bude,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

214 +39 Winfried Hassemer, Jurist<br />

„Wenn ein<br />

wirklich großer<br />

Geist in der<br />

Welt erscheint,<br />

kann man ihn<br />

untrüglich<br />

daran erkennen,<br />

dass sich alle<br />

Dummköpfe<br />

gegen ihn<br />

verbünden“<br />

Jonathan Swift<br />

<strong>Die</strong> <strong>wichtigsten</strong> Frauen<br />

Elfriede Jelinek (5)<br />

Lange wurde die radikale österreichische<br />

Schriftstellerin skandalisiert, heute kommt<br />

kein bedeutender Theaterregisseur am<br />

Werk der Nobelpreisträgerin vorbei.<br />

Elke Heidenreich (21)<br />

Als Literaturkritikerin ist es ihr gelungen,<br />

das Lesen zum kollektiven Ereignis<br />

für das ganze Land gemacht zu haben.<br />

Herta Müller (38)<br />

<strong>Die</strong> Schriftstellerin beschreibt die<br />

Diktatur ihres Heimatlands Rumänien.<br />

2009 bekam sie den Literatur-Nobelpreis.<br />

Sie lebt heute in Berlin.<br />

Cornelia Funke (47)<br />

Mit über 20 Millionen verkauften Büchern<br />

ist die Schöpferin der „Tintenwelt-<br />

Trilogie“ eine der erfolgreichsten<br />

Jugendbuchautorinnen der Welt.<br />

Gesine Schwan (50)<br />

Heißblütige Verteidigerin der Bürgergesellschaft.<br />

Kandidierte vergeblich als<br />

Bundespräsidentin. Leitet die Humboldt-<br />

Viadrina-School of Governance in Berlin.<br />

215 +157 Gabor Steingart, Journalist<br />

216 +275 Beatrice Weder di Mauro,<br />

Ökonomin<br />

217 +124 Sibylle Berg, Schriftstellerin<br />

218 +235 Walter Krämer, Ökonom<br />

219 -11 Jürgen Kluge, Ökonom<br />

220 NEU Sascha Lobo, Blogger<br />

221 +10 Hermann Lübbe, Philosoph<br />

222 NEU Harald zur Hausen,<br />

Mediziner<br />

223 -21 Sten Nadolny, Schriftsteller<br />

224 -58 Brigitte Kronauer,<br />

Schriftstellerin<br />

225 NEU Ranga Yogeshwar, Journalist<br />

226 -35 Bodo Kirchhoff, Schriftsteller<br />

227 +246 Elmar Altvater,<br />

Politikwissenschaftler<br />

228 -28 Wolfgang Büscher,<br />

Schriftsteller<br />

229 -53 Werner Weidenfeld,<br />

Politikwissenschaftler<br />

230 NEU Seyran Ates, Publizistin<br />

231 +112 Christoph <strong>Die</strong>ckmann,<br />

Publizist<br />

232 -18 Volker Hage, Journalist<br />

233 +228 Julia Franck, Schriftstellerin<br />

234 +169 Bernhard Bueb, Pädagoge<br />

235 NEU Ferdinand von Schirach,<br />

Schriftsteller<br />

236 NEU Armin Petras, Theaterregisseur<br />

237 +71 Moritz von Uslar,<br />

Schriftsteller<br />

238 -34 Jörg Friedrich, Historiker<br />

239 -87 Michael Jürgs, Journalist<br />

240 NEU Christina von Braun,<br />

Kulturwissenschaftlerin<br />

241 +81 Horst Möller, Historiker<br />

242 +162 Matthias Matussek,<br />

Journalist<br />

243 -34 Dan Diner, Historiker<br />

244 -1 Lukas Bärfuss, Schriftsteller<br />

245 NEU Claus Kleber, Journalist<br />

246 NEU Andreas Platthaus, Journalist<br />

247 -32 Judith Hermann,<br />

Schriftstellerin<br />

248 NEU Michael Lentz, Schriftsteller<br />

249 -55 Karl-Markus Gauß,<br />

Schriftsteller<br />

250 -66 Herbert Achternbusch,<br />

Schriftsteller<br />

251 NEU Wilhelm Heitmeyer, Pädagoge<br />

252 NEU Hans Joas, Philosoph<br />

253 -113 Moritz Rinke, Schriftsteller<br />

254 +193 Klaus Schroeder, Historiker<br />

255 +40 Jens Jessen, Journalist<br />

256 -103 Salomon Korn, Publizist<br />

FOTOS: PICTURE ALLIANCE (5)<br />

24 <strong>Cicero</strong> 1.2013


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AUFFÄLLIGKEITEN<br />

KRISENTREMOLO<br />

Mit Günter Grass an der Spitze bestimmen<br />

die Mahner und Warner wieder den geistigen<br />

Haushalt der Nation<br />

Von Max A. Höfer<br />

Günter Grass hat es nicht verlernt. Der<br />

Mann kann provozieren, zuletzt mit<br />

seinem israelkritischen Gedicht, von<br />

dem Lästerer behaupten, dass es gar<br />

keines ist, sondern nur so aussieht.<br />

Aber auch die Versform ist wohlkalkuliert,<br />

denn sie passt zum Furor des<br />

Dichters und Denkers, der ausspricht,<br />

„was gesagt werden muss“. Kaum ein<br />

Leitartikler, der sich dazu nicht zu<br />

Wort meldet. Grass weiß, wie man<br />

eine Debatte inszeniert. Kein Wunder,<br />

dass er die Nummer 1 des <strong>Cicero</strong>-Rankings<br />

ist.<br />

Nur wenige verfügen über eine vergleichbare<br />

Wirkungsmacht. Jürgen<br />

Habermas (Platz 6) gehört zweifellos<br />

dazu. Dennoch tat er sich im Sommer<br />

mit dem Ökonomen Peter Bofinger<br />

(58) und dem Philosophen Julian<br />

Nida-Rümelin (59) zusammen, um seinem<br />

Plädoyer für einen europäischen<br />

Bundesstaat die größtmögliche Medienaufmerksamkeit<br />

zu verleihen.<br />

Ohne die Deutungsmacht eines<br />

Hans-Werner Sinn (14) hätten es<br />

die sperrigen „Target-Salden“ nie in<br />

den Bundestag und in die Schlagzeilen<br />

geschafft. Dabei geht es um offene<br />

Soll-Positionen säumiger südeuropäischer<br />

Eurostaaten in dreistelliger Milliardenhöhe,<br />

die bei der Bundesbank<br />

auflaufen. <strong>Die</strong> Berliner Politik hätte<br />

das Thema gern totgeschwiegen. Sinn<br />

hievte es nahezu im Alleingang auf die<br />

Agenda. Einem einfachen Professor für<br />

Volkswirtschaft wäre so ein Coup nie<br />

gelungen.<br />

Wer solche Debatten anstoßen<br />

kann, ist ein Schwergewicht. Das <strong>Cicero</strong>-Ranking<br />

misst die Zitationen jedes<br />

<strong>Intellektuellen</strong> über einen Zeitraum<br />

von zehn Jahren. Das ist lang genug,<br />

damit kurzfristige Medienhypes<br />

nicht das Gesamtbild<br />

verzerren, und kurz genug,<br />

um Newcomern eine<br />

Chance gegenüber den etablierten<br />

Alphatieren zu lassen.<br />

Oben kann sich nur halten,<br />

wer Substanz und Kontinuität<br />

hat. Wie ein Uhrwerk liefern Autoren<br />

wie Martin Walser (3) oder Elfriede<br />

Jelinek (5) ihre Bücher und<br />

Stücke ab und greifen Publizisten wie<br />

Alice Schwarzer (4) oder Frank Schirrmacher<br />

(10) in aktuelle Debatten ein.<br />

Aber auch Forscher wie Manfred Spitzer<br />

(103) oder Theologen wie Hans<br />

Küng (20) verdanken ihre Position ihrer<br />

großen Produktivität.<br />

<strong>Die</strong> Kehrseite ist die starke Überalterung<br />

der intellektuellen Elite. Man<br />

kann es nicht anders ausdrücken. Vieles<br />

läuft selbstreferenziell ab: Ein Peter<br />

Handke (2) kann sogar einen „Versuch<br />

über den stillen Ort“ veröffentlichen,<br />

und alle Feuilletonisten klatschen begeistert.<br />

Das Durchschnittsalter der<br />

Top 100 liegt unverändert bei 66 Jahren.<br />

Umso bemerkenswerter der Vormarsch<br />

der unter 40-Jährigen: Daniel<br />

Kehlmann auf Platz 28, Benjamin von<br />

Stuckrad-Barre auf 45 und die schrille<br />

Charlotte Roche auf 67. Auch der<br />

Frauenanteil liegt, wie 2007, wieder<br />

nur bei 13 Prozent, woran auch Margot<br />

Käßmanns sensationeller Durchbruch<br />

auf Platz 26 nichts ändert.<br />

Nichts ist gut im geistigen Deutschland,<br />

auf dessen Gipfeln immer noch<br />

die alten Patriarchen thronen.<br />

Bemerkenswert gegenüber 2007 ist<br />

der Aufstieg der Ökonomen und, im<br />

Umfang kleiner, der Juristen. Beides<br />

hat mit der Euro- und Europakrise zu<br />

tun. Überhaupt die Krise: Wenn es einen<br />

Trend gibt, dann ist es die Rückkehr<br />

der Warner und Mahner, nachdem<br />

die Optimisten 2007 kleinere<br />

Terraingewinne verzeichnen konnten.<br />

Mit Günter Grass als Vorsänger ist das<br />

Beschwören des Untergangs die Lieblingsbotschaft<br />

unserer <strong>Intellektuellen</strong>:<br />

Bei Grass ist es der drohende Atomkrieg,<br />

bei Habermas Europas „Abschied<br />

von der Weltgeschichte“. Frank<br />

Schirrmacher sorgt sich vor dem digitalen<br />

Kontrollverlust über unser Denken,<br />

und Hans-Werner Sinn sieht unsere<br />

Sparguthaben im Eurostrudel dahinschwinden.<br />

Günter Wallraff (25) warnt<br />

wie immer vor Dumpinglöhnen, zuletzt<br />

bei Lidl, und Rolf Hochhuth meldete<br />

sich kürzlich mit der Erkenntnis,<br />

dass die Qualität der Berliner Kaffeehäuser<br />

furchtbar nachgelassen habe.<br />

So ist für jeden etwas dabei. Gemessen<br />

am Krisentremolo der <strong>Intellektuellen</strong><br />

macht die Bevölkerung noch einen<br />

recht zuversichtlichen Eindruck. Also<br />

möchte ich vor den Warnern warnen:<br />

Wenn es so weitergeht, erlebt Deutschland<br />

vielleicht eine Selffulfilling Prophecy<br />

im Großformat.<br />

M AX A . HÖFER<br />

ist Kommunikationsberater<br />

und Publizist. Er erstellte für<br />

<strong>Cicero</strong> bereits zum dritten Mal<br />

die Rangliste der <strong>Intellektuellen</strong><br />

ILLUSTRATION: CHRISTOPH ABBREDERIS; FOTO: PRIVAT (AUTOR)<br />

26 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Anzeige<br />

257 +200 Jörg Lau, Journalist<br />

258 +220 Dirk Baecker,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

259 NEU Bazon Brock, Publizist<br />

260 NEU Amelie Fried, Schriftstellerin<br />

261 NEU Christoph Markschies,<br />

Theologe<br />

262 -11 Lothar Gall, Historiker<br />

263 +8 Hans Belting, Historiker<br />

264 +233 Felicitas von Lovenberg,<br />

Journalistin<br />

265 NEU <strong>Die</strong>ter Nuhr, Kabarettist<br />

266 NEU Thomas Ostermeier,<br />

Theaterregisseur<br />

267 +173 Roger Köppel, Journalist<br />

268 -39 Florian Rötzer, Journalist<br />

269 NEU Joachim Starbatty, Ökonom<br />

270 +107 Bastian Sick, Journalist<br />

271 +229 Andres Veiel,<br />

Theaterregisseur<br />

272 +31 Karl Schlögel, Publizist<br />

273 +132 <strong>Die</strong>ter Wellershoff,<br />

Schriftsteller<br />

274 -33 Franzobel, Schriftsteller<br />

275 +119 <strong>Die</strong>ter E. Zimmer, Publizist<br />

276 NEU Werner Spies, Historiker<br />

277 -113 Wolfgang Frühwald,<br />

Literaturwissenschaftler<br />

278 NEU Hans-Jörg Bullinger,<br />

Arbeitswissenschaftler<br />

279 NEU Georg Klein, Schriftsteller<br />

280 +26 Willi Winkler, Journalist<br />

Erfolgreichste Newcomer<br />

Margot Käßmann (26)<br />

Trotz des Rücktritts als Bischöfin und<br />

EKD-Chefin nach Trunkenheit am Steuer<br />

noch immer Deutschlands oberste<br />

Moralistin.<br />

Hans-Jürgen Papier (34)<br />

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts<br />

mischt sich immer<br />

wieder in öffentliche Debatten wie die<br />

zur Europolitik ein.<br />

Charlotte Roche (67)<br />

Früher die „Queen of German Pop<br />

Television“ (Harald Schmidt) bei Viva,<br />

heute Königin der skandalträchtigen<br />

Selbstvermarktung.<br />

Mathias Döpfner (86)<br />

Der hünenhafte Musikwissenschaftler<br />

hat dem Springer-Verlag als CEO Rekordergebnisse<br />

beschert. Friede Springer<br />

dankte es ihm mit üppigen Aktienpaketen.<br />

Andreas Voßkuhle (87)<br />

Der neue Präsident des Bundesverfassungsgerichts<br />

wurde schon als<br />

mächtigster Mann Europas bezeichnet.<br />

Den ESM winkte er durch.<br />

FOTOS: PICTURE ALLIANCE (5)<br />

281 NEU Denis Scheck, Journalist<br />

282 -49 Klaus Berger, Theologe<br />

283 -171 Gunter Hofmann, Journalist<br />

284 -94 <strong>Die</strong>trich Grönemeyer,<br />

Mediziner<br />

285 +31 Alexander Kissler, Journalist<br />

286 -74 Fredmund Malik, Ökonom<br />

287 NEU Carl Christian von<br />

Weizsäcker, Ökonom<br />

288 +16 Hanns-Josef Ortheil,<br />

Schriftsteller<br />

289 NEU Ilija Trojanow, Publizist<br />

290 -58 Ulf Poschardt, Journalist<br />

291 +37 Karen Duve, Schriftstellerin<br />

292 NEU Horst Bredekamp, Historiker<br />

293 +38 Georg <strong>Die</strong>z, Journalist<br />

294 +18 Odo Marquard, Philosoph<br />

295 -96 Hans Christoph Buch,<br />

Schriftsteller<br />

296 +188 Friedrich Christian Delius,<br />

Schriftsteller<br />

297 NEU Wolf Haas, Schriftsteller<br />

298 -180 Eckhard Henscheid,<br />

Schriftsteller<br />

„Der Intellektuelle<br />

ist nicht nur durch<br />

den Intellekt zu<br />

definieren, sondern<br />

ebenso durch die<br />

Art, wie er ihn zeigt:<br />

Intellektualität ist<br />

auch Auftritt und<br />

Schauspiel“<br />

Hannelore Schlaffer<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 27<br />

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„<strong>Die</strong>se Schlamperei, Nachlässigkeit, Unordentlichkeit,<br />

Ungenauigkeit, die nervöse Hast, die Neigung, Taten durch<br />

Diskussionen, Arbeit durch Gerede zu ersetzen, diese<br />

Neigung, alles in der Welt anzufangen und nichts zu Ende zu<br />

führen, ist eine jener Eigenschaften der ‚Gebildeten‘, die sich<br />

keineswegs aus ihrer schlechten Natur und noch weniger aus<br />

Böswilligkeit, sondern aus allen ihren Lebensgewohnheiten,<br />

ihren Arbeitsverhältnissen, ihrer Übermüdung, der anormalen<br />

Trennung der geistigen Arbeit von der körperlichen usw. ergeben“<br />

Wladimir Iljitsch Lenin<br />

299 -77 Petra Gerster, Journalistin<br />

300 NEU Jürgen Kaube, Journalist<br />

301 -56 Ulrich Herbert, Historiker<br />

302 -68 Thomas Assheuer, Journalist<br />

303 +98 Dirk Kurbjuweit, Journalist<br />

304 +81 Arno Geiger, Schriftsteller<br />

305 NEU Christine Nöstlinger,<br />

Schriftstellerin<br />

306 NEU Hans-Jürgen Jakobs,<br />

Journalist<br />

307 NEU Sarah Kuttner, Publizistin<br />

308 +102 Wolfgang Schmidbauer,<br />

Psychoanalytiker<br />

309 -180 Andreas Kilb, Journalist<br />

310 -172 Franz Alt, Journalist<br />

311 NEU Ernst Peter Fischer, Publizist<br />

312 +102 Axel Meyer,<br />

Evolutionsbiologe<br />

313 +73 Michael Thalheimer,<br />

Theaterregisseur<br />

314 -132 Benjamin Lebert,<br />

Schriftsteller<br />

315 +173 Horst W. Opaschowski,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

316 NEU Wilhelm Schmid, Philosoph<br />

317 +53 Wolfgang Kraushaar,<br />

Politikwissenschaftler<br />

318 +99 Peter Bieri, Philosoph<br />

319 +29 Felicitas Hoppe,<br />

Schriftstellerin<br />

320 NEU Josef Winkler, Schriftsteller<br />

321 -19 Eckhard Jesse,<br />

Politikwissenschaftler<br />

322 -25 Iring Fetscher,<br />

Politikwissenschaftler<br />

323 +167 Michael Miersch, Journalist<br />

324 -60 Thomas Hettche, Schriftsteller<br />

28 <strong>Cicero</strong> 1.2013<br />

325 -11 Kurt Flasch, Philosoph<br />

326 -129 Thomas Hürlimann,<br />

Schriftsteller<br />

327 NEU Fritz B. Simon, Mediziner<br />

328 NEU Otfried Höffe, Philosoph<br />

329 -83 Lorenz Jäger, Journalist<br />

330 NEU Jakob Augstein, Journalist<br />

331 NEU Hugo Müller-Vogg, Journalist<br />

332 NEU Andreas Maier, Schriftsteller<br />

333 NEU Gerhard Schulze,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

334 +45 Peter von Becker, Journalist<br />

335 +33 Andrea Breth,<br />

Theaterregisseurin<br />

336 -227 Jens Reich,<br />

Naturwissenschaftler<br />

337 +97 Hans Werner Kilz, Journalist<br />

338 -83 Wolfgang Wiegard, Ökonom<br />

339 -134 Uwe Wittstock, Journalist<br />

340 NEU Kathrin Röggla,<br />

Schriftstellerin<br />

341 NEU Robert Misik, Publizist<br />

342 -225 Lea Rosh, Journalistin<br />

343 -93 Jan Weiler, Schriftsteller<br />

344 +110 <strong>Die</strong>ter Henrich, Philosoph<br />

345 +82 Michael Maier, Journalist<br />

346 -8 Peter Gross,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

347 NEU Christian Geyer, Journalist<br />

348 +41 Peter Bichsel, Schriftsteller<br />

349 +41 Gerd Langguth,<br />

Politikwissenschaftler<br />

350 NEU Georg M. Oswald,<br />

Schriftsteller<br />

351 -5 Jakob Hein, Schriftsteller<br />

352 NEU Volker Gerhardt, Philosoph<br />

353 -71 Wolfgang Gerke, Ökonom<br />

354 +29 Katja Lange-Müller,<br />

Schriftstellerin<br />

355 -69 Udo Steinbach, Historiker<br />

356 NEU Michael Hartmann,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

357 NEU Joachim Bauer, Mediziner<br />

358 -79 Bascha Mika, Journalistin<br />

359 NEU Christoph Schönborn,<br />

Theologe<br />

360 -86 Frank Goosen, Schriftsteller<br />

361 +6 Aleida Assmann,<br />

Kulturwissenschaftlerin<br />

362 NEU Clemens Fuest, Ökonom<br />

363 -76 Alan Posener, Journalist<br />

364 NEU Lutz Hachmeister,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

365 -72 Franz Schuh, Schriftsteller<br />

366 -24 Karl-Rudolf Korte,<br />

Politikwissenschaftler<br />

367 -143 Ludwig Harig, Schriftsteller<br />

368 NEU Thomas Macho, Publizist<br />

369 -49 Gerd Koenen, Publizist<br />

370 +111 Thomas Leif, Journalist<br />

371 NEU Mathias Müller von<br />

Blumencron, Journalist<br />

372 -156 Wolf Wondratschek,<br />

Schriftsteller<br />

373 NEU Jochen Hörisch,<br />

Medienwissenschaftler<br />

374 -307 Ernst-Ludwig Winnacker,<br />

Biochemiker<br />

375 NEU Christoph Butterwegge,<br />

Politikwissenschaftler<br />

376 NEU Manfred Lütz, Mediziner<br />

377 NEU Kathrin Passig, Journalistin<br />

378 NEU Klaus J. Bade, Historiker<br />

379 -14 Burkhard Spinnen,<br />

Schriftsteller<br />

380 -185 Jürgen Leinemann, Journalist<br />

„Intellektuell ist die Bezeichnung<br />

einer Berufung“<br />

José Ortega y Gasset


Ich seh was Besseres.<br />

Ohne HD ist es einfach<br />

nicht das Gleiche.<br />

Sorry Hollywood. Deutschland verdient das beste HD.<br />

Erleben Sie die größte Programmvielfalt in HD nur auf Sky.<br />

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T I T E L<br />

N OCH EINE L ISTE<br />

DER INTELLEKTUELLE<br />

19 Eigenschaften einer ruhig gestellten Spezies<br />

Von Michael Naumann<br />

1. Der Intellektuelle als solcher wird<br />

nicht mehr benötigt. Das faschistische,<br />

kommunistische, kapitalistische,<br />

autoritäre, sogenannte<br />

„gesamtverblendete“ System hat<br />

den <strong>Intellektuellen</strong> im Laufe des<br />

20. Jahrhunderts aus seiner freischwebenden<br />

Existenz befreit und<br />

mit einer Professur ruhig gestellt –<br />

wenn es ihn nicht ermordet hat.<br />

2. Theodor W. Adorno hat<br />

schon alles gesagt.<br />

3. Er war ein großer Intellektueller,<br />

aber heimlich,<br />

so lästerte einmal<br />

sein Freund Max<br />

Horkheimer, sehnte er sich im Exil<br />

nach einer sicheren Existenz auf einer<br />

kleinen Forschungsstelle in<br />

Kalifornien.<br />

4. Der wohlsituierte deutsche Privatgelehrte<br />

verliert seine diskret mitgeschleppte<br />

Berufsbezeichnung „Intellektueller“<br />

an dem Tag, an dem er<br />

in einer blöden Talkshow sitzt. Das<br />

ist der Augenblick, an dem er plötzlich<br />

öffentlich als „Intellektueller“,<br />

mithin als „schwierig“ gilt. Fortan<br />

schämt er sich.<br />

5. Aber es gibt ihn noch im Land seiner<br />

Herkunft: Er schreibt<br />

(wie einst Zola) Romane,<br />

berät Präsidenten<br />

(wie Régis Debray oder<br />

Bernard-Henri Lévy), lebt<br />

wie früher Jean-Paul Sartre im Café<br />

de Flore oder nebenan im Deux<br />

Magots in Paris und wird dann Botschafter<br />

auf Malta, wo er seine Memoiren<br />

vorbereitet. Alles, so wird er<br />

sagen, war ganz anders.<br />

6. Der Intellektuelle weiß alles, der<br />

Philosoph deutet viel. Der Intellektuelle<br />

jammert, der Philosoph trauert.<br />

Der Intellektuelle raucht und<br />

trinkt Kaffee, der Philosoph streichelt<br />

seine Katze.<br />

7. Früher saßen Deutschlands führende<br />

Intellektuelle als Lektoren im Suhrkamp-Verlag.<br />

Karl Markus Michel,<br />

Walter Boehlich, Günther Busch:<br />

Vom Kursbuch bis zur „edition suhrkamp“<br />

– die Verlagsarbeit dieser humanistisch<br />

gebildeten, aufgeklärten<br />

Dialektiker etablierten Siegfried Unselds<br />

Haus als geistiges Kraftzentrum<br />

der 68er-Generation, mit der sie<br />

selbst in Wirklichkeit herzlich wenig<br />

zu tun haben mochten. Sie wollten<br />

lesen, redigieren und die deutsche<br />

Sprache retten. Sie sind alle tot.<br />

8. Eine Rangliste deutscher Intellektueller<br />

hätten sie mit dem angemessenen<br />

Spott überzogen, dem ihr Freund<br />

Robert Gernhardt – kein Intellektueller<br />

– eine kleine Zeichnung hinzugefügt<br />

hätte. Drei Intellektuelle, ein<br />

Philosoph.<br />

9. <strong>Die</strong> „konstruktiven <strong>Intellektuellen</strong>“,<br />

eine Subspezies des Kapitalismus,<br />

sitzen in Partei-Stiftungen, Thinktanks,<br />

Max-Planck-Instituten und<br />

glauben, dass die Mächtigen, denen<br />

stets ihre wahre Liebe galt, ihre Texte<br />

lesen und ihre Ratschläge befleißigen.<br />

Überhaupt: Intellektuelle schreiben<br />

„Texte“, keine Artikel. Doch ein<br />

„konstruktiver Intellektueller“ hat<br />

seine Berufung verfehlt – als dekonstruktiver,<br />

ablehnender, Vorurteile<br />

niederreißender, nörgelnder, böswilliger,<br />

melancholischer, satirischer,<br />

selbstverliebter, auf alle Fälle aber beredter<br />

Denker hätte er auch keine<br />

Chance mehr, wahrgenommen zu<br />

werden. Der „konstruktive Intellektuelle“<br />

hat dafür, im Gegensatz zum<br />

anderen, gute Manieren.<br />

10. <strong>Intellektuellen</strong>feindlichkeit war<br />

einmal die kleine Schwester des<br />

Antisemitismus.<br />

11. Fritz J. Raddatz kannte viele Intellektuelle<br />

– oder solche, die sich dafür<br />

hielten. Weil er sie beim Namen<br />

nennt, haben sie sein Tagebuch (eine<br />

Art Roman) gekauft, um im opulenten<br />

Namensregister nachzuschauen,<br />

ob sie noch leben.<br />

12. <strong>Die</strong> größten <strong>Intellektuellen</strong> der jüngeren<br />

Neuzeit sprachen Englisch,<br />

zum Beispiel Thomas Jefferson und<br />

John Adams. Letzterer<br />

stellte sich den Himmel<br />

als Debattierclub vor.<br />

Vorher haben sie noch<br />

schnell eine Revolution<br />

initiiert und eine<br />

Nation gegründet.<br />

13. Da wir schon in Amerika<br />

sind: In New Yorks ästhetisch<br />

versierten Kreisen lautete Ausgang<br />

des vorigen Jahrhunderts die Reihenfolge<br />

des Dinners: Vorspeise,<br />

Hauptspeise, Nachspeise,<br />

and then let’s talk about<br />

Susan Sontag. Sie bildete<br />

das Zentralkomitee<br />

der amerikanischen <strong>Intellektuellen</strong><br />

und war<br />

sein einziges Mitglied.<br />

Manchmal saß sie in Berlins „Paris<br />

Bar“ und wartete sehnsüchtig auf<br />

Walter Benjamin. Aber es kamen nur<br />

Heiner Müller und ein stiller Mann<br />

von der Stasi.<br />

14. Intellektuelle sind ihrem Land gram.<br />

Doch heimlich lieben sie es. Wie ein<br />

aristokratischer Mäzen<br />

einmal Jonathan Swift<br />

zurief: „Würden Sie<br />

ihre Nation wirklich so<br />

sehr verachten, wie Sie<br />

behaupten, dann wären<br />

Sie ihr nicht so böse.“<br />

15. <strong>Die</strong> Sonderform des deutschen katholischen<br />

<strong>Intellektuellen</strong> blühte in<br />

der Zeit des Kalten Krieges. Als Jesuiten<br />

kannten sie sich besser in Karl<br />

Marx’ Theorien aus als die Politruks<br />

im Osten. Das lag daran, dass sie<br />

sich als Transzendenz-Fraktion seiner<br />

eschatologischen Erlösungslehre<br />

empfanden. Dass ein deutscher Intellektueller<br />

einmal Papst werden<br />

sollte, ahnten sie nicht. Der hat einen<br />

Vorgänger, Coelestin II, ein Anhänger<br />

Abaelards. Coelestin wurde<br />

1144 vergiftet, Pater Abaelard hatte<br />

ILLUSTRATIONEN: CHRISTOPH ABBREDERIS<br />

30 <strong>Cicero</strong> 1.2013


FOTO: ANDREJ DALLMANN<br />

man schon vorher mit zwei Ziegelsteinen<br />

entmannt; denn er lehnte<br />

das Zölibat ab und wollte den<br />

christlichen Glauben mit menschlicher<br />

Vernunft versöhnen. Ein<br />

tragischer, früher Intellektueller –<br />

seine Bücher wurden gleich mehrfach<br />

verbrannt.<br />

16. Konsequenz ist eine fürchterliche<br />

deutsche <strong>Intellektuellen</strong>tugend.<br />

Darum ist jede <strong>Intellektuellen</strong>-<br />

Liste, die Hans Magnus Enzensbergers<br />

Namen aufführt, ein Dokument<br />

bürokratischer Blödheit.<br />

Er ist viel zu klug, um intellektuell,<br />

also konsequent zu sein.<br />

17. Lenin und Trotzki kamen als revolutionäre<br />

Intellektuelle an die<br />

Macht und brachten<br />

dann Tausende Menschen<br />

um. Ihr Nachfolger<br />

gehörte nicht<br />

zu den <strong>Intellektuellen</strong>,<br />

sondern ließ sie<br />

reihenweise ermorden. Einer von<br />

ihnen war so dumm, die Frau des<br />

NKWD-Chefs zu verführen. Daraus<br />

folgt nichts außer Grauen.<br />

18. Blaise Pascal hat die Rechenmaschine<br />

erfunden. Aber seine Behauptung,<br />

alles Unglück der<br />

Welt beruhe darauf, dass<br />

der Mensch nicht einen<br />

Tag lang allein in seinem<br />

Zimmer sitzen könne,<br />

stimmt nicht mehr. Heute<br />

kann der Mensch wochenlang<br />

ganz allein bei sich bleiben –<br />

vor seinem iPad oder seinem Mac.<br />

Und alles Unglück der Welt wird<br />

darauf beruhen, dass er glaubt, er<br />

sei draußen in der Wirklichkeit<br />

gewesen.<br />

19. Damit das klar ist:<br />

Steve Jobs hat die Rechenmaschine<br />

nicht erfunden<br />

und war auch<br />

kein Intellektueller.<br />

M ICHAEL N AUMANN<br />

ehemaliger Chefredakteur von<br />

<strong>Cicero</strong>, ist Geschäftsführer<br />

der neuen Barenboim-Said-<br />

Akademie in Berlin<br />

381 NEU Holger Steltzner, Journalist<br />

382 +18 Joachim Sartorius,<br />

Schriftsteller<br />

383 NEU Sibylle Lewitscharoff,<br />

Schriftstellerin<br />

384 -183 Wolfram Weimer, Journalist<br />

385 NEU Wolfgang Ullrich, Historiker<br />

386 NEU Gerald Braunberger,<br />

Journalist<br />

387 -224 Christian Weber, Journalist<br />

388 -139 Hermann Kant, Schriftsteller<br />

389 -57 Hans-Peter Dürr, Physiker<br />

390 NEU Michael Spreng, Politikberater<br />

391 +28 Volker Perthes,<br />

Politikwissenschaftler<br />

392 -179 Tilman Spengler,<br />

Schriftsteller<br />

393 NEU Wolf-<strong>Die</strong>ter Narr,<br />

Politikwissenschaftler<br />

394 NEU Hans-Martin Lohmann,<br />

Journalist<br />

395 NEU Fritz W. Scharpf,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

396 -239 Wolf Jobst Siedler, Publizist<br />

397 -41 Peter Hamm, Schriftsteller<br />

398 NEU Hubert Winkels, Journalist<br />

399 -133 Daniela Dahn, Schriftstellerin<br />

400 NEU Manfred Prenzel,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

401 -52 Bert Hellinger,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

402 NEU Konrad Paul Liessmann,<br />

Philosoph<br />

403 +5 Harald Lesch, Physiker<br />

404 NEU Günther Nonnenmacher,<br />

Journalist<br />

405 NEU Gerhard Henschel,<br />

Schriftsteller<br />

406 NEU Thorsten Polleit, Ökonom<br />

407 -172 Hans-Ulrich Treichel,<br />

Schriftsteller<br />

408 NEU Nicolas Stemann,<br />

Theaterregisseur<br />

409 NEU Jürgen Osterhammel,<br />

Historiker<br />

410 +5 Klaus Theweleit,<br />

Literaturwissenschaftler<br />

411 NEU Anton Zeilinger,<br />

Quantenphysiker<br />

412 -131 Ror Wolf, Schriftsteller<br />

413 NEU Ursula Krechel,<br />

Schriftstellerin<br />

414 -319 Maxim Biller, Schriftsteller<br />

415 -240 Mathias Richling, Kabarettist<br />

416 -61 Elisabeth Bronfen,<br />

Schriftstellerin<br />

Anzeige<br />

© Foto Buschkowsky: Bezirksamt Neukölln; Meyer, Marguier: Antje Berghäuser<br />

Integration<br />

statt Multikulti<br />

Der Neuköllner Bürgermeister fordert,<br />

dass nicht nur der Staat, sondern jeder<br />

Einzelne Verantwortung übernimmt.<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

<strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer und<br />

Alexander Marguier, stellvertretender<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur, im Gespräch<br />

mit Heinz Buschkowsky.<br />

Sonntag, 27. Januar 2013, 11 Uhr<br />

Berliner Ensemble,<br />

Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin<br />

Tickets: Telefon 030 28408155<br />

www.berliner-ensemble.de<br />

BERLINER<br />

ENSEMBLE<br />

27. JANUAR<br />

In Kooperation<br />

mit dem Berliner Ensemble<br />

Heinz<br />

Buschkowsky<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 31


T I T E L<br />

417 NEU <strong>Die</strong>ter Thomä, Philosoph<br />

418 NEU Peter Körte, Journalist<br />

419 NEU Robert Schindel, Schriftsteller<br />

420 -163 Gabriele Wohmann,<br />

Schriftstellerin<br />

421 -97 Ulrich Raulff, Philosoph<br />

422 NEU Jutta Ditfurth, Publizistin<br />

423 NEU Paul Ingendaay, Schriftsteller<br />

424 NEU Max Otte, Ökonom<br />

425 NEU Elisabeth von Thadden,<br />

Journalistin<br />

426 NEU Bassam Tibi,<br />

Politikwissenschaftler<br />

427 -208 Konrad Adam, Publizist<br />

428 NEU Kathrin Schmidt,<br />

Schriftstellerin<br />

429 +69 Thomas Meinecke,<br />

Schriftsteller<br />

430 +18 Wolfgang Welsch, Philosoph<br />

431 -179 Lutz Rathenow, Schriftsteller<br />

432 NEU Jan Fleischhauer, Journalist<br />

433 -133 Ludger Lütkehaus, Philosoph<br />

434 NEU Wolfram Schütte, Journalist<br />

435 -181 Alexander Osang, Journalist<br />

436 -138 Jens Bisky, Journalist<br />

437 -71 Kurt Kister, Journalist<br />

438 -76 Gregor Schöllgen, Historiker<br />

439 NEU Wilhelm Hankel, Ökonom<br />

440 -101 Reinhard Selten, Ökonom<br />

441 +35 Wolfgang Streeck,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

442 -236 Christiane Nüsslein-Volhard,<br />

Biologin<br />

443 -272 Johano Strasser, Schriftsteller<br />

444 NEU Verena Kast, Psychologin<br />

445 NEU Josef H. Reichholf, Zoologe<br />

446 -3 Tanja Dückers, Schriftstellerin<br />

447 NEU Sarah Kirsch, Schriftstellerin<br />

448 +22 Jens König, Journalist<br />

449 NEU Michael Köhlmeier,<br />

Schriftsteller<br />

450 NEU Horst Dreier, Jurist<br />

451 -320 Klaus Bednarz, Journalist<br />

452 -28 Notker Wolf, Theologe<br />

453 NEU Clemens Meyer, Schriftsteller<br />

454 NEU Klaus von Beyme,<br />

Politikwissenschaftler<br />

455 NEU Hermann Parzinger, Historiker<br />

456 NEU Wolfgang Sofsky,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

457 -198 Bettina Röhl, Journalistin<br />

458 NEU Josef Haslinger, Schriftsteller<br />

459 -129 Winfried Schulze, Historiker<br />

460 NEU Michael Brenner, Historiker<br />

„Intellektuelle sind in<br />

der Tat Leute, die die<br />

Macht des gesprochenen<br />

und des geschriebenen<br />

Wortes handhaben, und<br />

eine Eigentümlichkeit,<br />

die sie von anderen<br />

Leuten, die das Gleiche<br />

tun, unterscheidet, ist<br />

das Fehlen einer direkten<br />

Verantwortlichkeit für<br />

praktische Dinge“<br />

Joseph Schumpeter<br />

<strong>Die</strong> tiefsten Abstürze<br />

Klaus Bednarz (-320)<br />

Von 1983 bis 2001 Chef und Gesicht des<br />

ARD-Politmagazins „Monitor“. Heute dreht<br />

er für den WDR Reportagen in Osteuropa<br />

und Südamerika.<br />

Maxim Biller (-319)<br />

Ewig schimpfender Rohrspatz des deutschen<br />

Feuilletons, sein Roman „Esra“<br />

wurde gerichtlich zensiert und er damit<br />

zum Märtyrer für die Kunstfreiheit.<br />

Ernst-Ludwig Winnacker (-307)<br />

Stammzellen-, Gen- und Virenexperte,<br />

Ex-Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

und Träger einer ganzen<br />

Reihe von Verdienstorden.<br />

Johano Strasser ( -272)<br />

Der Vordenker der deutschen Linken<br />

ging von der Apo über die Jusos in<br />

die SPD und ist heute Präsident des<br />

deutschen Pen-Clubs.<br />

Wieland Schmied (-24 4)<br />

Der Ex-Präsident der Bayerischen<br />

Akademie der Schönen Künste gilt als<br />

einer der bedeutendsten europäischen<br />

Kunsthistoriker.<br />

461 NEU Stefan Homburg, Ökonom<br />

462 NEU Ulrich von Alemann,<br />

Politikwissenschaftler<br />

463 +4 Manfred Güllner,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

464 NEU Hartmut Rosa,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

465 NEU Helene Hegemann,<br />

Schriftstellerin<br />

466 -126 Hajo Schumacher, Journalist<br />

467 -58 Detlev Ganten, Mediziner<br />

468 +3 Thomas Fricke, Journalist<br />

469 NEU Thomas Glavinic,<br />

Schriftsteller<br />

470 NEU Alfred Grosser, Publizist<br />

471 NEU Gerd Gigerenzer, Psychologe<br />

472 NEU Wolfgang Münchau,<br />

Journalist<br />

473 NEU Frank A. Meyer, Journalist<br />

474 -244 Wieland Schmied, Publizist<br />

475 NEU Peter Kruse, Psychologe<br />

476 -215 Jan Ross, Journalist<br />

477 NEU Fritz Göttler, Journalist<br />

478 -118 Arno Widmann, Journalist<br />

479 NEU Clemens S. Setz, Schriftsteller<br />

480 NEU Thomas Rauschenbach,<br />

Pädagoge<br />

481 -127 Johannes Willms, Journalist<br />

482 NEU Martin Hellwig, Ökonom<br />

483 -133 Gero von Randow, Journalist<br />

484 NEU Michael Winterhoff,<br />

Sozialwissenschaftler<br />

485 -39 Volker Weidermann,<br />

Journalist<br />

486 NEU Constanze Kurz, Publizistin<br />

487 NEU Manfred G. Schmidt,<br />

Politikwissenschaftler<br />

488 -55 Peter Gruss, Zellbiologe<br />

489 -213 Matthias Politycki,<br />

Schriftsteller<br />

490 -171 Brigitte Hamann,<br />

Historikerin<br />

491 NEU Wolfgang Kohlhaase,<br />

Schriftsteller<br />

492 NEU Michael von Brück, Theologe<br />

493 -81 Udo Pollmer,<br />

Lebensmittelchemiker<br />

494 -22 Albrecht Beutelspacher,<br />

Mathematiker<br />

495 NEU Hanno Beck, Ökonom<br />

496 NEU Gertrude Lübbe-Wolff,<br />

Juristin<br />

497 NEU Gerd Scobel, Publizist<br />

498 NEU Martin Seel, Philosoph<br />

499 -5 Roland Tichy, Journalist<br />

<strong>500</strong> NEU Hans-Joachim Maaz,<br />

Psychoanalytiker<br />

FOTOS: PICTURE ALLIANCE (4), DDP IMAGES/DAPD<br />

32 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Ausgezeichnet<br />

<strong>Die</strong> <strong>Cicero</strong>-Titelbilder sind unverwechselbar und werden von den Lesern geschätzt.<br />

Im Wettbewerb „Cover des Monats“ haben es diese sechs in die Top 5 geschafft:<br />

Zweimal<br />

1. PLATZ<br />

Juni 2012<br />

September 2012<br />

2. Platz 2. Platz 4. Platz 5. Platz<br />

April 2012<br />

Februar 2012 Oktober 2012 Juli 2012<br />

Einmal im Monat wählen Chefredakteure, Kreativdirektoren,<br />

Vertriebsexperten und andere Medienprofis die besten Titelbilder<br />

aus allen deutschen Zeitschriften. Bewertet werden künstlerische<br />

Aspekte genauso wie die journalistische Originalität und die<br />

Ausstrahlung des Covers auf den Leser.<br />

Weitere Informationen: www.cover-des-monats.de


| B E R L I N E R R E P U B L I K<br />

DIE ONE-MAC-SHOW<br />

Ziele? Inhalte? David McAllister berauscht der Auftritt. Jetzt kämpft er um sein Amt als Ministerpräsident<br />

VON G EORG L ÖW ISCH<br />

N<br />

ACH SEINER REDE, bevor die Gans<br />

auf den Tisch kommt, verschwindet<br />

er kurz. Sie haben ihn ja<br />

gleich wieder, die Manager, die Senatorin,<br />

die Arbeitgeberfunktionäre. Er steht<br />

nun vor dem Hamburger Congress Center,<br />

David McAllister, CDU, Ministerpräsident<br />

von Niedersachsen, Redner beim<br />

Martinsgansessen von Nordmetall. Er zieht<br />

die kalte Abendluft in die Lungen, sein Gesicht<br />

hat Farbe, die Züge sehen scharf aus,<br />

der Mann ist berauscht. Noch eine Marlboro<br />

obendrauf, der Siemens-Filialleiter an<br />

seiner Seite kriegt auch eine ab. Ha! Der<br />

Szenenapplaus eben, die Lacher, sogar die<br />

SPD-Senatorin am Tisch hat geschmunzelt,<br />

und den Gewerkschafter hat er extra<br />

erwähnt. „Mac ist für alle da“, sagt er.<br />

Fünf Minuten später ist er zurück, die<br />

Kellner reichen Rotkraut und Klöße, das<br />

Gänsefleisch ist goldbraun, die Soße dick,<br />

die Nordmetaller packen zu und schlemmen.<br />

McAllister tut sich auf, aber er hatte<br />

seinen Genuss schon.<br />

Man kann sich wundern über diese Zufriedenheit.<br />

Als der Fall Wulff auf die CDU<br />

einprasselte wie ein kalter, lang anhaltender<br />

Regen, wirkte er erschöpft. Er sprach über<br />

eine Zeit ohne Politik, „bei der nächsten<br />

Dateibereinigung fällt dein Name raus aus<br />

dem Verteiler“. Es klang sarkastisch. Eigentlich<br />

hat sich seine Situation verschlechtert.<br />

<strong>Die</strong> Prognosen zur Niedersachsen-Wahl<br />

am 20. Januar sagen sein Scheitern voraus.<br />

<strong>Die</strong> FDP, sein Koalitionspartner, ist<br />

in Umfragen unter 5 Prozent eingepfercht.<br />

Im Drei-Parteien-Parlament hätte Rot-<br />

Grün ziemlich sicher die Mehrheit. Dass<br />

ihn diese Aussicht nicht lähmt, mag daran<br />

liegen, dass er anders als während des Wulff-<br />

Skandals nun wieder die Chance hat, dem<br />

Publikum zu gefallen. Sich zu gefallen.<br />

<strong>Die</strong> Politik hat für diesen Mann mit<br />

Wahlkampf angefangen. Im Landkreis<br />

Cuxhaven hat er als Student einen CDU-<br />

Landtagsabgeordneten begleitet. Er verteilte<br />

Kulis, machte Fotos und lernte, wie<br />

man das Publikum gewinnt, Pointen setzt,<br />

einen Saal aufputscht. Er fand das gut. Es<br />

ist sein Lebensinhalt geworden.<br />

9:10 Uhr. <strong>Die</strong> Frühvorstellung an diesem<br />

Tag ist eine Wissenschaftskonferenz<br />

zu den Grenzen des Wachstums. Hannover,<br />

Schloss Herrenhausen, man spricht<br />

Englisch. McAllister intoniert so bedeutsam<br />

wie ein Haushofmeister der Queen<br />

und so britisch auch, sein Vater kam ja von<br />

der Insel. Nach ihm ist Hannovers Oberbürgermeister<br />

dran, Stephan Weil, SPD,<br />

McAllisters Herausforderer bei der Wahl.<br />

Den Namen des Stargasts Dennis Meadows<br />

verhunzt Weil. „Miiiedows“. Über<br />

McAllisters Gesicht fliegt ein verzücktes<br />

Lächeln.<br />

Meadows ist ein berühmter Ökonom<br />

aus Amerika, der 1972 der Welt den Kollaps<br />

vorhersagte, wenn die Menschen nichts<br />

ändern. Heute rechnet er vor, dass die Politiker<br />

die Kontrolle völlig verloren haben.<br />

Klima katastrophe, Bevölkerungswachstum.<br />

Hinter Hannover lässt der Fahrer den<br />

Audi über die Autobahn schießen. Meadows’<br />

Analyse? McAllister heuchelt nicht<br />

einmal Nachdenklichkeit. „Ist nicht meine<br />

Haltung“, sagt er. Bloß eine Nummer vorm<br />

Frühstück. Jetzt erst mal zu McDonalds,<br />

Rührei und Kaffee mit Milch und Zucker.<br />

McAllisters Büroleiter hat in der Staatskanzlei<br />

eine Niedersachsenkarte. Wo der<br />

Chef gastiert hat, steckt ein Fähnchen. <strong>Die</strong><br />

Karte ist voll. 16-, 18-Stunden-Tage, die<br />

One-Mac-Show ist die letzten Jahre durchs<br />

Land gerast. Aber die Frage, was er bewirken<br />

will, für welche Zukunft er arbeitet,<br />

ist unbeantwortet geblieben. Landkreistag,<br />

Grundsteinlegung, Parteiabend: Eigentlich<br />

eine dröge, eine einsame Beschäftigung,<br />

doch er sagt, dass er vor den Terminen<br />

Aufregung verspürt. „Ich möchte<br />

einen ordentlichen Auftritt hinlegen.“ Ordentlich?<br />

Er will glänzen, das gibt ihm den<br />

Kick. Klar, die Herausforderungen können<br />

wachsen, und viele Kanzleroptionen<br />

für später hat die Union nicht. Aber er ist<br />

erst 41, da kann er sich die großen Bühnen<br />

für später aufheben.<br />

Im Auto denkt er sich vorher in die<br />

Situationen hinein, Ton, Tempo, Themen<br />

müssen passen. Er nimmt die Manuskripte<br />

aus der Staatskanzlei, schmeckt ab, würzt<br />

nach. Gerade schmeißt er eins lustvoll vor<br />

seine Füße. Braucht er nicht, es geht nach<br />

Bad Bederkesa, sein Heimatort, sein Gymnasium,<br />

sie feiern Richtfest für ein neues<br />

Fachraumgebäude. Der Wagen biegt auf<br />

die L 120 ab. Es ist noch Zeit bis zum Termin,<br />

er braucht ein Ladegerät von zu Hause.<br />

An einem Wald liegt das Klinkerhaus der<br />

McAllisters, zwei Kinderräder stehen davor,<br />

ein Grill. Dunja McAllister öffnet, Juristin,<br />

Hausfrau, dunkle Haare, scharfer Blick. Sie<br />

hat den Tisch gedeckt für sich und die zwei<br />

Töchter. Ob die Kinder gleich zum Richtfest<br />

rüberkommen, fragt er. Sie schaut ihn<br />

perplex an. Der Blick sagt: Was weißt du<br />

schon, was hier zu Hause läuft.<br />

Auf dem Richtfest duzt er viele, es ist<br />

ja sein Gymnasium. Trotzdem steht er seltsam<br />

allein in der Menge. Er spürt das wohl,<br />

denn er feixt wie ein Junge, als ein Amtsleiter<br />

referiert, aber das wirkt auch schief.<br />

David und Ministerpräsident, er bekommt<br />

das nicht zusammen. „In welche Klasse<br />

gehst du?“, fragt er aus Versehen eine Lehrerin.<br />

Egal, es kommt der nächste Termin.<br />

Er braucht das Tourneeleben wie Essen<br />

und Trinken. Leute, die ihn lange<br />

kennen, sagen, dass er weitermachen<br />

wird, wenn er verliert. Lag ja an der FDP,<br />

wird es heißen, die CDU ist doch stärkste<br />

Kraft, der David hat die Zukunft vor sich.<br />

So geht Plan B. Und Plan A? Er gewinnt<br />

doch, ohne FDP, Mac gegen alle, absolute<br />

Mehrheit, was für eine Show das erst wäre.<br />

Was für ein Rausch.<br />

G EORG L ÖWISCH<br />

ist Textchef von <strong>Cicero</strong>.<br />

David McAllisters Weg<br />

verfolgt er seit 2007<br />

FOTOS: STEFAN KRÖGER FÜR CICERO, ANDREJ DALLMANN (AUTOR)<br />

34 <strong>Cicero</strong> 1.2013


David McAllister<br />

will glänzen.<br />

Das ist sein Kick<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 35


| B E R L I N E R R E P U B L I K<br />

AM TISCH VOM STRAUSS<br />

Wenn sich Platzhirsche blockieren, gewinnt Gerda Hasselfeldt. Auch so kommt man in der CSU nach oben<br />

VON H ARTMUT PALMER<br />

D<br />

IE KELLNERIN STELLTE energisch<br />

das Tablett mit den Biergläsern<br />

ab und sagte: „Des könnt’s doch<br />

ned machen.“ <strong>Die</strong> Herren schauten verdutzt<br />

drein. Sie saßen im „Gasthaus Rainer“<br />

und wollten gerade die Ortsgruppe der<br />

Jungen Union auflösen. Zu wenig Interesse,<br />

zu wenig aktive Mitglieder – sogar im<br />

tiefschwarzen niederbayerischen Haibach<br />

drohte der CSU-Nachwuchsorganisation<br />

im Frühjahr 1968 das Aus.<br />

Da mischte sich die Gerda ein. Erzürnt<br />

wie eine bayerische Seeräuber-Jenny stand<br />

die Tochter des Wirts bei ihren Gläsern:<br />

„Des könnt’s doch ned machen. Dann ham<br />

die Jungen überhaupt nix mehr zum sog’n.“<br />

Betretenes Schweigen. „Ja, wann du scho so<br />

gscheit daherredst, dann machst des doch<br />

du“, sagte einer. Und sie sagte tapfer: „Ja,<br />

dann mach’s halt ich!“ So kam es, dass Gerda<br />

Hasselfeldt, die damals noch Gerda Rainer<br />

hieß, mit 17 Jahren die Junge Union von<br />

Haibach vor der Auflösung bewahrte und<br />

ihr erstes politisches Amt übernahm.<br />

Heute sitzt sie im Bundestag, Jakob-<br />

Kaiser-Haus, Blick auf die Spree. Und<br />

sie arbeitet am begehrtesten Möbelstück,<br />

das die CSU zu vergeben hat. Jeder, der<br />

es hierhin schaffte, wurde später mindestens<br />

Minister: Franz Josef Strauß, der den<br />

Schreibtisch aus rötlichem Holz einst in<br />

Bonn erwarb, Friedrich Zimmermann,<br />

Richard Stücklen, Hermann Höcherl,<br />

Theo Waigel, Michael Glos, Peter Ramsauer,<br />

Hans-Peter Friedrich. Für Hasselfeldt<br />

aber ist dieser Schreibtisch keine Zwischenstation,<br />

sondern ein Traum, den sie<br />

nie zu träumen wagte und deshalb auch<br />

nicht geträumt hat. Als Vorsitzende der<br />

CSU-Landesgruppe redet sie überall mit<br />

und wird frühzeitig in alle wichtigen Vorhaben<br />

und Projekte der Regierung und der<br />

Fraktion eingeweiht.<br />

„An der Spitze der Landesgruppe ist<br />

man schon ziemlich einflussreich,“ sagt<br />

sie untertreibend. Einflussreicher jedenfalls,<br />

als viele Kabinettsposten, das Scharnier<br />

zwischen CDU und CSU. Fünf ehrgeizige<br />

CSU-Männer, darunter CSU-Generalsekretär<br />

Alexander Dobrindt, balgten<br />

sich um das Amt, als Landesgruppenchef<br />

Hans-Peter Friedrich im März vorigen Jahres<br />

Innenminister wurde. „Es drohte ein<br />

fürchterliches Hauen und Stechen zu werden“,<br />

erinnert sich Peter Ramsauer. Erst als<br />

er vorschlug, Gerda Hasselfeldt zu nehmen,<br />

„da war plötzlich Ruhe im Karton“.<br />

So war es eigentlich immer. Gerda<br />

Hasselfeldt wurde alles, was sie bisher war,<br />

weil andere sich entweder gegenseitig blockierten<br />

oder nicht mehr wollten: In den<br />

Bundestag kam sie 1987 als Nachrückerin<br />

über die Landesliste, weil CSU-Chef<br />

Strauß keine Lust mehr hatte, in Bonn nur<br />

Zweiter unter Helmut Kohl zu sein. Das<br />

Bauministerium übernahm sie zwei Jahre<br />

später, weil Oscar Schneider hingeschmissen<br />

hatte, und Theo Waigel meinte, eine<br />

CSU-Frau müsse ins Kabinett. Gesundheitsministerin<br />

wurde sie 1991, als Kohl<br />

das Ministerium für Familie, Frauen, Jugend<br />

und Gesundheit aufgespalten und<br />

sein „Dreimädelhaus“ gebastelt hatte: Familie<br />

und Jugend für Hannelore Rönsch,<br />

Gesundheit für Hasselfeldt, und Frauen für<br />

die damals noch völlig unbekannte Angela<br />

Merkel.<br />

Merkel stieg auf, Hasselfeldt nicht. Ihr<br />

Blitzstart endete schon ein Jahr später mit einer<br />

Bruchlandung. Unter dem Ansturm der<br />

Lobbyisten aus Pharmaindustrie und Versicherungswirtschaft<br />

brach die junge CSU-Gesundheitsministerin<br />

buchstäblich zusammen.<br />

Eine angebliche Spionage affäre, in die einer<br />

ihrer engsten Mitarbeiter verwickelt war, kam<br />

hinzu. Zermürbt und gesundheitlich angeschlagen<br />

trat sie zurück und verschwand erst<br />

einmal in der Versenkung. Horst See hofer<br />

wurde ihr Nachfolger.<br />

In den wenigen Jahren als Ministerin<br />

sind ihre einst dunklen Haare erst grau,<br />

dann weiß geworden. Sie arbeitete zäh und<br />

fleißig weiter, kümmerte sich um Verkehrspolitik,<br />

um Arbeit und Soziales und zum<br />

Schluss um die Finanzen. 2009 holte Merkel<br />

sie in ihr Schattenkabinett, aber nach dem<br />

Wahlsieg wurde sie auf den Platz der Bundestagsvizepräsidentin<br />

weggelobt.<br />

Sie fand es in Ordnung: „Man kann<br />

eine Karriere nicht von Anfang an planen“,<br />

sagt sie. „Meine Devise war immer: Das<br />

Amt kommt zum Mann oder zur Frau.“<br />

Andere in der Union sehnen sich danach,<br />

einmal als Bundesminister oder Ministerpräsident<br />

von den Scheinwerfern angeleuchtet<br />

zu werden und mit knalligen<br />

Sätzen den Lauf der Dinge zu bestimmen.<br />

Hasselfeldt ist ein anderer Typ. Sie ist auf<br />

andere Art mächtig: moderierend, still.<br />

Sie kennt ja das Gebahren der balzenden<br />

Auerhähne in der Politik von Jugend<br />

an. Ihr Vater, Alois Rainer, war nicht nur<br />

Gastwirt und Metzger in Haibach, sondern<br />

30 Jahre lang CSU-Bürgermeister und<br />

18 Jahre Bundestagsabgeordneter in Bonn –<br />

ein Patriarch. Fünf Töchter, dann erst kam<br />

der Stammhalter. <strong>Die</strong> Mädels mussten in<br />

der Schankstube helfen, aber „von Frauen<br />

in der Politik hat mein Vater eigentlich<br />

nicht so viel gehalten“. Sie sollten lieber<br />

still sein, wenn die Männer politisierten<br />

oder Schafkopf spielten. Das änderte sich<br />

erst, als sie selbst in den Bundestag kam.<br />

Da war er stolz auf die Tochter.<br />

Gefördert aber hat sie ein anderer Mann,<br />

Walter Rietschl hieß er, war auch in der<br />

CSU und Lehrer. Er nahm sie ernst. Bei<br />

ihm habe sie zu argumentieren gelernt, und<br />

sich aufgehoben gefühlt. „Mit ihm konnte<br />

ich auch kontrovers diskutieren, ohne gleich<br />

in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden.“<br />

Ohne den Rietschl, da ist sie sicher, hätte<br />

„ich mich damals, im Frühjahr 1968, bestimmt<br />

nicht getraut, bei der Jungen Union<br />

den Mund aufzumachen.“<br />

H ARTMUT PALMER<br />

ist politischer Chefkorrespondent<br />

von <strong>Cicero</strong>. Er lebt und arbeitet<br />

in Bonn und Berlin<br />

FOTOS: JULIA ZIMMERMANN FÜR CICERO, ANDREJ DALLMANN (AUTOR)<br />

36 <strong>Cicero</strong> 1.2013


„Von Frauen<br />

in der Politik<br />

hat mein<br />

Vater nicht<br />

viel gehalten“<br />

Gerda Hasselfeldt<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 37


| B E R L I N E R R E P U B L I K<br />

UNTER DRUCK<br />

<strong>Die</strong> Erwartungen an Joachim Gauck sind enorm – aber der Bundespräsident lässt sich nicht vereinnahmen<br />

VON ALEXANDER MARGUIER<br />

A<br />

NTRITTSREISEN sind für Bundespräsidenten<br />

protokollarisches Standardprogramm.<br />

Zum Beispiel<br />

der Besuch Nordrhein-Westfalens an einem<br />

regnerischen Montag Ende November: Um<br />

9:35 Uhr landet die Sondermaschine aus<br />

Berlin auf dem Düsseldorfer Flughafen,<br />

von dort geht es in einer Ehrfurcht gebietenden<br />

Wagenkolonne zur Staatskanzlei,<br />

wo ein Pulk brötchenkauender Journalisten<br />

auf den Moment wartet, in dem<br />

Joachim Gauck seinen Namen ins Goldene<br />

Buch setzt. Nach wenigen Minuten<br />

im Blitzlichtgewitter folgt die kurze Fahrt<br />

zur nächsten Begrüßungszeremonie, hinüber<br />

in den Landtag. Dann gleich weiter ins<br />

Düsseldorfer Rathaus, wo der Oberbürgermeister<br />

mit einer kurzen Rede aufwartet, in<br />

der er den Regen in der Landeshauptstadt<br />

als „Freudentränen“ über Gaucks Visite<br />

interpretiert. Der wiederum nimmt huldvoll<br />

eine weiße Reiterstatuette entgegen,<br />

bedankt sich artig für das Gastgeschenk –<br />

und bringt den ersten typischen Gauck-<br />

Spruch des Tages: „<strong>Die</strong> Menschen müssen<br />

erfahren, dass ihr Engagement sich lohnt.“<br />

Am nächsten Tag wird dieser Satz in den<br />

örtlichen Zeitungen nachzulesen sein.<br />

Gauck weiß um seine Wirkung, die<br />

sich speist aus einer Mischung von pastoraler<br />

Väterlichkeit, staatsmännischem Gestus<br />

und gleichzeitiger Tuchfühlung mit den<br />

Menschen, denen er begegnet. An einem<br />

Tag wie diesem zählen dazu: Kleinkinder in<br />

einem Duisburger Familienzentrum, Mitarbeiter<br />

einer Öko-Beratungsstelle, lokale<br />

Honoratioren, Streetworker, Bürger mit<br />

Ehrenamt sowie Herr und Frau Kronenberg<br />

aus Bottrop-Welheim, die gemeinsam<br />

mit ihren beiden Söhnen den Bundespräsidenten<br />

in ihrer vorbildlich energiesanierten<br />

Doppelhaushälfte in Empfang nehmen<br />

dürfen. Abends um neun Uhr trägt<br />

die Sondermaschine den Bundespräsidenten<br />

zurück nach Berlin. Dort, in der<br />

Hauptstadt, lassen sich derweil „führende<br />

FDP-Politiker“ anonym in der Presse mit<br />

den Worten zitieren, Gauck werbe nicht<br />

genug für die Idee von Europa. Und: Das<br />

Staatsoberhaupt rede „zu allgemein und zu<br />

pathetisch“ über das Thema Freiheit.<br />

Sollten diese „führenden FDP-Politiker“<br />

gehofft haben, dass sich Joachim Gauck für<br />

seine Kür bei den Liberalen bedankt, indem<br />

er öffentlich Steuersenkungen fordert,<br />

kann man deren Unmut durchaus nachvollziehen.<br />

Dann hätten sie allerdings nicht<br />

viel verstanden – weder von Gauck noch<br />

von dem Amt, zu dem sie ihm im Februar<br />

2012 gegen den Willen der Kanzlerin<br />

verhalfen. Aber auch die Kollegen von<br />

den Grünen und von der SPD dürften enttäuscht<br />

sein, falls sie die Erwartung hatten,<br />

ihr Kandidat würde sich parteipolitisch vereinnahmen<br />

oder gar gegen Angela Merkel<br />

in Stellung bringen lassen.<br />

Seit einem knappen Jahr ist der ehemalige<br />

Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen<br />

Deutschlands Staatsoberhaupt. Sein<br />

„privates, persönliches Ich“ sei „im Amt<br />

noch nicht ganz aufgegangen“, bekannte<br />

der Parteilose unlängst in einem Interview<br />

mit der Welt am Sonntag. Und schien damit<br />

alle Kritiker zu bestätigen, die jetzt monieren,<br />

er sei regelrecht verstummt.<br />

Natürlich gab es da diese viel beachtete<br />

Stelle im ZDF-Sommerinterview, an<br />

der Joachim Gauck sagte, die Bundeskanzlerin<br />

habe im Zuge ihrer Euro-Rettungspolitik<br />

„nun die Verpflichtung, sehr detailliert<br />

zu beschreiben, was das bedeutet,<br />

auch fiskalisch bedeutet“. Doch als Kritik<br />

will man den Halbsatz – entgegen der naheliegenden<br />

Interpretation – im Bundespräsidialamt<br />

nicht verstanden wissen. Eine<br />

etwas unglückliche Wortwahl sei das gewesen,<br />

heißt es beschwichtigend. Woraus<br />

wiederum zweierlei ersichtlich wird: Gauck<br />

beabsichtigt nicht, anders als etwa Horst<br />

Köhler, den bequemen Weg des Volkstribunen<br />

zu gehen, der sich auf Kosten<br />

der Regierung profiliert. Und: Sogar ein<br />

Freund des unverblümten Wortes wie der<br />

ehemalige Rostocker Pfarrer lässt sich als<br />

Staatsoberhaupt rhetorisch glatt schleifen.<br />

Beide Aspekte sind übrigens Facetten einer<br />

Staatsräson, die Gauck, der nie zuvor ein<br />

politisches Amt im engeren Sinne bekleidet<br />

hat, stärker zu beherzigen scheint als so<br />

mancher Vollprofi.<br />

Joachim Gauck und Angela Merkel sind<br />

sehr unterschiedliche Charaktere. Er, der<br />

leidenschaftliche Redner mit dem direkten<br />

Draht zum Publikum. Sie, die immer seltsam<br />

verstockt wirkende und auf Distanz<br />

bedachte Technikerin der Macht. Trotzdem<br />

können beide gut miteinander. Gauck trägt<br />

es der Kanzlerin nicht nach, dass sie seinen<br />

Einzug in Schloss Bellevue mit allen<br />

Mitteln verhindern wollte; auch bei Besprechungen<br />

im Kreise seiner engsten Mitarbeiter<br />

rede er nie schlecht über Merkel, heißt<br />

es. Womöglich verbinde sie der ähnliche Erfahrungshorizont<br />

aus der Wendezeit. In jedem<br />

Fall aber fänden die Regierungschefin<br />

und der Bundespräsident über ihren jeweils<br />

eigentümlich trockenen Humor gut zueinander,<br />

sagen Leute, die ihm nahestehen.<br />

Auf Gauck lastet ein enormer Erwartungsdruck<br />

– nicht nur durch die Parteien,<br />

auch durch die Bevölkerung. Er hat<br />

bisher keineswegs den Eindruck erweckt,<br />

als könne er diesem Druck nicht standhalten,<br />

im Gegenteil. Allein die Tatsache,<br />

dass seit dem unrühmlichen Abgang seines<br />

Vorgängers Christian Wulff sämtliche Diskussionen<br />

darüber verstummt sind, ob es<br />

das Amt des Bundespräsidenten überhaupt<br />

noch brauche, spricht für sich. Und was die<br />

große europapolitische Rede angeht, nach<br />

der die FDP so laut ruft: Anfang 2013 ist<br />

es dann so weit.<br />

A LEXANDER M ARGUIER<br />

ist stellvertretender<br />

Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

FOTOS: ANATOL KOTTE/LAIF, ANDREJ DALLMANN (AUTOR)<br />

38 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Joachim Gauck hat<br />

nicht vor, sich auf<br />

Kosten der Regierung<br />

zu profilieren<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 39


| B E R L I N E R R E P U B L I K<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

1 2 3<br />

4 5 6 7<br />

8 9 10 11 12<br />

Anna Thalbach,<br />

39, ist<br />

Schauspielerin.<br />

Rollen in<br />

Theater, Kino,<br />

Fernsehen und<br />

häufig mit<br />

ihrer Mutter<br />

Katharina<br />

Thalbach<br />

13 14 15 16<br />

(1) BUNDESKANZLERIN: Meine Mutter, die ist so gerecht; (2) VIZEKANZLERIN: Wenka von Mikulicz (Das<br />

ist meine Assistentin); (3) INNERES: Kurt Krömer; (4) JUSTIZ: Richter Alexander Hold; (5) FINANZEN:<br />

Peter Zwegat; (6) WIRTSCHAFT UND TECHNOLOGIE: Stefan Raab; (7) ARBEIT UND SOZIALES:<br />

Gunter Gabriel; (8) ERNÄHRUNG, LANDWIRTSCHAFT, VERBRAUCHERSCHUTZ: Reiner Calmund;<br />

(9) VERTEIDIGUNG: Axel Schulz; (10) FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND: Nena und Jorge<br />

Gonzalez (<strong>Die</strong> sollen das zusammen machen); (11) GESUNDHEIT: Ben Becker; (12) VERKEHR, BAU UND<br />

STADTENTWICKLUNG: Gina Lisa Schaffrath; (13) UMWELT, NATURSCHUTZ UND REAKTORSICHERHEIT:<br />

<strong>Die</strong> Jungs von Rammstein; (14) BILDUNG UND FORSCHUNG: Aiman Abdallah; (15) WIRTSCHAFTLICHE<br />

ZUSAMMENARBEIT UND ENTWICKLUNG: Sonya Kraus – äh Sonja Zietlow; (16) BUNDESMINISTER<br />

FÜR BESONDERE AUFGABEN UND CHEF DES BUNDESKANZLERAMTS: Hape Kerkeling<br />

ILLUSTRATION: JAN RIECKHOFF; FOTOS: PICTURE ALLIANCE (16), MONIQUE WÜSTENHAGEN, FLASHMEDIA BILD, OLIVER WIA<br />

40 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Unsere Programme<br />

jetzt auch im<br />

neuen Digitalradio<br />

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Hörerservice 0221.345-1831


| B E R L I N E R R E P U B L I K | 2 2 . S E P T E M B E R 2 0 1 3 – D E R T A G D E R E N T S C H E I D U N G<br />

„AUF DIE PLÄTZE …“<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Wettlauf um die Bundestagswahl<br />

im September 2013 geht los. <strong>Die</strong><br />

Nominierungsparteitage liegen hinter<br />

Der Countdown<br />

den Kandidaten, die Strecke und der<br />

Wahlkampf vor ihnen. Wer macht das Rennen? Und<br />

wer koaliert hinterher mit wem? <strong>Cicero</strong> greift den<br />

Dingen voraus und schildert die entscheidenden<br />

Stunden des Wahlsonntags aus der Sicht von Angela<br />

Merkel, Peer Steinbrück und Jürgen Trittin<br />

42 <strong>Cicero</strong> 1.2013


1.2013 <strong>Cicero</strong> 43


| B E R L I N E R R E P U B L I K | 2 2 . S E P T E M B E R 2 0 1 3 – D E R T A G D E R E N T S C H E I D U N G<br />

VOR DEN TRÜMMERN<br />

Kanzleramt, Wahlnacht, das Ergebnis liegt vor: <strong>Die</strong> FDP ist erledigt. Angela Merkel hat den<br />

Wunschpartner verloren. Abermals muss sie sich zur Retterin aus der eigenen Not machen<br />

VON G EORG PAUL H EFTY<br />

A<br />

N SCHLAF IST nicht zu denken.<br />

<strong>Die</strong> Nachwahlumfragen hatten<br />

ebenso wie die Hochrechnungen<br />

die größten Umwälzungen<br />

seit den achtziger Jahren angekündigt.<br />

Das vorläufige amtliche Endergebnis<br />

hat sie bestätigt. Für die Bevölkerung<br />

und die Theoretiker ist der<br />

Unterschied zu vorgestern geringfügig,<br />

für die Berufspolitiker hingegen umwerfend.<br />

Das Fünf-Fraktionen-Sechs-Parteien-Parlament<br />

ist im Grundsatz erhalten<br />

geblieben, an die Stelle der FDP<br />

sind die Piraten getreten, die wegen ihrer<br />

Unübersichtlichkeit ebenfalls als freiheitliche<br />

Demokraten gelten. Das haben<br />

die Liberalen sich selbst zuzuschreiben.<br />

Röslers oder doch Brüderles, Westerwelles,<br />

letztlich Genschers Partei ist mangels<br />

einiger Hundert Zweitstimmen an<br />

der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, die<br />

Piraten – kein Name außer dem Parteinamen<br />

selbst bedeutet da etwas – haben<br />

die Hürde mit derselben Anzahl von<br />

Stimmen übersprungen: Einige besonders<br />

Weitsichtige haben ihre Zukunft<br />

auf die neue Karte gesetzt.<br />

Angela Merkel steht mitten im Kanzleramt<br />

vor den Trümmern ihrer amtlich<br />

verkündeten Politik, der erst beschworenen<br />

und dann viel zu lange gepriesenen<br />

Wunschkoalition mit der FDP. Dabei war<br />

der Wunsch der CDU, erst recht der CSU,<br />

mit der FDP zu koalieren, in den ersten<br />

Sekunden nach deren unverschämtem –<br />

Merkels columbushafter Entdecker hätte<br />

treffender gesagt: ganz und gar unerträglichem<br />

– Wahlerfolg von damals 14,6 Prozent<br />

im Herbst 2009 verflogen. Von da an<br />

war es die Pflicht der CDU-Vorsitzenden,<br />

die FDP nie mehr die Hälfte der Stimmenzahl<br />

der CDU erreichen zu lassen. Nun ist<br />

die CDU wieder um ein Vielfaches stärker<br />

als die FDP, aber die Kanzlerkandidatin<br />

steht ohne „natürlichen“ Koalitionspartner<br />

da. „Ihr Wunschpartner, verehrte Frau<br />

Bundeskanzlerin, hat sich in nichts aufgelöst.“<br />

So hatte es die Linke-Vorsitzende<br />

„Ich mach’s“, sagt sie.<br />

„Lassen wir die anderen<br />

erst mal zappeln“<br />

Kipping in der Elefantenrunde und vor wenigen<br />

Minuten auch der Chefredakteur des<br />

Bayerischen Rundfunks gesagt. „Anstatt<br />

dass der mich dafür loben würde“, spottet<br />

sie, „mir ist doch gelungen, was Strauß<br />

gewollt, aber weder er noch seine Erben<br />

geschafft haben.“<br />

Merkels Strategie ist nicht das Kämpfen<br />

für Erfolge, sondern das Beseitigen von<br />

Gegnern, dann stellen sich ihre Erfolge von<br />

selber ein. Ein Anflug von Stolz huscht im<br />

Kreis der Getreuen über ihr Gesicht. Für<br />

den Moment wirkt sie wieder so mädchenhaft<br />

wie auf dem Foto im Jubiläumsband<br />

des Aachener Karlspreises.<br />

Doch nun ist nicht nur die FDP einstweilen<br />

erledigt, ihre eigene Zukunft steht<br />

auf dem Spiel. Während Pofalla, Gröhe, de<br />

Maizière und Kauder auf sie einreden und<br />

Beate Baumann wie Eva Christiansen ganz<br />

im Sinne der Chefin sich ein Mona-Lisahaftes<br />

Lächeln gönnen nach dem Motto<br />

„Wie mitleidheischend sind doch die<br />

Männer, wenn sie sich auf ihre eigene<br />

Potenz nicht verlassen können“, macht<br />

sich Angela Merkel daran, sich neu zu<br />

erfinden oder sich von neuem in die<br />

Rolle der Retterin aus eigener wie fremder<br />

Not hineinzufinden.<br />

Ohne den alten Koalitionspartner<br />

ist das Fundament ihrer dritten Kanzlerschaft<br />

dahin, ihr Anspruch auf den<br />

Verbleib im Kanzleramt brennt umso<br />

mehr in ihr. <strong>Die</strong> Gedanken gehen zurück<br />

zu einem Artikel, der vor der Bundestagswahl<br />

2009 beleuchtet hatte, wie<br />

verwegen ihr Entschluss war, aus der<br />

Koalition mit der SPD heraus nach der<br />

vermeintlich schwächeren FDP zu greifen.<br />

Noch nie hatte bis dahin ein Kanzler<br />

den Wechsel der eigenen Partei in<br />

eine andersfarbige Koalition politisch<br />

überlebt. Mehr noch: Seit 1963 hatte jedes<br />

neue Parteienbündnis seinen eigenen<br />

Kanzler, der spätestens mit dem Ende des<br />

Bündnisses selbst erledigt war. <strong>Die</strong>s galt<br />

auch für Ludwig Erhard, den sich das<br />

„Mädchen“ im Amt der Bundesjugendministerin<br />

einst zum Vorbild genommen<br />

hatte. 1991 antwortete sie auf die Frage,<br />

was sie später einmal sein wolle, mit Unschuldsmiene:<br />

„Wirtschaftsminister wie<br />

Ludwig Erhard.“ Als ihr entgegengehalten<br />

wurde, Erhard sei der einzige Wirtschaftsminister<br />

gewesen, der es zum Bundeskanzler<br />

gebracht hatte, schwieg sie. Dass selbst<br />

große Beliebtheit im Volk nicht weit genug<br />

ILLUSTRATIONEN: WIESLAW SMETEK (SEITEN 42 BIS 44)<br />

44 <strong>Cicero</strong> 1.2013


I M P R E S S U M<br />

FOTO: FAZ<br />

trägt, um die eigene Kanzlerschaft in eine<br />

andere Koalition hinüberzuretten oder, etwas<br />

anders gesagt, die eigene Kanzlerschaft<br />

mit einer neuen Koalition zu retten, dafür<br />

war Erhard Beweis genug. Solange auch<br />

nur ein Einziger in der eigenen Partei als<br />

kanzleramtsfähig gilt, wie Kurt Georg Kiesinger<br />

zur Zeit Erhards, ist der Amtsinhaber<br />

Spielball in den Händen zweitrangiger<br />

Parteifreunde.<br />

Merkel lässt in sich gekehrt die Gefährdungen<br />

Revue passieren. Sie ist überzeugt,<br />

dass die SPD weder mit der Linken<br />

noch mit den Piraten regieren wolle. Also<br />

bleibt es an ihr, zwischen der SPD und den<br />

Grünen als Partner zu wählen. Den Joker<br />

Trittins, in Koalitionsverhandlungen die<br />

Macht der Grünen zu steigern, indem sie<br />

im Amt des Kanzlers den Wechsel zu Röttgen<br />

durchsetzen, hatte Merkel unter Mittun<br />

Seehofers aus dem Spiel genommen,<br />

sobald amtlich war, dass Röttgen nicht als<br />

Ministerpräsident an NRW gefesselt sein<br />

würde. Den Ehrgeiz der Sozialministerin<br />

von der Leyen, eine abermalige große Koalition<br />

für den eigenen Einzug ins Kanzleramt<br />

zu nutzen, hatte sie im Wahlkampf<br />

so unbarmherzig bloßgestellt, wie es einst<br />

Kohl mit den Kanzlerambitionen des Vaters<br />

Albrecht getan hatte. Wo bitte ist jetzt<br />

noch jemand in der Union, der als Regierungschef<br />

infrage käme? Merkel schließt<br />

die Augen, sogleich bangen die Herren<br />

rundum, die Chefin könnte doch amtsmüde<br />

sein. Sie hingegen zitiert jeden Einzelnen<br />

vor ihr geistiges Auge, ohne dass ihr<br />

Blick unwillkürlich verriete, an welchen der<br />

Herren sie gerade denkt. Von diesen droht<br />

keine Gefahr, nicht einmal von Schäuble,<br />

schon gar nicht von de Maizière! Sie wendet<br />

sich Christiansen zu. „Ich mach’s“, sagt<br />

sie, „aber lassen wir die anderen erst einmal<br />

zappeln. Es reicht, wenn ich darauf bestehe,<br />

dass eine Koalition gegen die CDU<br />

den Wählerwillen hintergehen würde.“<br />

„Im Morgenmagazin“, schlägt Christiansen<br />

vor, „im Morgenmagazin“ bekräftigt<br />

Baumann. Merkel genügt es zu schweigen –<br />

wie 1991, als sie erstmals mit der K-Frage<br />

konfrontiert wurde.<br />

G EORG PAUL H EFTY<br />

war langjähriger leitender<br />

politischer Redakteur der FAZ<br />

VERLEGER Michael Ringier<br />

CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke<br />

STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS<br />

Alexander Marguier<br />

REDAKTION<br />

TEXTCHEF Georg Löwisch<br />

RESSORTLEITER Judith Hart (Weltbühne), Til Knipper<br />

(Kapital), Dr. Alexander Kissler (Salon), Constantin Magnis<br />

(Reportagen), Christoph Seils (<strong>Cicero</strong> Online)<br />

POLITISCHER CHEFKORRESPONDENT Hartmut Palmer<br />

ASSISTENZ DER CHEFREDAKTION Ulrike Gutewort<br />

REDAKTIONSASSISTENZ Monika de Roche<br />

PUBLIZISTISCHER BEIRAT Heiko Gebhardt,<br />

Klaus Harpprecht, Frank A. Meyer, Jacques Pilet,<br />

Prof. Dr. Christoph Stölzl<br />

ART DIRECTOR Kerstin Schröer<br />

BILDREDAKTION Antje Berghäuser, Tanja Raeck<br />

PRODUKTION Utz Zimmermann<br />

VERLAG<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />

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VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG<br />

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REDAKTIONSMARKETING Janne Schumacher<br />

ABOMARKETING Mark Siegmann<br />

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HERSTELLUNG Lutz Fricke<br />

GRAFIK Franziska Daxer, Dominik Herrmann<br />

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1.2013 <strong>Cicero</strong> 45


| B E R L I N E R R E P U B L I K | 2 2 . S E P T E M B E R 2 0 1 3 – D E R T A G D E R E N T S C H E I D U N G<br />

ES REICHT NICHT<br />

Peer Steinbrücks Fahrt in die Parteizentrale: Wie ihm Winston Churchill weiterhilft,<br />

Matthias Machnig in Gotha feststeckt und Gerhard Schröder eine Idee hat<br />

VON C HRISTOP H S CHW ENNICKE<br />

D<br />

ER DUNKLE AUDI A8 rauscht<br />

von Hamburg kommend mit<br />

Tempo 230 am Dreieck Wittstock-Dosse<br />

vorbei. „Peer,<br />

für dich. Der Donnermeyer.“<br />

Hans-Roland Fäßler, Freund, Coach, One-<br />

Dollar-Man, reicht Steinbrück auf dem<br />

Rücksitz des Wagens das Handy rüber.<br />

16 Uhr 37, eineinhalb Stunden, bis die<br />

Wahllokale schließen und 72 Kilometer<br />

bis zum Willy-Brandt-Haus in Berlin,<br />

wie das Navi anzeigt.<br />

„Ja, Michael?“<br />

Steinbrücks massiges Gesicht bekommt<br />

einen starren Zug, darin dieses<br />

Steinbrück’sche Wolfsgrinsen, das<br />

immer etwas von Lachen und Fletschen<br />

zugleich hat. Fäßler hört bruchstückhaft<br />

die Zahlen, die Donnermeyer<br />

vermeldet. „Danke, Michael, wir sehen<br />

uns gleich im WBH. Und ruf meine<br />

Frau bitte noch an, damit sich wenigstens<br />

eine freut.“ Steinbrück tapst linkisch<br />

auf Fäßlers Handy herum, bis der<br />

es ihm wegnimmt.<br />

„Und?“, fragt Fäßler.<br />

Steinbrück richtet sich in den Ledersitzen<br />

auf, er weiß nicht genau, was<br />

mehr dröhnt in seinem Schädel: Donnermeyers<br />

Zahlen oder der Weißwein vom andern<br />

Abend nach der letzten Kundgebung<br />

in Hamburg. Er reckt das Kinn und sagt in<br />

geschliffenem Englisch und mit verstellter<br />

Stimme: „Let us therefore brace ourselves<br />

to our duties, and so bear ourselves that, if<br />

the British Empire and its Commonwealth<br />

last for a thousand years, men will still say:<br />

‚This was their finest hour‘.“<br />

Es ist die Schlüsselpassage einer der drei<br />

<strong>wichtigsten</strong> Kriegsreden Winston Churchills.<br />

Steinbrück hat was übrig für den<br />

englischen Bollerkopf. Fäßler hat ihm im<br />

Frühjahr die BBC-Mitschnitte auf CD geschenkt,<br />

er hört sie im Auto, bis er sie mit<br />

aufsagen kann. We shall never surrender.<br />

Churchill hat ihm geholfen in diesen Monaten.<br />

Nicht aufgeben, weitermachen, das<br />

Gefühl von Aussichtslosigkeit abschütteln.<br />

Schröders Zigarre hüllt<br />

den Raum in Rauch.<br />

„Jürgen hat recht“, sagt er<br />

Michael Donnermeyer, Haudegen aus<br />

Schröders Zeiten und Steinbrücks reaktiver<br />

Legionär für den Wahlkampf, hatte<br />

dem Kandidaten eben die Trends zugerufen.<br />

29 Prozent sagen die Befragungen an<br />

den Wahlkabinen für die SPD voraus, 12<br />

für die Grünen. Das reicht nicht für Rot-<br />

Grün. Hinten nicht und vorne auch nicht.<br />

Der Audi passiert den Berliner Betonbären,<br />

da, wo die Autobahn kurvig wird<br />

und man besser die Tempo-60-Schilder berücksichtigt.<br />

„Haben Sie Ihre meditative<br />

Phase?“, herrscht Steinbrück den Fahrer<br />

an. Der beschleunigt, ein roter Blitz von<br />

der Straßenseite, und Steinbrücks Fahrt ins<br />

Willy-Brandt-Haus ist hiermit auch polizeilich<br />

festgehalten. Es klingelt wieder ein<br />

Handy. „Hallo Gerhard“, sagt Steinbrück,<br />

und Fäßler versucht mitzuhören. Schröders<br />

Stimme ist so sonor, dass das sogar<br />

geht. Der Name Kipping fällt, Steinbrücks<br />

Miene verfinstert sich. „Dass gerade du<br />

mir das rätst“, sagt er. „Bis gleich im<br />

WBH.“<br />

Oben im fünften Stock haben sich<br />

die üblichen Verdächtigen eingefunden.<br />

Auch Andrea Nahles, die Generalsekretärin,<br />

die Steinbrück im Laufe<br />

des Wahlkampfs schätzen gelernt hat,<br />

auch weil er vorher die charakterlichen<br />

Abgründe des Mannes kennengelernt<br />

hatte, in dessen Büro sich jetzt<br />

alle um den Konferenztisch versammeln.<br />

Drei Flaschen Weißwein stehen<br />

bereit, Steinbrück packt eine am<br />

Hals, als wollte er sie würgen wie eine<br />

Ente, und greift nach dem Korkenzieher.<br />

„Hoffentlich keiner unter 5 Euro“,<br />

versucht er es mit einem Witz auf eigene<br />

Kosten.<br />

Schröder kommt rein. Steinbrück<br />

beobachtet ihn interessiert, als sähe er<br />

ihn zum ersten Mal im Leben: Mein Gott,<br />

der ist ja fast so klein wie die Willy-Statuette<br />

vor Gabriels Zimmer. Er sagt: „Good<br />

to see you, Gerd.“ Er spricht es aus wie:<br />

Görd.<br />

Sigmar Gabriel betritt den Raum. Auch<br />

ihn betrachtet der Kandidat verwundert.<br />

Mein Gott, der Gabriel ist ja fast so breit<br />

wie der Calmund. Er sagt: „Hallo Sigmar!“<br />

Das Vorzimmer stellt Matthias Machnig<br />

aufs Telefon, und Gabriel drückt die<br />

Lautsprechertaste. Machnig hängt in Thüringen<br />

fest, in Gotha, ausgerechnet Gotha,<br />

die Bahn, Störungen im Betriebsablauf. Er<br />

ist blockiert, aber er klingt wie meistens<br />

ILLUSTRATION: WIESLAW SMETEK<br />

46 <strong>Cicero</strong> 1.2013


FOTO: ANDREJ DALLMANN<br />

Anzeige<br />

etwas verschwitzt. <strong>Die</strong> FDP, sagt Machnig:<br />

Bei 5 Prozent sehen die vorläufigen Prognosen<br />

die Liberalen.<br />

Ampel? Kanzler einer Ampel? Grüne<br />

und Liberale zusammenhalten, Öko-Etatisten<br />

und Marktanbeter, Feuer und Wasser<br />

versöhnen? Steinbrück braucht dringend<br />

einen Schluck Feuerwasser.<br />

Unten im Atrium, bei der großen<br />

Willy-Statue versammeln sich die Journalistengrüppchen<br />

vor den Fernsehern. Es geht<br />

auf 18 Uhr zu. „Mach ma’n Fernseher an“,<br />

sagt Schröder zu Nahles. Bettina Schausten<br />

ist zu sehen, das Mikro vor dem Mund,<br />

ein wichtiges Gesicht machend, redet die<br />

ZDF-Frau die letzten Sekunden weg, bevor<br />

die farbigen Türme das erste Mal an<br />

diesem Abend aufsteigen. Der rote Turm<br />

stagniert bei 28,5 Prozent. Der schwarze<br />

ragt weit über ihn hinaus. Der grüne Turm<br />

wächst und wächst und bleibt bei 12,1 Prozent.<br />

„Das reicht nicht“, sagt Gabriel und<br />

spricht aus, was alle denken. Schröder versucht<br />

es mit Optimismus. „Abwarten. Hinten<br />

sind die Enten fett.“ Den Spruch hat<br />

er mal als niedersächsische Bauernweisheit<br />

aufgeschnappt. Er passt fast immer.<br />

Aber er stimmt nicht immer. Das weiß<br />

Schröder selbst. Just in diesem Raum<br />

schrumpfte seine Hoffnung 2005, auch<br />

wenn ihm Manfred Güllner noch auf dem<br />

Weg in die Elefantenrunde zugerufen hatte,<br />

es könne noch reichen, was ihn so aufgepeitscht<br />

hatte in der Sendung.<br />

Jürgen Trittin ist in der Leitung. Rot-<br />

Rot-Grün, darauf will der Grüne hinaus.<br />

Steinbrück hat das Bündnis mit sich als<br />

Kanzler genauso oft ausgeschlossen wie<br />

eine Vizekanzlerschaft unter Merkel.<br />

Gerhard Schröders Zigarre hat inzwischen<br />

den ganzen Raum in Nebel gehüllt.<br />

„Der Jürgen hat recht“, sagt er hinter seinen<br />

Schwaden.<br />

<strong>Die</strong> Dame aus dem Vorzimmer kommt<br />

rein. Zwei Anrufer auf zwei Leitungen, wen<br />

sie durchstellen solle: Lafontaine oder<br />

Merkel?<br />

Alle schauen auf Steinbrück, alles ist<br />

starr, als hätte ein beinkalter Wind die<br />

Szene in Eis gefroren.<br />

„<strong>Die</strong> Merkel“, sagt Steinbrück.<br />

C HRISTOP H S CHW ENNICKE<br />

ist Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

Herzlichen Dank für Ihr<br />

Berlin-Engagement!<br />

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| B E R L I N E R R E P U B L I K | 2 2 . S E P T E M B E R 2 0 1 3 – D E R T A G D E R E N T S C H E I D U N G<br />

SO GEHT EIN TRITTIN NICHT<br />

Wahlsonntag, nach 16 Uhr, in seiner Wohnung fährt sich Jürgen Trittin durchs Haar. Es reicht<br />

nicht für Rot-Grün. Wie soll er jetzt noch historisch werden? Er macht sich an die Arbeit<br />

VON PETER U NFRIED<br />

T<br />

RITTIN SCHAUT AUF sein HTC<br />

Android Smartphone. „Das<br />

wär’ jetzt auch zu einfach gewesen“,<br />

murmelt er. Es ist Sonntag,<br />

16 Uhr. Er war gerade dabei, in<br />

seinen Finanzminister-Anzug zu steigen,<br />

als er die Vorprognose der Bundestagswahl<br />

gesimst bekam. Nichts entschieden<br />

– außer, dass es für Rot-Grün nicht<br />

reicht. Er fährt sich mit der Rechten<br />

durch die Frisur. Das soll er nicht, sagen<br />

seine Berater immer. Weil es nicht<br />

gut aussähe beim Zustand seiner Haare.<br />

Joschka hat selbstverständlich eine<br />

dichte Matte. Ihm sind die Sachen immer<br />

zugefallen. <strong>Die</strong> Frauen auch. <strong>Die</strong><br />

erste rot-grüne Bundesregierung gilt<br />

als sein historisches Verdienst. Obwohl<br />

sie das damals nur gemeinsam<br />

geschafft haben oder vielleicht besser<br />

formuliert: zu zweit. Aber immer hieß<br />

es nur: Joschka Fischer, Number One.<br />

Trittin ist klar, dass seine historische<br />

Aufgabe nur darin bestehen kann,<br />

die Grünen in ihre zweite Bundesregierung<br />

zu führen. Das und nur das<br />

wird ihn in der Geschichte der Bundesrepublik<br />

auf eine Stufe mit Joschka<br />

stellen. Wenn nicht gar eine halbe Stufe<br />

darüber, denn dann waren beide Vizekanzler,<br />

aber nur er war zweimal Minister.<br />

<strong>Die</strong> Grünen in weitere vier Jahre Opposition<br />

zu führen, ist dagegen definitiv nicht<br />

historisch. Sondern zum Kotzen. Klar, er<br />

könnte weiter den Fraktionsvorsitzenden<br />

machen. Aber was wäre die Regierungsperspektive?<br />

Und ewig wird er die sogenannten<br />

Jungen auch nicht mehr ruhig<br />

halten können. Egal, wie feige Özdemir<br />

bisher agiert hat. Nach anderthalb Jahren<br />

kommen die und wollen den Wechsel. So<br />

geht ein Trittin nicht.<br />

„Kanzlerin kontaktieren,<br />

Katrin“, simst Trittin.<br />

Tolle Alliteration<br />

Selbstverständlich hat er im Wahlkampf<br />

hunderttausendmal erklärt, warum<br />

eine Koalition mit der Union auszuschließen<br />

sei. Vermögensabgabe, Spitzensteuersatz,<br />

Mindestlohn, Quote hier, fehlender<br />

Anstand dort. Er hat sein grimmiges Gesicht<br />

gemacht, als Katrin Göring-Eckardt<br />

beim Parteitag „Grün oder Merkel“ rief …<br />

das war ja auch irgendwie süß.<br />

Er schickt ihr gleich mal eine SMS.<br />

„Kanzlerin kontaktieren, Katrin.“ Tolle<br />

Alliteration.<br />

Und … was schreibt diese sogenannte<br />

Spitzenkandidatin? „Mach du das, bitte.“<br />

Auf keinen Fall. Das könnte später auf<br />

ihn zurückfallen.<br />

„Nein, du.“<br />

„Okay.“<br />

Na, bitte.<br />

Im Parteirat hat er schon vor über einem<br />

Jahr gesagt, dass man zur Not auch<br />

Schwarz-Grün machen würde, auch wenn<br />

die Schnittmengen mit der SPD größer<br />

waren. Aber was nutzt eine Schnittmenge<br />

ohne Mehrheit?<br />

Während Katrin die Kanzlerin anbaggert,<br />

ruft er mal schnell die Nummer von<br />

Jürgen Reents auf, seinem alten Kumpel<br />

vom undogmatischen Kommunistischen<br />

Bund. Klar, dass er auch Rot-<br />

Grün-Rot austesten muss. Moment,<br />

Telefon klingelt … ah, da ist Reents ja<br />

schon. Gedankenübertragung.<br />

„<strong>Die</strong> Zeit für Rot-Rot-Grün ist gekommen“,<br />

sagt Reents.<br />

„Rot-Grün-Rot, wenn schon“, sagt<br />

Trittin. Und du mich auch, sagt sein<br />

Gesicht.<br />

Er hat das ja nun seit zwei Jahren<br />

durchgespielt. Zeit war ja. Er weiß definitiv,<br />

dass er kein historischer Staatsmann<br />

wird, wenn er mit zwei Sorten<br />

Rot regieren muss, die sich noch<br />

mehr hassen als Rote und Grüne. Das<br />

macht er nur, wenn sonst gar nichts<br />

geht. Er tippt eine SMS an Gabriel:<br />

„Rot-Grün-Rot sondieren, Kanzler.“<br />

Dabei lächelt er sein Trittin-Lächeln,<br />

aber das sieht Gabriel ja nicht. Das HTC<br />

Android vibriert. „Gerhard Schick“ leuchtet<br />

auf. „Ja, haben wir jetzt Bürgerstunde<br />

oder was?“, blafft Trittin und drückt den<br />

Anruf weg.<br />

Er macht sich auf den Weg von seinem<br />

Haus in Treptow zur Grünen-Wahlparty,<br />

wo er im Nebenzimmer mit den anderen<br />

verabredet ist. An einer Ampel hält<br />

sein Fahrer an. „Steinbrück“, entfährt es<br />

Trittin. Er wählt die Nummer. Das hat er<br />

bis jetzt rausgezögert, weil er sich vorstellen<br />

kann, wie miserabel der gelaunt ist. Aber<br />

das muss sein. Nicht dass Steinbrück direkt<br />

bei der Schausten an Steinmeier übergibt<br />

ILLUSTRATION: WIESLAW SMETEK<br />

48 <strong>Cicero</strong> 1.2013


F R A U F R I E D F R A G T S I C H …<br />

ILLUSTRATION: JAN RIECKHOFF; FOTO: ANJA WEBER<br />

und die Große Koalition nicht mehr rückholbar<br />

ist. Alles, nur das nicht.<br />

„Sprich mit Lindner“, sagt er zu Steinbrück.<br />

Mehr nicht. Obwohl Trittin eigentlich<br />

immer weiß, was seine Partei mitmacht,<br />

ist er nicht 100-prozentig sicher,<br />

dass Schwarz-Grün durchgehen würde.<br />

<strong>Die</strong> SPD soll auch mal die Ampel austesten.<br />

In dem kleinen Raum hinter der Wahlparty-Halle<br />

sitzt Claudia Roth unter einem<br />

funkelnden Kronleuchter. Umarmung.<br />

Dann quatscht sie ihm das Ohr mit Rot-<br />

Grün-Rot voll. Sie verstummt, als er erklärt,<br />

dass in einer Drei-Parteien-Regierung für<br />

sie auf keinen Fall ein Ministeramt abfällt.<br />

Sonst auch nicht. Sagt er aber nicht.<br />

Jetzt kommt Göring-Eckardt und wirft<br />

ihre Haare durch die Luft. Trittin schaut<br />

interessiert; Roth schaut giftig. Er nimmt<br />

Göring-Eckardt schnell beiseite, um zu erfahren,<br />

was die Kanzlerin gesagt hat.<br />

Erste Hochrechnung. <strong>Die</strong> Claqeure<br />

vom Berliner Landesverband verausgaben<br />

sich, damit es im Fernsehen aussieht, als sei<br />

alles ganz toll. Um 18:30 Uhr geht er auf<br />

die Bühne, Göring-Eckardt ist dabei. Er<br />

hebt die Hände in die Höhe, dankt und<br />

sagt, dass es angesichts des Ergebnisses als<br />

Demokrat selbstverständlich sei, mit allen<br />

Parteien zu sprechen, selbst mit der FDP. Er<br />

ruft, dass die Mitte grün sei, dass es nicht<br />

um Personen gehe, sondern um Inhalte.<br />

Dramaturgische Pause. Während die Claqeure<br />

ihre Arbeit verrichten, piepst es in<br />

seiner Jacke und er liest schnell die SMS.<br />

„Kraftvoll in die Opposition! Joschka.“<br />

Selbst hinten in der Halle sieht man,<br />

wie sich sein Körper spannt. Jetzt gilt es.<br />

„Es ist die entscheidende Aufgabe unserer<br />

Zeit, die Energiewende in Deutschland<br />

zum Gelingen zu bringen“, sagt er. Das<br />

sei mit einer Koalition von CDU und SPD<br />

unmöglich. Das gehe nur mit den Grünen.<br />

Hinter dieser historischen und globalen<br />

Verantwortung müsse alles zurückstehen.<br />

Er nimmt die Rechte aus der Hosentasche,<br />

fährt sich durchs Haar, verschränkt dann<br />

die Hände vor der Brust. Für einen Moment<br />

bekommen die Leute im Raum sein<br />

maliziöses Lächeln zu sehen. Joschka, sagt<br />

dieses Lächeln: Be my Number Two.<br />

PETER U NFRIED<br />

ist Chefreporter der taz in Berlin<br />

… wo eigentlich heute die<br />

Front verläuft?<br />

F<br />

RÜHER HÄTTE ICH mit einem, der<br />

Franz Josef Strauß wählt, nicht<br />

mal geredet. Heute bin ich mit<br />

Leuten befreundet, die nicht nur für Mitt<br />

Romney gestimmt haben, sondern auch<br />

daran glauben, dass Homosexualität eine<br />

Todsünde ist und Gott die Welt vor<br />

6000 Jahren erschaffen hat. Sie halten<br />

Obama für einen getarnten Moslem<br />

und natürlich für einen Sozialisten.<br />

Unsere politischen Ansichten<br />

könnten nicht weiter voneinander<br />

entfernt sein, und wenn ich mit<br />

ihnen diskutiere, stehen mir die<br />

Haare zu Berge. Trotzdem schätze<br />

und achte ich sie und habe ihnen<br />

sogar meine Kinder anvertraut. Mein<br />

Sohn und meine Tochter haben jeweils<br />

ein Jahr bei ihnen in Kentucky gelebt und<br />

eine wertvolle Lektion in Toleranz und Respekt gelernt. Sie besuchten jeden Sonntag<br />

die Gottesdienste der „Kirche des lebendigen Wassers“, durften mit zu Wahlkampfveranstaltungen<br />

von Sarah Palin und wurden mit Fox News dauerberieselt.<br />

Sie führten lange Gespräche mit ihrer Gastmutter und lernten zu verstehen, dass<br />

Menschen auf erstaunliche Weise anders denken und dennoch ähnliche Grundwerte<br />

haben können.<br />

Mein schön geordnetes Weltbild ist – nicht nur durch diese Erfahrung – ins<br />

Wanken gekommen. Heute rede ich nicht nur mit CDU-Wählern, ich muss sogar<br />

zugeben, dass Ursula von der Leyen in kürzester Zeit mehr für Frauen und Familien<br />

getan hat als die SPD in Jahrzehnten. Der ehemalige NRW-Familienminister<br />

Armin Laschet (CDU) ist ein so vernünftiger Mann – man kann nur bedauern,<br />

dass Hannelore Kraft ihn in ihrem Kabinett nicht weiter beschäftigen konnte.<br />

Und dass Heiner Geißler nicht längst die Partei gewechselt hat, ist wohl nur seinem<br />

unbändigen Spaß an der Provokation zuzuschreiben. Zum Ausgleich gibt’s in<br />

der CDU glücklicherweise noch Erika Steinbach und Volker Kauder, die dafür sorgen,<br />

dass man nicht beginnt, am eigenen Verstand zu zweifeln.<br />

Andererseits gehen mir viele Vertreter der Linken mit ihrer Verbohrtheit auf<br />

die Nerven, ebenso wie einige grüne Ökospießer, von den Piraten ganz zu schweigen.<br />

Mit Staunen nehme ich weiterhin zur Kenntnis, dass der Kanzlerkandidat der<br />

SPD den Kapitalismus besser begriffen hat als mancher Wirtschaftsliberale in der<br />

FDP, und so frage ich mich, wo eigentlich heute die Front verläuft? Wo kann ich<br />

mich weltanschaulich verorten, wenn nicht mehr klar ist, wer die Guten und wer<br />

die Bösen sind? Einerseits finde ich es toll, dass uns die Ideologie nicht mehr automatisch<br />

den Blick auf einen Menschen verstellt, andererseits war die Welt früher<br />

übersichtlicher. Manchmal wünsche ich mir deshalb die alten Feindbilder zurück.<br />

Und hin und wieder sogar Franz Josef Strauß.<br />

A MELIE F RIED ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin. Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über<br />

Männer, Frauen und was das Leben sonst noch an Fragen aufwirft<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 49


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Der britische Komponist Max<br />

Richter holt zusammen mit Daniel<br />

Hope eines der beliebtesten Werke<br />

der klassischen Musik in die<br />

Gegenwart.<br />

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DER BOLOGNA-FEHLER<br />

Immerhin: <strong>Die</strong> Langzeitstudenten mit 21 Semestern gibt<br />

es nicht mehr. Aber nun, zwei Jahre nach Abschluss der<br />

europäischen Studienreform, regieren an Deutschlands<br />

Hochschulen Einheitsmaß und wild gewordene<br />

Evaluationsagenturen. Eine kritische Zwischenbilanz<br />

VON KONRAD A DAM<br />

Z<br />

UMINDEST DER TITEL der Aktion<br />

war gut gewählt. Das internationale<br />

Großunternehmen mit dem<br />

Ziel, die Studienbedingungen in<br />

Europa einheitlich zu gestalten,<br />

nannte sich nach Bologna, der Stadt, in der<br />

sich, neben oder nach Paris, die erste europäische<br />

Universität befunden haben soll.<br />

Von dort, von Norditalien oder von der Île<br />

de France, ging die Bewegung aus, die nach<br />

und nach in ganz Europa ähnliche Einrichtungen<br />

hervorbrachte. Auf dem Boden des<br />

Heiligen Römischen Reiches folgten Residenzstädte<br />

wie Prag, Heidelberg und Wien,<br />

in Frankreich Toulouse, Salamanca in Spanien,<br />

in Schweden Uppsala sowie Oxford<br />

und Cambridge in England.<br />

In dieser frühen Zeit hatte sich<br />

von selbst verstanden, was Jahrhunderte<br />

später unter dem Namen Bologna<br />

neu in Gang gesetzt werden sollte: die<br />

Internationalisierung der höheren Bildung,<br />

äußerlich erkennbar an der Leichtigkeit,<br />

mit der Studenten und Professoren von einem<br />

Land ins andere wechselten. Erasmus<br />

von Rotterdam, der heute dem europäischen<br />

Stipendienprogramm als Namenspatron<br />

dient, hatte in Paris studiert, war<br />

in Italien promoviert worden und als akademischer<br />

Lehrer in seiner Heimat, den<br />

Niederlanden, aber auch in England und<br />

in der Schweiz tätig gewesen. <strong>Die</strong>ser Beweglichkeit<br />

hofften die europäischen Bildungsminister<br />

aufzuhelfen und damit einen<br />

Beitrag zum Zusammenwachsen des<br />

Kontinents zu leisten, als sie für Dauer,<br />

Gestalt und Abschluss des Studiums einheitliche<br />

Maßstäbe beschlossen.<br />

Ein schöner Plan, der wohl aufgegangen<br />

wäre, wenn den Bildungspolitikern<br />

vor Augen gestanden hätte, dass ihre Aufgabe<br />

darin bestand, über das Schicksal der<br />

ILLUSTRATION: MIRIAM MIGLIAZZI & MART KLEIN<br />

52 <strong>Cicero</strong> 1.2013


1.2013 <strong>Cicero</strong> 53


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nächsten Generation zu entscheiden statt<br />

einer wild gewordenen Zulassungsindustrie<br />

zu Macht und Einkommen zu verhelfen.<br />

Genau das haben sie jedoch getan. Gewinner<br />

des Bologna-Prozesses sind nicht die<br />

Studenten, sondern die Akkreditierungsräte<br />

und Evaluationsagenturen. Sie wirken<br />

als Gleichmacher der Bildung, denn<br />

sie belohnen jene, die einen Standard perfekt<br />

umsetzen. Überall, auf Landes-, Bundes-<br />

und europäischer Ebene, sind sie tätig<br />

und verdienen ihr Geld damit, dass sie<br />

die Hochschulen von der Pflicht befreien,<br />

sich die jungen Leute, die als Studenten zu<br />

ihnen kommen, näher anzusehen.<br />

UM DIE REFORM von Bologna einschätzen<br />

zu können, lohnt es sich, an ihren Anfang<br />

zurückzugehen und sich ihrer Motive zu<br />

besinnen. 1999 unterzeichneten die europäischen<br />

Bildungsminister die Bologna-Erklärung,<br />

nach der bis 2010 ein einheitlicher<br />

Hochschulraum in Europa geschaffen werden<br />

sollte. Deutschland verfolgte daneben<br />

ein weiteres, bis heute gern verschwiegenes<br />

Ziel. Mithilfe des Bologna-Prozesses wollte<br />

man endlich erreichen, was immer wieder<br />

angemahnt und versprochen, aber genauso<br />

oft verfehlt und hintertrieben worden war,<br />

eine Verkürzung des Studiums. Im internationalen<br />

Vergleich lagen die Deutschen mit<br />

ihren Studienzeiten von zwölf und mehr<br />

Semestern weit an der Spitze; was nicht nur<br />

teuer war, sondern deutsche Absolventen<br />

gegenüber Mitbewerbern aus den übrigen<br />

Ländern auch zurückwarf.<br />

Hauptverantwortlich dafür, dass es mit<br />

der Studienzeitverkürzung nicht voranging,<br />

war der Staat. Bei ihm fand ja, einer<br />

alten deutschen Tradition folgend, der Löwenanteil<br />

der Hochschulabsolventen sein<br />

<strong>Die</strong><br />

überkommene<br />

Studienfreiheit<br />

wurde durch<br />

lückenlose<br />

Regulierung<br />

ersetzt<br />

Ein- und Unterkommen; nach Grundsätzen<br />

allerdings, die das lange Studium belohnten,<br />

nicht das kurze. Mit zwölf oder<br />

mehr Semestern landete man im höheren,<br />

nach einem Kurzstudium von neun<br />

Semestern nur im gehobenen <strong>Die</strong>nst, der<br />

deutlich schlechter bezahlt wurde. Solange<br />

das so blieb, waren ein paar Semester mehr<br />

ein glänzendes Geschäft, das sich ein ganzes<br />

Leben lang rentierte. An diesem naheliegenden<br />

Kalkül sind alle Versuche, das<br />

Studium zu verkürzen, zunächst einmal<br />

gescheitert.<br />

Bis zur Mitte der siebziger Jahre blieb<br />

der Staat seiner Rolle als Hauptabnehmer<br />

der Universitäten treu; 1972, als die<br />

von Willy Brandt versprochene Verbreiterung<br />

des öffentlichen Korridors im vollen<br />

Gange war, fanden mehr als zwei Drittel<br />

aller Hochschulabsolventen ihren Dauerarbeitsplatz<br />

im <strong>Die</strong>nst des Staates. Doch<br />

dann, rund fünf Jahre später, lief die Einstellungswelle<br />

aus, weil das Geld ausging.<br />

Damit geriet die Hochschulreform<br />

in eine neue Krise: Der öffentliche Sektor<br />

war nicht mehr, die private Wirtschaft<br />

war noch nicht dazu bereit, die steigende<br />

Zahl von Hochschulabsolventen zu übernehmen,<br />

zumindest nicht zu den komfortablen<br />

Bedingungen, die im Staatsdienst<br />

üblich waren.<br />

Da sie das Recht auf Bildung, das sie so<br />

großzügig verkündet hatten, nicht durch<br />

das Recht auf einen Arbeitsplatz im öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nst ergänzen konnten, verfielen<br />

die Kultuspolitiker auf den fatalen Gedanken,<br />

die Universität als Warteraum zu benutzen,<br />

als Zwischenlager für Studenten,<br />

die anderswo nicht unterkommen konnten<br />

oder wollten. Was sprach dagegen, die<br />

viel zu vielen durch zusätzliche Semester<br />

noch eine Zeit vom Arbeitsmarkt fernzuhalten<br />

und so die wichtigste von allen amtlichen<br />

Dateien, die Arbeitslosenstatistik,<br />

zum Vorteil der Regierung zu entlasten?<br />

<strong>Die</strong> Einladung wurde angenommen und<br />

ließ die Zahl der ewigen Studenten drastisch<br />

steigen. Im Bewusstsein, den Zeitgeist<br />

im Rücken zu haben, trumpften die<br />

Dauerstudenten auf und bekannten sich<br />

demonstrativ zu ihrem 20., 21. oder noch<br />

höheren Semester.<br />

ZWAR ENTWARFEN REFORMKOMMISSIONEN<br />

Studiengänge, verabschiedeten Prüfungsordnungen<br />

und stritten über den Begriff<br />

der Regelstudienzeit. Am Alltag änderte<br />

das aber wenig, der Betrieb lief in seinen<br />

alten Bahnen weiter, nur langsamer, umständlicher<br />

und schwerfälliger als je zuvor.<br />

Während sich die Professoren, um der Last<br />

der ihnen auferlegten Lehrverpflichtungen<br />

zu entkommen, an irgendwelche Centers<br />

for Advanced Studies zurückzogen, fanden<br />

sich die Studenten im Irrgarten der Massenuniversität<br />

nicht mehr zurecht. Unter<br />

dem Titel „Uni-Angst und Uni-Bluff“ riet<br />

ein seinerzeit weitverbreitetes Handbüchlein<br />

den kopflosen jungen Leuten, sich auf<br />

das Nötigste zu beschränken. „Wenn du<br />

ILLUSTRATION: MIRIAM MIGLIAZZI & MART KLEIN<br />

54 <strong>Cicero</strong> 1.2013


herausgefunden hast, was die Minimalanforderungen<br />

in deinem Fach sind, dann belege<br />

und besuche nur die!“<br />

Auch das war aber noch zu viel, solange<br />

sich die Studenten auf das fragwürdige Privileg<br />

der Studienfreiheit berufen konnten.<br />

<strong>Die</strong> Einsicht, dass man 30 oder 40 Prozent<br />

eines Altersjahrgangs nicht nach Methoden<br />

unterrichten konnte, die seinerzeit<br />

für 5 oder 6 Prozent entworfen worden waren<br />

(und die auch da nicht immer griffen),<br />

blieb eine anerkannte, aber folgenlose Theorie.<br />

„Überlast auf Zeit“ hieß das Verfahren,<br />

das Lehrenden und Lernenden immer<br />

weitere Verpflichtungen aufbürdete und so<br />

den Ruf des deutschen Universitätswesens<br />

ramponierte. Das Bundesverwaltungsgericht<br />

zog nur die letzte Konsequenz, als es<br />

den Wunsch einer Massenuniversität, neben<br />

den Quantitäten auch die Qualität von<br />

Forschung und Lehre im Auge zu behalten,<br />

als „unzulässige Niveaupflege“ bezeichnete<br />

und verwarf.<br />

Da kam Bologna gerade recht. Es<br />

schuf den Druck, auf den man sich berufen<br />

konnte, um das nachzuholen, was<br />

jahrelang versäumt worden war. Nur dass<br />

man auch diesmal wieder der Versuchung<br />

nachgab, dem alten mit einem neuen Exzess<br />

zu begegnen, indem man an die Stelle<br />

der überkommenen Studienfreiheit ein<br />

ziemlich lückenloses Reglement setzte. <strong>Die</strong><br />

durchaus dehnbaren Empfehlungen der<br />

Bologna-Planer – der erste Teil des Studiums<br />

bis zum Bachelor sollte drei bis vier<br />

Jahre, der zweite mit dem Master als Abschluss<br />

ein bis zwei Jahre dauern – wurden<br />

in Deutschland so eng wie möglich umgesetzt,<br />

enger als in jedem anderen Land der<br />

Gemeinschaft. Das Ganze dann auch noch<br />

auf Englisch, mit Bachelor und Master anstelle<br />

von Diplom und Magister, da deutsche<br />

Wissenschaftsverwalter das Englische<br />

auch dann als Ausweis höherer Bildung betrachten,<br />

wenn sie es selbst nur unvollkommen<br />

beherrschen.<br />

All das hätte den Kern des Studiums<br />

nicht berühren müssen, hätte Bologna<br />

nicht als Waffe gedient, die alte Vorstellung<br />

vom Fach zu zerschlagen und durch<br />

das neue Einheitsmaß, das Modul, zu ersetzen.<br />

Das Fach bewahrte ja, wie fragwürdig<br />

auch immer, den Glauben an die Möglichkeit,<br />

zwar nur einen Teil der Welt, den<br />

aber einigermaßen gründlich kennenzulernen,<br />

ihn zu überblicken und mit Fleiß und<br />

Glück zu erweitern. Als Teil einer größeren<br />

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M ODELL<br />

RAUS AUS DEM REGELKORSETT<br />

<strong>Die</strong> Zeppelin-Universität in Friedrichshafen bricht die Bachelor-Studiengänge auf.<br />

Statt strenger Regulierung bietet sie Freiheit, kreative Unruhe und Zeit zum Lesen<br />

Von Christian Füller<br />

<strong>Die</strong> Studenten in Deutschland ächzen.<br />

Sie leiden unter dem Bachelor, jenem<br />

Studiengang, der im Zuge der Bologna-<br />

Reform das Studieren eigentlich leichter<br />

machen sollte. Unstudierbar, weil überladen<br />

und überreglementiert, so lautet<br />

die Kritik. Doch tief im Süden des Landes<br />

macht man sich ganz andere Gedanken.<br />

„Das neue ‚Humboldt-Jahr‘ wird<br />

eine große Herausforderung für uns Studenten“,<br />

sagt Sigfried Eisenmeier. „Denn<br />

es ist sehr frei organisiert.“<br />

Eisenmeier, 21 Jahre alt, hat an der<br />

Zeppelin-Universität in Friedrichshafen<br />

den Studiengang „Sociology, Politics,<br />

Economics“ belegt. Das „Humboldt-Jahr“<br />

ist eine Idee seiner Uni, um den Bachelor<br />

zu reformieren. 2003 war die kleine Privatuniversität<br />

– einst gegründet vom Autozulieferer<br />

ZF Friedrichshafen und der<br />

Zeppelin Baumaschinen GmbH – eine<br />

der ersten in Deutschland, die den neuen<br />

Studiengang einführte. Als aber 2009<br />

Studierende staatlicher Hochschulen<br />

landauf, landab gegen den Bachelor protestierten,<br />

nahm die kleine Universität<br />

den Impuls für ihre 1000 Studierenden<br />

auf und leitete die Reform der Reform<br />

ein. Der Präsident der Zeppelin-Uni,<br />

Stephan Jansen, sagt: „<strong>Die</strong> wahre Eurokrise,<br />

unter der wir leiden, ist nicht die<br />

der Geldwährung. Es ist das selbst verschuldete<br />

Euro-Credit-Transfer-System<br />

der Studienleistungen.“<br />

<strong>Die</strong> Uni am Bodensee streckte den<br />

Studiengang um ein Jahr und nannte es<br />

das „Humboldt-Jahr“. Statt drei haben<br />

die Zeppelin-Studenten seit 2011 vier<br />

Jahre Zeit bis zum Abschluss. Gleich zu<br />

Beginn gibt es ein „Zeppelin-Jahr“ mit<br />

Workshops wie „implizites Wissen“ oder<br />

„Grundlagen des Unternehmertums“.<br />

Der reformierte Bachelor ist in Friedrichshafen<br />

eine Mixtur aus Pflicht und<br />

Kür – mit ganz viel Kür.<br />

<strong>Die</strong> Zeppelin-Universität Friedrichshafen gibt ihren Studenten<br />

zwölf Monate mehr Zeit: das „Humboldt-Jahr“<br />

<strong>Die</strong> Zeppelin-Uni ist denselben Bachelor-Regeln<br />

unterworfen wie alle anderen<br />

Hochschulen. Dennoch läuft das<br />

Studium hier schon immer anders. Wo<br />

staatliche Studenten in Zeitkorsette gepresst<br />

sind, scheinen die Zeppelin-Freiheiten<br />

unendlich. Im Wunsch-Seminar<br />

etwa. <strong>Die</strong> Studierenden suchen sich zu<br />

Semesterbeginn ein Thema, das sie interessiert.<br />

Das war zuletzt Gamification,<br />

also die Mode, Computerspiele selbst<br />

für Einstellungstests und beim Lernen<br />

einzusetzen. <strong>Die</strong> Studierenden heuerten<br />

externe Game-Designer an, die sie<br />

über Dramaturgien der Spiele aufklärten.<br />

„Wir achten natürlich darauf, dass<br />

ein universitäres Niveau gewahrt bleibt“,<br />

sagt die Kunstprofessorin Karen van den<br />

Berg. Darum grenzte sie in einem interdisziplinären<br />

Ansatz den auf Punktejagd<br />

verengten Spielbegriff der Computer-<br />

Games von einer philosophisch-ästhetischen<br />

Idee des freien Spiels ab.<br />

An der Zeppelin-Uni, in einem gläsernen<br />

Bau direkt am Bodensee und<br />

Containern im Norden Friedrichshafens<br />

untergebracht, gibt es auch ganz normale<br />

Kurse: Der Studiengang „Corporate<br />

Management and Economics“ etwa<br />

bietet Einführungen in Betriebswirtschaftslehre<br />

oder Bürgerliches Recht.<br />

Das „Zeppelin-Jahr“ zu Beginn des reformierten<br />

Bachelors aber soll die Studierenden<br />

ab Minute eins zum Forschen<br />

bringen. <strong>Die</strong> bisherige „Einführung in<br />

das wissenschaftliche Arbeiten“ wird mit<br />

einer thematischen Fragestellung aufgewertet<br />

– die sich die Studenten, bitte<br />

schön, selbst suchen sollen.<br />

Erstsemester Katharina Bremer, 20,<br />

hat sich die Rockergruppe Hells Angels<br />

als Thema gewählt. „Ich weiß bloß<br />

noch nicht, wie ich die Empirie machen<br />

soll“, sagt sie. „Ich muss wohl mal<br />

einen von denen interviewen.“ Sie hat<br />

mit ihrer Studiengruppe das Oberthema<br />

FOTOS: ANJA KOEHLER/ZEPPELIN UNIVERSITÄT, PRIVAT (AUTOREN)<br />

56 <strong>Cicero</strong> 1.2013


„Architekturen“ des jüngsten Zeppelin-Jahrgangs<br />

eigenwillig interpretiert.<br />

„Klandestine soziale Architekturen“<br />

ließe sich das Kapitel nennen.<br />

Geheimlogen, Mafia und Hells Angels<br />

sind jetzt Forschungsgegenstände.<br />

<strong>Die</strong> Universität will den Studenten<br />

Luft lassen. Sie sollten Literatur nicht<br />

nur als pdf-Dateien kennen, fordert<br />

Kunstprofessorin van den Berg. „Wir<br />

müssen Studierenden wieder Zeit einräumen,<br />

meterweise Bücher mit großen<br />

Theorien zu lesen.“<br />

Es gibt in Deutschland einige kreative<br />

Bachelor-Programme. Der Stifterverband<br />

für die Deutsche Wissenschaft<br />

hat sie in einem Wettbewerb<br />

sichtbar gemacht – etwa „Philosophie<br />

und Wirtschaft“ in Bayreuth oder<br />

„Mechanical and Process Engineering“<br />

an der TU Darmstadt. Aber der<br />

stinknormale deutsche Bachelor-Studiengang<br />

ist durchreguliert wie eine<br />

Weltraummission.<br />

Präsident Jansen geht einen anderen<br />

Weg. „Wir wollten die Idee der<br />

Uni von einer Vermittlungsanstalt auf<br />

eine Ermittlungsarena umstellen“, sagt<br />

er. Heißt: Keine Antworten vorgeben,<br />

sondern mit den Studenten Fragen erarbeiten.<br />

Reinsetzen und zuhören gilt<br />

an der Bodensee-Uni nicht. <strong>Die</strong> Studenten<br />

sollen eigene Themen finden,<br />

eigene Zugänge entwickeln und sich<br />

jene Professoren aus der Republik suchen,<br />

die gerade spannend sind.<br />

Bleibt das Studienprogramm jetzt<br />

erst einmal für eine Weile fixiert? Damit<br />

ist nicht zu rechnen. „Wir brauchen<br />

mehr Unruhe und Turbulenzspezialisten“,<br />

sagt Jansen. Im kommenden<br />

Jahr soll es daher sogenannte Diversity-Stipendien<br />

geben: Ein Studienabbrecher-<br />

und ein Sitzenbleiber-Stipendium<br />

zum Beispiel. Oder ein<br />

Marxismus-Stipendium für Studentenvertreter,<br />

die sich im „Kapital“ festgelesen<br />

haben.<br />

C HRISTIAN F ÜLLER<br />

arbeitet als Fachjournalist für<br />

Bildung. Er bloggt unter<br />

pisa-versteher.de<br />

Gemeinschaft, der scientific community,<br />

sollte der Student lernen, die Wissenschaft,<br />

wie Wilhelm von Humboldt sich ausgedrückt<br />

hatte, „als etwas noch nicht ganz<br />

Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes<br />

zu betrachten und unablässig als solche zu<br />

suchen“.<br />

DIE MODULARISIERUNG BRICHT MIT diesem<br />

Glauben. Sie ersetzt das Fachprinzip<br />

durch den Baustein, besser gesagt: durch<br />

eine Unzahl von Bausteinen, die sich<br />

nach dem Lego-System zu allen möglichen<br />

Formen zusammensetzen, auseinandernehmen<br />

und neu verbinden lassen.<br />

Der Modulator serviert Häppchen, keine<br />

Mahlzeiten; er betrachtet das Lernen als<br />

Akkordarbeit, differenziert nach Studium,<br />

bei dem der Student im Hörsaal sitzt, und<br />

Selbststudium, bei dem er zu Hause sitzt.<br />

<strong>Die</strong> Einheit, in der abgerechnet und bewertet<br />

wird, ist der credit point, der einem<br />

Zeitaufwand von 25 bis 30 Stunden entspricht<br />

oder doch entsprechen soll. Wenn<br />

davon 180 beisammen sind, hat man den<br />

Bachelor erworben, mit 300 den nächst<br />

höheren Abschluss, den Master. In Sonderfällen<br />

schließt sich die Promotion als<br />

dritte und letzte Stufe an.<br />

Das Studium als Weg zur Bildung, zur<br />

Selbsterfüllung oder Selbstverwirklichung,<br />

um hier die Schlagwörter der Achtundsechziger<br />

noch einmal zu gebrauchen,<br />

hat ausgedient. Humboldt, hört man in<br />

Deutschland überall, sei tot; hierzulande<br />

gewiss. Wer ihm begegnen will, muss nach<br />

Amerika gehen, nach Stanford beispielsweise,<br />

dessen langjähriger Präsident Gerhard<br />

Casper bis heute das Hohe Lied auf<br />

Humboldt singt. <strong>Die</strong> deutschen Bildungsmanager<br />

sind da anderer Meinung; sie halten<br />

sich an den BDI, der schon vor Jahren<br />

Präsidenten und Rektoren dazu aufgefordert<br />

hatte, sich selbst als Unternehmer, die<br />

Hochschule als Firma und die Studenten<br />

als Kunden zu betrachten. <strong>Die</strong> Wirtschaft<br />

schwört auf Praxisbezug, Output-Orientierung<br />

und Effizienz; sie wünscht sich eine<br />

gehorsame, keine skeptische Generation,<br />

karrierebewusste statt umweltbewusste<br />

Mitarbeiter und einen Nachwuchs, der<br />

sich für Produkte interessiert, deren Entstehung<br />

ihn nicht kümmert.<br />

<strong>Die</strong> Modularisierung, berichtet eine<br />

vom Universitätsbetrieb ernüchterte Studentin<br />

in einem Zeitschriftenbeitrag, verflache<br />

das Lehrangebot. Sie hemme, ja<br />

verhindere die Entwicklung zu intellektueller<br />

Selbstständigkeit: „Es gibt kaum noch<br />

Studierende, die ‚einfach so‘ in der Bibliothek<br />

stöbern (wenn sie denn überhaupt<br />

noch offen hat); denn es bleibt gerade<br />

noch Zeit, zielstrebig für das nächste Referat<br />

zu recherchieren.“ Wo früher thematisch<br />

breit gefächerte Seminare angeboten<br />

wurden, gebe es nur noch Spezialissima wie<br />

Metapherntheorie hier, Erzähltheorie dort.<br />

Insgesamt, so lautet das abschließende Urteil,<br />

habe sich Ängstlichkeit breitgemacht,<br />

die stets fragt: „Werde ich alle Belegpflichten<br />

in diesem Semester erfüllen können?<br />

Werde ich schnell genug durch das Studium<br />

kommen, um den Anforderungen<br />

des Arbeitsmarkts zu genügen?“<br />

Wer so etwas liest, wird einsehen, dass<br />

Humboldt wirklich tot ist. Doch warum<br />

sollte man darüber froh sein?<br />

Auch wenn es für ein Urteil über den<br />

Bologna-Prozess noch zu früh ist, zeichnet<br />

sich schon ab, dass die Reform ihr ehrgeizigstes<br />

Ziel, den Austausch zwischen Ländern<br />

und Kulturen zu befördern, nicht erreichen<br />

wird. <strong>Die</strong> „Mannigfaltigkeit der<br />

Situationen“, von der sich Humboldt den<br />

bildenden Effekt des Studiums versprochen<br />

hatte, wird von der einen Seite, den Hochschulen,<br />

nicht mehr geboten, auf der anderen,<br />

von Seiten der Studenten, nicht länger<br />

gesucht: Wozu wechseln und dabei noch<br />

Zeit verlieren, wenn man das durchnormierte<br />

Studium so schnell wie möglich hinter<br />

sich bringen kann und soll?<br />

Um Originalität und Neugier zu belohnen<br />

und den Wechsel attraktiv zu machen,<br />

müssten die Hochschulen ihre Eigenheiten<br />

pflegen, ihre Stärken bekannt machen<br />

und ihre Unterschiede herausstellen, also<br />

das tun, was unter dem Schlagwort Profilbildung<br />

läuft: Vielfalt ist besser als Einfalt,<br />

vor allem in der Wissenschaft. Sie hätten<br />

sich daran zu erinnern, dass die Universität<br />

europäischer Prägung neben allem anderen<br />

einen Bildungs- und Erziehungsauftrag<br />

hatte, und dass ihre Aufgabe darin<br />

besteht, die Studenten berufsfähig, nicht<br />

berufsfertig zu entlassen. Aber werden die<br />

auf Gleichförmigkeit eingeschworenen Bildungsmanager<br />

ihnen das erlauben?<br />

KONRAD A DAM<br />

ist Publizist und Fachmann für<br />

Bildungspolitik. Er schrieb unter<br />

anderen das Buch „<strong>Die</strong> alten<br />

Griechen“<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 57


Jahresrückblick<br />

Der schönste Blick zurück.<br />

<strong>Die</strong> wichtigen Ereignisse des Jahres, ausgewählt, analysiert und kommentiert von<br />

der Redaktion der Süddeutschen Zeitung – im großen Jahresrückblick 2012.<br />

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M E I N S C H Ü L E R | B E R L I N E R R E P U B L I K |<br />

„Wir waren seine Rettung“<br />

Er kam an ihre Schule, nachdem er zweimal sitzen geblieben war. C H R I STEL BR AUN, 88,<br />

war PEER ST EINBRÜC KS Lehrerin in Politik und Englisch an der Handelsschule am<br />

Lämmermarkt in Hamburg. 1968 schaffte der SPD-Kandidat dort den Abschluss<br />

„Steinbrück kam damals nach einer katastrophalen<br />

Unter- und Mittelstufe, für die er fünf oder<br />

sechs Jahre gebraucht hatte, zu uns auf das Wirtschaftsgymnasium.<br />

Wir waren angeblich die leichtere<br />

Schule, die Hälfte der Schüler waren vorher<br />

schlechte Gymnasiasten, die andere waren fleißige<br />

Realschüler. Bei uns wagten sie alle einen Neuanfang.<br />

Steinbrück hat sich das erst einmal angeguckt.<br />

In Englisch war er nicht so erfolgreich. Aber heute zeigt er ja in<br />

vielen finanzpolitischen Auseinandersetzungen, dass er das inzwischen<br />

kann. Reden konnte er damals tatsächlich schon gut. Das<br />

hat die Klasse teils beeindruckt, teils fanden sie ihn auch arrogant.<br />

Im Politikunterricht sollte sich jeder Schüler ein Printmedium<br />

heraussuchen und das besprechen. Steinbrück hat sich die<br />

Bild-Zeitung ausgesucht und sie ätzend kommentiert, wir haben<br />

also schon damals seine schrägen Bemerkungen erlebt. Ich habe<br />

im Unterricht damals auch Iring Fetschers Buch über Marx eingeführt.<br />

Steinbrück fand das im Gegensatz zu anderen Schülern<br />

Wahljahr 2013<br />

Der Countdown<br />

gut, glaube ich. Natürlich ist Steinbrück auch aufbrausend.<br />

Aber in der Schule hat er keine Schwierigkeiten<br />

gemacht. Erst hinterher habe ich erfahren,<br />

dass unsere Schule für ihn die Rettung war. Wir sind<br />

in Kontakt. Er schickte mir einen Brief und sagte,<br />

seine Frau würde heute einen ganz ähnlichen Unterricht<br />

machen wie ich damals. Das finde ich witzig,<br />

denn er kennt den Unterricht seiner Frau doch<br />

gar nicht. Sie setzt sich aber jedenfalls in der Ehe ordentlich durch,<br />

das erzählt er ja auch. Ich schicke ihm gerade ein Fontane-Gedicht.<br />

Was jetzt aus ihm geworden ist, ist mir eine große Befriedigung.<br />

Ich würde auch sagen, er ist ein guter Kanzlerkandidat. Wie gut<br />

er allerdings ein Kabinett leiten kann, ist die zweite Frage. Denn<br />

die Erfahrung in Nordrhein-Westfalen haben die Grünen noch<br />

nicht vergessen.“<br />

In einer <strong>Cicero</strong>-Serie zur Bundestagswahl spürt<br />

Constantin Magnis Lehrer unserer Spitzenpolitiker auf<br />

FOTO: PRIVAT<br />

Peer Steinbrück 1961, 14 Jahre alt, mit seiner Klasse am Gymnasium Uhlenhorst-Barmbek in Hamburg. Nach mehreren<br />

Schulwechseln kam er schließlich zu Christel Braun an die Staatliche Handelsschule am Lämmermarkt<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 59


| W E L T B Ü H N E<br />

JOHN OHNELAND<br />

Der Sprecher des US-Repräsentantenhauses ist kompromissbereit. Doch seine Partei lässt John Boehner nicht<br />

VON JACOB H EILBRUNN<br />

A<br />

MERIKAS KONSERVATIVE ähneln<br />

Tantalos. Jenem König aus der<br />

griechischen Mythologie, den<br />

die Götter für seine Freveltaten damit bestraften,<br />

dass er bis in alle Ewigkeit in einem<br />

Teich unter einem Obstbaum stehen<br />

musste, ohne je das Wasser trinken zu können<br />

oder an die Früchte zu gelangen. Beinahe<br />

so ergeht es den Republikanern im<br />

Jahr 2013. Obwohl sie Barack Obama als<br />

Sozialisten und Bolschewiken verunglimpften,<br />

der mit seinen Steuer- und Krankenversicherungsplänen<br />

Amerika zerstöre, und<br />

obwohl sie die Mehrheit im Repräsentantenhaus<br />

stellen, haben es die Tantalos’ unserer<br />

Zeit nicht vermocht, den Mann aus<br />

dem Weißen Haus zu vertreiben. Im Gegenteil.<br />

Obama, der mächtigste und gerissenste<br />

Präsident seit Ronald Reagan, treibt<br />

die Republikaner vor sich her. <strong>Die</strong> USA erleben<br />

eine Haushaltskrise, und die Republikaner<br />

erwartet dabei ein Debakel.<br />

Einer aber könnte vielleicht doch noch<br />

die Partei vor den extremen Rechten in den<br />

eigenen Reihen retten und zu einer gewissen<br />

Normalität zurückführen. John Boehner.<br />

Seit das Repräsentantenhaus die einzige<br />

Staatsgewalt ist, die noch von den<br />

Republikanern kontrolliert wird, ist dessen<br />

Sprecher zu Obamas großem Gegenspieler<br />

geworden. Und die Republikaner<br />

können heilfroh sein, ihn zu haben.<br />

Blickt man in Boehners Vergangenheit,<br />

würde man ihn als stockkonservativ<br />

bezeichnen. Im Vorfeld der Kongresswahlen<br />

1994 war er am Entwurf für den<br />

„Contract with America“ beteiligt, der dem<br />

Hitzkopf Newt Gingrich die Kontrolle<br />

über das Repräsentantenhaus verschaffte.<br />

1995 verteilte Boehner in den Parlamentsfluren<br />

Wahlkampfspenden der Tabaklobby<br />

an die Abgeordneten – was er heute, wie er<br />

versichert, zutiefst bereut. Es ist wie mit allen<br />

Revolutionären, die lange genug an der<br />

Macht sind, auch Boehner ist inzwischen<br />

Teil des Establishments geworden. Im Vergleich<br />

mit den jungen Konservativen heute,<br />

die ihn beständig attackieren, weil er bereit<br />

ist, Kompromisse mit dem Präsidenten einzugehen,<br />

wirkt Boehner geradezu gemäßigt.<br />

Boehner ist in Ohio als eines von zwölf<br />

Geschwistern aufgewachsen, eine katholische<br />

Familie mit deutschen Vorfahren. Bereits<br />

als Achtjähriger half John, die Kneipe<br />

zu putzen, die seine Eltern in Cincinnati<br />

betrieben. Er ist kein asketischer Fanatiker,<br />

sondern genießt das Leben, raucht, liebt<br />

Rotwein – Obama schenkte ihm jüngst<br />

zum Geburtstag einen guten Brunello –,<br />

und er ist stets braun gebrannt. Während<br />

der Wahlkampf um die Präsidentschaft lief,<br />

hat er darauf verzichtet, in der Öffentlichkeit<br />

seinen Lastern zu frönen, denn der<br />

Mormone Mitt Romney, der keinen Alkohol<br />

trinkt, sollte der Held der Konservativen<br />

sein. <strong>Die</strong> Republikaner im Repräsentantenhaus<br />

hofften, dass Romney ihre<br />

Pläne Wirklichkeit werden lässt: Steuerkürzungen<br />

für die Wohlhabenden, das Ende<br />

der Sozialversicherung und der Gesundheitsfürsorge.<br />

Doch dann siegte Obama –<br />

die Republikaner haben immer noch<br />

Mühe, das zu begreifen.<br />

NUN KOMMT ES zum Duell zwischen Boehner<br />

und Obama. Der Präsident hält an seinen<br />

Steuerplänen fest, und die Republikaner<br />

tun so, als seien Steuererhöhungen für<br />

die Reichsten unamerikanisch und gleichbedeutend<br />

mit der Versteigerung der Freiheitsstatue.<br />

So erklärte Boehner auf Fox<br />

News, dem Haussender der amerikanischen<br />

Rechten, dass er Obamas Steuerpläne<br />

für „Unsinn“ halte.<br />

Allerdings ist Boehners Empörung pures<br />

Theater. Er weiß genau, dass sein größter<br />

Feind nicht Barack Obama ist, sondern<br />

die Tea-Party-Republikaner, die die<br />

reine ideologische Lehre vertreten. Fast<br />

100 Kongressabgeordnete kommen aus der<br />

Tea-Party-Bewegung. Es sind diese Fanatiker,<br />

die Boehner zur Geisel ihrer Unbeugsamkeit<br />

machen können, wenn es um Kürzungen<br />

im Bundeshaushalt geht.<br />

Käme es auf ihn allein an, würde er<br />

sich schnell mit Obama einigen. Trotzdem<br />

täusche man sich nicht: Auch Boehner<br />

glaubt an das konservative Mantra, dass<br />

es in Amerika jeder schaffen kann. Schließlich<br />

hat es bei ihm funktioniert – er war der<br />

Erste seiner Familie, der studieren konnte.<br />

„Ich habe mein ganzes Leben dem amerikanischen<br />

Traum nachgejagt“, sagte er unter<br />

Tränen nach dem Sieg der Republikaner<br />

bei den Zwischenwahlen 2010. Nach<br />

seiner Lesart ist der amerikanische Traum<br />

gleichbedeutend mit Freiheit – der Freiheit,<br />

Reichtum und Einfluss zu erringen ohne<br />

Rücksicht auf den Preis, den andere dafür<br />

zahlen müssen. Mit dieser Philosophie hat<br />

es der Sprecher des Repräsentantenhauses<br />

weit gebracht: vom kleinen Jungen, der den<br />

Kneipenboden seiner Eltern wischt, zum<br />

Chef eines Verpackungsunternehmens und<br />

schließlich zu einem der einflussreichsten<br />

Politiker in Washington.<br />

Als solcher hat Boehner registriert,<br />

dass die jüngste Präsidentenwahl auch ein<br />

Volksentscheid über das Wahlprogramm<br />

seiner Partei war, das die Mehrheit im Land<br />

ganz entschieden ablehnte. Sollten die Republikaner<br />

nun tatsächlich Obamas Wirtschaftspolitik<br />

torpedieren, dann wird dies<br />

nicht mit der Demontage des Präsidenten,<br />

sondern der Republikaner selbst enden.<br />

Meinungsumfragen belegen, dass eine<br />

überwältigende Mehrheit der Amerikaner<br />

den Republikanern die Schuld am Scheitern<br />

der Verhandlungen um den Haushalt<br />

geben würde. Ungeachtet dessen könnten<br />

die Konservativen dennoch versucht sein,<br />

ihren niedersten Beweggründen zu erliegen.<br />

John Boehner wird verzweifelt versuchen,<br />

dieses Schicksal abzuwenden. Aber<br />

seine Partei wird ihn wohl nicht lassen. So<br />

könnte er sich als Führer ohne echte Gefolgschaft<br />

erweisen. Sollte es so kommen,<br />

verdiente er Mitleid und keine Häme.<br />

J A COB H EILBRUNN<br />

ist Senior Editor bei der<br />

amerikanischen Zeitschrift<br />

„National Interest“<br />

FOTOS: TOM WILLIAMS/CQ ROLL CALL/GETTY IMAGES, PRIVAT (AUTOR)<br />

60 <strong>Cicero</strong> 1.2013


John Boehner,<br />

Obamas<br />

Gegenspieler<br />

in Washington<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 61


| W E L T B Ü H N E<br />

DIE SCHOTTER-MIZZI<br />

Maria Fekter brachte es fast zur persona non grata in Brüssel. Was treibt Österreichs Finanzministerin?<br />

VON B ARBARA TÓTH<br />

E<br />

S WAR EINMAL ein hübsches und<br />

tüchtiges Mädchen aus der Provinz.<br />

Vorlaut und aufmüpfig war<br />

sie gelegentlich und fiel damit dem großen<br />

Landesfürsten auf, der sie in die Politik<br />

schickte.“ <strong>Die</strong>se Zeilen sandte Maria<br />

Fekter vor fast 20 Jahren dem Geschichtenerzähler<br />

Folke Tegetthoff, der Politiker um<br />

ein Märchen für einen Sammelband gebeten<br />

hatte. <strong>Die</strong> Oberösterreicherin, Tochter<br />

einer wohlhabenden Kieswerkdynastie,<br />

war damals noch Staatssekretärin für Tourismus,<br />

nichts weiter als ein „blondes Mädchen,<br />

das einen guten Eindruck machen<br />

und die Männerreihen behübschen“ sollte.<br />

Aber so wie ihr märchenhaftes Alter Ego<br />

sollte auch Fekter es einmal weit bringen.<br />

Seit April 2011 ist sie fast ganz oben angekommen<br />

in Österreichs Politik. Als erste<br />

Frau in der Geschichte des Landes lenkt die<br />

56-Jährige das Finanzministerium. Davor<br />

war sie Innenministerin, Koalitionskoordinatorin<br />

für ihre Partei, die christlich-soziale<br />

Volkspartei (ÖVP), Volksanwältin<br />

und langjährige Parlamentarierin. Dass<br />

ihr Name inzwischen auch in Deutschland,<br />

Frankreich und Italien ein Begriff<br />

ist, liegt weniger an ihrer Politik als an ihrer<br />

Art. Wie fabulierte sie damals? Hübsch<br />

und tüchtig sei sie, aber eben auch vorlaut<br />

und aufmüpfig.<br />

Beim EU-Gipfel Ende März in Kopenhagen<br />

etwa düpierte die Bürgerliche<br />

den Luxemburger Jean-Claude Juncker,<br />

als sie ausplauderte, wie hoch der Euro-<br />

Rettungsschirm aufgestockt werden soll.<br />

Er wäre ja nur böse, weil er an diesem Tag<br />

wegen eines Nierenleidens Bauchschmerzen<br />

gehabt habe, rechtfertigte sie sich hinterher<br />

– eine weitere Indiskretion. Italiens<br />

„Ich muss zu meiner Art stehen“<br />

Maria Fekter<br />

Ministerpräsidenten Mario Monti brachte<br />

sie im Juni aus der Fassung, als sie darüber<br />

spekulierte, dass sein Land bald „Hilfsunterstützungen“<br />

aus einem der Rettungsfonds<br />

benötigen könne. Kurz darauf<br />

nannte sie das Wirtschaftsprogramm des<br />

frisch gewählten französischen Präsidenten<br />

François Hollande „vorgestrigen Unfug“.<br />

Brüsseler Journalisten freuen sich über<br />

das schnellzüngige Enfant terrible. Europas<br />

Spitzenpolitiker versuchen die Plaudertasche<br />

höflich zu ignorieren. In ihrem<br />

Heimatland kommt Fekters muntere Bodenständigkeit<br />

hingegen gut an. Als sie<br />

nach einer EU-Krisensitzung sagte: „<strong>Die</strong><br />

Zeit, die wir uns gegeben haben, ist shortly.<br />

Und auf Ihre Frage, was das heißt, sage<br />

ich Ihnen: shortly, without von delay“,<br />

wurde ihr Austro-Bad-Englisch-Mix zum<br />

Youtube-Hit und Spruch des Jahres 2011.<br />

Nur als sie bei einem EU-Treffen in Polen<br />

darüber philosophierte, dass „wir gerade<br />

enorme Feindbilder gegen die Banken und<br />

die Reichen aufbauen. So was hatten wir<br />

schon einmal, damals verbrämt gegen die<br />

Juden … Es hat zwei Mal in einem Krieg<br />

geendet“ – da wurde es auch der österreichischen<br />

Presse zu steil. „Sie kann gewaltigen<br />

Unsinn reden“, urteilte das ihr sonst<br />

sehr gewogene Heimatblatt Oberösterreichische<br />

Nachrichten.<br />

Bereut sie ihre Aussagen? „Nein, ich<br />

muss zu meiner Art stehen“, antwortet sie.<br />

Und damit ist das Phänomen Fekter auch<br />

schon erklärt. Politiker, die den Brüsseler<br />

Bürokratensprech verinnerlicht haben,<br />

gibt es in Österreich genug. Da wirkt ein<br />

wenig Stegreifbühnencharme erfrischend.<br />

Dass Fekter ihre verbalen Fauxpas unbeschadet<br />

überstand, hat aber vor allem einen<br />

Grund: In Österreich stehen im kommenden<br />

Herbst Nationalratswahlen an, und dabei<br />

soll die Finanzministerin für die ÖVP<br />

ihre eigentliche Paraderolle spielen: die eiserne<br />

Lady.<br />

Ihren strengen Ruf hat sich die Ökonomin<br />

und promovierte Juristin schon<br />

Ende der neunziger Jahre erarbeitet, als<br />

sie als Justizsprecherin Homo-Ehe, Sex<br />

vor Erreichen des 16. Geburtstags und den<br />

ehelichen Seitensprung geißelte. Davor<br />

wurde sie noch als „Schotter-Mizzi“ belächelt.<br />

Schotter heißt auf österreichisch<br />

Kies, ist aber auch ein umgangssprachlicher<br />

Ausdruck für reichlich Geld. Und<br />

Mizzi ist eine Kurzform für Maria, aber<br />

auch ein anderes Wort für „Tussi“.<br />

Fekters große Stunde schlug, als sie<br />

2008 Innenministerin wurde. Aus der<br />

„Mizzi“ wurde die „Maria ohne Gnaden“,<br />

erst recht, als sie die Abschiebung des kosovarischen<br />

Flüchtlingsmädchens Arigona<br />

Zogaj mit den in Österreich berühmt gewordenen<br />

Worten rechtfertigte, sie könne<br />

sich von ihren „Rehleinaugen“ nicht beeindrucken<br />

lassen.<br />

<strong>Die</strong> Politikerin Fekter braucht offenbar<br />

die Polarisierung. Im anlaufenden österreichischen<br />

Wahlkampf tummeln sich bereits<br />

drei populistische Parteien rechts der<br />

Mitte, dort wo auch ihre ÖVP Stimmen<br />

holen muss. Sie alle setzen mehr oder weniger<br />

verbrämt auf Europakritik und Euro-<br />

Schelte. Ein paar Brüsseler Spitzen können<br />

da nicht schaden, und so müssen die Griechen<br />

für die Inszenierung der Finanzministerin<br />

herhalten – oder eben Juncker, Monti<br />

oder Hollande. <strong>Die</strong> eine oder andere Zugabe<br />

hat das Provinzmädl sicher auch für<br />

die Heimatbühne in petto.<br />

B ARBARA T ÓTH<br />

ist Publizistin und Historikerin<br />

und schreibt für die Wiener<br />

Wochenzeitung Der Falter<br />

FOTOS: GIANMARIA GAVA/ANZENBERGER, PRIVAT (AUTORIN)<br />

62 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Maria Fekter lässt<br />

gern mal eine<br />

Frechheit los – die<br />

Polarisierung gehört<br />

zu ihrer Strategie<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 63


| W E L T B Ü H N E<br />

PEKINGER ORIGINAL<br />

Tian Lipu ist Chinas höchster Schützer von Patentrechten. Welche Agenda er verfolgt, ist allerdings unklar<br />

VON B ERNHARD B ARTSCH<br />

W<br />

AS FÜR EINE BEGRÜSSUNG. Ein trister<br />

Pekinger Behördenbau, lange<br />

Korridore, eine Tür geht auf –<br />

und plötzlich schallt „Im Frühtau zu Berge“<br />

aus den Lautsprechern, und ein strahlender<br />

Chinese in Trachtenjacke schmettert<br />

dem Gast ein herzliches „Grüß Gott“ entgegen.<br />

Chinas Patentamtschef Tian Lipu,<br />

der Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer<br />

im April 2010 so empfing, wird gewusst<br />

haben, welchen Eindruck sein Auftritt<br />

auf den CSU-Politiker machen würde.<br />

Wie sollte ihm Seehofer nach einem solchen<br />

Willkommen noch böse sein?<br />

Dabei repräsentiert Tian einen Pekinger<br />

Machtapparat, auf den viele deutsche<br />

Unternehmen schlecht zu sprechen sind.<br />

Der 59-jährige Ingenieur ist Chinas höchster<br />

Wächter über geistige Eigentumsrechte,<br />

und damit auch verantwortlich, wenn Patente<br />

ausländischer Firmen in der Volksrepublik<br />

verletzt werden. Das kommt häufig<br />

vor, so häufig, dass China sich vorwerfen<br />

lassen muss, systematischen und staatlich<br />

sanktionierten Technologieklau zu betreiben.<br />

Tians Job ist es, diesen Vorwurf zu<br />

entkräften.<br />

Seine Aufgabe erfüllt er mit einer Mischung<br />

aus Charme und Unerbittlichkeit,<br />

wie er zuletzt Mitte November beim Parteitag<br />

der Kommunistischen Partei demonstrierte.<br />

Zwar räumte Tian ein, dass es in<br />

China beim Schutz geistigen Eigentums<br />

Probleme gebe, doch das Eingeständnis<br />

war nur der Auftakt für einen Gegenangriff.<br />

„Westliche Medien verzerren Chinas<br />

Image“, klagte er. Inzwischen sei der<br />

Patentschutz viel besser als sein Ruf: 2011<br />

seien in China 526 000 Erfindungen angemeldet<br />

worden, ein Fünftel mehr als im<br />

Vorjahr und 13 Mal so viel wie noch vor<br />

einem Jahrzehnt. Damit liege die Volksrepublik<br />

in der Rangliste innovativer Länder<br />

auf Platz vier. Außerdem bezahle kein<br />

Land der Welt mehr Geld für Lizenzen,<br />

etwa für Technologie, Software oder Fernsehprogramme.<br />

„Aber darüber spricht fast<br />

nie jemand“, beschwerte sich Tian. Statt<br />

China Vorhaltungen zu machen, solle man<br />

„Westliche Medien verzerren<br />

Chinas Image“<br />

Tian Lipu<br />

ihm lieber dankbar sein und ansonsten Zeit<br />

geben, sein System zu verbessern, schließlich<br />

befinde es sich auf dem richtigen Weg.<br />

Aber tut es das? So einleuchtend Tians<br />

Argumentation zunächst klingen mag, so<br />

geschickt umschifft sie die aus westlicher<br />

Sicht entscheidenden Fragen: Warum kann<br />

ein Land, das stolz auf sein hohes Entwicklungstempo<br />

ist und das Internet nahezu<br />

lückenlos überwacht, nicht mit der gleichen<br />

Geschwindigkeit und Effektivität den<br />

Schutz geistigen Eigentums verbessern?<br />

Denn allen Pekinger Rechtfertigungsreden<br />

zum Trotz sind Patentrechtsverletzungen<br />

nach wie vor ein grassierendes Problem.<br />

Das Spektrum reicht von imitierten Markenhandtaschen<br />

und kopierten DVDs bis<br />

zu gefälschten Arzneimitteln und nachgebauter<br />

Technologie. In einer Umfrage der<br />

Deutschen Handelskammer in China aus<br />

dem Jahr 2011 gaben 57 Prozent der Mitgliedsunternehmen<br />

an, Opfer von Copyrightverstößen<br />

geworden zu sein, 17 Prozent<br />

sogar wiederholt. Studien anderer<br />

Verbände kommen zu ähnlichen Ergebnissen.<br />

Der finanzielle Schaden lässt sich<br />

nur grob abschätzen. <strong>Die</strong> International<br />

Intellectual Property Alliance, ein Zusammenschluss<br />

amerikanischer Unterhaltungs-<br />

und IT-Konzerne, gibt an, dass<br />

ihren Unternehmen 2009 allein durch illegale<br />

Software Einnahmen von 3,5 Milliarden<br />

Dollar entgangen seien. Noch schwerer<br />

wiegt für viele Firmen allerdings, dass<br />

Chinas Zulassungsbehörden ihnen den Zugang<br />

zum chinesischen Markt häufig nur<br />

gewähren, wenn sie vorab Entwicklungsdetails<br />

offenlegen. <strong>Die</strong> Informationen, etwa<br />

über die Programmierung von Chips oder<br />

die Rezeptur von Medikamenten, würden<br />

dann an chinesische Konkurrenten weitergegeben<br />

und von diesen immer öfter sogar<br />

als Patente registriert, klagen ausländische<br />

Unternehmensvertreter.<br />

Man darf davon ausgehen, dass Tian<br />

all diese Probleme bestens kennt. Schließlich<br />

hat er sein gesamtes Berufsleben im<br />

chinesischen Patentrechtsapparat verbracht.<br />

Nach zwei Studienabschlüssen in Tianjin<br />

und Peking trat er 1981 in den <strong>Die</strong>nst der<br />

staatlichen Copyrightschützer und wurde<br />

in den folgenden Jahren mehrfach für längere<br />

Studienaufenthalte nach Deutschland<br />

geschickt. Unter anderem forschte er beim<br />

Patentamt in München, am europäischen<br />

Patentgerichtshof und am Max-Planck-Institut<br />

für ausländisches und internationales<br />

Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht.<br />

Zu Hause machte er schrittweise Karriere<br />

im Patentamt, bis er 2005 Direktor des<br />

State Intellectual Property Office und seiner<br />

rund 10 000 Mitarbeiter wurde. Ausländischen<br />

Besuchern erklärt Tian gerne,<br />

dass es in seiner Behörde ausgesprochen<br />

deutsch zugehe. Doch welche Agenda sie in<br />

Wirklichkeit verfolgt, bleibt unklar, Trachtenjacke<br />

hin oder her.<br />

B ERNHARD B ARTSCH<br />

lebt seit 1999 in Peking und<br />

ist dort freier Korrespondent<br />

FOTOS: SHENG JIAPENG/COLOR CHINA PHOTO/AP IMAGES, PRIVAT (AUTOR)<br />

64 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Tian Lipu begrüßt deutsche<br />

Gäste gerne mit einem<br />

fröhlichen „Grüß Gott“<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 65


| W E L T B Ü H N E | F R A N K R E I C H<br />

IM AUGE DES STURMS<br />

François Hollande ist mit großen Versprechungen<br />

gestartet. Nun ist der französische Präsident<br />

in der Wirklichkeit angekommen. Und<br />

die sieht weder für den Staatschef noch<br />

für sein Land vielversprechend aus<br />

VON JOHANNES WILLMS<br />

E<br />

INE DER STÄRKEN von François<br />

Hollande ist, dass er stets von denen<br />

unterschätzt wurde, die sich<br />

selbst überschätzen. Das gilt zumal<br />

für die „camarades“, die Genossen<br />

in der Parti Socialiste (PS). Seit<br />

dem Parteikongress von Épinay 1971 ist<br />

die PS ein Zweckbündnis von nichtkommunistischen<br />

Strömungen oder Clans, das<br />

sich François Mitterrand zur Eroberung<br />

der Macht schuf. <strong>Die</strong>se Genese prägt die<br />

Partei bis heute und ist ursächlich für ihr<br />

strukturelles Manko. Das äußert sich vor<br />

allem im Führungsanspruch der einzelnen,<br />

als „Elefanten“ bezeichneten, Clanführer.<br />

Hollande vermied es von Anfang an,<br />

sich einer dieser Strömungen anzuschließen.<br />

Stattdessen war er maßgeblich an der<br />

1985 gegründeten parteiinternen Bewegung<br />

„Transcourants“ beteiligt, die die<br />

Clan wirtschaft der PS zu überwinden<br />

suchte. Bislang vergebens. Seine Weigerung,<br />

sich zu einem der Fähnleinführer<br />

zu bekennen, wurde Hollande damit vergolten,<br />

dass er nie ein Ministeramt erhielt.<br />

Andererseits erwies sich seine parteiinterne<br />

Bindungslosigkeit als ideale Voraussetzung<br />

für die Übernahme der Parteiführung.<br />

In dem Amt gelang es Hollande<br />

nicht nur, die Partei trotz zweier Niederlagen<br />

in Präsidentschaftswahlen und ihrem<br />

sehr enttäuschenden Abschneiden bei<br />

den Wahlen zur Nationalversammlung<br />

im Juni 2002 zusammenzuhalten, sondern<br />

ihr auch neue Siegeszuversicht einzuflößen.<br />

<strong>Die</strong> fand ihre Bestätigung darin,<br />

dass die Sozialisten bei allen seither stattgefundenen<br />

Wahlen kontinuierlich Stimmen<br />

hinzugewannen.<br />

<strong>Die</strong>se Erfolge lassen sich zwar nicht allein<br />

dem Parteivorsitzenden zugutehalten.<br />

Deshalb verraten sie auch nicht, ob Hollande<br />

mehr ist als ein blasser Parteisoldat<br />

mit der Anmutung eines Präsidenten des<br />

Drogistenverbands, der dank seiner stets<br />

freundlichen Zuvorkommenheit lediglich<br />

den kleinsten gemeinsamen Nenner der<br />

divergierenden Parteiströmungen verkörperte.<br />

Eben darauf stellt der häufig zitierte<br />

Spott des innerparteilichen Widersachers<br />

Arnaud Montebourg ab, der Hollande als<br />

„flanby“, als Wackelpudding, charakterisierte.<br />

Tatsächlich scheint die Fähigkeit,<br />

im politischen Geschäft Härte zu zeigen,<br />

nicht zu den hervorstechenden Charaktereigenschaften<br />

Hollandes zu gehören. <strong>Die</strong><br />

aber wird er als Staatspräsident brauchen,<br />

wenn er das Amt für Frankreich erfolgreich<br />

ausüben will.<br />

66 <strong>Cicero</strong> 1.2013


François Hollande<br />

hat viel versprochen<br />

und bislang nur<br />

wenig gehalten<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 67


| W E L T B Ü H N E | F R A N K R E I C H<br />

Staatsschulden (in % des Bruttoinlandsprodukts)<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012<br />

Staatsausgaben (in % des Bruttoinlandsprodukts)<br />

60<br />

55<br />

50<br />

45<br />

40<br />

35<br />

1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011<br />

Nominales Bruttoinlandsprodukt (in %)<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

-2<br />

-4<br />

-6 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011<br />

Frankreich Spanien Deutschland<br />

Griechenland Italien Großbritannien<br />

Quelle: OECD<br />

Quelle: OECD<br />

Durchschnitt Eurozone<br />

2013*<br />

2013*<br />

2013*<br />

* Prognose<br />

*Prognose<br />

Von allen demokratisch legitimierten<br />

Staatschefs gebietet der unmittelbar vom<br />

Volk gewählte französische Präsident nach<br />

der Verfassung über die größte Machtfülle.<br />

So verfügt er über einen politischen Entscheidungsspielraum,<br />

der ihn von Parteien<br />

und Fraktionen unabhängig macht. Allein<br />

seine eigene Agenda und nicht ein Parteiprogramm<br />

oder gar ein Koalitionsvertrag<br />

ist die Vorgabe seines Handelns. Hollandes<br />

Wahlversprechen war ein Katalog<br />

von 60 Punkten, in denen allzu konkrete<br />

Festlegungen vermieden wurden. Außerdem<br />

enthielt dieses Dokument eine Reihe<br />

wohlfeiler Ankündigungen, die den Erwartungen<br />

der eigenen Klientel entsprachen,<br />

aber nichts dazu beitragen, der<br />

Frankreich drohenden Krise wirksam zu<br />

begegnen. Dazu gehört etwa die Einführung<br />

der Homo-Ehe, die Schaffung von<br />

Arbeitsplätzen für Jugendliche aus sozialen<br />

Brennpunkten auf Staatskosten oder die<br />

Einstellung von Lehrern, deren Mehrkosten<br />

durch nicht spezifizierte Einsparungen<br />

wieder ausgeglichen werden sollen. Anderes<br />

dürfte die Krise sogar verschärfen. Das<br />

gilt etwa für die Bekräftigung der Rente<br />

mit 60 oder der 35-Stunden-Woche, die<br />

ein riesiges Kontingent an Überstunden<br />

schafft, die abgefeiert werden müssen. Zu<br />

nennen wäre auch die unterdessen verabschiedete,<br />

auf zwei Jahre befristete Spitzensteuer<br />

von 75 Prozent, die 1<strong>500</strong> Bezieher<br />

von Jahreseinkommen von über einer<br />

Million Euro trifft. <strong>Die</strong>se Steuer soll dem<br />

Fiskus 210 Millionen Euro im Jahr einbringen,<br />

wird aber einen noch weit größeren<br />

Schaden stiften, weil sie Spitzenverdiener<br />

aus dem Land treibt. Zu den<br />

wahrhaft politischen Mätzchen des frisch<br />

gekürten Staatspräsidenten gehörte auch<br />

die nur für die Dauer der Ferienzeit verordnete<br />

Senkung des Benzinpreises um<br />

sechs Cent pro Liter.<br />

All dies wie auch der unterhaltsame Zickenkrieg,<br />

den Hollandes derzeitige Lebensgefährtin<br />

gegen dessen Ex Ségolène<br />

Royal anzettelte, trugen dazu bei, dass der<br />

Popularitätsbonus des neuen Präsidenten<br />

schneller und tiefer abstürzte als bei jedem<br />

seiner Amtsvorgänger. Das ließe sich<br />

ja verschmerzen, wäre dieser tiefe Fall in<br />

der Publikumsgunst die öffentliche Reaktion<br />

auf die Ankündigung von „Blut,<br />

Schweiß und Tränen“ gewesen. Zumal<br />

sich die Perspektiven Frankreichs als sehr<br />

prekär darstellen.<br />

FOTO: IAN LANGSDON/EPA/PICTURE ALLIANCE/DPA (SEITEN 66 BIS 67)<br />

68 <strong>Cicero</strong> 1.2013


INFOGRAFIKEN: KRISTINA DÜLLMANN (SEITEN 68 BIS 69)<br />

Den Befund belegen einige Zahlen und<br />

Vergleiche. 1981, als François Mitterrand<br />

Staatspräsident wurde, herrschte Konjunktur,<br />

war das Haushaltsdefizit klein und belief<br />

sich die Staatsverschuldung auf lediglich<br />

22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Außerdem<br />

besaß Frankreich noch den Franc,<br />

das bedeutete, das Land konnte Wettbewerbsnachteile<br />

gegenüber seinen ausländischen<br />

Handelspartnern durch Abwertung<br />

seiner Währung, die Exporte verbilligte,<br />

Importe aber verteuerte, leicht ausgleichen.<br />

Heute ist dieser Ausweg durch die<br />

Zugehörigkeit Frankreichs zur Eurozone<br />

versperrt, das Wirtschaftswachstum tendiert<br />

gegen null und droht in eine Rezession<br />

abzukippen. Das Haushaltsdefizit beläuft<br />

sich für 2012 auf rund 4,7 Prozent<br />

und liegt damit noch immer deutlich über<br />

dem Limit von 3 Prozent, das für die Eurozone<br />

als verbindlich festgelegt ist. Auch<br />

die Staatsverschuldung hat stark zugenommen<br />

und beträgt jetzt mehr als 90 Prozent<br />

des Bruttoinlandsprodukts.<br />

Allein unter der Präsidentschaft von<br />

Hollandes Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy<br />

wuchs dieser Schuldenberg nach Angaben<br />

des Internationalen Währungsfonds<br />

um rund <strong>500</strong> Milliarden Euro und überschreitet<br />

jetzt die Marke von 1900 Milliarden<br />

Euro. Ein privater Haushalt oder ein<br />

Unternehmen wäre angesichts einer solchen<br />

Verschuldung pleite. Nicht aber ein<br />

Staat, der sich, je nach Kreditwürdigkeit,<br />

schier unbegrenzt frisches Geld besorgen<br />

kann, allerdings in aller Regel nur zu steigenden<br />

Zinsen, die ihrerseits die Schuldenlast<br />

zusätzlich vergrößern. <strong>Die</strong>se Regel gilt<br />

für Frankreich trotz der Herabstufung seiner<br />

Kreditwürdigkeit durch zwei der drei<br />

großen Ratingagenturen noch nicht; das<br />

Land kann nach wie vor problemlos Kredite<br />

aufnehmen, deren Zinsen seit Hollandes<br />

Amtsantritt sogar gesunken sind und<br />

unterhalb der Inflationsrate im Euroraum<br />

liegen, die sich nach einer ersten Schätzung<br />

für 2012 auf 2,7 Prozent beläuft. Das kann<br />

sich jedoch plötzlich ändern, wenn die internationalen<br />

Finanzmärkte die wirtschaftlichen<br />

Aussichten Frankreichs als negativ<br />

bewerten.<br />

DIESEM BEFUND WILL Präsident Hollande zuvorkommen,<br />

indem er, wie von ihm angekündigt,<br />

binnen zwei Jahren Reformen verwirklicht.<br />

Davon ist bislang allerdings erst<br />

eine Maßnahme beschlossen worden: <strong>Die</strong><br />

Kapitalismus<br />

Das System des Kapitalismus funktioniert<br />

gut und sollte erhalten bleiben, sagen...<br />

(Angaben in %)<br />

65<br />

China<br />

55<br />

USA<br />

54<br />

Polen<br />

46<br />

Deutschland<br />

45<br />

Großbritanien<br />

26<br />

Italien<br />

15<br />

Frankreich<br />

Quelle: Ifop, 2010<br />

Unternehmen werden in den kommenden<br />

vier Jahren um 20 Milliarden Euro entlastet.<br />

Das soll Investitionsanreize schaffen. Problematisch<br />

ist allerdings die gewählte Form.<br />

Der Staat stundet ihnen Steuern, allerdings<br />

erst 2014 und mit einem großen bürokratischen<br />

Aufwand. Auch mittelständische Unternehmen<br />

sollen gezielt finanziell gefördert<br />

werden. Da aber die bloße Ankündigung<br />

noch keinen Wandel schafft, könnte sich die<br />

Zeitspanne von zwei Jahren als viel zu lang<br />

erweisen. Also gilt es, möglichst rasch umfassende<br />

und wirksame Reformen zu beginnen.<br />

Daran aber haperte es bislang entschieden,<br />

monierten zahlreiche Kritiker. Denen<br />

hielt Hollande bei der ersten Pressekonferenz<br />

seiner Präsidentschaft im November<br />

entgegen, Politik sei keine „Addition von<br />

Reformen, keine Buchhaltung von Versprechen,<br />

sondern eine kohärente Antwort auf<br />

die Erwartungen des Volkes“.<br />

Damit beschrieb er die Programmatik<br />

wie die Krux seines künftigen Handelns<br />

als Präsident, seine Entschlossenheit, nur<br />

Veränderungen anzupacken, die wenigstens<br />

nicht allzu viele Wähler enttäuschen. Dem<br />

entsprechen auch die ersten Ankündigungen,<br />

die anmuten, als solle ein Buschfeuer<br />

mit der Gießkanne gelöscht werden. Das<br />

erinnert andererseits an jene homöopathische<br />

Therapie, mit der es Hollande als Chef<br />

der PS gelang, die Partei zum Erfolg zu<br />

führen und für sich selber die Präsidentschaft<br />

zu erobern.<br />

Das rasch anwachsende Crescendo<br />

des Kritikerlärms, das seinen Vorgänger<br />

Sarkozy spürbar nervte und ihn zu einer<br />

stetig hektischeren Geschäftsführung provozierte,<br />

perlt an Hollande spurlos ab. Damit<br />

beweist er erneut die Stärke, die ihm<br />

die Präsidentschaft verschaffte, weil sie<br />

sich von der gleichermaßen ermüdenden<br />

wie erfolglosen Quirligkeit des Konkurrenten<br />

so deutlich abhob. Nicht weil sein<br />

Programm die Wähler überzeugte, wurde<br />

Hollande gewählt, sondern weil er ihnen<br />

verhieß, auch als Präsident „normal“ zu<br />

sein, sprich: freundlich, nett, berechenbar.<br />

Das und nicht das Versprechen auf wundersame<br />

Heilung aller Leiden Frankreichs<br />

war auch der Sinngehalt seines Wahlslogans:<br />

„Le changement, c’est maintenant“,<br />

unter dem man wohl einen Wandel verstehen<br />

soll, der sich über die gesamte Zeit seiner<br />

Präsidentschaft erstreckt.<br />

SOLCHE GEMÄCHLICHKEIT verheißt nicht<br />

Revolution, mit der die Franzosen seit<br />

bald 225 Jahren reiche, aber auch sehr<br />

gemischte Erfahrungen gemacht haben,<br />

sondern behutsame Evolution, die als verständiger<br />

Geburtshelfer zu begleiten sich<br />

Hollande weder durch die Kritiker noch<br />

durch die Märkte stören lassen will. In diesem<br />

Vorsatz unterscheidet sich Hollande<br />

im Übrigen auch nicht allzu sehr von Angela<br />

Merkel, wie hierzulande gerne gemutmaßt<br />

wird, denn die behauptet ihre<br />

Macht keineswegs durch kühne Reformen,<br />

wegen deren Durchsetzung ihr Vorgänger<br />

das Amt verlor, sondern ebenfalls durch<br />

eine sich nach allen Seiten und Interessen<br />

absichernde Moderation.<br />

Ob Hollande aber wie Merkel trotz aller<br />

Verbindlichkeit auch unnachgiebige Härte<br />

zeigen kann, muss sich noch erweisen. Einen<br />

ersten Test auf europäischer Ebene hat<br />

er jedenfalls nicht bestanden. Das von ihm<br />

im Wahlkampf wiederholt abgelegte Versprechen,<br />

Europa vor dem „Spardiktat“ zu<br />

retten, auf dem die deutsche Kanzlerin beharrt<br />

und das von ihr als Allheilmittel für<br />

die Eurokrise ausgegeben wird, hat er einfach<br />

kassiert. Stattdessen ratifizierte er den<br />

europäischen Fiskalpakt und irritierte so<br />

die Parteilinke. Möglich jedoch, dass das<br />

nur ein taktisches Zugeständnis war, um<br />

das Pulver vor der anstehenden wichtigeren<br />

Schlacht über die Verabschiedung des<br />

EU-Haushalts für die kommenden Jahre<br />

nicht zu verschießen. Fast die Hälfte der<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 69


| W E L T B Ü H N E | F R A N K R E I C H<br />

Arbeitslosigkeit (in %)<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12<br />

Arbeitsproduktivität in der Gesamtwirtschaft (in %)<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

-2<br />

-4<br />

-6<br />

1999<br />

Frankreich<br />

Griechenland<br />

Quelle: OECD<br />

2001<br />

2003<br />

Spanien<br />

Italien<br />

2005<br />

Deutschland<br />

Großbritannien<br />

europäischen Haushaltsmittel kommt als<br />

Subventionen der Landwirtschaft zugute.<br />

In der rangiert Frankreich zwar in der Weltspitze,<br />

wird aber dennoch wie stets darauf<br />

beharren, auch weiterhin den größten<br />

Batzen der EU-Agrarmarktförderung einzustreichen.<br />

Merkel wird Hollande kaum<br />

etwas entgegenhalten können, denn der<br />

deutsche „Nährstand“ wird ebenfalls von<br />

den Brüsseler Subventionen bis zum Umfallen<br />

gemästet.<br />

HÄRTE WIRD HOLLANDE brauchen, wenn er<br />

die große Herausforderung seiner Präsidentschaft,<br />

die französische Wirtschaftsund<br />

Finanzkrise, meistern will. Hier plagt<br />

ihn allem Anschein nach ein Handicap,<br />

das er trotz seiner präsidialen Machtfülle<br />

nicht ignorieren kann: die französischen<br />

Sozialisten, die ihre ideologische, intellektuelle<br />

und strategische Neuaufstellung<br />

bislang vermieden haben, weshalb von ihnen<br />

jeglicher Marktliberalismus als kapitalistische<br />

Teufelei abgelehnt wird. <strong>Die</strong>ses<br />

2007<br />

2009<br />

2011<br />

Durchschnitt Eurozone<br />

*Prognose<br />

2013*<br />

* Prognose<br />

Credo personifiziert in der Regierung ein<br />

junger Mann wie Ar naud Montebourg, der<br />

als „Ministre du Redressement productif“<br />

ausgerechnet für die Rettung der französischen<br />

Wirtschaft und Industrie zuständig<br />

ist. Nicht nur marktliberale Hollande-Kritiker<br />

sehen in Montebourg den sprichwörtlichen<br />

Bock, der zum Gärtner gemacht<br />

wurde. So viel Rücksichtnahme auf den<br />

eigenen politischen Verein legt den Eindruck<br />

nahe, dass der Präsident noch immer<br />

von den therapeutischen Reflexen seines<br />

früheren Selbst als Parteichef geplagt wird.<br />

Eine konsistente Antwort auf die Herausforderungen<br />

durch die Krise, der sich<br />

Frankreich gegenübersieht, beschränkt sich<br />

aber nicht nur darauf, das finanzielle und<br />

wirtschaftliche Soll und Haben auszugleichen;<br />

eine solche Antwort verlangt vor allem<br />

auch eine Redimensionierung, sprich:<br />

eine der Wirklichkeit entsprechende<br />

Schrumpfung des eigenen Selbstbilds.<br />

Frankreich ist eine europäische Mittelmacht,<br />

die sich aber immer noch gerne als<br />

Weltmacht geriert, ohne auch nur annähernd<br />

die Bedeutung oder die Mittel zu haben,<br />

diesem Anspruch Geltung zu verschaffen.<br />

Auch Hollande hat unlängst diesem<br />

Affen Zucker gegeben, als er eine Intervention<br />

im syrischen Bürgerkrieg aufwarf.<br />

Das aber sind nur Glasperlenspiele, von<br />

denen ein französischer Präsident traditionell<br />

nicht lassen kann. Anlass zu Bedenken<br />

gibt diese Haltung jedoch, projiziert<br />

man sie auf den Horizont der angestrebten<br />

europäischen Einigung. <strong>Die</strong> könnte<br />

schlicht daran scheitern, dass Frankreich<br />

kein Stück seiner Souveränität preisgeben<br />

will, weil diese mit dem Selbstbild der eigenen<br />

Größe identisch ist.<br />

Eine andere, ebenfalls sehr schwierige<br />

Aufgabe, die sich dem Krisenmanagement<br />

Hollandes stellt, ist die Beschneidung des<br />

auswuchernden und seit langem eingelebten<br />

französischen Etatismus, der das reichlich<br />

prosaische Gerüst für das vielbewunderte<br />

Savoir-vivre ist. Weit mehr als in<br />

vergleichbaren anderen Ländern wird in<br />

Frankreich das Lebensglück des Einzelnen<br />

wie das Wohlergehen von Produktionszweigen,<br />

Gewerkschaften, Berufsgruppen,<br />

Familien, Verbänden und Vereinen durch<br />

staatliche Vorgaben und Transferleistungen<br />

beeinflusst und geregelt. Der Geldwert aller<br />

dieser zumeist als selbstverständlich betrachteten<br />

Aufwendungen summiert sich<br />

zu der wahrhaft immensen Staatsquote von<br />

rund 57 Prozent am jährlich erwirtschafteten<br />

Bruttosozialprodukt und schlägt sich<br />

nieder in einem riesigen Heer von Beamten<br />

– jeder vierte Erwerbstätige arbeitet für<br />

den Staat –, die mehrheitlich zu den treuesten<br />

Wählern der Sozialisten zählen.<br />

Insbesondere das französische Sozialstaatsmodell<br />

gilt als unantastbar. Dessen<br />

Reform wird der Präsident den Franzosen<br />

geduldig als notwendige Voraussetzung dafür<br />

erklären müssen, wenn sie sich auch unter<br />

den Zwängen der Globalisierung das Savoir-vivre<br />

in Gallien bewahren wollen. Das<br />

verlangt gewiss viel Fingerspitzengefühl und<br />

auch eine Leidenschaft für Pädagogik. Eigenschaften,<br />

die man François Hollande<br />

eher zutrauen kann als reformerischen Willen.<br />

Den muss er erst noch beweisen.<br />

JOHANNES WILLMS<br />

befasst sich seit vielen Jahren<br />

publizistisch mit Frankreichs<br />

Gegenwart und Geschichte<br />

FOTO: VERLAG C. H. BECK; INFOGRAFIKEN: KRISTINA DÜLLMANN<br />

70 <strong>Cicero</strong> 1.2013


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| W E L T B Ü H N E | I S R A E L<br />

DIE SIEBEN IRRTÜMER<br />

Im Januar wählt Israel ein neues Parlament. Unabhängig davon, wer die Wahlen<br />

gewinnen wird: <strong>Die</strong> Regierung wird sich endlich den Realitäten stellen müssen<br />

VON JUDITH H ART<br />

Irrtum 1: Durch eine<br />

militärische Intervention<br />

lässt sich Frieden schaffen<br />

Ist die Hamas nun gestärkt oder geschwächt<br />

aus der jüngsten militärischen<br />

Auseinandersetzung hervorgegangen? Experten<br />

inner- und außerhalb Israels sind<br />

sich über diese wesentliche Frage keineswegs<br />

einig, und das aus einem einfachen<br />

Grund: Seit mehr als zwei Jahrzehnten<br />

ficht Israel keine Kriege mit regulären<br />

Armeen aus. Stattdessen muss es sich mit<br />

dem organisierten Widerstand einer Zivilbevölkerung<br />

auseinandersetzen oder<br />

mit hochgerüsteten und gut ausgebildeten<br />

Milizen wie der Hisbollah im Südlibanon<br />

oder dem bewaffneten Flügel der<br />

Hamas in Gaza. <strong>Die</strong>se Milizen führen<br />

ihre Angriffe mit Bedacht aus dicht besiedelten<br />

Gebieten heraus, was Israels Armee<br />

die Kriegsführung erschwert. Asymmetrische<br />

Kriege gegen nicht reguläre<br />

Kämpfer aber – das lernen die USA und<br />

ihre Verbündeten in Afghanistan –, sind<br />

nicht wirklich zu gewinnen. <strong>Die</strong> potenziellen<br />

politischen Schäden jedoch sind<br />

enorm, so war das auch nach der Gaza-<br />

Intervention von 2008/2009. Hatte Israel<br />

wegen des andauernden Raketenbeschusses<br />

durch die Hamas anfangs noch einige<br />

Sympathien auf seiner Seite, verlor es<br />

diese, je länger die Bodenoffensive dauerte<br />

und immer mehr Palästinenser starben. Israel<br />

kann, und das ist wesentlicher Bestandteil<br />

der Sicherheitsdoktrin des Landes,<br />

ein gewisses Maß an Abschreckung<br />

aufrechterhalten, um damit den radikalen<br />

Milizen zu signalisieren, dass es Aggressionen<br />

nicht hinzunehmen bereit ist. Aber es<br />

kann keine Kriege entscheiden und so als<br />

Sieger einen Frieden erzwingen.<br />

Irrtum 2: <strong>Die</strong> Zeit spricht<br />

für Israel<br />

<strong>Die</strong> Haltung des israelischen Regierungschefs<br />

Benjamin Netanjahu könnte man in<br />

etwa so umschreiben: Solange die Palästinenser<br />

nicht bereit sind, auf Maximalforderungen<br />

wie das Rückkehrrecht für die<br />

heute etwa 3,7 Millionen palästinensischen<br />

Flüchtlinge beziehungsweise deren<br />

Nachkommen in bereits dritter und vierter<br />

Generation zu verzichten, solange damit<br />

faktisch das Existenzrecht Israels infrage<br />

gestellt wird, weil mit einer Rückkehr<br />

der Flüchtlinge eine jüdische Mehrheit im<br />

Staat Israel nicht mehr gewährleistet wäre,<br />

solange muss man den Konflikt eher „managen“<br />

als lösen.<br />

Nun ist der israelisch-palästinensische<br />

Konflikt sicherlich nicht das wichtigste<br />

Problem in der Region – das ist<br />

eher die Unfähigkeit arabischer Regierungen,<br />

korruptionsfrei zu regieren oder<br />

etwa zukunftsfähige Ökonomien aufzubauen.<br />

Aber ein Anhalten des Konflikts<br />

destabilisiert den Nahen Osten. <strong>Die</strong><br />

Lage in der Region entwickelt sich ohnehin<br />

nicht gerade zum Vorteil Israels.<br />

In Ägypten regieren Islamisten – ob sie<br />

den strategisch für Israel äußerst wichtigen<br />

Friedensvertrag auf Dauer respektieren<br />

werden, ist ungewiss. Syrien zerfällt in<br />

einem schon Monate währenden Bürgerkrieg,<br />

der auch Jordanien und den Libanon<br />

destabilisieren könnte. Auf palästinensischer<br />

Seite schrumpft die Gruppe jener,<br />

die eine Zwei-Staaten-Lösung anstreben.<br />

Und in Europa verliert selbst Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel die Geduld mit einem<br />

Regierungschef, dem offensichtlich<br />

jegliche strategische Weitsicht fehlt und<br />

der bislang mit keiner Idee aufgefallen ist,<br />

wie man wieder zu aussichtsreichen Verhandlungen<br />

mit den Palästinensern kommen<br />

könnte. Natürlich ist der Weg zu einer<br />

Zwei-Staaten-Lösung – deren Ziele im<br />

Übrigen längst vorgezeichnet sind – nicht<br />

leicht. Aber sie ist die einzige Möglichkeit,<br />

Israel als jüdischen und demokratischen<br />

Staat zu erhalten.<br />

Aussitzen ist also auf Dauer keine<br />

Option.<br />

Irrtum 3: Ein Waffengang<br />

gegen den Iran wird dessen<br />

Atomträume vernichten<br />

Kardash, Arak und Fordo sind die <strong>wichtigsten</strong><br />

Anlagen des Iran, in denen Uran bis<br />

zur Waffenfähigkeit angereichert werden<br />

könnte. Sie sind quer über den Iran verteilt<br />

oder wie im Fall Fordos unter dicken Gesteinsschichten<br />

versteckt. Ein Militärschlag<br />

der israelischen Armee müsste nicht nur<br />

72 <strong>Cicero</strong> 1.2013


politisch bestens vorbereitet sein – schließlich<br />

müssen auf dem Weg in den Iran Überflugrechte<br />

von Ländern eingeholt werden,<br />

die man nicht gerade als „befreundet“ bezeichnen<br />

kann. Er müsste zudem äußerst<br />

schnell und sehr präzise geführt werden,<br />

um die Zahl der Opfer gering zu halten<br />

und um möglichst wenig politischen Schaden<br />

anzurichten. Dass der Iran nach einem<br />

Militärschlag die Straße von Hormuz und<br />

damit den Persischen Golf sperrt, ist keineswegs<br />

ausgeschlossen. Zudem könnte die<br />

mit dem Iran verbündete Hisbollah Terroranschläge<br />

verüben. Wohl am <strong>wichtigsten</strong><br />

aber ist: Israel verfügt gar nicht über<br />

die militärische Ausrüstung, um Anlagen<br />

wie Fordo wirksam zu zerstören. <strong>Die</strong> israelische<br />

Luftwaffe, die nur kleinere Kampfflugzeuge<br />

besitzt, kann keine sogenannten<br />

„Bunker Busters“ transportieren. <strong>Die</strong> aber<br />

benötigt man, um die dicken Gesteinsschichten<br />

zu durchdringen. Selbst wenn<br />

Israel sehr präzise zuschlägt und die politischen<br />

Folgewirkungen minimieren kann,<br />

wäre Irans Atomprogramm höchstens um<br />

einige Jahre zurückgeworfen, aber nicht<br />

beendet. So überrascht es kaum, dass sich<br />

fast das gesamte Sicherheitsestablishment<br />

Israels offen gegen eine militärische Lösung<br />

ausgesprochen hat.<br />

Irrtum 4: Innenpolitische<br />

Lösungen haben bis zu einer<br />

Friedenslösung Zeit<br />

Tausende Israelis campierten im Sommer<br />

2011 auf dem Tel Aviver Rothschild-<br />

Boulevard, um gegen unerschwingliche<br />

Immobilienpreise im Kernland Israels zu<br />

protestieren. Auch wenn die Aktion nach<br />

einigen Wochen langsam an Kraft verlor,<br />

sind wesentliche Probleme immer noch<br />

aktuell. Nur etwa 60 Prozent der arbeitsfähigen<br />

Bevölkerung Israels tragen wesentlich<br />

zum Bruttosozialprodukt und<br />

Steueraufkommen des Landes bei. Zwei<br />

der am schnellsten wachsenden Gruppierungen<br />

– die arabischen Israelis und die<br />

Ultraorthodoxen – sind die Sorgenkinder<br />

der Gesellschaft.<br />

Arabische Staatsbürger machen etwas<br />

mehr als 20 Prozent der Bevölkerung aus.<br />

Sie sind im Durchschnitt immer noch<br />

schlechter ausgebildet, verdienen weniger<br />

und sind weniger produktiv – und das ist<br />

nicht nur der zweifelsohne vorhandenen<br />

Diskriminierung durch jüdische Israelis geschuldet,<br />

sondern beispielsweise auch der<br />

Benachteiligung von Frauen in der arabischen<br />

Gesellschaft. Ultraorthodoxe Juden<br />

erkennen den Staat Israel formal nicht an,<br />

sie leisten keinen Militärdienst – eine Gesetzesreform,<br />

die dies ändert, wird gerade<br />

erst durchgesetzt –, und sie empfangen<br />

den größten Teil der Transferleistungen<br />

des Staates. <strong>Die</strong> meisten ultraorthodoxen<br />

Männer arbeiten nicht, sondern studieren<br />

in Religionsschulen. Dass diese Gruppe<br />

weiterhin subventioniert wird, dafür sorgt<br />

die komplizierte Koalitionspolitik in Israel.<br />

Bislang haben es ultraorthodoxe Parteien<br />

immer geschafft, als Zünglein an der<br />

Waage zu fungieren und damit ihre Privilegien<br />

zu schützen.<br />

Und damit sind nur die wirtschaftlichen<br />

Probleme angesprochen. Der Beteiligung<br />

religiöser Parteien in fast allen Regierungskoalitionen<br />

ist zu verdanken, dass<br />

sich Paare immer noch nicht zivilrechtlich<br />

trauen oder scheiden lassen können – sehr<br />

zum Verdruss der Säkularen, die nicht nur<br />

Militärdienst leisten, sondern auch für die<br />

Transferleistungen an die Ultraorthodoxie<br />

aufkommen müssen.<br />

So ungeklärt wie das Verhältnis von<br />

Staat und Religion in einem eigentlich säkularen<br />

Staat blieb auch der Platz der arabischen<br />

Bürger innerhalb eines jüdischen<br />

Staates. Ohne Frage: Arabische Bürger Israels<br />

genießen größere Freiheiten und<br />

ILLUSTRATION: JULIAN RENTZSCH<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 73


| W E L T B Ü H N E | I S R A E L<br />

besseren sozialen Schutz als die Bürger der<br />

meisten arabischen Staaten. Je weiter ein<br />

Abkommen mit den Palästinensern in die<br />

Ferne rückt, desto schwächer aber wird<br />

auch die Loyalität, die israelische Araber<br />

dem Staat gegenüber empfinden, dessen<br />

Bürger sie sind. Israel wird ein Staat bleiben,<br />

in dem Raum sein muss für höchst<br />

verschiedene Erzählungen – denn was für<br />

jüdische Israelis der „Unabhängigkeitstag“<br />

und damit Grund für Feiern und Jubel ist,<br />

bleibt für die meisten Araber ein „Tag der<br />

Katastrophe“.<br />

Sollen sich die Friktionen innerhalb<br />

der israelischen Gesellschaft nicht weiter<br />

verstärken, dann können Reformen, dann<br />

kann eine Neuordnung des Verhältnisses<br />

von Staat und Religion und ein klareres<br />

Bekenntnis zum Staat Israel als „Staat für<br />

all seine Bürger“ nicht auf einen Friedensschluss<br />

warten.<br />

Irrtum 5: Israel steht<br />

wirtschaftlich super da<br />

Im Vergleich zu den Ländern der Region –<br />

inklusive der Türkei – ist Israel eine echte<br />

und durchaus beneidete Ausnahmeerscheinung.<br />

Es gehört zu den 15 innovativsten<br />

Ländern mit den meisten genehmigten Patenten<br />

der Welt; es verfügt bei nur acht<br />

Millionen Einwohnern über ein Bruttoinlandsprodukt<br />

von knapp 30 000 Dollar<br />

pro Kopf. Zum Vergleich: Ägyptens BIP<br />

pro Kopf beträgt 3000 Dollar, Jordaniens<br />

5100 Dollar, das der Türkei liegt bei<br />

knapp 12 000 Dollar, und selbst das ölreiche<br />

Saudi-Arabien kommt nur auf knapp<br />

22 000 Dollar.<br />

Aber diese Durchschnittswerte verdecken<br />

einige ernsthafte Probleme der israelischen<br />

Volkswirtschaft: Der Großteil der<br />

Patente stammt aus der Computer- und<br />

Elektroindustrie, der größte Teil des seit<br />

Jahren bei mehr als 3 Prozent liegenden<br />

Wirtschaftswachstums ist Israels Hightechund<br />

Biotech-Industrie geschuldet; diese<br />

aber sind Know-how-, nicht jobintensiv.<br />

Sie bieten hervorragende Karriere- und<br />

Verdienstmöglichkeiten für Hochqualifizierte,<br />

aber wenige für Geringqualifizierte.<br />

Kein Wunder, dass das einstmals äußerst<br />

egalitäre Israel mittlerweile einen der<br />

höchsten Gini-Koeffizienten aufweist, der<br />

die Kluft zwischen Arm und Reich misst.<br />

Neben China und den USA gehört Israel<br />

inzwischen zu den Ländern, in denen die<br />

Ungleichheit am größten ist.<br />

Irrtum 6: Siedlungen sind<br />

der Garant für Sicherheit<br />

Als Faustpfand waren sie zunächst gedacht.<br />

Bereits nach dem Sechstagekrieg befürwortete<br />

die von der Arbeiterpartei geführte Regierung<br />

den Bau von „Wehrdörfern“, vor<br />

allem im Jordantal, um eine Infiltration palästinensischer<br />

Terroristen aus Jordanien zu<br />

verhindern. Sollte die arabische Seite für einen<br />

Frieden bereit sein, das war die Überlegung,<br />

könnte man diese Siedlungen wieder<br />

räumen. In den späten siebziger Jahren<br />

und unter der Führung der rechten Likud-<br />

Regierung wurde aus dem sicherheitspolitischen<br />

Unterfangen ein ideologisches. Siedlungen<br />

wurden in direkter Nähe zu großen<br />

arabischen Städten errichtet – wie Beit El<br />

nahe Ramallah, Kiryat Arba bei Hebron<br />

oder Elon Moreh bei Nablus. <strong>Die</strong>se Siedlungen<br />

waren dazu gedacht, eine Rückgabe<br />

des ursprünglichen biblischen Landes<br />

„Judäa und Samaria“ zu erschweren,<br />

wenn nicht zu verhindern.<br />

Käme es heute zum Friedensschluss, so<br />

würde ein Großteil der Siedlungen gegen<br />

einen fairen Landaustausch dem Kernland<br />

Israel zugeschlagen werden. So ist es in den<br />

„Clinton Parameters“ aus dem Jahr 2000<br />

festgehalten, und so sieht es auch die Genfer<br />

Initiative vor, auf die sich israelische<br />

und palästinensische Politiker informell<br />

im Jahr 2003 einigten. Was die Siedlungen<br />

betrifft, die außerhalb dieser Kordons<br />

liegen, so würde sich ein Großteil der<br />

nichtideologischen Siedler nicht gegen eine<br />

Räumung wehren, sollten ihnen Entschädigungen<br />

und Ersatz für ihre Häuser angeboten<br />

werden. <strong>Die</strong> meisten von ihnen sind<br />

nur wegen des subventionierten billigeren<br />

Wohnraums in besetztes Gebiet gezogen.<br />

Doch inzwischen hat sich in zweiter Generation<br />

ein Kern radikaler Siedler vor allem<br />

in Kiryat Arba, Elon Moreh oder Beit El<br />

gebildet, der sich einer Räumung mit allen<br />

politischen, wenn nicht sogar gewaltsamen<br />

Mitteln widersetzen würde. Das Argument,<br />

Israel habe bei seinem Rückzug aus dem Sinai<br />

1981 und aus dem Gaza streifen 2005<br />

ja schon Siedlungen erfolgreich geräumt,<br />

zählt für sie nicht. Weder der Gazastreifen<br />

noch die Sinai-Halbinsel haben die historische<br />

und religiöse Bedeutung der West<br />

Bank – für die religiöse Rechte ist dieses<br />

Land das biblische Judäa, in dem sich die<br />

historischen Stätten der Bibel und damit<br />

die „Wiege des Judentums“ befinden.<br />

Israel hat mit dem Ausbau der Siedlungen,<br />

der vor allem nach den Osloer Verträgen<br />

von 1993 immer schneller gesteigert<br />

wurde, nicht nur das Vertrauen aufs Spiel<br />

gesetzt, es meine es ernst mit der Formel<br />

„Land für Frieden“. Es hat Milliarden Euro<br />

in dieses Unterfangen investiert und damit<br />

Transferleistungen an die Siedler in schwindelerregender<br />

Höhe ermöglicht – wie viel<br />

Geld Israel genau ausgegeben hat, ist unmöglich<br />

festzustellen, da Kosten für Infrastruktur,<br />

Bau, Schutz durch das Militär und<br />

vieles mehr über die Jahrzehnte in verschiedenen<br />

Ministerien verankert wurden. Israelische<br />

Regierungen haben dadurch überdies<br />

die Entstehung einer ideologischen Siedlerbewegung<br />

gefördert, die im Zweifelsfall<br />

bereit wäre, sich über die Beschlüsse einer<br />

demokratisch gewählten Regierung hinwegzusetzen,<br />

und sich damit selbst ein Hindernis<br />

für den Frieden geschaffen.<br />

ILLUSTRATION: JULIAN RENTZSCH; FOTO: ANDREJ DALLMANN<br />

74 <strong>Cicero</strong> 1.2013


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<strong>Cicero</strong> im Probeabo<br />

Irrtum 7: Israel kann es sich<br />

leisten, auf europäische<br />

Bündnispartner zu verzichten<br />

Am Ende waren es nur noch die USA, Kanada<br />

und Tschechien unter den westlichen<br />

Ländern und politische Schwergewichte<br />

wie Palau, Nauru und Mikronesien, die mit<br />

Israel gegen eine Anerkennung Palästinas<br />

als Staat mit Beobachterstatus in den Vereinten<br />

Nationen stimmten. Deutschland<br />

hat sich enthalten, die meisten anderen<br />

europäischen Staaten haben für eine Anerkennung<br />

gestimmt. Israels Premier Netanjahu<br />

zeigte sich über das Abstimmungsverhalten<br />

der Bundesrepublik verstimmt.<br />

Dass vor allem die Westeuropäer stramm<br />

und einseitig propalästinensisch seien, das<br />

halten ein großer Teil der israelischen Bevölkerung<br />

und die rechte Koalition unter<br />

Netanjahu ohnehin für ausgemacht.<br />

Kann man deshalb auf sie verzichten<br />

und sich hauptsächlich auf die USA stützen,<br />

die auch schon manch einseitige Resolution<br />

im UN-Sicherheitsrat mit einem<br />

Veto gekippt haben? Wohl nicht. Europa<br />

ist immer noch der größte Handelspartner<br />

Israels, knapp 35 Prozent der israelischen<br />

Importe stammen aus der EU, etwas mehr<br />

als 26 Prozent seiner Exporte gingen 2010<br />

nach Europa.<br />

Wichtiger aber ist: Nicht nur für eine<br />

Friedenslösung braucht Israel neben den<br />

USA die Unterstützung der Europäer, die<br />

seit Jahrzehnten einen erheblichen Anteil<br />

an der infrastrukturellen Aufbauarbeit in<br />

den palästinensischen Gebieten leisten –<br />

und sich durchaus auch für Sicherheitsarrangements<br />

im Fall eines Rückzugs engagieren<br />

sollten. Israel braucht Europa auch,<br />

um sein größtes strategisches Problem lösen<br />

zu können: eine nukleare Aufrüstung<br />

des Iran zu verhindern. Durch einen militärischen<br />

Alleingang wäre das nämlich<br />

nicht zu schaffen (siehe oben). Dafür bedarf<br />

es der europäischen Verhandlungspartner<br />

und des Drucks, der durch deren Initiative<br />

mit einem Ölembargo gegen den Iran<br />

entstanden ist.<br />

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| W E L T B Ü H N E | G A Z A<br />

76 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Sozialarbeiter<br />

mit Raketen<br />

Seit 2007 herrscht die Hamas in Gaza, und seit 25 Jahren rufen<br />

ihre Führer zur Vernichtung Israels auf. Wer sind diese radikalen<br />

Palästinenser wirklich? Der Fotograf Frédéric Sautereau und der<br />

Autor Mohamad Bazzi suchen nach Antworten<br />

Demonstration: Der Gründungstag der Hamas<br />

wird mit einem Motorradkorso gefeiert<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 77


| W E L T B Ü H N E | G A Z A<br />

Privilegiert: Der Al-Noor-Park ist für die Familienangehörigen von sogenannten Märtyrern<br />

reserviert. <strong>Die</strong> Anlage wurde auf der früheren israelischen Siedlung Netzarim errichtet<br />

Unbeeindruckt: Erst wurde Hatems Friseursalon 2007 und 2008 Ziel eines Bombenattentats, dann verbot die Hamas auf<br />

Drängen der Salafisten Männern, die Haare von Frauen zu schneiden. Seinen Laden wird er dennoch nicht schließen<br />

78 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Verletzt: Der<br />

20-jährige Ismail<br />

wurde bei einem<br />

israelischen Angriff<br />

2009 schwer<br />

getroffen. Er<br />

leidet bis heute an<br />

den Folgen seiner<br />

Verwundungen<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 79


| W E L T B Ü H N E | G A Z A<br />

80 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Solidarität: Mitglieder des Islamischen Dschihads<br />

demonstrieren zur Verteidigung der Al-Aqsa-<br />

Moschee in Jerusalem. Unterdessen versucht die<br />

Hamas, die Exzesse der immer radikaler werdenden<br />

Gruppen unter Kontrolle zu bekommen<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 81


| W E L T B Ü H N E | G A Z A<br />

W<br />

AS AUCH IMMER MAN VON DER HAMAS HALTEN MAG, an einem<br />

kommt keiner vorbei: <strong>Die</strong> Hamas ist ein wichtiger politischer<br />

und sozialer Faktor in der palästinensischen Gesellschaft.<br />

Vor 25 Jahren als Ableger der Muslimbrüder gegründet,<br />

hat die Organisation heute viele Gesichter: ein sunnitisch-islamistisches,<br />

ein soziales und ein terroristisches. Vor allem aber ist Hamas<br />

eine Guerillabewegung, die im Geheimen wirkt, obwohl sie<br />

längst politische Macht erlangt hat.<br />

Ob es einem gefällt oder nicht: Hamas vertritt einen erheblichen<br />

Teil der palästinensischen Bevölkerung. Ohne deren Beteiligung<br />

wird es daher zwischen Israel und den Palästinensern keine<br />

tragfähige Vereinbarung zur Beilegung des Konflikts geben. Israel<br />

aber lehnt direkte Gespräche ab mit dem Verweis, man verhandle<br />

nicht mit Terroristen, die Hamasführung wiederum sendet widersprüchliche<br />

Signale. Vor allem zeigt sie keinerlei Bereitschaft, die<br />

Vernichtung Israels aus ihrer Charta zu streichen. Im Gegenteil.<br />

Bei seinem Besuch im Dezember bekräftigte Hamas-Chef Chalid<br />

Maschaal: „Wir geben keinen Zoll von Palästina auf. Es wird islamisch<br />

und arabisch bleiben. Der Heilige Krieg und der bewaffnete<br />

Widerstand sind der einzige Weg. Wir können Israels Legitimität<br />

nicht anerkennen.“<br />

<strong>Die</strong> Uneinigkeit innerhalb der Hamas hat ihren Ursprung in<br />

der Zersplitterung der Organisation: Es gibt einen politischen Flügel,<br />

der sich zum Teil im Exil und zum anderen Teil innerhalb der<br />

palästinensischen Gebiete befindet, und es gibt den militärischen<br />

Arm, die Al-Qassam-Brigaden. Jeder Flügel repräsentiert eine andere<br />

Strömung. Paradoxerweise verfügen die Führer im Exil, die<br />

zu den Hardlinern zählen, über den größten Einfluss.<br />

Einer der Gründe dafür dürfte sein, dass die Exilführung in<br />

ihrer kompromisslosen Haltung – ideell und vor allem finanziell<br />

– tatkräftig von Syrien und Iran unterstützt wird. Das hat seinen<br />

Preis. Manches Mal hat Hamas Maßnahmen ergriffen, die<br />

den Interessen Syriens und Irans dienten, sicherlich aber nicht denen<br />

der Palästinenser. So sind die Raketenangriffe auf Israel, die<br />

der Iran als Erfolg im Kampf gegen das „zionistische Gebilde“ betrachtet<br />

und für deren Abwehr Israel enorme Militärinvestitionen<br />

aufwenden muss, sicherlich nicht im Interesse der Palästinenser,<br />

die schließlich den israelischen Gegenangriffen ausgesetzt sind.<br />

<strong>Die</strong> Führung in Gaza, die von der Außenwelt abgeschnitten<br />

ist, ist darauf angewiesen, dass die Exilanten Geld sammeln und<br />

dadurch das Überleben der Organisation sichern. Jene Exilführer,<br />

die in komfortablen Verhältnissen weit entfernt von Gaza und<br />

der Westbank leben, können es sich leisten, in ihrer Haltung unnachgiebig<br />

zu sein. Weder leben sie unter ganz gewöhnlichen Palästinensern<br />

noch müssen sie ihnen gegenüber Rechenschaft ablegen.<br />

Aus der Ferne lässt sich die Fortsetzung des bewaffneten<br />

Kampfes mit allen Mitteln leicht fordern. Aber man täusche sich<br />

nicht: Auch wenn die Menschen in Gaza des tagtäglichen Kampfes<br />

müde geworden sein mögen, werden die Hardliner, angeführt von<br />

Chalid Maschaal, den Diskurs in Gaza auch weiterhin dominieren.<br />

Der Westen ist an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig.<br />

<strong>Die</strong> USA und Europa haben durch ihre Politik der Isolierung indirekt<br />

dazu beigetragen, dass die Exilführung die Hamas auf Kosten<br />

Heute besteht die<br />

Gefahr darin, dass eine<br />

noch tödlichere Kraft in<br />

den palästinensischen<br />

Gebieten entsteht:<br />

radikal-islamistisch<br />

motiviert oder von<br />

Al Qaida inspiriert<br />

der Führung innerhalb der palästinensischen Gebiete zu beherrschen<br />

begann. Vor der Übernahme Gazas durch die Hamas 2006<br />

hatte der Westen die Chance, sich mit Hamasführern aus den Gebieten,<br />

etwa mit Ismail Hanija, dem heutigen Chef der Hamas in<br />

Gaza, auseinanderzusetzen und sie in ein Gespräch einzubinden.<br />

Israelis und Amerikaner ließen diese Gelegenheit verstreichen in<br />

der Annahme, die Palästinenser würden schon irgendwann die<br />

Regierung stürzen. Sie haben aber eins nicht bedacht: Solange<br />

Gaza abgesperrt bleibt, wird Hamas die Ächtung durch den Westen<br />

als Vorwand benutzen, um von den eigenen Unzulänglichkeiten<br />

abzulenken. Wie aber sollen die Palästinenser je das politische<br />

Versagen der Hamas erkennen, solange sie nicht wirklich regieren<br />

kann? Statt die Palästinenser durch die Blockade gegen die Hamas<br />

aufzubringen, hat die Blockade die Menschen nur noch abhängiger<br />

von der Organisation gemacht. Als etwa Israel 2008 die Benzinversorgung<br />

in Gaza mehrfach eingeschränkt hatte, schlug Hamas<br />

sehr schnell Kapital daraus. Sie versah Polizeifahrzeuge mit<br />

Aufklebern, auf denen stand: „Wir sind bereit, Sie kostenlos zu<br />

fahren“, und setzte die Wagen als öffentliche Verkehrsmittel ein.<br />

In den Achtzigern glaubte man, dass die Palästinenser den<br />

Konflikt eines Tages schon leid sein und eine Alternative zu Jassir<br />

Arafat und seiner PLO finden würden. <strong>Die</strong> Alternative war noch<br />

militanter und noch kompromissloser: die Hamas. Es ist ihr in den<br />

25 Jahren ihres Bestehens gelungen, sich als Alternative zu der korrupten,<br />

ineffizienten und größtenteils diskreditierten PLO-Führung<br />

zu positionieren. Sollte die Hamas weiterhin isoliert bleiben,<br />

dann besteht heute die Gefahr, dass eine noch tödlichere Kraft in<br />

den palästinensischen Gebieten entsteht: radikal-islamistisch motiviert<br />

oder von Al Qaida inspiriert. Sollte es dem Westen daher<br />

nicht gelingen, sich mit der Hamas konstruktiv auseinanderzusetzen,<br />

wird das erneut den Radikalen helfen.<br />

M OHAMAD B A ZZI<br />

ist Adjunct Senior Fellow for Middle Eastern Studies beim<br />

Council on Foreign Relations und Professor für Journalistik<br />

an der New York University<br />

82 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Erinnerungsfoto: Der Hafen von Gaza ist ein beliebtes Ausflugsziel. Mit Trümmern der von<br />

Israel 2009 zerstörten Gebäude wurde die Kaimauer verstärkt und ausgebaut<br />

FOTO: CFR (AUTOR)<br />

Wirtschaftsfaktor: Durch die Tunnel in Rafah werden neben Lebensmitteln,Wasser und Dingen des<br />

täglichen Bedarfs auch und vor allem Waffen aller Art in den Gazastreifen geschmuggelt<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 83


| W E L T B Ü H N E | Ä G Y P T E N<br />

„SIE HABEN UNS DIE<br />

REVOLUTION GEKLAUT“<br />

<strong>Die</strong> Jugend Ägyptens hat das Mubarak-Regime aus dem Amt gejagt. Bekommen hat sie<br />

einen autoritären, islamistischen Präsidenten. Protokoll einer persönlichen Enttäuschung<br />

VON YOUSSRIA G HORAB<br />

I<br />

CH WAR VON ANFANG AN DABEI: Wir haben<br />

die Revolution angefangen. Ich<br />

gehörte zur „Bewegung des 6. April“<br />

und habe Graffiti-Schablonen<br />

gemacht. Mit diesen wurde in der<br />

ganzen Stadt gesprüht, um für die Revolution<br />

zu mobilisieren. <strong>Die</strong> Islamisten wollten<br />

am Anfang gar nicht mitmachen. Wir<br />

mussten sie überreden, und jetzt haben sie<br />

uns die Revolution geklaut.<br />

Es gibt heute viele, die sagen, die Revolution<br />

sei ein Fehler gewesen. Mit Mubarak<br />

seien wir besser dran gewesen als jetzt<br />

mit den Muslimbrüdern. Das ist Quatsch.<br />

Das Regime Mubarak war korrupt und hat<br />

das Volk ausgeplündert. Korruption gibt es<br />

immer noch, und auch die Muslimbrüder<br />

sind Geschäftsleute, die auf ihre eigenen<br />

Interessen schauen. Doch die Regierung<br />

Mubarak hatte einfach ausgedient.<br />

Es war uns immer klar, dass eine harte<br />

Zeit auf uns zukommt. Es ist eben nicht<br />

so einfach, Revolution zu machen und ein<br />

Regime zu stürzen, das sich 30 Jahre lang<br />

eingefressen hat. Dass es aber so hart werden<br />

würde, habe ich nicht gedacht. Was<br />

Revolutionärin der ersten Stunde: Youssria Ghorab, 31, Aktivistin, Filmemacherin, Sprayerin<br />

wir jetzt erleben, ist schlimmer als meine<br />

schlimmsten Horrorvorstellungen.<br />

<strong>Die</strong> Muslimbrüder haben, seit sie an<br />

der Macht sind, nichts unternommen, um<br />

das Land nach vorne zu bringen. Kein einziges<br />

Gesetz haben sie erlassen, das der Bevölkerung<br />

dient. Alles zielt nur darauf ab,<br />

ihre Macht zu festigen.<br />

Sie tun so, als ginge es um das islamische<br />

Projekt, aber sie sind doch extrem weit<br />

vom Islam entfernt. Was wir neulich gesehen<br />

haben, als die Schlägerbanden der<br />

Muslimbrüder die Demonstranten angegriffen<br />

haben, war ganz und gar unislamisch.<br />

Sie haben Frauen geschlagen, mit<br />

der Faust haben sie einer Frau ins Gesicht<br />

geschlagen, und andere Frauen wurden sexuell<br />

belästigt. Das widerspricht jeglicher<br />

Vorstellung vom Islam. Sie benutzen die<br />

Religion nur, um ihre Macht zu festigen.<br />

Leider tun das auch radikale Salafisten-<br />

Gruppen. <strong>Die</strong> machen mir richtig Angst.<br />

Mit ihren extremen Ansichten und ihren<br />

Verbindungen zu Al Qaida und anderen<br />

bewaffneten Gruppen sind sie eine echte<br />

Gefahr.<br />

Was mich am meisten an den Muslimbrüdern<br />

aufregt, ist, dass sie uns ihre ganz<br />

und gar altmodische Politik andrehen wollen.<br />

Hier gibt es einen Generationenkonflikt.<br />

<strong>Die</strong> alte, autoritäre Generation trifft<br />

auf eine neue, sehr mobile, flexible und<br />

weltoffene Generation. Uns kann man<br />

mit diesen Hierarchien und diesen eingeschränkten<br />

Rechten nicht kommen. Da<br />

braucht man sich doch nur mal den Verfassungsentwurf<br />

anzuschauen, den sie vorgelegt<br />

haben: Das Wort Frau kommt darin<br />

nicht vor. Sie sprechen vom weiblichen<br />

FOTOS: KATHARINA EGLAU FÜR CICERO, PRIVAT (AUTORIN)<br />

84 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Geschlecht. Das zeigt doch deren Geisteshaltung:<br />

Sie denken nur ans Schlafzimmer.<br />

Es gab einen Moment in den Tagen auf<br />

dem Tahrir-Platz und danach, als die Männer<br />

gesehen haben, dass auch wir Revolution<br />

machen können. In diesen Tagen habe<br />

ich gehofft, dass sich grundlegend etwas<br />

ändern könnte. Hat es aber nicht.<br />

Für mich ganz persönlich hat sich<br />

durch die Revolution hingegen viel verändert.<br />

Ich habe mich früher immer eingeengt<br />

gefühlt. Ich hatte Träume, habe mich<br />

aber nicht mal getraut, sie fertig zu träumen,<br />

weil ich sicher war, dass sie nie in Erfüllung<br />

gehen. Seit der Revolution weiß ich,<br />

dass alles möglich ist. Anders als die meisten<br />

anderen Menschen in Ägypten stehe<br />

ich auch finanziell besser da. Ich bin Absolventin<br />

der Kunstschule und gehörte zu den<br />

Jahrgangsbesten. Damit hatte ich einen Anspruch<br />

auf eine Anstellung im Kulturministerium.<br />

Da ich aber keine Beziehungen<br />

hatte, habe ich unter der alten Regierung<br />

diese Stelle nicht bekommen. Kurz nach<br />

dem Sturz Mubaraks wurde ich angestellt.<br />

Na ja, die Stelle ist nicht toll, und das Ministerium<br />

braucht dringend eine Revolution.<br />

Vielleicht sollte man es abschaffen.<br />

Andererseits gibt mir diese Stelle Spielraum.<br />

Natürlich habe ich Angst vor der Zukunft.<br />

Neulich wurde eine Freundin von<br />

mir – sie ist Tänzerin und macht modernen<br />

Tanz – auf der Straße angegriffen. Mehrere<br />

verschleierte Frauen umringten sie und<br />

wollten ihr die Haare anzünden, weil sie<br />

kein Kopftuch trug. Zum Glück kamen<br />

ihr Leute zu Hilfe. Ich bin überzeugt, die<br />

Muslimbrüder werden ein Gesetz erlassen,<br />

das das Kopftuch zur Pflicht macht. Jetzt<br />

sagen sie zwar, dass sie es nicht vorhaben,<br />

aber sie haben schon viele Versprechen gebrochen,<br />

und es ist klar: Sie haben ein Ideal,<br />

wie die Gesellschaft aussehen soll, und sie<br />

werden dies zur Not mit Gewalt durchsetzen.<br />

Wir haben ihre Schlägerbanden erlebt.<br />

Nein, ich war nicht dabei, als sie neulich<br />

auf die Demonstranten vor dem Präsidentenpalast<br />

losgingen. Meine Mutter und<br />

ich haben da einen Konflikt. Manchmal<br />

lässt sie mich zu Demonstrationen gehen,<br />

aber manchmal auch nicht. Wir streiten.<br />

Sie ist krank, und die Aufregung schadet<br />

ihr. Wenn ich sie nicht überzeugen kann,<br />

gehe ich nicht. Dabei denkt sie auch, es sei<br />

höchste Zeit, dass die Ägypter sich erheben<br />

und sich gegen die Herrschaft der Islamisten<br />

auflehnen. Absurd, oder?<br />

Inzwischen gehöre ich nicht mehr zur<br />

„Bewegung des 6. April“. Als die Mitglieder<br />

der Bewegung sich vergangenen Sommer<br />

entschieden haben, Mohammed Mursi<br />

im Wahlkampf zu unterstützen, habe ich<br />

mich von ihnen getrennt. Natürlich war<br />

das eine schwierige Situation. Da stand<br />

Mursi gegen Ahmed Schafik zur Wahl, und<br />

wir wollten natürlich verhindern, dass das<br />

alte Regime wieder an die Macht kommt.<br />

Aber ich hielt schon damals Mursi für sehr<br />

gefährlich, und inzwischen haben sich ja<br />

auch die anderen aus der Bewegung von<br />

ihm distanziert.<br />

Ab wann es schiefgelaufen ist mit unserer<br />

Revolution? Ich glaube, das Grundproblem<br />

war, dass wir uns zu Wahlen drängen<br />

ließen, bevor die Menschen und die politische<br />

Landschaft reif waren. Wir hätten<br />

als Allererstes eine neue Verfassung schreiben<br />

sollen, damit die Grundlagen klar sind.<br />

Es wurden viele Chancen vertan. Trotzdem<br />

bin ich optimistisch: Unsere Generation<br />

wird sich eine neue Diktatur nicht gefallen<br />

lassen.<br />

Wir sind immer noch in einer Übergangsphase,<br />

und das Besondere an dieser<br />

Phase ist, dass sich alle outen müssen.<br />

Das Militär galt ja, als es nach dem Sturz<br />

Mubaraks die Macht übernahm, vielen als<br />

freundlicher Partner, der die Geschäfte der<br />

Regierung im Sinne der Revolution verwalten<br />

werde. Fehlanzeige. <strong>Die</strong> Muslimbrüder<br />

kannten wir bisher auch nicht so recht.<br />

Sie waren immer eine Geheimorganisation,<br />

und man wusste nicht, was sie eigentlich<br />

wollen. Jetzt ist die Maske gefallen oder zumindest<br />

verrutscht, und wir erkennen, um<br />

was für einen machthungrigen, autoritären<br />

Verein es sich handelt.<br />

Vor einem Jahr steckten wir auch schon<br />

in einer großen Krise. <strong>Die</strong> Militärregierung<br />

hatte gezeigt, wes Geistes Kind sie<br />

ist, und es gab große Befürchtungen, dass<br />

die Generäle die Macht nicht wieder hergeben<br />

würden. Wir setzten alle auf einen<br />

gewählten Präsidenten und haben gesagt:<br />

Egal, wer es wird, es wird besser. Jetzt haben<br />

wir den gewählten Präsidenten, und<br />

er ist mindestens genauso schlimm wie die<br />

Militärregierung.<br />

Wovon ich träume? Ich würde gerne in<br />

einem Land leben, in dem die Menschen<br />

respektiert werden. Ich hatte nicht vor, dafür<br />

auszuwandern.<br />

Aufgezeichnet von Julia Gerlach<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 85<br />

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DER FAHRSCHÜLER<br />

Was richtet der Krieg im Kopf an? Sergeant Campbell war im Irak. Jetzt muss er etwas<br />

neu erlernen, das in Amerika nicht weniger als die Freiheit bedeutet: das Autofahren<br />

VON JOHANNES G ERNERT<br />

E<br />

RIC CAMPBELL KANN nicht aufhören,<br />

die Bomben zu suchen. Sobald<br />

er in Kingsburg, Kalifornien,<br />

im Auto sitzt, tasten seine Augen<br />

die Umgebung ab. Sein Blick irrt<br />

los: Er heftet sich an Stoßstangen, prallt auf<br />

die Fahrbahn, untersucht klaffende Schlaglöcher,<br />

sticht in blutverschmierte Tierkadaver,<br />

stochert in wehende Mülltüten, er schrammt<br />

über frisch gestrichene Leitplanken.<br />

Campbell ist vor fünf Jahren beim United<br />

States Marine Corps ausgeschieden,<br />

den berüchtigten Kriegern der US-Streitkräfte.<br />

Dem Irak hat er die Freiheit geschenkt,<br />

so steht das jedenfalls in seiner<br />

E-Mail-Signatur. Jetzt, zu Hause zurück,<br />

ringt er um seine eigene Freiheit.<br />

Sergeant Eric Campbell, 32 Jahre alt.<br />

Seine Wirbelsäule war zweimal gebrochen,<br />

seine Schulter ist kaputt, seine Knie auch.<br />

Der Soldat Eric Campbell im Irak: Überall konnten Bomben sein,<br />

am Straßenrand, in Schlaglöchern, hinter der nächsten Biegung<br />

Aber er hat noch zwei Beine, von denen<br />

eines das Gaspedal seines Chevrolet Silverado<br />

tritt, und zwei Hände, die das Lenkrad<br />

des Pick-up-Trucks umfassen. Er kann<br />

nur nicht mehr damit fahren, nicht länger<br />

als eine halbe Stunde.<br />

Wenn er in ein Auto steigt, geht Eric<br />

Campbell die Gefahren durch. Bombenangriff,<br />

Scharfschützen, vielleicht auch: Flugzeugabsturz.<br />

Er überlegt sich die Schritte,<br />

die nötig sein könnten. Danach. Er ist auf<br />

jede Gefahr vorbereitet. Auch wenn es hier<br />

keine gibt.<br />

<strong>Die</strong> größte Gefahr auf dem Highway<br />

99 von Kingsburg, Kalifornien, wo er<br />

in seinem Trailer lebt, nach Fresno, Kalifornien,<br />

zur Veteranenklinik, ist Eric Campbell<br />

selbst. Seine Angst. Sein Blick.<br />

„In Amerika hängt deine Freiheit<br />

an deinem Auto“, sagt er. Es ist einer<br />

seiner ruhigen Cowboy-Sätze, er klingt, als<br />

müsste er ein nervöses Pferd besänftigen.<br />

Nicht einfach hinfahren zu können, wohin<br />

er möchte, bedeutet für ihn, gefangen<br />

zu sein: „Als würden sie dich mit Stahlbügeln<br />

an der Wand festnageln.“<br />

Da steht er jetzt.<br />

ALS DIE SOLDATEN aus den früheren Kriegen<br />

der USA zurückkamen, aus Vietnam,<br />

aus Korea, sind manche im Auto ausgerastet<br />

auf der Straße. Road Rage nannten<br />

das die Psychologen damals. <strong>Die</strong> Veteranen<br />

fuhren riskanter, schneller, ohne Gurt. Sie<br />

waren reizbarer, sie tickten aus. <strong>Die</strong> Soldaten,<br />

die aus den neuen Kriegen, aus dem<br />

Irak und aus Afghanistan, zurückkommen,<br />

haben ein anderes Problem. Sie fliehen vor<br />

der Gefahr.<br />

Steve Woodward will helfen. Er schaute<br />

Fernsehen, als er zu begreifen begann, dass<br />

da etwas Neues auf ihn zukam, auf die USA.<br />

Es war 2005, ein Bericht von einem Veteranen,<br />

der irgendwo in Montana auf dem<br />

Land lebte und erzählte, dass Gegenstände<br />

am Straßenrand ihn zurück in den Irakkrieg<br />

versetzten. Woodward ist Psychologe an der<br />

größten Veteranenklinik der Westküste in<br />

Palo Alto, in Kalifornien. Ein grauhaariger<br />

sportlicher Typ. Er forscht zu Kriegstraumata<br />

und sucht nach Behandlungsmethoden.<br />

Steve Woodward beantragte Forschungsgelder,<br />

2009 startete er eine Studie,<br />

die erkunden soll, wie diese Soldaten sich im<br />

Straßenverkehr verhalten. Damit sie dann<br />

das Fahren neu lernen können, die Männer,<br />

die ihr Leben lang hinterm Steuer saßen.<br />

Das erste Auto, das Eric Campbell in<br />

seinem Leben fuhr, war ein Mercury Topaz.<br />

Er kostete 2000 Dollar, die er mit seinen<br />

Jobs bei Kentucky Fried Chicken und<br />

McDonalds bezahlte. Der Topaz ist ein<br />

kleiner, gewöhnlicher Wagen. Campbell<br />

86 <strong>Cicero</strong> 1.2013


„Deine Freiheit hängt am Auto.“ – Wenn Eric Campbell heute in Kalifornien hinterm Steuer sitzt, überfällt ihn die<br />

Angst. Deshalb muss er von vorn anfangen. Vom Beifahrersitz aus coacht ihn der Psychologe Steve Woodward<br />

FOTOS: PRIVAT, JOHANNES GERNERT<br />

sagt, dass er damals kein verwegener Fahrer<br />

war. Am Wochenende cruisten er und<br />

sein Bruder manchmal raus in die Maisfelder<br />

von Indiana. Einfach irgendwohin.<br />

Das ist die Freiheit, sagt Eric Campbell.<br />

„Du springst ins Auto und fährst los.“<br />

Er fuhr mit dem Mercury Topaz zur<br />

Schule. Campbell war damals 17, zwei<br />

Jahre vor dem High-School-Abschluss,<br />

aber er hatte sich schon bei den Marines<br />

verpflichtet. Auf den blaugrünen Lack seines<br />

Topaz hatte er Marines-Sticker geklebt,<br />

neben die anderen: „Böse bis auf die Knochen“,<br />

„Jung und unbesiegbar“. Der Vertrag<br />

war unterschrieben. Sie erwarteten ihn.<br />

Im Frühjahr 2012 hat die Versicherungsgesellschaft<br />

USAA einen Report veröffentlicht,<br />

der zeigt, dass Veteranen deutlich<br />

mehr Unfälle verursachen als andere<br />

Verkehrsteilnehmer. Bei Soldaten, die drei<br />

Mal oder häufiger im Auslandseinsatz waren,<br />

stieg die Zahl der Unfälle zwischen<br />

2007 und 2010 um 36 Prozent. Der wichtigste<br />

Grund: Gegenstände am Fahrbahnrand.<br />

Hastige Blicke.<br />

Zum ersten Mal zog Eric Campbell<br />

2003 in den Irak, mit 22. Aus den Lautsprechern<br />

in den Quartieren hallte Metal,<br />

„Let the Bodies hit the Floor“. In Bagdad<br />

stürzte die Saddam-Statue, Campbell war<br />

dabei. An seinem Hals hängt heute eine<br />

Metallmarke von Saddams Leibgardisten,<br />

den er erschossen hat. Der Mann trat aus<br />

einem Busch, er habe eine Panzerfaust auf<br />

ihn gerichtet. Campbell spürte die Hitze<br />

des Geschosses über seinem Kopf. Dann<br />

erschoss er den Mann.<br />

ERIC CAMPBELL HAT FRÜHER gern im Garten<br />

gearbeitet, aber er kann sich jetzt nicht<br />

mehr in der Nähe von Büschen aufhalten.<br />

2005 wird er zum zweiten Mal in den<br />

Irak geschickt. „Da fing der ganze Spaß<br />

dann an“, sagt er. Es klingt cool. Es soll<br />

cool klingen. Ein schwerer junger Mann<br />

mit Hemd überm T-Shirt, Cap, Kinnbart<br />

und Freundschaftsbändern am Arm<br />

sitzt da in einem Raum der Veteranenklinik<br />

von Palo Alto. Ein Mann, der seine<br />

Sätze vorsichtig zusammensetzt wie einen<br />

vorher zerlegten Motor. Stück für Stück.<br />

Schraube für Schraube. Seine Freundin hat<br />

ihn hergefahren.<br />

Der Himmel ist blau. Ein warmer windiger<br />

Herbsttag in Kalifornien. Über der<br />

Klinik schwebt ein Zeppelin.<br />

Ihr Camp lag vor Falludscha. Das Problem<br />

hieß IED. Improvised explosive devices.<br />

Improvisierte Bomben. Das Problem<br />

begann, wenn sie aus dem Lager rausfuhren.<br />

Es war wie mit Katzen, die Mäuse jagen,<br />

sagt Eric Campbell.<br />

Anfangs versteckten sie die Bomben am<br />

Straßenrand, unter den Gehwegstellen, die<br />

frisch renoviert waren. Daran konnte man<br />

sie erkennen. Als die Soldaten das gelernt<br />

hatten und in der Mitte der Straße fuhren,<br />

verscharrten ihre Gegner die IEDs in den<br />

Schlaglöchern und zündeten sie aus der<br />

Ferne. Als die Störsignale der Amerikaner<br />

die Zünder außer Gefecht setzten, führten<br />

Kabel zu den Bomben, Männer standen<br />

hinter Häusern und wenn sie einen Panzer<br />

kommen hörten, drückten sie ab. Sie<br />

standen am Straßenrand, ihre Hände in<br />

einem Buch, im Koran etwa, und ließen<br />

die Bomben explodieren. Bis die Amerikaner<br />

merkten, dass in einem Buch verborgene<br />

Hände eine Gefahr sein konnten.<br />

<strong>Die</strong> Gefahr veränderte sich ständig. Auf alles<br />

musste man achten.<br />

<strong>Die</strong> Marines fuhren mit 30, 40 Metern<br />

Abstand zueinander. Ein US-Fahrzeug hinter<br />

dem anderen.<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 87


| W E L T B Ü H N E | L E B E N N A C H D E M K R I E G<br />

Eric Campbells Auto war ein Humvee.<br />

Ein gepanzerter Jeep. Sein Job war es, die<br />

Autos am Laufen zu halten. Er war Mechaniker.<br />

Einmal fuhren sie zu einem Panzer,<br />

der explodiert war. Sie schnitten den Fahrer<br />

raus. Fünf Stunden lang, nach dreien<br />

war er tot.<br />

Sieben IEDs hat er überlebt. Er war<br />

nie in der Killing Zone, wo es ihn zerrissen<br />

hätte. Sie gingen vor seinem Humvee<br />

oder dahinter los. Danach fühlt man sich<br />

manchmal unbesiegbar, sagt Campbell.<br />

Er hatte genaue Anweisungen, was du<br />

zu tun hast, wenn eine Bombe hochgeht.<br />

Fahr weiter. Fahr immer weiter. Fahr zurück,<br />

fahr ins Camp.<br />

Eric Campbell steckt seine Sätze zusammen,<br />

sein Blick ist gerade und ruhig<br />

dabei. Er bewegt sich nur langsam<br />

von einem Gesprächspartner zum nächsten.<br />

Manchmal rastet er einen Moment<br />

zu lange. Wie ein Wagen an einer Ampel,<br />

die schon grün ist.<br />

„<strong>Die</strong> meisten Amerikaner könnten ohne<br />

ihr Auto nicht überleben“, sagt Campbell.<br />

Als dem Psychologen Steve Woodward<br />

die Gelder genehmigt worden waren,<br />

stellte er ein Team zusammen und beauftragte<br />

eine deutsche Doktorandin mit<br />

der Studie. Sie verwendeten einen weißen<br />

Pontiac Bonneville, der ein wenig an Eric<br />

Campbells erstes Auto erinnerte. Klein und<br />

nicht besonders auffällig.<br />

Wenn Eric Campbell das Lenkrad dieses<br />

Pontiacs hielt und über die Straßen<br />

von Palo Alto fuhr, lag um seine Brust ein<br />

Messgurt, der seine Herzschläge registrierte.<br />

Drei iPod-Touch maßen die Bewegungen<br />

der Pedale, die Geschwindigkeit, das Bremsen.<br />

Alle Signale, die Campbell aussendete,<br />

liefen in einem Gerät zusammen, das die<br />

Fujitsu Laboratories entwickelt haben.<br />

Man kann so sehen, an welchen Stellen<br />

auf der Fahrt sein Herzschlag stieg, wann<br />

er das Gaspedal zu heftig trat, wann er zu<br />

scharf bremste. Neben ihm saß der Fahrcoach,<br />

der ebenfalls ein Gaspedal vor seinen<br />

Füßen hatte und eine Bremse. Wie<br />

in der Fahrschule. Auf einem iPod-Touch<br />

kann der Lehrer Ereignisse markieren: Baustelle.<br />

Von einem anderen Fahrer geschnitten.<br />

Müll am Straßenrand. Lärm.<br />

Das ist der Anfang, sagt der Psychologe<br />

Steve Woodward, der Karten anfertigen<br />

lässt, auf denen die Wege rot markiert sind,<br />

auf denen Eric Campbells Herz schneller<br />

schlug als sonst. Es ist der allererste Schritt:<br />

Eric Campbell und seine Freundin. Einmal fuhren sie vom Kino nach<br />

Hause. Er übersah ein Schlagloch. Dann raste er los. Sie schrie. Back to base,<br />

murmelte er, zurück zur Basis<br />

herausfinden, womit die Veteranen nicht<br />

umgehen können. Es hat auch mit der<br />

Frage zu tun, ob Angst messbar ist.<br />

Woodward hat mit Campbell geübt,<br />

wie man anhält, wie man atmet, wie<br />

man ruhiger weiterfährt danach. Einundzwanzig,<br />

zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.<br />

Der Coach hat ihm gesagt, was sein<br />

Blick macht, wie er tastet, sucht, stochert.<br />

Da erst fing Campbell an zu merken, wie<br />

das alles zusammenhängt. Es sind Fahrstunden,<br />

aber er lernt dabei nicht, wie das<br />

Auto funktioniert. Er lernt, wie er selbst<br />

tickt. Danach hat er Fragebögen ausgefüllt:<br />

Das Auto vorm Einsteigen auf Sprengstoff<br />

überprüft? <strong>Die</strong> Route spontan geändert,<br />

um nicht vorhersehbar zu fahren? Beim<br />

Fahren plötzlich geduckt?<br />

Er mag nicht, wenn ein Auto direkt<br />

vor ihm ist und eines neben ihm. Er kann<br />

Nähe nicht ertragen.<br />

NEULICH IST WIEDER DIESER WEISSE Truck<br />

hinter ihm hergefahren, eine ganze Weile.<br />

Er ist rübergezogen auf die andere Spur.<br />

Der Truck auch. Er ist langsamer gefahren.<br />

Der Truck auch. Campbell raste zu<br />

einer Kreuzung, hielt am Stoppschild, er<br />

wartete, bis der Laster, der von links heranrumpelte,<br />

kurz vor ihm angekommen war,<br />

dann schoss er daran vorbei, rüber über die<br />

Straße, raus in den Wald, sodass ihm keiner<br />

folgen konnte.<br />

Eric Campbell ist zwei Mal verheiratet<br />

gewesen und zwei Mal geschieden worden,<br />

nach dem ersten und nach dem zweiten<br />

Irak-Einsatz. Posttraumatisches Stresssyndrom,<br />

sagt er, wenn man ihn fragt, warum.<br />

Mit seiner zweiten Frau war er einmal<br />

im Kino. „Flags of our Fathers“, Clint Eastwoods<br />

Film über die Schlacht von Iwojima,<br />

1945. Er konnte ihn nicht zu Ende sehen.<br />

Das alles war dem Irak zu ähnlich. Sie fuhren<br />

nach Hause und er übersah das Schlagloch,<br />

der Aufprall warf ihn zurück.<br />

Eric Campbell raste los. Seine Frau<br />

muss ihn angeschrien haben, aber er reagierte<br />

nicht. Er murmelte, back to base,<br />

back to base, zurück zur Basis, ins Camp.<br />

Sie hat ihm das nachher erzählt.<br />

Es ist, als glühte die Erinnerung in<br />

seinem Kopf, manchmal lodert sie hoch,<br />

manchmal ist da auch nur Rauch, und er<br />

kann sich an andere Dinge nicht erinnern.<br />

Wo liegt der Autoschlüssel? Eric Campbell<br />

hat gern an Autos geschraubt, aber er kriegt<br />

den Motor nicht mehr zusammen, nicht<br />

mehr richtig. Er vergisst Dinge.<br />

TBI, sagen die Ärzte. Traumatic Brain<br />

Injuries. Traumatische Hirnschäden.<br />

Sieben IEDs. Sieben Bomben. Jedes<br />

Mal ist sein Kopf gegen irgendetwas<br />

geknallt.<br />

Er hatte nach seiner ehrenhaften Entlassung<br />

einen Job als Netzwerk-Techniker,<br />

er hat an großen Übertragungsanlagen<br />

FOTOS: JOHANNES GERNERT, PRIVAT (AUTOR)<br />

88 <strong>Cicero</strong> 1.2013


eines Kabelfernsehkonzerns gearbeitet. Bis<br />

er ein Mal einfach umfiel. Sein Arbeitgeber<br />

schickte ihn einige Monate in den unbezahlten<br />

Krankenstand und warf ihn dann<br />

mit einer kurzen E-Mail raus.<br />

Pseudo-Anfall, sagten die Ärzte.<br />

ERIC CAMPBELL BEKOMMT eine Invalidenrente,<br />

er gilt als 70 Prozent behindert. Er<br />

könne damit seine Rechnungen zahlen,<br />

sagt er, nicht davon leben. Wenn er am<br />

Steuer noch ein einziges Mal einen Anfall<br />

hat, müssen sie das der Führerscheinbehörde<br />

melden, haben die Leute vom Veteranenministerium<br />

gesagt. Das Department<br />

of Motor Vehicles California könnte dann<br />

seine Fahrerlaubnis einziehen. Das ist seine<br />

größte Sorge.<br />

Irgendetwas liegt fast immer am Rande<br />

der Highways. Blutige Hasen, Reifenteile,<br />

Papiertüten.<br />

Eric Campbell besitzt einen Chevrolet<br />

Silverado, ein Pick-up-Truck. Es ist ein<br />

Auto, das in den USA so oft gekauft wird<br />

wie kaum ein anderes. Nummer zwei in<br />

der Fahrzeugstatistik. Den Silverado fährt<br />

man da, wo Amerika weit ist und staubig.<br />

Da, wo es keine Parklücken gibt. Der Silverado<br />

heißt wie ein Westernfilm aus den<br />

Achtzigern. Er ist schwer und breit und<br />

hat eine Ladefläche. Auf den Werbeplakaten<br />

steht er wie ein Superheld in der Landschaft,<br />

dunkel, geheimnisvoll. Mit dem Silverado<br />

kann Eric Campbell seinen Trailer<br />

bewegen, sein Zuhause.<br />

Er weiß nicht so genau, wie viele Unfälle<br />

es waren. Zehn, vielleicht fünfzehn.<br />

Alle nach dem Irak. „Fender bender“, sagt<br />

Campbell. Kotflügeldellen. „Alles selbst<br />

repariert.“ Er versucht, die Unfälle harmlos<br />

zu lächeln, aber das Lächeln wird zu<br />

matt.<br />

Der Vietnamkrieg, sagt Steve Woodward,<br />

der Trauma-Psychologe, war ein Dschungelkrieg.<br />

Wenn man aus dem Dschungel raus<br />

war, erinnerte einen wenig daran. Der Irakkrieg<br />

und auch der Krieg in Afghanistan finden<br />

in Städten statt. Auf Straßen.<br />

Straßen gibt es überall.<br />

„Wir können heute mit dem Auto in<br />

drei oder vier Tagen das ganze Land durchqueren“,<br />

sagt Eric Campbell. „<strong>Die</strong> ersten<br />

Siedler haben in ihren Planwagen früher<br />

mehrere Monate für einen einzigen Staat<br />

gebraucht.“<br />

Das Auto verschafft Freiheit. Er ringt<br />

um sie. Er versucht sich zu beruhigen. Er<br />

hält an zwischendurch. Er atmet, einundzwanzig,<br />

zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.<br />

Aber bisher schafft er nicht mehr als<br />

eine halbe Stunde. Wenn überhaupt.<br />

Wer steht da oben auf der Überführung?<br />

Meistens muss seine Freundin fahren.<br />

Er hat sie bei einem Veteranentreffen<br />

kennengelernt, sie war bei der Navy. Sie<br />

hat ihm durch einige Flashbacks geholfen,<br />

sagt er, wenn der Irak zurückkommt,<br />

wenn es heiß ist wie dort. Sie wohnen in<br />

dem Wohnwagen, mit ihren drei Kindern,<br />

manchmal auch mit seinen zweien dazu,<br />

mit Hunderten DVDs. Kurz hat er einmal<br />

als Türsteher gearbeitet, aber sie haben ihn<br />

dann nicht mehr gebucht. „Meine Arzttermine<br />

sind mein Job“, sagt er.<br />

Sechs Wochen hat es gedauert, bis er<br />

mit 16 seinen Führerschein hatte. Er weiß<br />

nicht, wann er so weit ist, dass er ihn behalten<br />

kann.<br />

Er muss wieder ein Treffen mit dem<br />

Fahrcoach vereinbaren. Er muss sich das<br />

vom Arzt verschreiben lassen. <strong>Die</strong> Studie<br />

hat nur drei Sitzungen umfasst. <strong>Die</strong><br />

Forschung steht am Anfang. <strong>Die</strong> Veteranen<br />

haben ihr eigenes Gesundheitssystem.<br />

100 Millionen Dollar, hat ihr Ministerium<br />

angekündigt, sollen in die Erforschung<br />

posttraumatischer Belastungsstörungen<br />

und traumatischer Hirnschäden fließen.<br />

Auch die Fahrerforschung wird mehr Geld<br />

brauchen.<br />

Wenn Steve Woodward Eric Campbell<br />

zuhört, sagt er manchmal „Aha“, wie ein<br />

Tourist auf einem fernen, exotischen Eiland.<br />

Aha, so ist das also.<br />

Woodward freut sich, dass sie dieses<br />

neue Gerät haben, in dem alle Datenströme<br />

der Fahrer zusammenlaufen. In<br />

dem Projekt steckt die Hoffnung, dass<br />

Technik den ursprünglichen Zustand wiederherstellen<br />

kann. Vielleicht ist sie ähnlich<br />

trügerisch wie jene, dass der Fortschritt irgendwann<br />

einen Krieg mit vielen Drohnen,<br />

aber ohne Tote ermöglicht.<br />

Wenn Eric Campbell seinen Bruder<br />

trifft, der auch bei den Marines war, fahren<br />

sie heute nicht mehr raus in die Felder.<br />

Sie sitzen und reden. „Was er erlebt hat,<br />

was ich erlebt habe. Düstere Gespräche“,<br />

sagt Campbell.<br />

Eric Campbell läuft über den Parkplatz<br />

der Klinik in Palo Alto, seine Freundin<br />

neben ihm, ein leichter Wind. Er, in<br />

festen Stiefeln, mit seiner roten Cap, mit<br />

der Marke des toten Leibgardisten um den<br />

Hals. Sie in ihrer navyblauen Veteranenuniform,<br />

mit der Veteranenmütze.<br />

<strong>Die</strong> Sonne scheint. Es gibt gute und<br />

schlechte Tage, sagt Campbell. Eigentlich<br />

ist heute ein guter Tag. Er hat bisher gar<br />

nicht so viel vergessen.<br />

Er stellt sich vor den Van seiner Freundin,<br />

ein Chevrolet Suburban. Er steht da<br />

und schaut ernst. Es sieht aus, als würde<br />

er stolz seinen Wagen präsentieren. Und<br />

gleichzeitig wirkt dieser staubige, schwarze<br />

Chevrolet Suburban wie eine Bedrohung.<br />

Er wirft einen Schatten auf den Asphalt.<br />

Sie steigen ein. Der Motor röhrt. Seine<br />

Freundin fährt los.<br />

Sein Blick wird wieder die Umgebung<br />

abtasten. Er kann nicht aufhören, die Bomben<br />

zu suchen.<br />

Auch als Beifahrer nicht.<br />

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ISBN 978-3-351-02752-0. € 19,99<br />

JOHANNES G ERNERT<br />

bereiste als Fellow des Arthur<br />

F. Burns-Journalistenprogramms<br />

für junge Journalisten ein Vierteljahr<br />

lang die USA<br />

www.aufbau-verlag.de<br />

»Das ist der<br />

Humor,<br />

den man zum<br />

Altern braucht.«<br />

dieter<br />

hildebrandt<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 89


| K A P I T A L<br />

„WIR GEHEN DIE WETTE EIN“<br />

Daniels Pavluts, Wirtschaftsminister Lettlands, erklärt, warum sein Land trotz allem 2014 in den Euro will<br />

H<br />

err Pavluts, Lettland hat zurzeit<br />

Wachstumsraten von mehr als<br />

5 Prozent und gilt als Musterbeispiel<br />

für die wirtschaftliche Erholung<br />

eines Landes, das eine schwere Krise hinter<br />

sich hat. Trotzdem wollen die Letten in<br />

einem Jahr der dauerkriselnden Eurozone<br />

beitreten. Spinnen die Letten?<br />

Nein, und ich muss auch Ihrer Einschätzung<br />

teilweise widersprechen. <strong>Die</strong> Regierungen<br />

der Eurozone sind dabei, das<br />

System der Gemeinschaftswährung zu reformieren,<br />

und ich sehe Licht am Ende<br />

des Tunnels. Im Übrigen ist der Euro<br />

nach dem Dollar immer noch die wichtigste<br />

Reservewährung der Welt. So<br />

schlimm kann es daher nicht um ihn bestellt<br />

sein.<br />

Welche Reformen des europäischen Währungssystems<br />

meinen Sie genau?<br />

<strong>Die</strong> Einrichtung eines permanenten Rettungsschirms,<br />

die Stärkung der EZB, die<br />

Diskussionen über eine bessere Abstimmung<br />

der Finanzpolitik und die Einführung<br />

einer Bankenunion, das sind alles<br />

Schritte in die richtige Richtung. Man<br />

kann sich immer wünschen, dass noch<br />

weitreichendere Maßnahmen beschlossen<br />

und Anpassungen schneller durchgezogen<br />

werden, aber ich halte diese Diskussionen<br />

für absolut notwendig. Gestärkt<br />

werden wir als EU aus dieser Krise nur<br />

hervorgehen können, wenn an deren<br />

Ende ein stärker integriertes, föderales<br />

Europa steht. Aber wir dürfen uns dabei<br />

nicht zu viel Zeit lassen, weil Europa Gefahr<br />

läuft, seine derzeitige politische und<br />

wirtschaftliche Bedeutung in der Welt<br />

einzubüßen.<br />

Warum ist es für Lettland so wichtig, der<br />

Eurozone beizutreten?<br />

Nachdem wir Mitglied in der Nato<br />

und der EU geworden sind, ist dies<br />

der nächste logische Schritt. Wichtiger<br />

als der Beitritt ist für uns aber eigentlich<br />

die Tatsache, dass wir die Voraussetzungen<br />

geschaffen haben, Mitglied der<br />

Gemeinschaftswährung werden zu dürfen.<br />

Wir sind zurzeit eines der wenigen<br />

Länder in Europa, das die Maastrichtkriterien<br />

erfüllt. Kaum einer der Eurostaaten<br />

schafft das im Moment.<br />

Das sind hauptsächlich politische Argumente.<br />

Was hat Lettland als Volkswirtschaft,<br />

was haben die lettischen Unternehmen<br />

davon?<br />

Als Euromitglied mit hohen Wachstumsraten<br />

werden wir ein höheres Vertrauen<br />

der Märkte genießen. Das senkt die<br />

Transaktions- und Refinanzierungskosten<br />

der Unternehmen, aber auch des Staates.<br />

Schon im Zuge unserer Reformanstrengungen<br />

nach der Krise 2008 haben uns<br />

die Ratingagenturen bessere Noten gegeben,<br />

während die meisten anderen Länder<br />

abgewertet wurden.<br />

Ein Risiko für Lettland sehen Sie durch<br />

den Beitritt zur Eurozone demnach nicht?<br />

Wie es genau weitergeht in Europa,<br />

weiß keiner. Insofern gehen wir mit<br />

diesem Schritt in gewisser Weise eine<br />

Wette ein. Wir setzen dabei darauf, dass<br />

die Eurozone in welcher Konstellation<br />

auch immer fortbestehen wird als eine<br />

Gruppe von Ländern mit leistungsstarken,<br />

wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften,<br />

die gemeinsam eine wichtige<br />

Rolle in der Weltwirtschaft spielen werden.<br />

Und da möchten wir auf jeden Fall<br />

dabei sein.<br />

Ist der Beitritt Lettlands zum Euro andersherum<br />

für die Gemeinschaftswährung ein<br />

Risiko?<br />

Nein, warum?<br />

Sie haben in der Krise 2008/2009<br />

30 Prozent Ihrer wirtschaftlichen<br />

Leistungsfähigkeit eingebüßt, es gab<br />

Lohnkürzungen von bis zu 50 Prozent,<br />

und die Arbeitslosenquote ist noch immer<br />

die vierthöchste in der EU. Kritiker wie<br />

der US-Nobelpreisträger Paul Krugman<br />

bezweifeln, dass der jetzige Aufschwung<br />

und Ihre radikalen Sparanstrengungen<br />

nachhaltig sind.<br />

Vor 2008 haben wir einen künstlichen<br />

Boom in Lettland erlebt, der infolge der<br />

Finanzkrise brutal und abrupt beendet<br />

wurde. Daraus haben wir gelernt. Neben<br />

unseren Sparanstrengungen verfolgen<br />

wir eine Wachstumsstrategie und fördern<br />

vor allem Investitionen in die produzierende<br />

Industrie, aber auch in <strong>Die</strong>nstleistungssektoren<br />

wie Tourismus, die Finanzindustrie<br />

und Unternehmensberatungen.<br />

Außerdem verstehen wir uns als Brücke,<br />

vor allem auch für deutsche Unternehmen,<br />

in den Osten. Das alles funktioniert<br />

aber nur, wenn Sie die Wettbewerbsfähigkeit<br />

und die Produktivität erhöhen. Sparen<br />

und gleichzeitig die Löhne erhöhen ist<br />

schwierig. <strong>Die</strong> sozialen Einschnitte, die<br />

wir vornehmen mussten, waren tatsächlich<br />

extrem hart. Aber gerade deswegen<br />

achten wir jetzt im Aufschwung darauf,<br />

dass das Wachstum gerecht verteilt wird.<br />

Könnte Lettland also als Vorbild für andere<br />

Krisenländer innerhalb der Eurozone<br />

dienen?<br />

Das will ich nicht beurteilen. Mein Eindruck<br />

ist, dass andere Länder dazu neigen,<br />

ihre Probleme in die Zukunft zu<br />

transferieren. <strong>Die</strong>se Möglichkeit hatten<br />

wir gar nicht, als unsere Volkswirtschaft<br />

zusammenbrach. Wenn harte Anpassungen<br />

unausweichlich sind, dann sollte man<br />

sie so schnell wie möglich vornehmen.<br />

An der Verbesserung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit<br />

kommt ohnehin keiner<br />

vorbei, und ein Schuldenschnitt allein<br />

hilft nur bedingt. Bei der Durchsetzung<br />

der Reformen hatten wir es einfacher,<br />

weil sich die Letten nicht über Jahrzehnte<br />

an einen stetig wachsenden Wohlstand<br />

gewöhnt haben. Hinzu kommt, dass wir<br />

hier im Norden etwas introvertierter sind<br />

und die Erwartungen an den Staat auch<br />

aus historischen Gründen deutlich niedriger<br />

sind.<br />

Das Gespräch führte Til Knipper<br />

FOTO: LENE MÜNCH FÜR CICERO<br />

90 <strong>Cicero</strong> 1.2013


„Der Euro ist<br />

nach dem Dollar<br />

die wichtigste<br />

Reservewährung<br />

der Welt. So<br />

schlimm kann<br />

es also nicht um<br />

ihn stehen“<br />

Daniels Pavluts<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 91


| K A P I T A L<br />

ER LIEBT DAS PUTZEN<br />

Frank Becker arbeitet bei Collonil für sein Hobby und verleiht dabei der alten Marke neuen Glanz<br />

VON S TEFFEN U HLMANN<br />

F<br />

RANK BECKER HAT EINEN TICK: Er sammelt<br />

Schuhe und putzt sie leidenschaftlich<br />

gern. 62 Paare hat der<br />

51 Jahre alte Wahlberliner im Schrank, die<br />

er so behandelt, wie seine Mutter es ihm<br />

beigebracht hat: zuerst mit Bürste und<br />

Tuch, das auch feucht sein kann, die vom<br />

Straßendreck beleidigten Ledertreter säubern.<br />

Dann trocknen lassen. Darauf die<br />

Creme mit sachten Bewegungen einmassieren.<br />

Danach wieder Pause, um das aufgetragene<br />

Fett einwirken zu lassen. Schließlich<br />

mit einem weichen Tuch polieren – das<br />

bringt den Glanz. „Für die meisten Deutschen<br />

ist das Sklavenarbeit“, sagt Becker.<br />

„Für mich ist das ein kulturvoller Akt, dem<br />

ich noch heute fröne.“ Seine Leidenschaft<br />

lebt er nicht nur an der eigenen Sammlung<br />

aus. Er macht sich regelmäßig auch<br />

über die Schuhwerk-Armada seiner Familie<br />

– vier Kinder und eine Frau – her: „Das<br />

ist für mich purer Luxus.“<br />

Da fügt es sich gut, dass Becker Geschäftsführer<br />

und Mitinhaber einer Firma<br />

ist, die vom und für den Putzfimmel der<br />

Leute lebt. Collonil ist Marktführer unter<br />

den deutschen Herstellern von hochwertigen<br />

Schuh- und Lederpflegemitteln und<br />

hat derzeit mehr als 2000 Artikel im Sortiment.<br />

Imprägniersprays, Pflegelotions,<br />

Hochglanzcremes, die in unzähligen Farben<br />

und mit den verschiedensten Düften<br />

angeboten werden. Dazu gibt es passend<br />

Wachsauftrags- oder Feinglanzbürsten,<br />

zum Beispiel aus Ziegenhaar, sowie Schuhlöffel<br />

aus Bambusholz.<br />

Vieles erinnert an Produkte der Kosmetikindustrie.<br />

Aber Becker findet das normal.<br />

Leder sei nun mal eine Tierhaut, die ebenso<br />

gepflegt werden müsse wie die menschliche<br />

Haut. <strong>Die</strong> Grundstoffe Wachs, Öl und Fett<br />

sind überall gleich. Das Geheimnis liegt in<br />

der Diversifizierung und den dafür nötigen<br />

Zusatzstoffen. Becker: „<strong>Die</strong> Rezepturen<br />

sind streng geheim. Wir hüten sie besser<br />

als eine Schweizer Bank.“<br />

Gestartet ist Collonil vor über 100 Jahren<br />

in einer Dreizimmerwohnung in Berlin-Kreuzberg.<br />

Dort füllte Karl Esslen Lederöl<br />

aus Schweden in Fläschchen. Als<br />

ihm die Bestellungen zuviel<br />

wurden, suchte der Geschäftsmann<br />

Hilfe bei den<br />

Gebrüdern Paul und Walter<br />

Salzenbrodt. Aus der fortan<br />

gemeinsamen Generalvertretung<br />

für das schwedische Lederöl<br />

machte das Trio bald<br />

eine eigene Firma, die unter<br />

dem Markennamen Collonil<br />

(französisch „coller“ =<br />

kleben) Schuh- und Lederpflegemittel<br />

produzierte.<br />

Ihr erster Renner war eine<br />

Creme mit wasserabweisenden<br />

Eigenschaften. Später<br />

kam ein Fett hinzu, das<br />

das Schuhleder nicht nur<br />

geschmeidig, sondern auch<br />

glänzend machte. „Schuhe<br />

wollen Collonil“ hieß ihr<br />

Slogan dazu. Auch Ufa-Star<br />

Marlene <strong>Die</strong>trich warb damit<br />

und machte die schnell<br />

wachsende Firma bald weltbekannt. 1930<br />

entstand der erste Zweigbetrieb in Wien,<br />

der noch heute existiert. Und in Berlin zog<br />

man in Mühlenbeck am Rande der Stadt<br />

eine komplett neue Firma hoch.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg saß der<br />

letzte noch verbliebene Firmengründer<br />

Walter Salzenbrodt mit seinem Betrieb in<br />

der sowjetischen Besatzungszone. Vor der<br />

Anfang der fünfziger Jahre drohenden Enteignung<br />

setzte er sich in den Westteil der<br />

Stadt ab. Seitdem residiert das 1952 in<br />

Salzenbrodt & Co. KG umbenannte Unternehmen<br />

in Berlin-Wittenau. Mitte der<br />

neunziger Jahre kamen die Probleme. <strong>Die</strong><br />

Berlin-Förderung ist weg, weniger Menschen<br />

kaufen im Schuhfachhandel und das<br />

Geschäft der Billiganbieter wächst.<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

„Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht<br />

haben? Den<br />

Mittelstand!“, sagt jetzt<br />

auch der Deutsche-<br />

Bank-Chef Anshu<br />

Jain. <strong>Cicero</strong> weiß das<br />

schon länger und stellt<br />

den Mittelstand in<br />

einer Serie vor. <strong>Die</strong><br />

bisherigen Porträts aus<br />

der Serie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

Als sich bei Collonil die Verluste häuften,<br />

heuerten die Salzenbrodt-Firmeneigner<br />

1998 Frank Becker an. Der ehemalige<br />

BASF-Manager und -Sanierer<br />

krempelte das Unternehmen<br />

komplett um, ordnete<br />

das Produktportfolio neu,<br />

fokussierte Collonil auf die<br />

Außenmärkte und nutzte<br />

die eingeführte Marke für<br />

neue Produkte. Heute gibt<br />

es unter dem Namen Collonil<br />

auch Socken, Einlegesohlen,<br />

Schnürsenkel,<br />

Schuhspanner oder gar<br />

Fußpflegemittel. Hinzu<br />

kommen Pflegemittel für<br />

Motorradbekleidung, Autoinnenausstattungen<br />

oder<br />

für Passagiersitze in Flugzeugen.<br />

Und seit kurzem<br />

auch Pflegesprays für<br />

Outdoor-Bekleidung.<br />

In 100 Länder exportieren<br />

die Berliner. Das beschert<br />

ihnen einen Umsatz<br />

von derzeit 40 Millionen<br />

Euro im Jahr. Und sie sind<br />

weiter auf Wachstumskurs. Gerade hat Becker<br />

auf dem alten Firmengelände in Mühlenbeck<br />

das Richtfest für ein neues Produktions-<br />

und Logistikzentrum ausgerichtet,<br />

das im Frühjahr 2013 in Betrieb gehen soll.<br />

„Dann werden zu den jetzt 180 Beschäftigten<br />

in zwei Stufen weitere 60 Mitarbeiter<br />

hinzukommen“, sagt Becker, der noch mindestens<br />

20 Jahre „oberster Schuhputzer“ im<br />

Unternehmen bleiben will. „Ich bin bei Collonil<br />

kleben geblieben“, sagt er. „Das ist das<br />

Beste, was mir passieren konnte.“<br />

S TEFFEN U HLMANN<br />

ist freier Wirtschaftsjournalist.<br />

Er lebt und arbeitet in Berlin<br />

FOTOS: GÖTZ SCHLESER FÜR CICERO, PRIVAT (AUTOR)<br />

92 <strong>Cicero</strong> 1.2013


62 Paar Schuhe<br />

hat Collonil-Chef<br />

Frank Becker im<br />

Schrank. Er putzt sie<br />

leidenschaftlich gern<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 93


| K A P I T A L<br />

DIE GRENZGÄNGERIN<br />

Julia Jäkel führt den Medienkonzern Gruner und Jahr in die Zukunft. Glaubt sie an den Journalismus?<br />

VON T HOMAS S CHULER<br />

S<br />

IE ARBEITET HART. Man weiß, dass<br />

sie gegen 5:30 Uhr aufsteht, um<br />

vor der Arbeit Zeit mit ihren Zwillingen<br />

zu verbringen. Es ist auch bekannt,<br />

dass sie oft bis spätnachts telefoniert und<br />

E-Mails verschickt, dass sie den Duft von<br />

Dior liebt, in einen Kalender von Tiffany’s<br />

schreibt und dass ihr Mann Ulrich Wickert<br />

einst ihr Herz mit Blumen eroberte. All das<br />

ist über Julia Jäkel, 41, Vorstand des Medienkonzerns<br />

Gruner und Jahr, schon berichtet<br />

worden. Aber eines ist seltsam offengeblieben:<br />

ihr Verhältnis zum Journalismus.<br />

Jäkel führt seit September das Deutschlandgeschäft<br />

und die digitalen Aktivitäten<br />

von Gruner und Jahr. Der von ihr berufene<br />

Chefredakteur von Brigitte ist zugleich Geschäftsführer<br />

geworden, was Debatten über<br />

die Abgrenzung des redaktionellen Teils<br />

von den Anzeigen auslöste. Gerade hat sie<br />

die Financial Times Deutschland eingestellt.<br />

Wie viel Journalismus steckt in dieser Frau?<br />

Um das zu sehen, lohnt es sich, an den<br />

Anfang ihres Berufslebens zurückzugehen.<br />

Es war vor 15 Jahren, als sich Jäkel für<br />

den Journalismus entschied. Sie wollte lernen,<br />

zu recherchieren und zu schreiben. Ihr<br />

standen 1998 die Türen offen bei Bertelsmann,<br />

sie hatte nach dem Studium in Heidelberg,<br />

Harvard und Cambridge das Karriereprogramm<br />

des Konzerns durchlaufen.<br />

Sie hätte zurück zum Buchverlag Random<br />

House nach München gehen können, wo<br />

sie während der Ausbildung ihre erste Praxisstation<br />

absolviert hatte. Oder nach Luxemburg,<br />

wo der Chef der Fernsehsparte<br />

RTL, Rolf Schmidt-Holtz, sie gerne als Assistentin<br />

behalten hätte. Jäkel lehnte ab. Sie<br />

zog es zu Gruner und Jahr – der Inhalte wegen,<br />

wie sie einmal erklärte. Um zu erfahren,<br />

wie Journalisten ticken und Journalismus<br />

funktioniert, bat sie Verlagschef Gerd<br />

Schulte-Hillen nach Ende ihrer Ausbildung,<br />

noch in der Redaktion der Berliner Zeitung<br />

arbeiten zu dürfen. Das Blatt galt als großes<br />

Experiment des Qualitätsjournalismus, als<br />

Versprechen. Der Versuch, aus der ehemaligen<br />

SED-Zeitung eine deutsche Washington<br />

Post zu machen, war gescheitert, aber<br />

nun wollte Gruner und Jahr einen zweiten<br />

Versuch wagen. <strong>Die</strong> 27-Jährige kam<br />

in eine Redaktion, in der Aufbruchstimmung<br />

herrschte: Der Chefredakteur Michael<br />

Maier und sein Chefreporter Alexander<br />

Osang waren noch keine 40 Jahre<br />

alt. In guten Tagen empfahl Maier seinen<br />

Schreibern, sie sollten sich in einer Liga mit<br />

der New York Times sehen. Manche glaubten<br />

ihm. Er durfte Millionen ausgeben, um<br />

50 Mitarbeiter der alten Mannschaft abzufinden<br />

und Edelfedern von der FAZ, taz,<br />

Süddeutsche Zeitung, Spiegel und Wochenpost<br />

zu holen und sie mit Blattmachern von<br />

Bild und Focus zu ergänzen.<br />

Für drei Monate bezog Julia Jäkel eine<br />

Verlagswohnung am Kotti in Kreuzberg<br />

und arbeitete in der 12. Etage im sozialistisch<br />

angehauchten Verlagsgebäude am Alexanderplatz.<br />

Nur wenige Kollegen in der<br />

Wirtschaftsredaktion wussten, dass sie bei<br />

Bertelsmann für Höheres auserwählt war.<br />

Manche sahen die Arzttochter aus Wiesbaden<br />

als ehrgeizige Praktikantin, die jeden<br />

Morgen in der Konferenz lauschte, wenn es<br />

krachte zwischen den Feuilletonisten und<br />

den Lokaljournalisten. Sie suchte Pressestimmen<br />

für die Meinungsseite heraus.<br />

<strong>Die</strong> drei Monate bei der Berliner Zeitung<br />

blieben die einzige Zeit, in der Julia<br />

Jäkel originär journalistisch arbeitete: Sie<br />

recherchierte und schrieb über einen Streit<br />

um das traditionsreiche Hotel Bristol am<br />

Kurfürstendamm, über Pläne für <strong>500</strong> Entlassungen<br />

beim französischen Mischkonzern<br />

Alcatel in Berlin. Mit einem Artikel<br />

über Ermittlungen gegen die Berliner Bank<br />

schaffte sie es sogar auf Seite eins. Mehrmals<br />

berichtete sie gemeinsam mit Kollegen.<br />

Sie nutzte ihre Kontakte und befragte<br />

in einem Bericht über geplante Abhörgesetze<br />

auch Gerd Schulte-Hillen. Den Mann<br />

also, der sie zur Berliner Zeitung geschickt<br />

hatte. In Berlin war eben vieles möglich.<br />

Am Ende entschied sich Julia Jäkel jedoch<br />

gegen das Schreiben, weil sie fand, dass<br />

andere darin besser seien. Sie wurde geschäftsführende<br />

Redakteurin beim Promiblatt<br />

Gala, doch inhaltlich befriedigte sie<br />

das nicht. Als Christoph Keese, der frühere<br />

Wirtschaftschef der Berliner, sie anrief<br />

und fragte, ob sie die Financial Times<br />

Deutschland mitgründen wolle, machte sie<br />

mit. Wieder ein Aufbruch, wieder ein Labor<br />

des Journalismus, dessen Teil sie sein<br />

wollte. Aber sie wurde Keeses geschäftsführende<br />

Redakteurin, es ging mehr ums<br />

Organisieren als ums Recherchieren und<br />

Schrei ben. Als die PR-Frau ausfiel, übernahm<br />

sie auch deren Aufgaben.<br />

Wieder stellte sich die Frage: Wohin<br />

soll sie gehen? Tiefer in den Journalismus?<br />

Oder hin zur Verlagsseite? Sie kümmerte<br />

sich für die FTD um das Luxusmagazin<br />

How to spend it und andere Beilagen, die<br />

Anzeigen versprachen. 2004 wechselte sie<br />

ins Management von Gruner und Jahr, nun<br />

steht sie an der Spitze des Unternehmens.<br />

Sie hat ihr eigenes Labor. Mit der FTD<br />

wurde sie einen Verlustbringer los, aber ihr<br />

Haus büßt damit an Bedeutung ein. Während<br />

im Wirtschaftsjournalismus 360 Arbeitsplätze<br />

wegfielen, expandiert die Tochter<br />

für Firmenmagazine und eröffnete ein<br />

neues Büro in München. Wer wird Gruner<br />

und Jahr künftig journalistisch repräsentieren:<br />

Stern und Geo oder Lifestyle-Blätter<br />

wie Couch? Liegt die Zukunft der Medien<br />

in der Glaubwürdigkeit oder in der<br />

Geschmeidigkeit gegenüber den Anzeigenkunden?<br />

Mehr Journalismus – oder weniger?<br />

Julia Jäkel wird das wieder einmal entscheiden<br />

müssen.<br />

T HOMAS S CHULER<br />

ist Medienjournalist in<br />

München. Von ihm erschien<br />

das Buch „Bertelsmannrepublik<br />

Deutschland“<br />

FOTOS: BARBARA DOMBROWSKI/LAIF, PRIVAT (AUTOR)<br />

94 <strong>Cicero</strong> 1.2013


<strong>Die</strong> Financial Times<br />

Deutschland hat<br />

sie eingestellt. Ein<br />

Verlustbringer ist weg,<br />

Bedeutung aber auch<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 95


| K A P I T A L | F I N A N Z K R I S E<br />

„DEM KAPITALISMUS<br />

FEHLT DER FEIND“<br />

Bestsellerautor COLIN CROUCH über verfehlten Liberalismus,<br />

falsche Griechenland-Politik und die sieche FDP<br />

H<br />

err Crouch, vor einem Jahr haben<br />

Sie das „befremdliche Überleben<br />

des Neoliberalismus“ konstatiert.<br />

Hat jetzt mit ein wenig Verzögerung doch<br />

das Sterben eingesetzt?<br />

Nein, im Gegenteil. Wir erleben in Europa<br />

eine neue Kraft des Neoliberalismus.<br />

Schauen Sie sich doch nur die Auflagen<br />

für Griechenland an: Sie sind Ausfluss<br />

eines reinen dogmatischen Neoliberalismus.<br />

Der wirtschaftliche Erfolg wird<br />

allein an der Deregulierung des Arbeitsmarkts<br />

gemessen, um Strukturreformen<br />

hingegen geht es nur sehr wenig. In der<br />

europäischen Politik gibt es in der Regel<br />

stets eine Akzentuierung von neoliberalen<br />

Maßnahmen. Das kann man<br />

auch durchaus verstehen, denn es müssen<br />

Märkte entstehen, und dafür braucht<br />

man ein wenig Liberalismus. Normalerweise<br />

geht das aber einher mit ein wenig<br />

Sozialpolitik. In der Krise aber ist man<br />

atavistisch zu einem reinen Neoliberalismus<br />

zurückgekehrt. <strong>Die</strong> Eurokrise ist<br />

das beste Beispiel für das Überleben des<br />

Neoliberalismus.<br />

Für Deutschland scheint das nicht zu<br />

gelten. <strong>Die</strong> FDP hat mit Umfragewerten<br />

von unter 5 Prozent zu kämpfen.<br />

Ich habe nie verstanden, warum die Liberalen<br />

vor drei Jahren so gut dastanden.<br />

<strong>Die</strong> Deutschen verstehen, wie wichtig der<br />

Sozialstaat ist, und sie wollen ihn nicht<br />

verlieren. Doch jetzt ist er bedroht. Sowohl<br />

die OECD als auch der Internationale<br />

Währungsfonds haben festgestellt,<br />

dass das Niveau der Ungleichheit in den<br />

USA und in vielen europäischen Ländern<br />

so groß ist, dass sie die Wirtschaft bedroht.<br />

Das ist etwas vollkommen Neues.<br />

Ist der Liberalismus beziehungsweise<br />

Neo liberalismus das richtige Mittel, um<br />

diese Entwicklung aufzuhalten?<br />

In einem echten, reinen Markt würde es<br />

Ungleichheiten geben, aber die Unterschiede<br />

wären aufgrund des gesunden<br />

Wettbewerbs geringer. Der heute existierende<br />

Neoliberalismus ist keine reine<br />

Marktwirtschaft, sondern eine Wirtschaft<br />

der großen, quasi monopolistischen Konzerne,<br />

was vollkommen marktwidrig ist.<br />

Wir erleben eine Vermischung von politischer<br />

und wirtschaftlicher Macht, die<br />

eine Folge der Konzentration des Reichtums<br />

ist. Auch das ist marktwidrig, denn<br />

FOTOS: ANDREJ DALLMANN FÜR CICERO<br />

Colin Crouch ist emeritierter<br />

Professor der University<br />

of Warwick. Bekannt<br />

wurde der britische<br />

Politikwissenschaftler<br />

und Soziologe mit seinen<br />

Schriften über „Das<br />

befremdliche Überleben<br />

des Neoliberalismus“<br />

und „Postdemokratie“<br />

96 <strong>Cicero</strong> 1.2013


in einer Marktwirtschaft sollte es eine<br />

solche Vermischung nicht geben.<br />

Was kennzeichnet denn den Liberalismus?<br />

Im klassischen Liberalismus gibt es immer<br />

die Möglichkeit des Misserfolgs und<br />

des Unvorhergesehenen; es gibt keinen<br />

großen Staat, der alles planiert. Zu Problemen<br />

kommt es erst dann, wenn der<br />

Liberalismus zu einer Doktrin wird, die<br />

keiner Korrekturen bedarf. Wozu das<br />

führt, sehen wir heute.<br />

Haben Sie den Eindruck, dass Europa aus<br />

der Krise gelernt hat?<br />

<strong>Die</strong> Politiker haben einiges gelernt. Aber<br />

wir können keine durchgehende Logik erwarten,<br />

da viele widersprüchliche Schlüsse<br />

gezogen haben. Politik an sich ist schon<br />

kompliziert, in der Krise aber ist sie besonders<br />

schwierig.<br />

Was sollten denn die Lehren aus der Wirtschafts-<br />

und Finanzkrise sein?<br />

<strong>Die</strong> Finanzmärkte brauchen eine globale<br />

Regulierung. Aber ebenso wichtig<br />

ist die Erkenntnis, dass wir einander in<br />

Europa brauchen. Nicht Staaten stehen<br />

im Wettbewerb, sondern Unternehmen,<br />

die um Märkte konkurrieren. Deutschland<br />

braucht die anderen, die seine Waren<br />

kaufen. Wenn die anderen sich aber<br />

diese Waren nicht leisten können, dann<br />

können sie die Deutschen auch nicht verkaufen.<br />

Es gibt also eine wechselseitige<br />

Abhängigkeit, mit der Folge, dass wir uns<br />

„<strong>Die</strong> Finanzmärkte brauchen eine<br />

globale Regulierung. Aber ebenso<br />

wichtig ist die Erkenntnis, dass wir<br />

einander in Europa brauchen. Nicht<br />

Staaten stehen im Wettbewerb,<br />

sondern Unternehmen, die um<br />

Märkte konkurrieren“<br />

gegenseitig unterstützen müssen. <strong>Die</strong><br />

Menschen aber lernen aus der Eurokrise<br />

genau das Gegenteil.<br />

Stellen Sie sich vor, Sie wären die deutsche<br />

Kanzlerin und müssten den Deutschen<br />

erklären, dass immer mehr Millionen<br />

Euro an Griechenland gezahlt werden<br />

müssen.<br />

<strong>Die</strong> Zahlungen waren und sind richtig.<br />

Griechenland ist ein Paradebeispiel<br />

für die Verquickung von politischer und<br />

wirtschaftlicher Macht. Es gibt eine<br />

kleine Elite. <strong>Die</strong>se Elite beherrscht das<br />

Land, die Politik, die Massenmedien, sie<br />

zahlt keine Steuern, ihr gesamtes Vermögen<br />

befindet sich im Ausland. Hinzu<br />

kommt, es gibt eine sehr hohe Zahl von<br />

Selbstständigen, und die zahlt nicht sehr<br />

viel Steuern. <strong>Die</strong> Einzigen, die wirklich<br />

Steuern zahlen, sind die im öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nst Beschäftigten und einige wenige<br />

kleine Unternehmen. Es ist daher vollkommen<br />

richtig zu verlangen, dass die<br />

Griechen ihr Verhalten ändern. Doch<br />

welche Hoffnung geben wir ihnen? Wir<br />

sagen ihnen ständig: Baut euren Sozialstaat<br />

ab. Doch damit können sie keine<br />

moderne Wirtschaft aufbauen. Griechenland<br />

braucht Hilfe, um sein Staatsmodell<br />

zu verändern, dies würde aber viel weitreichendere<br />

Eingriffe in die Autonomie<br />

eines souveränen Staates erfordern.<br />

Sie sehen die Ursache für den großen<br />

Crash vornehmlich in der Gier der<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 97


| K A P I T A L | F I N A N Z K R I S E<br />

Finanzindustrie. Vielleicht kommt noch<br />

eine weitere Komponente hinzu, nämlich<br />

die „Gier auf den Sozialstaat“?<br />

<strong>Die</strong>ser These widerspreche ich. Ökonomien<br />

Südeuropas, vielleicht mit Ausnahme<br />

Italiens, sind keine Sozialstaaten.<br />

Lassen wir mal die osteuropäischen Länder,<br />

die sehr unterschiedlich sind, außen<br />

vor und betrachten nur Westeuropa,<br />

dann stellen wir fest, dass dort der Wohlfahrtsstaat<br />

sehr schlecht organisiert ist.<br />

Transferzahlungen haben in dieser Region<br />

ein zu hohes Gewicht, während die<br />

Bereitstellung von <strong>Die</strong>nstleistungen viel<br />

zu kurz kommt. Hinzu kommt: Beim<br />

Schutz des Arbeitsmarkts geht es in diesen<br />

Staaten vorwiegend um den Schutz<br />

bestehender Arbeitsplätze und weniger<br />

um die Hilfe, Unterstützung und Weiterbildung<br />

von Arbeitslosen. Wohlfahrtsstaaten<br />

haben ein strukturelles Problem,<br />

Man kann aber nicht die Amerikaner dafür<br />

verantwortlich machen – sie haben<br />

die anderen schließlich nicht eingeladen<br />

mitzumachen. Alle wollten dabei sein.<br />

Glauben Sie, Großbritannien und die USA<br />

haben aus der Krise gelernt?<br />

Großbritannien hat neue Regeln eingeführt,<br />

die aber einige Finanzexperten bereits<br />

für viel zu schwach halten. Jedenfalls<br />

werden sie erst im Jahr 2019 umgesetzt<br />

sein. Bis dahin wird es mindestens eine<br />

Parlamentswahl geben, und Lobbyisten<br />

aus dem Finanzsektor werden ausreichend<br />

Zeit haben, gegen die Maßnahmen<br />

vorzugehen. Was in den USA<br />

geschehen wird, müssen wir abwarten.<br />

Während Obamas erster Amtszeit war er<br />

sehr auf den Finanzsektor angewiesen. In<br />

seiner zweiten Amtszeit könnte ihm das<br />

egal sein, und er könnte Maßnahmen zur<br />

Regulierung in Angriff nehmen. Allerdings<br />

wird er es ohne die Unterstützung<br />

des Kongresses schwer haben, und dort<br />

haben Lobbygruppen einen unglaublich<br />

großen Einfluss.<br />

„Es gibt die Chance, dass sich Europa<br />

föderaler entwickelt und damit wieder<br />

demokratischer wird. Wenn wir<br />

beginnen, Europa zu stärken, werden<br />

wir auch die Demokratie stärken“<br />

und sie sind auch nicht großzügig. Es ist<br />

wichtig, dass alle Konsumenten sein können,<br />

und das bedeutet, dass sie ein Einkommen<br />

haben müssen und sich sicher<br />

fühlen müssen, um auch die Risiken des<br />

Konsums tragen zu können.<br />

Angesichts der Tatsache, dass die Finanzkrise<br />

in den USA ausgebrochen ist, erscheint<br />

es sehr unfair, dass wir in Europa<br />

nun das Ganze ausbaden müssen.<br />

Ja, das ist es. Aber es ist auch deswegen<br />

dazu gekommen, weil die europäischen<br />

Banken bei den Finanzmarktgeschäften<br />

in Amerika mitgemacht haben. Experten<br />

sagen, dass sie damit grandios gescheitert<br />

sind, weil sie erst spät in das Geschäft mit<br />

Derivaten eingestiegen sind, sie das System<br />

nie ganz durchdrungen und sie daher<br />

die größten Fehler gemacht haben.<br />

So konnte sich die Krankheit ausbreiten.<br />

Nach dem Motto: Wenn die Amerikaner<br />

niesen, bekommt jeder eine Erkältung.<br />

Ebenso könnte man sagen, die Banken<br />

haben doch nur ihren Job gemacht und<br />

nach Gewinnmaximierung gestrebt. Einen<br />

Crash hatten die Banker doch sicher nicht<br />

beabsichtigt, oder?<br />

Nach der Markttheorie von Eugene<br />

Fama kann der Markt nie scheitern, da<br />

die Handelnden perfekt informierte, rationale<br />

Akteure sind, die niemals Fehler<br />

machen. Nur: <strong>Die</strong>smal waren die Händler<br />

nicht perfekt informiert. Das Geschäft<br />

mit Derivaten muss schnell vonstattengehen<br />

– je schneller, desto größer<br />

der Gewinn. Bei dieser Art von Handel<br />

gibt es keine Zeit zu überprüfen, welchen<br />

Inhalt das Paket hat, das man weiterverkauft.<br />

<strong>Die</strong> Händler hatten keine<br />

Ahnung, was sie verkauften, sie haben es<br />

einfach weiterverkauft. Es reichte vollkommen<br />

zu glauben, dass jemand anderes<br />

glaubt, dass man etwas mit Gewinn<br />

weiterveräußern kann. <strong>Die</strong> einzige Information,<br />

die die Händler benötigten,<br />

war: Das System funktioniert. Man kann<br />

daher tatsächlich nicht dem einzelnen<br />

Händler die Schuld für den Crash geben.<br />

Denn das System funktioniert nach dem<br />

Motto: Solange die Musik spielt, muss<br />

man weitertanzen. Hierin liegt das Versagen<br />

des Systems. Wenn eine Gruppe<br />

normalerweise dasselbe Problem hat und<br />

man davon ausgehen kann, dass dieses<br />

Problem zu einem Desaster führt, wird<br />

diese Gruppe in der Regel Gegenmaßnahmen<br />

ergreifen. Bei der Finanzmarktkrise<br />

aber konnte niemand den ersten<br />

Schritt wagen. Denn derjenige, der es<br />

doch gewagt hätte, wäre aus dem Geschäft<br />

raus gewesen.<br />

Hat der Kapitalismus durch den Untergang<br />

des Kommunismus seinen Gegner<br />

und dadurch die gegenseitige Kontrolle<br />

verloren?<br />

Durchaus. Nach dem Ende des Zweiten<br />

Weltkriegs waren die USA unglaublich<br />

großzügig und haben eine heterogene politische<br />

Landschaft unterstützt. Entscheidend<br />

war, ein Gegengewicht gegen den<br />

Kommunismus aufzubauen. Es gab damals<br />

tatsächlich eine Wahl. Staaten in der<br />

Dritten Welt konnten sagen: Wenn wir<br />

keine Unterstützung von den USA bekommen,<br />

dann gibt es immer noch die<br />

Sowjetunion. Auch wenn die Alternative<br />

schrecklich war, es gab sie. Aufgrund dessen<br />

war der Kapitalismus sehr viel eher<br />

bereit zu sozialen Kompromissen.<br />

Friedrich Hölderlin hat gesagt: „Wo aber<br />

Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“<br />

Gibt es für Europa in der Krise die Chance,<br />

ein besseres Europa entstehen zu lassen,<br />

oder wird es zersplittern?<br />

Europa wird nicht zersplittern, aber vielleicht<br />

geschwächt. Es gibt aber auch die<br />

Chance, dass sich Europa föderaler entwickelt<br />

und damit wieder demokratischer<br />

wird. Wenn wir beginnen, Europa<br />

zu stärken, werden wir dadurch auch die<br />

Demokratie stärken.<br />

Das Gespräch führten Judith Hart<br />

und Christoph Schwennicke<br />

98 <strong>Cicero</strong> 1.2013


EURO-KRISE Wie viel Rettung muss sein?<br />

SYRIEN Ein Land versinkt in Blut und Gewalt<br />

USA Zweite Chance ohne Charisma<br />

www.spiegel.de<br />

Jetzt<br />

im<br />

Handel.


| K A P I T A L | A R Z N E I M I T T E L<br />

DIE QUADRATUR<br />

DER KÜGELCHEN<br />

100 <strong>Cicero</strong> 1.2013


In der Fabrik der<br />

Anthroposophen. Huningue,<br />

Frankreich, ein Industrieroboter<br />

verpackt Fläschchen mit<br />

Baldriankügelchen<br />

<strong>Die</strong> alternative Medizin boomt. Immer mehr Menschen<br />

nehmen homöopathische Globuli. <strong>Die</strong> Anbieter produzieren<br />

industriell, um die Nachfrage nach den Arzneimitteln mit<br />

der ganzheitlichen Aura zu stillen. Wie geht das zusammen?<br />

VON S TEFAN T ILLMANN<br />

FOTO: BASILE BORNAND/13PHOTO FÜR CICERO<br />

S<br />

PÄTESTENS AN DIESEM MORGEN in<br />

der Produktionshalle in Schwäbisch<br />

Gmünd verliert die Baldrianwurzel<br />

ihre Unschuld. Ein<br />

Brei ist sie schon, aber nun rollt<br />

ein elektrischer Hebewagen über den Fliesenboden<br />

und kippt die Masse in einen Riesenkessel<br />

aus Edelstahl. 800 Liter fasst der<br />

Behälter, darin wird der Brei erhitzt und<br />

eine halbe Stunde am Siedepunkt gehalten.<br />

Dann lässt Thomas Armbruster die Flüssigkeit<br />

abkühlen und zwölf bis 36 Stunden<br />

ziehen, bevor sie zur Weiterverarbeitung<br />

an einen anderen Produktionsstandort in<br />

Frankreich gefahren wird und jene Kügelchen<br />

herauskommen, die Globuli heißen,<br />

in diesem Fall: Calmedoron.<br />

Hier, in der Halle von Thomas Armbruster,<br />

sind zwei Welten zu besichtigen:<br />

Der Biotechnologe arbeitet für Weleda, ein<br />

Unternehmen, das sich in der Tradition der<br />

Anthroposophie sieht. Rudolf Steiner, der<br />

Vater der Waldorfschulen, ergänzte einst<br />

Schulmedizin und Homöopathie um Spiritualität,<br />

um die Erforschung des menschlichen<br />

Geistes und der Gestirne. Aussaat<br />

und Ernte werden nach dieser Denkschule<br />

sogar auf die Mondphase abgestimmt. Weil<br />

aber die Nachfrage nach anthroposophischen<br />

Mitteln steigt und steigt, stößt die<br />

anthroposophische Medizin gerade auf die<br />

Gesetze der Arzneimittelindustrie, in der<br />

es um Masse, Effizienz und Zuverlässigkeit<br />

geht und weniger darum, wann wie<br />

der Mond scheint. In dieser Welt werden<br />

nicht nur gute Zuhörer und behutsame<br />

Gärtner gebraucht.<br />

Und deshalb ist Thomas Armbruster<br />

hier, 44, kurz geschorene Haare, Leiter<br />

Tinkturherstellung bei der Weleda AG,<br />

Weltmarktführer für anthroposophische<br />

Arzneimittel und Naturkosmetika. Armbruster<br />

muss die zwei Welten zusammenbringen,<br />

es ist die Quadratur der Kügelchen.<br />

Steinkrüge für den Baldrianbrei?<br />

Geht nun mal nicht bei den Mengen, also<br />

Edelstahlkessel, das verlangen auch die Industriestandards.<br />

Erhitzen des Breis ohne<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 101


| K A P I T A L | A R Z N E I M I T T E L<br />

FOTOS: THOMAS BERNHARDT (4), BASILE BORNAND/13 PHOTO (2) FÜR CICERO<br />

Kultur, Theorie, Heilung. Stefan von Löwensprung, Mediziner<br />

und Idealtypus des Anthroposophen, berät Weleda<br />

Menge, Umsatz, Gewinn. Thomas Armbruster, Biotechnologe,<br />

leitet die Herstellung von Tinkturen bei Weleda<br />

elektromagnetische Strahlen? Okay, man<br />

kann auch Dampf einsetzen. Armbruster<br />

sieht das alles ziemlich pragmatisch. Seine<br />

Lieblingspflanze ist die Ringelblume, weil<br />

Weleda die in großen Mengen erntet. „Und<br />

weil Menge mehr Umsatz und mehr Gewinn<br />

bedeutet.“ So ein Satz hört sich nicht<br />

besonders ganzheitlich an, vielleicht hat<br />

das damit zu tun, dass Armbruster früher<br />

bei den „Bösen“ gearbeitet hat, wie er sagt:<br />

einem Start-up für Genforschung.<br />

ABER ES GIBT HIER JA noch Menschen wie<br />

Stefan von Löwensprung. Von Löwensprung,<br />

46, eher schmächtig, ist so etwas<br />

wie der Idealtypus eines Anthroposophen<br />

und der Gegenentwurf zu Armbruster. Er<br />

ging auf die Waldorfschule, zum 14. Geburtstag<br />

wünschte er sich einen Besuch im<br />

Weleda-Erlebniszentrum. Schon vor seinem<br />

Medizinstudium wusste er, dass er danach<br />

eine anthroposophische Weiterbildung machen<br />

würde. Später arbeitete er in anthroposophischen<br />

Kliniken und Praxen, versuchte,<br />

mit Mistelpräparaten die Leben von<br />

Krebspatienten im Endstadium zu verlängern.<br />

Er sagt, einige wären früher gestorben,<br />

wären sie früher operiert worden.<br />

Heute ist von Löwensprung Mitautor<br />

des Handbuchs für Naturheilpraxis<br />

und eine Art Berater des Weleda-Konzerns.<br />

Er gehört der anthroposophischen<br />

Christengemeinschaft an, er kann minutenlang<br />

Rudolf Steiner zitieren, im Bücherschrank<br />

zu Hause hat er die Gesamtausgabe.<br />

Armbruster dagegen findet, dass man<br />

die 100 Jahre alten Steiner-Texte im Original<br />

kaum lesen kann. Aber im Kollegenkreis<br />

redeten sie manchmal über die Theorien,<br />

sagt er. Während im Hintergrund der<br />

Kessel vollläuft, spricht von Löwensprung<br />

leise, Armbruster laut.<br />

Weleda braucht beide. Es ist ein schmaler<br />

Grat zwischen dem individuellen Ansatz<br />

und der industriellen Produktion, zwischen<br />

Überzeugungen und einem Geschäft, das<br />

Kompromisse verlangt. <strong>Die</strong> Gesundheitsbranche<br />

boomt im alternden Deutschland<br />

Ein Weleda-Gärtner in<br />

Schwäbisch Gmünd trennt die<br />

Baldrianwurzeln vom Strang.<br />

Dann: Waschen, Trocknen,<br />

Zerkleinern. Im Kessel entsteht<br />

eine Tinktur. Später in<br />

Huningue im Elsass wird die<br />

Tinktur auf Globuli gespritzt<br />

102 <strong>Cicero</strong> 1.2013


fast von selbst. Und es wundert nicht, dass<br />

im allgemeinen Biotrend die alternative<br />

Medizin besonders profitiert.<br />

Es ist ein unübersichtlicher Markt von<br />

Anbietern entstanden, die vielfach weiter<br />

Probleme haben, die Wirksamkeit ihrer<br />

Produkte zu beweisen. Gekauft werden die<br />

Mittel so oder so: Homöopathische und<br />

anthroposophische Mittel machten im<br />

September 2012 zwar erst gut 1 Prozent<br />

vom Zwei-Milliarden-Umsatz der Apotheken<br />

aus. <strong>Die</strong> Umsätze wachsen aber zweistellig,<br />

während der Apothekenmarkt insgesamt<br />

stagniert. Um die Nachfrage zu<br />

stillen, müssen die Firmen industriell produzieren,<br />

auch wenn die Heilpflanzen noch<br />

so schonend angebaut werden.<br />

DIE LUFT ÜBER DEM ACKER ist kalt an diesem<br />

Morgen, den Himmel verhängt eine graue<br />

Wolkendecke. Das Gelände bei Schwäbisch<br />

Gmünd gehört zu Weledas größter Anbaufläche.<br />

Auf 22 Hektar wachsen 450 verschiedene<br />

Pflanzenarten, viele auf 50 Quadratmeter<br />

großen Beeten. Manche Beete<br />

werden mit Gestrüpp abgedunkelt, um<br />

Prozesse im menschlichen Darm nachzustellen.<br />

Pflanzen wie Johanniskraut werden<br />

mit Gold gedüngt, weil das das natürliche<br />

Sonnenmetall sei. Stefan von Löwensprung<br />

etwa ist ein regelrechter Fan des Goldes. Er<br />

rechnet vor, dass in einen 20-Liter-Malereimer<br />

400 Kilogramm Gold passen, und<br />

dass sich ein Gramm Gold zu einem Faden<br />

von einem Kilometer strecken lässt. Was für<br />

eine Dichte! Welche Elastizität! Das Gold<br />

passe einfach perfekt zum Herzen.<br />

An diesem Morgen werden die Baldrianwurzeln<br />

geerntet. Eine Maschine pflügt<br />

über den Acker, sie lockert den Boden,<br />

dann klauben Saisonkräfte die Wurzeln heraus.<br />

Wurzelbestandteile wirken nach der<br />

anthroposophischen Lehre in Richtung<br />

des zentralen Nervensystems und Baldrian<br />

wirkt beruhigend. Wenn sich im Herbst die<br />

Kräfte in die Wurzel ziehen, ist aus Sicht der<br />

Steiner-Schüler die beste Zeit zur Ernte. Solange<br />

nicht Vollmond ist, denn dann ernten<br />

Anthroposophen nicht.<br />

In der<br />

alternativen<br />

Medizin geht es<br />

um Individuen.<br />

In der Industrie<br />

geht es um<br />

Masse<br />

Der deutsche Arzt Christian Hahnemann<br />

hatte im 19. Jahrhundert die Homöopathie<br />

mit zwei Prinzipien begründet.<br />

Ähnliches soll mit Ähnlichem geheilt<br />

und die Mittelchen stark verdünnt werden.<br />

<strong>Die</strong> Homöopathen gehen davon aus,<br />

dass Substanzen, die bei einem gesunden<br />

Menschen bestimmte Symptome auslösen,<br />

dieselben bei Kranken lindern. So soll Kaffee<br />

ein Heilmittel gegen Schlaflosigkeit sein.<br />

Hahnemanns Konzept griff Rudolf Steiner<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts auf.<br />

Aus der Idee ist ein Geschäft geworden.<br />

Weleda macht heute über 300 Millionen<br />

Euro Umsatz. Das klingt im Vergleich<br />

zu Pharmaunternehmen wie Bayer Health-<br />

Care Pharmaceuticals und Boehringer Ingelheim<br />

mit jeweils über zehn Milliarden<br />

Euro Umsatz fast bescheiden. Weleda führt<br />

aber mit 1400 Arzneimitteln wesentlich<br />

mehr Produkte als die Konkurrenz, die<br />

gern auf wenige Kassenschlager setzt.<br />

Weleda produziert bis heute auch für<br />

den Einzelfall. Doch oft wird Massenware<br />

hergestellt, wie bei den Baldrianwurzeln,<br />

die zu Calmedoron werden. <strong>Die</strong> Kügelchen<br />

sollen gegen Schlafstörungen helfen.<br />

Globuli sind die Klassiker unter den<br />

Mitteln, diese weißen Streukügelchen, die<br />

sich Kranke unter die Zunge schieben sollen.<br />

Viele Eltern verabreichen die Mittel<br />

ihren Kindern. <strong>Die</strong> Naturprodukte werden<br />

schon keinen Schaden anrichten – und<br />

wer weiß: Vielleicht helfen sie sogar. Es ist<br />

eine andere Denke, die nicht auf Beweise<br />

der Wirkung setzt, keine evidenzbasierte<br />

Medizin mit ihren klinischen Teststudien.<br />

In dieser Welt geht es um Individuen und<br />

die Ganzheit von Körper und Seele.<br />

EIN TAG NACH DER ERNTE. <strong>Die</strong> Wurzeln landen<br />

drüben in der Tinkturenherstellung, in<br />

Thomas Armbrusters Halle. Abgeschliffener<br />

grauer Boden, keine runden, geschwungenen<br />

Formen, dafür leistungsstarke<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 103


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Deckenleuchten. Ganzheitlich? „Was habe<br />

ich davon, wenn ich stattdessen mit offener<br />

Flamme arbeite und mir alle zwei Tage die<br />

Bude abbrennt“, sagt Armbruster.<br />

Männer mit Haube und Mundschutz<br />

waschen und trocknen die 450 Kilogramm<br />

Wurzeln, die verlieren dabei 80 Prozent an<br />

Wasser. Sie zerkleinern und kippen sie in<br />

ein Fass. Blieben die Pflanzen zu lange an<br />

der Luft, würden sie braun werden wie aufgeschnittene<br />

Äpfel. Deswegen wird ein Extraktionsmittel<br />

darübergegeben: Ethanol,<br />

Bioethanol natürlich.<br />

Nachdem der Baldrianbrei zur Tinktur<br />

geworden ist, beginnt in der Industriehalle<br />

das, was Zweifler Hokuspokus nennen<br />

würden. <strong>Die</strong> Tinktur wird verdünnt, Homöopathen<br />

und Anthroposophen sagen:<br />

potenziert. Niedrige Verdünnung wirke<br />

auf den Stoffwechsel, glauben die Anthroposophen,<br />

hohe auf das Nervensystem.<br />

Abgefüllt in ein Flakonglas, legt ein<br />

Mitarbeiter die Tinktur in eine Schaukel<br />

aus Edelstahl. Je nach Vorgabe mischt er<br />

die Tinktur unterschiedlich oft hintereinander<br />

und schaukelt sie. Weleda schwingt<br />

die Schaukel in Form einer liegenden<br />

Acht, der homöopathische Marktführer,<br />

die Deutsche Homöopathie-Union, führt<br />

die Tinktur hoch und runter – zum Erdmittelpunkt.<br />

An die Schaukel dürfen nur<br />

Menschen, die sich spirituell dazu in der<br />

Lage sehen. Thomas Armbruster sagt, wenn<br />

ein Mitarbeiter einen schlechten Tag habe,<br />

solle er sich nicht an die Schaukel stellen.<br />

Er selbst macht das ohnehin nicht. „Ich<br />

könnte mich da nicht drauf einlassen und<br />

würde an meine Kinder denken oder an<br />

meine nächste Aufgabe.“<br />

DIE SUBSTANZEN WERDEN VERDÜNNT, so stark,<br />

dass die Wirkstoffe kaum nachweisbar sind.<br />

Es gibt viele Menschen, die das alles für<br />

ziemlichen Unsinn halten. Jürgen Windeler,<br />

Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit<br />

im Gesundheitswesen, nannte<br />

bereits kurz nach seinem Amtsantritt 2010<br />

Gold fürs Herz, Mistel gegen<br />

Tumore. Beweise? Fehlen. Kritiker<br />

sagen: „<strong>Die</strong> Homöopathie-Lüge“<br />

die Homöopathie ein „spekulatives, widerlegtes<br />

Konzept“. Im Herbst ist ein Buch erschienen,<br />

„<strong>Die</strong> Homöopathie-Lüge“ heißt<br />

es, darin beklagen die Medizinjournalisten<br />

Christian Weymayr und Nicole Heißmann,<br />

die Erfolge seien nicht standardisiert nachgewiesen<br />

worden. Bestenfalls seien es Placebo-Effekte.<br />

Sie sagen, wenn Krankenkassen<br />

Homöopathie anerkennen, müssten sie<br />

ebenso eine Pilgerfahrt nach Lourdes bezahlen.<br />

Viele Schulmediziner machten nur mit,<br />

weil es sich gut abrechnen lasse. <strong>Die</strong> Ziffer<br />

30 der Gebührenordnung gestattet den Ärzten<br />

eine homöopathische Erstberatung über<br />

eine Stunde mit 52,46 Euro.<br />

Stefan von Löwensprung kennt die<br />

Kritik, er widmet sich bei Weleda seit Jahren<br />

der Schulung von Ärzten. Er sieht sich<br />

nicht im Gegensatz zur Schulmedizin. Anthroposophische<br />

Ärzte hätten schließlich<br />

Medizin studiert, sagt er. Er will die Schulmedizin<br />

ergänzen. Dennoch kritisiert er sie.<br />

Normale Arzneimittel seien Antipräparate,<br />

die Pathologien nur unterdrückten.<br />

Homöopathische und anthroposophische<br />

Mittel dagegen würden dem Organismus<br />

die Möglichkeit bieten, dass er<br />

reagieren kann, und Selbstheilungskräfte<br />

fördern. Gold fürs Herz, Mistel gegen<br />

Tumore. Der Beweis fehlt gleichwohl:<br />

trotz Homöopathischem Arzneibuch,<br />

nach dem sie arbeiten, und der Zulassungsgenehmigung,<br />

der auch die Naturarzneimittel<br />

unterliegen. <strong>Die</strong> Wirkung der<br />

Arzneimittel soll vom einzelnen Patienten<br />

abhängen – von seiner Laune und dem sozialen<br />

Umfeld.<br />

Bei den Calmedoron-Kügelchen ist das<br />

ein bisschen anders. <strong>Die</strong> beruhigende Wirkung<br />

von Baldrian ist allseits bekannt. Und<br />

die Kügelchen werden am Fließband produziert.<br />

„Calmedoron ist nicht individuell“,<br />

sagt Stefan von Löwensprung. Für ihn<br />

kommt es auf die „innere Einstellung des<br />

Arztes an, wie er das verordnet“. So würde<br />

aus einem Massenprodukt am Ende doch<br />

ein „Kulturarzneimittel“.<br />

Auch wenn nach der anthroposophischen<br />

Lehre keine Materie ohne Geist besteht:<br />

<strong>Die</strong> Maschinen, die im Gewerbegebiet<br />

im französischen Huningue aus den<br />

Tinkturen aus Schwäbisch Gmünd ein Medizinprodukt<br />

machen, wissen von alldem<br />

vermutlich wenig. Huningue ist ein Ort<br />

im Dreiländereck neben Basel, auf der anderen<br />

Rheinseite liegt das deutsche Weil<br />

am Rhein.<br />

AM TAG, AN DEM DER BALDRIAN zur Ware<br />

wird, scheint draußen die Sonne. <strong>Die</strong> Baldriantinktur<br />

befindet sich jetzt in einem<br />

braunen Glasflakon. Als Gemisch mit anderen<br />

Tinkturen, die im Laufe des Jahres<br />

hergestellt werden: Hafer, Kaffee, Hopfen,<br />

Passionsblume, so weit alles klar, alles<br />

bio. Dann drückt die Produktionsleiterin<br />

Sandra Chiffaut einen Knopf, und die<br />

Tinktur wird über Schläuche in eine Maschine<br />

gepumpt, die aussieht wie eine Industriewaschmaschine.<br />

Oben füllt Chiffaut<br />

die weißen Zuckerkügelchen hinein, die<br />

aus vier Plastiksäcken à sieben Kilogramm<br />

kommen. <strong>Die</strong> Frau drückt „Vorgang 1“,<br />

die Maschine fährt hoch auf 58 Grad, die<br />

Trommel in der Maschine rollt an, innen<br />

spritzt die Pistole die Tinktur auf die Kügelchen.<br />

Spritzen, Trocknen, Spritzen,<br />

Trocknen, fünf Stunden und 20 Minuten<br />

lang – bis am Ende unten die Globuli hinauskullern,<br />

etwas bräunlicher als zuvor.<br />

Auf der Verpackung wird später „Calmedoron“<br />

stehen, zehn Gramm für rund fünf<br />

Euro. <strong>Die</strong> Leiterin sagt: „Bei kleinen Mengen<br />

kann man das manuell machen, aber<br />

bei den großen Mengen für den deutschen<br />

Markt geht das nur noch vollautomatisch.“<br />

Im Erdgeschoss arbeitet ein Apparat,<br />

ein Produktionsroboter, automatisch,<br />

akkurat. Er kippt die bespritzten Kügelchen<br />

in einen Trichter, sie rieseln in Fläschchen.<br />

Der Roboter verschließt sie, Deckel,<br />

Fläschchen, Deckel, Fläschchen, 20 in<br />

der Minute, 600 000 im Jahr. Am Ende<br />

drückt der Roboter die Auftragsnummer<br />

aufs Etikett: Charge 2101, Deutschland,<br />

12 000 Stück, alles passt.<br />

Jetzt könnte selbst der Vollmond nichts<br />

mehr kaputt machen.<br />

S TEFAN T ILLMANN<br />

ist Autor für Wirtschaftsthemen<br />

in Berlin<br />

FOTO: PRIVAT<br />

104 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Ich brauche Capital, weil ich<br />

am Kapitalmarkt nicht spielen,<br />

aber trotzdem gewinnen will.<br />

Wer etwas vorhat, braucht Capital.


| K A P I T A L | K O M M E N T A R<br />

Kulturschwindel<br />

Libor-Skandal? Deutsche Bank-Skandale? <strong>Die</strong> Verantwortlichen<br />

schwingen das große Wort – und schlagen sich in die Büsche<br />

V ON F RANK A . MEYER<br />

W<br />

AS FÜR EIN WORT: Verantwortung! Ein großes Wort, ein<br />

majestätisches Wort. Das Wort der Finanz-Majestäten:<br />

„Wir tragen die Verantwortung!“ Ein Wort, das<br />

noch den exorbitantesten Gehältern die Weihe solider Verantwortungsethik<br />

verlieh. Lächerlich dagegen die Gesinnungsethiker<br />

mit ihrem quengeligen Banker-Bashing.<br />

Was für ein Wort: Leistung! Ein Riesenwort, ein Wort für<br />

Manager-Giganten, die ergeben alle Lasten der Weltwirtschaft<br />

schultern, und zwar Tag wie Nacht, „Masters of the Universe“,<br />

die sie nun mal sind. Auch gegen diesen Wahn ist auf dem weiten<br />

Feld der Kritik am Casino-Kapitalismus offenbar nichts zu<br />

bestellen.<br />

Doch seit dem Crash der Lehman Brothers 2008 sind die<br />

beiden pompösen Begriffe nicht mehr so recht im Schwange.<br />

Prahlhans hat sich in die Büsche geschlagen.<br />

Und schon kursiert auf den Vorstandsetagen ein neues Wort:<br />

Kulturwandel! Es suggeriert: Wir bessern uns jetzt. Und dient<br />

der Resozialisierung von Crash-Tätern wie Ackermann, Fitschen<br />

oder Jain, um nur einmal die Verantwortungs- und Leistungsträger<br />

der Deutschen Bank zu nennen.<br />

Das neue Mantra Kulturwandel auf den Lippen, auch „neue<br />

Kultur“ genannt, tingeln die Boni-Banker von Symposium zu<br />

Podium zu Finanztagung. Eine neue Zeit bricht an. Alles wird<br />

gut, wenn nicht sogar noch besser.<br />

Gern wäre der Finanzausschuss des Bundestags kürzlich in<br />

den Genuss dieser Kulturrevolution gekommen. <strong>Die</strong> Parlamentarier<br />

luden Deutsche-Bank-Chef Anshu Jain zum Gespräch über<br />

die im Sommer aufgedeckte Manipulation des Libor-Bankzinssatzes,<br />

die dem Geldinstitut ja alles andere als fremd sein sollte.<br />

Doch der Verantwortungsträger leistete der Vorladung keine Folge;<br />

ebenso wenig Leistungsträger und Deutsche-Bank-Co-Chef Jürgen<br />

Fitschen. Stattdessen erschien Stephan Leithner, zuständig für<br />

Personal, Rechtsfragen und Europa, nicht zuständig allerdings für<br />

Deutschland.<br />

<strong>Die</strong> Libor-Vorwürfe betreffen das Investmentbanking der<br />

Deutschen Bank, für das jahrelang Jain als Chef der Abteilung<br />

Global Markets direktverantwortlich war – und mit deren Spekulationen<br />

er sein Anrecht auf horrende Boni geltend machte.<br />

Aus der Schweiz meldete sich unverzüglich Josef Ackermann<br />

zu Wort, Ex-Chef der Deutschen Bank, und kritisierte seinen<br />

Nachfolger: „Ich finde, dass der Chef hier auf die Bühne gehört.“<br />

Und: „Ich habe mich immer diesen Aufgaben gestellt.“<br />

Ach ja? War Mahner Ackermann nicht der Vorgesetzte<br />

von Jain in jener gar nicht allzu fernen Zeit, als die<br />

ILLUSTRATION: JAN RIECKHOFF<br />

106 <strong>Cicero</strong> 1.2013


FOTO: PRIVAT<br />

Libor-Manipulationen liefen? Ist nicht Ackermann verantwortlich<br />

für die Irrungen und Wirrungen der Deutschen Bank<br />

in den vergangenen zehn Jahren – sowie generell für deren<br />

Skandale?<br />

Unter dem Schweizer entwickelte sich das ehedem so stolze,<br />

konservative Institut rheinischer Geldkultur zu einer der größten<br />

Spekulantenbanken überhaupt. Ackermanns Monstrum<br />

steckte tief im Sumpf der US-Subprime-Krise, die sich nach<br />

2008 zur Weltfinanzkrise auswuchs. Wo immer gezockt wurde,<br />

wo immer gezockt wird, war die Deutsche Bank dabei, ist die<br />

Deutsche Bank dabei.<br />

Ja, der Chef gehört in Berlin auf die Bühne: kein anderer als<br />

Ackermann. Denn kein anderer hat in der jüngeren Geschichte<br />

die Macht der Deutschen Bank so sehr verkörpert wie der Milizoberst<br />

aus Mels im Kanton St. Gallen. Vor dessen Ära 2002 bis<br />

2012 amtierte der Vorstand der Bank noch als kollegiales Gremium<br />

mit einem Sprecher, einem Primus inter pares. Doch<br />

Ackermann reklamierte die ganze Macht für sich.<br />

Auch die ganze Verantwortung?<br />

Wenn der Chef vor den Finanzausschuss des Bundestags gehört,<br />

dann sollte Ackermann schleunigst den Flieger nach Berlin<br />

besteigen. Er gehört noch vor Anshu Jain zur Rede gestellt. Wenigstens<br />

das.<br />

Doch zur Rede gestellt werden die Verantwortlichen für den<br />

Endlosskandal der globalen Finanzwirtschaft derzeit lediglich<br />

von Journalisten, und zwar zur wortreichen Beschönigung. Man<br />

hofiert die Geldmächtigen wieder in den deutschen Redaktionen.<br />

Kaum ein Verlagssymposium zu Wirtschaftsfragen kommt<br />

noch ohne die Ehrenmänner der Geldkaste aus. Sie adeln erneut<br />

das Zeitungsgeschäft.<br />

Derweil fordern besorgte Strafrechtler immer ungeduldiger<br />

Konsequenzen für die Täter aus der Finanzwirtschaft. Auf einer<br />

Tagung der Bucerius Law School erklärte der Wirtschafts- und<br />

Strafrechtsprofessor Thomas Rönnau: „Es wäre fatal, würde in<br />

der Gesellschaft der Eindruck entstehen, die Finanzwirtschaft<br />

könne weitermachen wie bisher.“<br />

Es entsteht nicht nur der Eindruck – es ist so.<br />

Der prominente Hamburger Strafverteidiger Gerhard Strate<br />

sagt auch, weshalb: „Überwiegend zurückhaltende Staatsanwaltschaften<br />

und eine zahnlose Strafrechtswissenschaft haben ihren<br />

Anteil daran.“<br />

Kulturwandel? Offenbar nichts als eine weitere Worthülse auf<br />

dem rhetorischen Müllberg. Sie liegt dort gleich neben der Verantwortung,<br />

nicht weit von der Leistung, und rottet vor sich hin.<br />

Kulturwandel, Kulturschwindel.<br />

F RANK A . MEYER<br />

ist Journalist und Gastgeber der<br />

politischen Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

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| S A L O N<br />

HEUTE EIN KÖNIG<br />

Fast im Alleingang: Sabin Tambrea spielt die Hauptrolle in der Neuverfilmung des Lebens von Ludwig II<br />

VON IRENE BAZ INGER<br />

D<br />

ER „KINI“ IST SEIN SCHICKSAL: Sabin<br />

Tambrea sieht dem legendären<br />

König Ludwig II von Bayern<br />

selbst ohne Maske und Kostüm verblüffend<br />

ähnlich, ist genauso groß und leicht wie jener<br />

bei seinem Amtsantritt 1864. Und den<br />

schönen Künsten ist er ebenfalls kompromisslos<br />

ergeben. Kein Wunder, dass man in<br />

den Besetzungsbüros auf ihn aufmerksam<br />

wurde, als das Regie-Duo Peter Sehr und<br />

Marie Noëlle den Film „Ludwig II“ plante<br />

(Kinostart 26. Dezember). Aufgeregt war er<br />

bei den Castings schon, sagt Tambrea beim<br />

Gespräch in einem Berliner Lokal, „doch<br />

durch das, was ich zu diesem Zeitpunkt<br />

vom König wusste, vor allem über seine<br />

unendliche Liebe zur Kunst und sein Streben<br />

nach dem Unerreichbaren, hatte ich<br />

so ein stilles Einverständnis mit ihm. Dadurch<br />

fiel es mir nicht schwer, die Probeszenen<br />

einfach instinktiv aus mir heraus zu<br />

spielen. Da war nichts, was von mir sehr<br />

weit entfernt gewesen wäre.“<br />

Das merkt man dem fertigen Film auch<br />

fulminant an, den Tambrea in unglaublich<br />

souveräner Weise nahezu im Alleingang<br />

zwei Stunden lang trägt. Ein Jahr hat er<br />

sich auf diese Rolle vorbereitet, vier Monate<br />

Reitunterricht genommen und an Sekundärliteratur<br />

gelesen, was möglich war. In<br />

Konkurrenz zu O. W. Fischer (bei Helmut<br />

Käutner, 1955) und Helmut Berger (bei<br />

Luchino Visconti, 1972) begreift er sich allerdings<br />

nicht: „Wir haben uns auf andere<br />

Aspekte der Figur konzentriert und wollten –<br />

durch den Schnitt, die Art der Sprache und<br />

der Bewegungen – einen modernen Ludwig<br />

für neue Generationen kreieren.“<br />

Sabin Tambrea nimmt es gelassen, dass<br />

er in den nächsten Monaten, vielleicht sogar<br />

Jahren, mit dieser Rolle identifiziert<br />

werden wird. Er wirkt zurückhaltend, fast<br />

scheu, dabei aber sicher in dem, was er will.<br />

So musste er am Anfang die Absagen von<br />

mehreren Schauspielschulen verkraften –<br />

und ließ sich nicht beirren: „Ich dachte<br />

mir, dann hat die Prüfungskommission<br />

halt noch nicht gesehen, was in mir drinsteckt.“<br />

Voll Euphorie schaffte er es an die<br />

renommierte Hochschule für Schauspielkunst<br />

„Ernst Busch“, von wo ihn Claus<br />

Peymann 2009 gleich an sein Berliner Ensemble<br />

engagierte. Dass sich hierzulande<br />

„<strong>Die</strong> Musik ist die Grundessenz<br />

meines schauspielerischen Berufs“<br />

Sabin Tambrea<br />

nur rund 3 Prozent aller Darsteller von ihrem<br />

Beruf ernähren können, hat der hoch<br />

begabte Aufsteiger nicht vergessen.<br />

Einen Vorgeschmack auf die prekären<br />

Bedingungen in seinem Metier erfuhr er direkt<br />

im Anschluss an die Drehzeit zu „Ludwig<br />

II“. Nach der letzten Klappe musste<br />

er aufs Arbeitsamt, denn am Berliner Ensemble,<br />

wo er wegen des Filmes gekündigt<br />

hatte, war eine Weile nichts für ihn<br />

frei. <strong>Die</strong> Umstellung von den königlichen<br />

Märchenschlössern, in denen nachts gedreht<br />

wurde, wenn der letzte Tourist abgezogen<br />

und die erste Putzkolonne noch<br />

nicht eingetroffen war, zurück in Sabin<br />

Tambreas Berliner Leben, „in dem ich meinen<br />

Kühlschrank füllen und die anderen<br />

Dinge des Alltags bewältigen muss“, war<br />

nicht leicht. Auch psychisch traf ihn ein<br />

veritabler Schmerz, „schließlich lässt man<br />

die Figur, die man spielt, äußerst nahe an<br />

sich heran. Und dann muss man sie gehen<br />

lassen, und das tut schon weh.“<br />

Jetzt gehört er wieder zum Berliner Ensemble<br />

und kann unter der Regie von Katharina<br />

Thalbach in Shakespeares „Was ihr<br />

wollt“ selbst auf der Geige glänzen. Früher<br />

beherrschte er dieses Instrument respektive<br />

die Bratsche dermaßen gut, dass er diverse<br />

Preise beim Wettbewerb „Jugend musiziert“<br />

gewann. Aber irgendwann musste er aufgeben,<br />

weil er aus Angst vor den öffentlichen<br />

Auftritten in der Garderobe oft ohnmächtig<br />

wurde. Hingegen geigen seine Schwester<br />

und Eltern in verschiedenen deutschen<br />

Orchestern.<br />

<strong>Die</strong> Familie stammt aus Rumänien, wo<br />

Tambrea 1984 geboren wurde. Während<br />

einer Konzertreise blieb der Vater in Österreich,<br />

weshalb bei seinen Angehörigen<br />

daheim der Geheimdienst klingelte und Einzelheiten<br />

wissen wollte. Der Vater holte über<br />

das Familienzusammenführungsprogramm<br />

Frau und Kinder 1986 nach, Tambrea wuchs<br />

in Marl und Hagen auf. <strong>Die</strong> Musik ist die<br />

„Grundessenz meines schauspielerischen Berufs“,<br />

sagt er, sie hilft ihm, jede Rolle jenseits<br />

der sprachlichen Bedeutungsebene wie<br />

eine Partitur zu lesen, ihre Pausen, Rhythmen,<br />

Spannungsbögen zu erforschen. Neben<br />

Deutsch und Rumänisch nennt er die<br />

Musik seine dritte Sprache. Doch wie auch<br />

immer er sich ausdrückt, bisher ist ihm eigentlich<br />

alles gelungen – was natürlich seinen<br />

Preis hat. Als er etwa die Zusage für den<br />

Part des Königs Ludwig erhalten hatte, war<br />

das „einer der traurigsten Momente“ in seinem<br />

Leben: weil der Traum in Erfüllung gegangen<br />

und damit verloren war. Jetzt tut er<br />

sich nach neuen Träumen um und hofft, „im<br />

ständigen Wechselbad zwischen Sehnsucht<br />

und Erfüllung“, das ihn emotional charakterisiert,<br />

bald wieder ein Glück zu finden.<br />

Vielleicht ja in der Inszenierung von Robert<br />

Wilson im April am Berliner Ensemble mit<br />

der nächsten Aufgabe, die ihm wie auf den<br />

zartgliedrigen Leib geschneidert scheint: Peter<br />

Pan, der ewige Träumer. Angst? Nein, lächelt<br />

Sabin Tambrea, es wird wie stets bei<br />

ihm sein: „Ich steige einfach aufs Seil und<br />

gucke, wie weit ich komme.“<br />

IRENE BAZ INGER<br />

ist Theaterkritikerin. Sie schrieb<br />

Bücher über die Regisseurinnen<br />

Andrea Breth und Ruth Berghaus<br />

FOTOS: GÖTZ SCHLESER FÜR CICERO, MAX LAUTENSCHLÄGER (AUTORIN)<br />

108 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Seiltänzer auch ohne<br />

Seil: Sabin Tambrea<br />

vor herbstlicher<br />

Kulisse des Bahnhofs<br />

Friedrichstraße in Berlin<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 109


| S A L O N<br />

OHNE PATHOS KEIN LEBEN<br />

Krassimira Stoyanova ist die große Unbekannte der Opernwelt – im Verdi-Jahr zeigt sie ihr ganzes Können<br />

VON EVA GESINE BAUR<br />

D<br />

IE NEW YORKER OPERNFANS werden<br />

enttäuscht sein. Wenn sie im<br />

März des Verdi-Jahres 2013 im<br />

Internet nach Bildern, Plattenaufnahmen<br />

und Interviews mit der Frau suchen, die<br />

in sechs Aufführungen an der Met als Desdemona<br />

in Verdis Otello umjubelt wurde,<br />

werden sie nicht viel finden. Wenige CDs<br />

bei kleinen Labels, kaum Fotos, fast keine<br />

Interviews. Nur ein paar Kritiken, die sich<br />

alle ähnlich lesen – ob sie von einer Aufführung<br />

in der Londoner Covent Garden<br />

Opera, bei den Salzburger Festspielen oder<br />

in der Wiener Staatsoper handeln: Sie war<br />

die Königin des Abends, diejenige, die alle<br />

überstrahlte. Das wurde schon vor zehn,<br />

15 Jahren geschrieben über Krassimira<br />

Stoyanova. Aber ihr Gesicht kennt nach<br />

wie vor kaum einer. Was macht diese Frau<br />

falsch?<br />

Auf dem Flur in der Wiener Staatsoper<br />

sieht sie aus, als käme sie von einem Spaziergang<br />

auf dem Land. Ausgeruht, ungeschminkt,<br />

in stabilen Stiefeln und Wollmantel.<br />

Dabei hat Krassimira Stoyanova<br />

gerade eine vierstündige Probe hinter<br />

sich. Fotografiert werden will sie nicht. In<br />

den Augen ihrer jungen Kollegin Annette<br />

Dasch macht diese Frau alles richtig. „Ich<br />

bewundere große Sängerinnen, denen es<br />

gelingt, ganz unauffällig zu leben.“ Stoyanova<br />

gehört dazu. Alles Äußerliche der Karriereplanung<br />

sei ihr fremd, behauptete die<br />

Süddeutsche Zeitung. Was trieb sie dann<br />

an, Opernsängerin zu werden, nicht gerade<br />

ein Beruf für Schüchterne? „Der Zufall“,<br />

sagt sie. „Eigentlich wollte ich Geigerin<br />

werden.“ An der Musikhochschule<br />

im bulgarischen Plovdiv hatte sie drei Fächer<br />

studiert: Violine, Dirigieren und Gesang.<br />

Wie ihr Mann, ein Oboist, begann<br />

sie ihre Laufbahn als Orchestermusikerin.<br />

Als die beiden erfuhren, dass in Opava, einer<br />

tschechischen Kleinstadt, dringend<br />

Instrumentalisten gesucht würden, packte<br />

sie die Aufbruchsstimmung. Noch dringender<br />

suchte man in Opava allerdings<br />

jemanden, der die Violetta in Verdis La<br />

Traviata singen kann. Stoyanova sagte zu.<br />

Der Saal entpuppte sich als Club, in dem<br />

es keine Bühne gab und kein Orchester,<br />

nur ein Klavier. Dafür einen Ansager wie<br />

beim Boxkampf, der mit Geheul den Inhalt<br />

des nächsten Aktes ankündigte. Und während<br />

sich Violetta zwischen den Tischen<br />

ihrem Ende entgegenhustete, zechte das<br />

Publikum. „Es war schrecklich“, sagt sie,<br />

„aber für mich war es gut.“ Sonst hätte sie<br />

vielleicht nicht zu kämpfen gelernt. Gegen<br />

Dirigenten, die ihr einreden wollen, Arien<br />

von Mozart ohne jedes Vibrato zu singen –<br />

„eine Dummheit“. Oder Arien von Puccini<br />

in Tempi, die für ihr Empfinden nur für<br />

das Guinness-Buch der Rekorde taugen.<br />

Vor allem aber gegen Regisseure, die Verdi<br />

im Container transportieren wollen. „Ich<br />

hasse Inszenierungen, die Verdis Pathos<br />

kleinmachen. Ich kann nur mit Pathos leben.<br />

Ohne Pathos ist das Leben eine Behörde.<br />

Wir sind heute kastriert von großen<br />

Emotionen und fürchten sie, obwohl<br />

sie uns fehlen.“ Damit verstößt Krassimira<br />

Stoyanova gegen alle Gesetze des zeitgemäßen<br />

Marketings.<br />

Das ist ihr bewusst. Ein weiblicher<br />

Opernstar darf tätowiert und gepierct<br />

sein, darf sich das Haar grün färben und<br />

bei der Premierenfeier im Jogginganzug<br />

Bier aus der Flasche trinken. Darf auch<br />

dazu stehen, in Striptease-Lokale zu gehen<br />

wie Anna Netrebko. Nur uncool darf<br />

eine Opernsängerin, die heute etwas gelten<br />

will, nicht sein. Davon scheint Stoyanova<br />

nichts gehört zu haben. Befragt, was<br />

ihr an Puccini wichtig sei, schwärmt sie<br />

von „seiner Menschlichkeit, seiner Liebe,<br />

seinem Glauben an Gott“. Ihre Einspielung<br />

mit italienischen Arien heißt „I palpiti<br />

d’amor“, Herzklopfen der Liebe, und<br />

die ihr wichtigste bringt slawische Opernarien.<br />

Slawische Seele – coole Typen wissen<br />

da sofort Bescheid. Fügt sich ins Bild,<br />

dass Stoyanova Oper als „Gottesgeschenk“<br />

bezeichnet.<br />

Wenn Krassimira Stoyanova über Verdis<br />

Werke redet, hört sich das nicht kühler<br />

an. „Verdis Requiem“, sagt sie, „ist ein<br />

blutiges Gebet.“ Auch Verdis Opern erlebt<br />

sie als Rituale. Gewaltige, oft gewaltsame.<br />

Sie selbst möchte Teil davon werden. „Ich<br />

fühle mich wie jemand, der geopfert werden<br />

will.“ Sie macht eine Geste, als reiße<br />

sie sich das Gewand vorne auf. „Ich biete<br />

mich dar. Ich gebe mich preis. <strong>Die</strong> physische<br />

Macht von Verdis Musik entmachtet<br />

mich.“ Das ist hoffnungslos uncool.<br />

<strong>Die</strong> Kenner aber überzeugt sie durch<br />

vollendete Beherrschung der Stimme in<br />

jeder noch so extremen Situation. „Alle<br />

Kunst hat mit Rechnen und Berechnen<br />

zu tun. Am Anfang des Rollenstudiums<br />

steht die Analyse des Notentexts.“ Und wie<br />

verträgt sich das mit dem Pathos, wie mit<br />

der Lust an der Entmachtung? „Wir können<br />

doch alle so vieles gleichzeitig. Deshalb<br />

sind wir Menschen ideal geeignet für das<br />

Leben. Besser als jeder Computer.“<br />

Bei jeder der zwölf Verdi-Partien, die<br />

sie gesungen hat, und bei jeder neuen, die<br />

sie nun einstudiert, habe sie das Gefühl:<br />

„Das ist für mich geschrieben.“ Verdi war<br />

ein harter Rechner, der seinem Verleger<br />

Betrug nachwies, um Honorare feilschte –<br />

und als Komponist ein nüchterner Arbeiter.<br />

Zugleich stritt er für Sänger, die leidenschaftlich<br />

waren, und verabscheute alle,<br />

denen es nur darum ging, Töne „mit großer<br />

Kraft hervorzustoßen“. Ziel der Stoyanova:<br />

„Bei jeder Rolle mit Hirn und Herz zu erkunden,<br />

wo ihr Geheimnis liegt.“ Und wo<br />

liegt jenes der Stoyanova? Vielleicht in ihrem<br />

Rat an junge Sänger, keinen Druck<br />

auszuüben. Was die Stimme und was die<br />

Karriere angeht. Damit kommt man nicht<br />

in die Charts. Aber Verdi nahe.<br />

E VA G ESINE B AUR<br />

schreibt Bücher, die von Musik<br />

handeln. Soeben erschien unter<br />

ihrem Pseudonym Lea Singer der<br />

Roman „Verdis letzte Versuchung“<br />

FOTOS: JOHANNES IFKOVITS (LOCATION: HOTEL SACHER WIEN), PRIVAT (AUTORIN)<br />

110 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Cool geht anders: Krassimira<br />

Stoyanova setzt sich nur in Pose,<br />

wenn es unbedingt sein muss<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 111


| S A L O N | V E R D I & W A G N E R<br />

DIE SOUNDWERKER<br />

Im Jahr 2013 wird der 200. Geburtstag von Richard Wagner gefeiert – und der von<br />

Giuseppe Verdi. <strong>Die</strong> Rollen scheinen schon verteilt: Verdi als Latte-Macchiato-Komponist<br />

mit schmetternden Melodien, Wagner als deutschtümelnder Sinnsucher mit<br />

112 <strong>Cicero</strong> 1.2013


EUROPAS<br />

harmonischem Tiefgang. Doch die Geschichte zeigt, dass eine politische<br />

Vereinnahmung der beiden Jahrhundert-Künstler töricht ist. Denn keiner<br />

von ihnen hat je auf einen universellen, europäischen Geist verzichtet<br />

V ON AXEL B RÜGGEMA NN<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 113


| S A L O N | V E R D I & W A G N E R<br />

IM JANUAR 1901 rang Giuseppe Verdi<br />

in der Suite seines Mailänder Hotels<br />

mit dem Tod. Nach einer Gehirnblutung<br />

war er halbseitig gelähmt und<br />

fiel ins Koma. Journalisten hatten die<br />

Lobby zum Nachrichtenzentrum verwandelt<br />

und schickten täglich Gesundheitsbulletins<br />

über die Ticker. In Paris, München,<br />

St. Petersburg und Wien verfolgten die<br />

Menschen den Todeskampf. Am 27. Januar<br />

starb Verdi, und mehr als 200 000 Menschen<br />

nahmen am Trauerzug in<br />

Mailand teil. Es war die größte<br />

Massenversammlung in der Geschichte<br />

der Stadt. König Viktor<br />

Emanuel III rief eine dreitägige<br />

Staatstrauer aus. Der 17-jährige<br />

Benito Mussolini hielt eine ergreifende<br />

Trauerrede im Stadttheater<br />

von Forlimpopoli in Verdis Heimat,<br />

der Emilia-Romagna. Danach<br />

trat er, begleitet von Verdis<br />

Musik, den „Marsch auf Rom“ an<br />

und beerdigte das 19. Jahrhundert<br />

endgültig. Das Zeitalter der Extreme<br />

begann.<br />

18 Jahre vorher, am 13. Februar<br />

1883, glitt Richard Wagner<br />

im Palazzo Vendramin in Venedig<br />

die Taschenuhr aus der Hand.<br />

Eine Ruptur des Herzens. Er starb<br />

mit den profanen Worten: „Meine<br />

Uhr.“ Auch seine Beerdigung war<br />

ein europäisches Großereignis.<br />

Wagners Frau Cosima lag stundenlang<br />

weinend auf dem Leichnam.<br />

Am nächsten Tag trug sie das Barett<br />

ihres Mannes und beobachtete<br />

am Canale Grande, wie Richard<br />

Wagner seine letzte Reise in einem<br />

Bronze-Sarkophag auf einer<br />

schwarzen Gondel antrat. Ein italienisches<br />

Orchester spielte Siegfrieds Trauermarsch<br />

aus der „Götterdämmerung“. Der<br />

Leichnam wurde zunächst nach München<br />

gebracht, wo der längst lethargische Märchenkönig<br />

Ludwig II Abschied von seinem<br />

Freund nahm, bevor der Komponist im<br />

Garten seiner Bayreuther „Villa Wahnfried“<br />

neben seinem Hund begraben wurde. Cosima<br />

erhielt ein Kondolenzschreiben von<br />

Bismarck und Wilhelm II. Als der Kaiser<br />

1941 starb, befahl Wagner-Fan Adolf Hitler,<br />

dass die deutschen Volksempfänger Siegfrieds<br />

Tod spielen.<br />

Verdi und Wagner haben im 19. Jahrhundert<br />

gelebt, und das 19. Jahrhundert<br />

lebte in ihnen. Beide Komponisten haben<br />

den Soundtrack des nationalstaatlichen Europa<br />

geschrieben. Sie waren Kinder einer<br />

neuen Weltordnung, die nach ihrem Tod<br />

auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg zusteuerte.<br />

Ihre Musik besingt den Urmythos<br />

der Einheit aller Menschen und aller Nationen<br />

als Brüder Europas. Auch deshalb<br />

wird das kriselnde Europa der Ton-Titanen<br />

200 Jahre nach ihrer Geburt im Jahre<br />

1813 nun wieder gedenken. Galakonzerte<br />

„Egal, an welchem<br />

Ort in Europa ich bin,<br />

Verdi war schon da“<br />

Rolando Villazón<br />

in Riga, Bayreuth, Mailand, Dresden, Paris<br />

und Wien sind anberaumt. Kanzlerin<br />

Angela Merkel wird im Sommer Frank<br />

Castorfs „Ring“ bei den Bayreuther Festspielen<br />

besuchen und Italiens Staatspräsident<br />

Mario Monti eine Verdi-Gala in Mailand.<br />

Noch einmal wird die Politik die ganz<br />

große Oper anstimmen.<br />

DIE ROLLEN FÜR DAS JUBILÄUMSJAHR sind<br />

verteilt: Auf der einen Seite Verdi, der Latte-<br />

Macchiato-Komponist mit schwungvollen<br />

Melodien und schmetternder Italianità, auf<br />

der anderen der seelensuchende Wagner als<br />

deutschtümelnder Gesamtkunstwerkler.<br />

Verdi versus Wagner ist ein nationaler Showdown:<br />

Choco-Crossies-Reklame („Ach wie<br />

verführerisch!“ aus „Rigoletto“) gegen den<br />

Soundtrack von Apocalypse Now („Walkürenritt“).<br />

Melodie gegen Harmonie.<br />

Der Katholik Verdi gegen den Protestanten<br />

Wagner, der seine Musik in Bayreuth<br />

letztlich als Privatreligion inszenierte. Das<br />

kriselnde Schlageritalien Berlusconis gegen<br />

Angela Merkels europäische Vorherrschaft<br />

der Vernunft. Schon zu Lebzeiten<br />

haben die Komponisten Europa<br />

in einen ästhetischen Glaubenskrieg<br />

verwandelt, der selbst Monarchien<br />

spaltete: Während Österreichs<br />

Kaiser Franz Joseph Verdi<br />

allerhand Orden um den Hals<br />

hängte, schwärmte seine Frau Sissi<br />

für Wagners Seelenwelten.<br />

Wenn sich unsere Blicke nun<br />

wieder auf Verdi und Wagner richten,<br />

taugen nationale Stereotype<br />

allerdings nur wenig. <strong>Die</strong> Wirtschaftskrise<br />

und der Zerfall Europas<br />

in Nord und Süd, seine uferlose<br />

Ausweitung gen Osten, die<br />

aufkeimenden Neo-Nationalismen<br />

und das Ringen um Stabilität<br />

sind im 19. Jahrhundert ebenfalls<br />

angelegt. Für Merkel, Monti<br />

und alle anderen Europäer ist es<br />

hilfreich, in der Musik der Komponisten<br />

nicht das spaltende Nationale<br />

zu suchen, sondern das<br />

verbindende Europäische – denn<br />

beide haben sich zwar als Italiener<br />

beziehungsweise als Deutscher<br />

verstanden, aber als Europäer gelebt<br />

und musiziert. Beide haben<br />

das Ende Napoleons, die Vereinigung<br />

der Einzelstaaten, den Untergang<br />

der Monarchie und die<br />

Gründung einer neuen, europäischen Balance<br />

of Power miterlebt. Ihre Biografien<br />

sind die Geschichten des ständigen Wandels<br />

unseres Kontinents.<br />

Der Tenor Rolando Villazón ist gerade<br />

als Verdi-Botschafter unterwegs und sitzt in<br />

einem Wiener Café. Für ihn ist Verdi ein<br />

internationaler Menschenversteher: „Egal,<br />

an welchem Ort in Europa ich bin, Verdi<br />

war schon da. Hier in Wien, in Paris, wo<br />

ich wohne, und natürlich in Mailand – er<br />

war sogar in St. Petersburg. Von ihm zu lernen,<br />

heißt zu begreifen, dass seine Opern<br />

etwas in uns ansprechen, das größer ist als<br />

eine Nation. Es geht bei ihm – egal, ob er<br />

ILLUSTRATION: JAN RIECKHOFF (SEITEN 112 BIS 113); FOTO: DARGENT VINCENT/PICTURE ALLIANCE/ABACA<br />

114 <strong>Cicero</strong> 1.2013


FOTO: MAT HENNEK/DEUTSCHE GRAMMOPHON<br />

Könige auf die Bühne stellt oder Prostituierte<br />

– immer um eine aufgeladene Politik<br />

der Gefühle.“<br />

Ähnlich sieht es Christian Thielemann.<br />

Der wohl beste Wagner-Dirigent unserer<br />

Zeit sitzt in seinem Dresdener Dirigentenzimmer:<br />

„Natürlich bedient Wagner<br />

urdeutsche Sehnsüchte, die aufwühlende<br />

Harmonie statt die schmissige Melodie.<br />

Aber der eigentliche Spielort seiner Opern<br />

lässt sich nicht geografisch fassen. Wagner<br />

nannte ‚Tristan und Isolde‘<br />

eine ‚innere Handlung‘. Sie findet<br />

in den Köpfen seiner Charaktere<br />

statt. Das mag typisch deutsch<br />

sein – aber an diesem Ort, in der<br />

Nation der Seele, sind Franzosen,<br />

Italiener und Engländer ebenso zu<br />

Hause.“<br />

VERDI WURDE IN LE RONCOLE in<br />

Parma geboren, das von Napoleons<br />

Truppen besetzt war. Wagner<br />

im französisch belagerten Leipzig,<br />

wo – kurz nach seiner Geburt<br />

– eine halbe Million Soldaten<br />

aus über zwölf Ländern den<br />

Untergang Frankreichs eingeläutet<br />

haben. Beide wuchsen in einer<br />

Welt auf, die 1815 bei Walzer und<br />

Champagner am Grünen Tisch des<br />

Wiener Kongresses neu geordnet<br />

worden war. Österreich, Preußen,<br />

Russland und die neue französische<br />

Monarchie hatten zunächst<br />

kein Interesse an einer Einigung<br />

Italiens und Deutschlands. Italiens<br />

Norden, die Lombardei, Venedig,<br />

die Toskana, Salzburg und<br />

das Innviertel gingen an die Habsburger,<br />

in den südlichen Regionen,<br />

Neapel, Sardinien und Genua wurden<br />

die alten Dynastien wieder eingesetzt.<br />

Und auch Deutschland blieb zwischen Österreich,<br />

Preußen und zahlreichen Einzelstaaten<br />

geteilt. Eine wackelige Europäische<br />

Union, die bereits zerfiel, als Wagner und<br />

Verdi erste Erfolge feierten.<br />

<strong>Die</strong> beiden haben dem Protestbürgertum<br />

ihrer Zeit den Marsch geblasen. Sie haben<br />

die Emotionen als historische Größe<br />

begriffen und ihren Nationen eine Stimme<br />

für Europa gegeben. Chöre wie „Va, pensiero“<br />

aus „Nabucco“ oder die in Verträgen<br />

verstrickten Götter des „Ringes“ waren das<br />

Echo einer Bevölkerung, die von der Politik<br />

ausgeschlossen wurde.<br />

„Der eigentliche Spielort von<br />

Wagners Opern lässt sich<br />

geografisch nicht fassen“<br />

Christian Thielemann<br />

Italien und Deutschland saßen damals<br />

am Katzentisch Europas. Erst langsam entstanden<br />

nationale Identitäten. Wer Europa<br />

heute als Währungs-, Handels- oder politische<br />

Union versteht, muss begreifen,<br />

dass seine eigentliche Ordnung zunächst<br />

ein kultureller Prozess war. <strong>Die</strong> Italiener<br />

sprachen Anfang des 19. Jahrhunderts unterschiedliche<br />

Dialekte und dienten unterschiedlichen<br />

Herrschern. Höchstens<br />

die Opern Rossinis, Bellinis und Donizettis<br />

wurden als nationale Werke akzeptiert,<br />

mit denen sich ganz Italien identifizieren<br />

konnte. In Deutschland erweckten die Bücher<br />

der Gebrüder Grimm, die Opern Carl<br />

Maria von Webers und die Erinnerung an<br />

Mittelalter und Mythenwelten das nationale<br />

Bewusstsein. Erst aus dieser kulturellen<br />

Erweckung leitet sich der Anspruch auf<br />

eine politische Rolle der beiden Länder in<br />

Europa ab.<br />

Verdi und Wagner haben an die Geschichte<br />

und die Kultur ihrer Nationen<br />

appelliert. Sie haben schwarz-rot-goldene<br />

und grün-weiß-rote Töne geschrieben.<br />

Aber sie haben nie auf einen universellen,<br />

europäischen Geist verzichtet. Wagners<br />

Opern spielen nicht nur in Brabant und<br />

Nürnberg, sondern auch in England oder<br />

in der Mythenwelt. Verdi wählte Spanien,<br />

Ägypten oder Paris als Szenarien. Ihre Vorlagen<br />

fanden beide in der gesamteuropäischen<br />

Kulturgeschichte. Verdi bei Victor<br />

Hugo („Ernani“ und „Rigoletto“), Shakespeare<br />

(„Macbeth“ und „Otello“) und<br />

Schiller („I masnadieri“ und „Giovanna<br />

d’Arco“); auch Wagner ließ sich von<br />

Shakespeare, Schiller und Edward<br />

Bulwer-Lytton inspirieren.<br />

„DER NATIONALISMUS des 19. Jahrhunderts<br />

lässt sich nicht mit dem<br />

Nationalismus des 20. Jahrhunderts<br />

vergleichen – er ist die Perversion<br />

eines guten Gedankens“,<br />

sagt Thielemann. „Dass Hitler<br />

die Ouvertüre zu ‚Rienzi‘ auf<br />

Reichsparteitagen gespielt und<br />

die Bayreuther Festspiele zum nationalsozialistischen<br />

Wohnzimmer<br />

gemacht hat – all das kann man<br />

Richard Wagner nicht anlasten.“<br />

Und Villazón glaubt: „Dass Verdi<br />

den Menschen mit seiner Leidenschaft<br />

in den Vordergrund gestellt<br />

hat, macht ihn natürlich spannend<br />

für jeden Herrscher. Seine Musik<br />

ergreift uns, bewegt uns und stellt<br />

etwas mit uns an – aber die Geschichte<br />

hat gezeigt, dass sowohl<br />

die politische Okkupation Verdis<br />

als auch die von Wagner keinen<br />

Bestand hatten. Ihre Opern sind<br />

größer als jede Ideologie.“<br />

Weder Verdi noch Wagner haben<br />

nationalistische Machwerke<br />

oder tagespolitische Polit-Opern<br />

komponiert. Verdi hat mit „La<br />

battaglia di Legnano“ zwar den Sieg Italiens<br />

über Barbarossa gefeiert und damit<br />

ein Statement für den Risorgimento, die<br />

italienische Einheitsbewegung, abgegeben;<br />

Wagner hat in „Rienzi“ die Stimmung<br />

des Vormärzes aufgegriffen und in<br />

den „Meistersingern“ Deutschland über<br />

das welsche Frankreich erhoben. Aber beiden<br />

war – trotz unterschiedlicher musikalischer<br />

Mittel – eine andere Vision wichtiger:<br />

die Ausweitung des kulturellen Ausdrucks,<br />

die Verbindung von Schauspiel und Musik,<br />

von Geschichte und Gegenwart, von<br />

Kulisse, Malerei und Klang. Ihr Theater<br />

sollte bewegen. Das Publikum sollte zum<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 115


| S A L O N | V E R D I & W A G N E R<br />

Teil der Aufführung werden. Es ist kein Zufall,<br />

dass beide für den sozialistischen Theoretiker<br />

Giuseppe Mazzini schwärmten. Er<br />

verfasste – natürlich auf Französisch – eine<br />

„Philosophie der Musik“ und forderte die<br />

„Vereinigung der Jugend Europas“. Seine<br />

Grundidee war nicht nur der Nationalstaat,<br />

sondern eine uralte, europäische Philosophie<br />

des antiken Griechenlands: Kunst und<br />

Musik sollten Teil der Politik werden.<br />

Verdi nannte diese neue Form der Oper<br />

„Musikdrama“, Wagner bevorzugte das<br />

Wort „Gesamtkunstwerk“. Beide meinten<br />

die kulturelle, politische Verantwortung<br />

der Kunst – und forderten damit auch<br />

die ästhetische Verantwortung der Politik.<br />

Verdi und Wagner haben keine Musik-Politik<br />

im Sinne von Merkel, Monti oder<br />

Hollande gemacht. Sie waren eher Aktivisten<br />

von Attac, Occupy und Amnesty<br />

International.<br />

Schließlich waren selbst nationale Revolutionen<br />

im 19. Jahrhundert auch internationale<br />

Revolutionen. Der russische<br />

Freiheitskämpfer Michail Alexandrowitsch<br />

Bakunin, ein vollbärtiger Grantler, war einer<br />

dieser Terrorismus-Touristen. Er hatte<br />

in Russland gezündelt und tingelte von<br />

Prag über Polen nach Italien. In Dresden<br />

traf er auf Wagner und machte ihn zum<br />

Mitorganisator des schwarz-rot-goldenen<br />

Aufstands. <strong>Die</strong> europäischen Nationalrevolutionen<br />

waren Proteste gegen die Politik<br />

des Grünen Tisches vom Wiener Kongress.<br />

Italiener und Deutsche forderten<br />

neue Grenzen. Und wenn Europapolitiker<br />

heute von Griechenland-Hilfe, Spanien<br />

oder Italien reden, lohnt es sich, bei<br />

Wagner und Verdi nachzuhören: Sie wussten,<br />

dass sich Europa keine Völker „zweiter<br />

Klasse“ leisten konnte.<br />

„Man darf nicht vergessen, dass das<br />

Politische für Wagner oft privat begründet<br />

war“, sagt Christian Thielemann, „er<br />

hat Allianzen mit den Revolutionären des<br />

Vormärzes oder mit Königen wie Ludwig<br />

II geschmiedet, um sein eigentliches,<br />

persönliches Ziel voranzutreiben: das Gesamtkunstwerk.<br />

Und dieses Verständnis<br />

von Politik hat er auch in seinen Opern<br />

behauptet. Wotan scheitert nicht an einem<br />

politischen System. Er scheitert als Gott<br />

an seiner Zerrissenheit zwischen menschlichen<br />

Gefühlen und Macht.“ Ähnlich sieht<br />

es Rolando Villazón: „Verdis Kunst besteht<br />

darin, Machtpolitik auf private Emotionen<br />

zu reduzieren: Radames, Ernani und Otello<br />

sind Politiker, die als Menschen vor Konflikten<br />

stehen. Politik war für Verdi nicht,<br />

was wir heute als Politik begreifen. Es ging<br />

ihm nicht um Parteien und Regierungskoalitionen.<br />

Der Anfang aller Politik war für<br />

ihn der Umgang eines Menschen mit einem<br />

anderen.“ Kurz gesagt: Ein König, der<br />

seine Frau schlägt, kann kein Land regieren.<br />

UND SO IST ES KEIN ZUFALL, dass sich Wagners<br />

und Verdis Biografien dort trennen,<br />

wo sie privat werden. Wo zwei verschiedene<br />

Lebensumstände auf die gleiche Weltpolitik<br />

treffen. Wo jener „Weltgeist“ entstand,<br />

den die beiden bei Hegel kennengelernt haben<br />

und in ihre Opern holten. Verdi war<br />

ein erfolgreicher Aufsteiger aus kleinen<br />

Verhältnissen, seine Opern<br />

waren längst Bestseller, und<br />

er hatte allerhand zu verlieren.<br />

Also setzte er in Zeiten<br />

der Revolution seinen Zylinder<br />

auf und schloss realpolitische<br />

Kompromisse.<br />

Zwar besorgte auch er tödliche<br />

Gewehre für den Risorgimento,<br />

pflegte aber<br />

gleichzeitig weiter Kontakte<br />

zu Königshäusern in<br />

ganz Europa. Richard Wagner<br />

steckte derweil in einer privaten Schuldenfalle.<br />

Seine Verschwendungssucht überstieg<br />

das Kapellmeister-Gehalt in Dresden.<br />

Und während Verdi gemütlich durch die<br />

Pariser Wirren schlenderte, Zeitung las<br />

und Kaffee trank, hoffte Wagner, dass die<br />

Revolution seine privaten Probleme lösen<br />

würde. Er forderte unter Pseudonym die<br />

Abschaffung des Geldes, setzte sein Barett<br />

auf, stieg auf Gottfried Sempers Revolutions-Barrikaden,<br />

besorgte Handgranaten<br />

mit fataler Wirkung und floh schließlich<br />

gemeinsam mit Bakunin auf einer Kutsche<br />

aus der Stadt. Während der Profi-Revolutionär<br />

gefasst wurde, rettete sich Wagner<br />

ins Zürcher Exil.<br />

Nach den Aufständen erhoben beide<br />

die Provinz zum Zentrum ihrer Welt und<br />

verlegten die Revolution ins Private. Verdi<br />

hatte sich ein Landgut in Sant’ Agata gekauft.<br />

Wagner bezog die „Villa Rienzi“ in<br />

Zürich, die er sich von Franz Liszt und seinem<br />

Gönner Otto Wesendonck finanzieren<br />

ließ. Während der Italiener als komponierender<br />

Großbauer lebte, schrieb der<br />

Deutsche in parfümierter Seidenwäsche<br />

zunächst einmal kunstästhetische Traktate<br />

<strong>Die</strong> Oper im<br />

19. Jahrhundert<br />

funktioniert<br />

wie die<br />

Champions<br />

League<br />

und flirtete mit seiner Nachbarin Mathilde<br />

Wesendonck. Verdi holte derweil seine Geliebte,<br />

die Sängerin Giuseppina Strepponi,<br />

aufs Land. Wagners Affäre sorgte für die<br />

Trennung von Ehefrau Minna, und Verdis<br />

Liebschaft dafür, dass die Kirchenbank<br />

neben Giuseppina an Sonntagen leer blieb.<br />

Letztlich inspirierte Wagner und Verdi<br />

nicht die Politik, sondern das Private zu<br />

den größten musikalischen Revolutionen:<br />

Verdi schrieb – mit Blick auf Giuseppina<br />

– „La Traviata“, eine Oper über die<br />

wahre Liebe einer Lebedame. Wagner ließ<br />

sich von seinem Zürcher Techtelmechtel<br />

mit Mathilde zu „Tristan und Isolde“ inspirieren.<br />

Ein Epos über die Unmöglichkeit<br />

der irdischen Liebe. Für Christian Thielemann<br />

liegt hier die eigentliche<br />

Revolution. „Ich halte<br />

nichts davon zu wissen, ob<br />

Wagner Verdauungsstörungen<br />

hatte, um seinen ‚Tristan‘<br />

zu erklären. Mir geht es<br />

um die Musik. Und wenn<br />

wir über Revolutionen sprechen,<br />

müssen wir über den<br />

‚Tristan‘-Akkord reden! Hier,<br />

ausgerechnet in seiner intimsten<br />

Oper, hat Wagner<br />

den größten Affront hingelegt:<br />

Er hat das alte System von Dur und<br />

Moll aufgelöst und die Musiktheorie in<br />

eine neue Dimension katapultiert. Er hat<br />

den Klangkosmos so weit geöffnet, dass wir<br />

noch heute dastehen und staunen.“<br />

Von Verdi und Wagner zu lernen, bedeutet<br />

zu erkennen, dass das Private das<br />

Politische bestimmt. Und das Geld ein<br />

zentraler Teil des Privaten ist. Mehr noch:<br />

Wenn man Verdis und Wagners private<br />

Finanzsituation kennt, versteht man auch<br />

die Mechanismen der europäischen Währungsunion.<br />

Sowohl der sparsame Verdi als<br />

auch der verschwenderische Wagner wussten,<br />

dass sie sich gar keinen Nationalismus<br />

leisten konnten, wenn sie mit ihrer Kunst<br />

Geld verdienen wollten. Sie waren gezwungen,<br />

als europäische Weltbürger zu agieren.<br />

Ägypten zahlte Verdi eine astronomische<br />

Summe für „Aida“, und Wagner bot seinen<br />

„Tristan“ sogar in Brasilien an. <strong>Die</strong> Oper<br />

im 19. Jahrhundert funktionierte wie die<br />

Fußball-Champions-League; Ablösesummen<br />

und Marktwert kennen keine Grenzen.<br />

Verdi und Wagner kämpften um die<br />

gleichen Orte: Wien, München, St. Petersburg<br />

und vor allen Dingen: Paris!<br />

116 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Heute ist Europa ohne Berlin und Paris<br />

nicht zu denken, damals waren Wien<br />

und Paris die strategischen Zentren. Lange<br />

regierte der Italiener Gioachino Rossini an<br />

der Seine, dann der Deutsche Giacomo<br />

Meyerbeer. <strong>Die</strong> Könige hatten sich aus<br />

ihrer kulturellen Verantwortung zurückgezogen,<br />

und das Bürgertum bestimmte<br />

die Musik. Meyerbeer, der konvertierte<br />

Jude aus Tasdorf bei Berlin, schrieb gemeinsam<br />

mit seinem Librettisten Eugène<br />

Scribe populäre Ausstattungsopern. Paris<br />

erinnerte damals an das Berlin nach<br />

der Wende: Eine neue Stadt entstand,<br />

der Architekt Georges-Eugène Haussmann<br />

errichtete Markthallen, Bahnhöfe<br />

und – natürlich – Theater.<br />

Den ersten Angriff auf Meyerbeers Paris<br />

wagte Wagner. Aber er scheiterte und<br />

zog mit sarkastischen Grüßen von Heinrich<br />

Heine zurück in das „Kartoffelland“.<br />

Verdi plante seine Eroberung besser, nahm<br />

Meyerbeers Star-Librettisten unter Vertrag<br />

und wurde zum unangefochtenen Herrscher<br />

von Paris. Dabei kämpfte auch er<br />

mit heute fragwürdigen Mitteln. Von<br />

Wagner ist bekannt, dass er jüdische Zeitungen<br />

und Komponisten verantwortlich<br />

für sein Scheitern machte. Verdi selbst<br />

äußerte sich nie antisemitisch, das überließ<br />

er lieber seinem Verleger Léon Escudier.<br />

Der lästerte über die „Scharlatane“,<br />

die „mit einem Lächeln verzerrt vor Eifersucht“<br />

die Boulevards „verseuchten“.<br />

Auch diese dunkle Geschichte des internationalen<br />

Antisemitismus’ gehört (Verdis<br />

Preisung Jehovas am Ende von „Nabucco“<br />

zum Trotze) zur Gründung Europas im<br />

19. Jahrhundert.<br />

WAGNERS ZWEITER STURM auf Paris scheiterte<br />

ebenfalls. Sein „Tannhäuser“ floppte<br />

und wurde von Mitgliedern des reaktionären<br />

Jockey-Clubs sabotiert. „Allein daran<br />

sieht man, welche gesellschaftliche<br />

Wirkung die Musik haben kann“, sagt<br />

Christian Thielemann. „Plötzlich stritt<br />

Europa um Fortschritt oder Tradition.<br />

<strong>Die</strong> Musik hat eine Diskussion angezettelt,<br />

in der sich Paris, Mailand und Wien<br />

auch ästhetisch positionieren mussten.“ In<br />

den Salons wurde der Skandal der „Zukunftsmusik“<br />

debattiert, und Wagner, der<br />

Querulant, war plötzlich interessant. Auch,<br />

weil er zum Gegenentwurf Verdis stilisiert<br />

wurde. Dabei ging es nicht um Deutschland<br />

oder Italien, sondern um die Musik<br />

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| S A L O N | V E R D I & W A G N E R<br />

als Systemfrage: Wie wollte Europa leben?<br />

Mit Sinn für Innovation oder mit Bewahrung<br />

des Alten?<br />

Jahrelang hatte Richard Wagner seinem<br />

Konkurrenten dessen fast spielerischen Erfolg<br />

geneidet, sich mit öffentlicher Kritik<br />

aber zurückgenommen. Und auch Verdi<br />

konnte sich Großmut leisten. Wagner<br />

schien keine Gefahr für ihn zu sein – eine<br />

intensive Beschäftigung mit ihm und seiner<br />

Musik schien nicht nötig. Wagners musiktheoretische<br />

Schriften lagen nach Verdis<br />

Tod noch immer mit ungeöffneten Seiten<br />

im Regal. Erst als die öffentliche Meinung<br />

kippte, Wagner als „fortschrittlicher Musiker“<br />

in Paris gefeiert wurde und Verdi sogar<br />

in Italien als rückständig galt, nahm er sich<br />

die Partitur des „Lohengrin“ vor und kommentierte<br />

einzelne Passagen. Nach Wagners<br />

Tod hat Verdi mit „Otello“ und „Falstaff“<br />

noch einmal eine Kraftanstrengung<br />

unternommen, um das Gesamtkunstwerk<br />

in seinem Sinne zu revolutionieren.<br />

Wagner und Verdi waren Titanen ihrer<br />

Zeit. Zu Mythen aber wurden sie erst<br />

nach ihrem Tod. Doch während Wagners<br />

Annektion durch Hitler heute allgegenwärtig<br />

ist, macht die Forschung einen Bogen<br />

um Verdis Vereinnahmung durch Mussolini.<br />

Schon als Kind schwärmte der „Duce“<br />

für den Komponisten, lernte Geige und betrieb<br />

auch nach der Trauerrede im Stadttheater<br />

von Forlimpopoli – nun vom Kommunisten<br />

zum Faschisten gewandelt – die<br />

Heroisierung des Komponisten: Zwischen<br />

1922 und 1943 erschienen über 20 faschistische<br />

Verdi-Biografien in Italien. Unter ihnen<br />

jene von Alessandro Luzio, der den<br />

Komponisten zum Vordenker des nationalistischen<br />

Italiens erhob. Vor jeder Verdi-<br />

Oper wurde die Faschisten-Hymne „Giovinezza“<br />

gesungen. Der Dirigent Arturo<br />

Toscanini war einer der wenigen, die das<br />

irritierte. Er brach mit Mussolini und dessen<br />

Italien und weigerte sich auch, in Bayreuth<br />

zu dirigieren, wo Winifred Wagner<br />

Hitler längst als „Onkel Wolf“ empfing.<br />

Während die Diktatoren Verdi und Wagner<br />

vereinnahmten, hielten Dirigenten wie<br />

Toscanini ihre eigentlichen Werte aufrecht,<br />

als sie deren Opern nun in New York dirigierten.<br />

Der Umgang mit den Komponisten<br />

im 20. Jahrhundert wurde zur Frage<br />

von Anstand und Moral.<br />

„Wie wir Verdi heute verstehen, sagt<br />

mehr über unsere Zeit aus als über das<br />

19. Jahrhundert“, sagt Rolando Villazón.<br />

„Das Besondere an der Oper ist, dass wir<br />

jeden Abend die gleichen Noten spielen –<br />

aber immer anders. Eine Partitur stellt uns<br />

jedes Mal vor die Aufgabe, eine Position zu<br />

beziehen. Musik ist eine Kunst mit zwei<br />

Schöpfungen. Eine hat in der Vergangenheit<br />

stattgefunden, eine zweite muss in der<br />

Gegenwart stattfinden. Und so sind die<br />

Partituren von Verdi ein historischer Fixpunkt.<br />

<strong>Die</strong> unterschiedlichen Interpretationen<br />

sind eine Möglichkeit, unsere Werte<br />

von Freiheit und Menschlichkeit zu überprüfen.<br />

Denn im Zentrum seiner Opern<br />

steht der Mensch mit seinen Emotionen –<br />

und der ist überzeitlich.“<br />

Auch Christian Thielemann hält die<br />

Musik lieber aus der Politik heraus: „Es ist<br />

doch Fakt, dass Wagners C-<br />

Dur immer gleich klingt –<br />

egal, ob Hitler in der Loge<br />

sitzt oder wir. Wir haben es<br />

mit einem kulturellen Erbe<br />

zu tun, das wir nur bewahren,<br />

wenn wir es spielen. Es<br />

ist unsere Verantwortung,<br />

Wagners Noten hörbar zu<br />

machen. Wie das Publikum<br />

auf die Musik reagiert, welche<br />

Aspekte es beschäftigt,<br />

und welche Konsequenzen<br />

es daraus zieht, steht auf einem ganz anderen<br />

Blatt. Das hat mehr mit unserer Zeit<br />

als mit der Musik zu tun. Unsere Zeit wird<br />

vergehen, Wagner aber wird bleiben.“<br />

HEUTE SIND DIE WERKE Wagners und Verdis<br />

Mythenschwämme. Sie haben den Ersten<br />

Weltkrieg, den Faschismus, den Kalten<br />

Krieg und das moderne Europa aufgesogen,<br />

wurden aus ihrer historischen Bedeutung<br />

herausgerissen und immer wieder in<br />

die Gegenwart geholt, annektiert, umgedeutet<br />

und zurückerobert. <strong>Die</strong> Phalanx der<br />

Staatschefs, unter denen die Komponisten<br />

dienen mussten, mutet absurd an: Könige<br />

stehen neben Diktatoren und Demokraten.<br />

Ludwig II erfüllte Wagners Opernträume,<br />

Bismarck erhob ihn zum Nationalkünstler,<br />

Hitler annektierte ihn als arischen Meister,<br />

und heute sucht Angela Merkel seine demokratischen<br />

Wurzeln und beschreitet den<br />

roten Teppich auf dem Grünen Hügel als<br />

Kultur-Catwalk der Bundesrepublik.<br />

So wie die Opern der beiden klingen,<br />

hört sich unsere Zeit an: Carusos Schmetterei<br />

auf dem Vorkriegsvulkan, Lauritz<br />

Melchiors Dreißiger-Jahre-Heldentum,<br />

Im Zentrum<br />

von Verdis<br />

Opern steht<br />

der Mensch<br />

mit seinen<br />

Emotionen<br />

Maria Callas’ Nachkriegs-Expressionismus,<br />

René Kollos Wirtschaftswunder-<br />

Glanz und Anna Netrebkos perfekte, moderne<br />

Pop-Oberfläche sind die Stimmen<br />

von Epochen. Bis heute zeigen Regisseure<br />

Verdi und Wagner gern als Revolutionäre<br />

bürgerlicher Konventionen. Türenschlagen<br />

und Gesellschaftsdebatten gehören zu jeder<br />

Inszenierung: Hans Neuenfels hat Aida<br />

1981 in Frankfurt als Putzfrau gezeigt, Peter<br />

Konwitschny das Autodafé aus „Don<br />

Carlos“ in Hamburg als Pausen-Divertissement<br />

mit Champagner inszeniert, und<br />

Calixto Bieito den „Trovatore“ zum Baracken-Flüchtlingsdrama<br />

stilisiert. Patrice<br />

Chéreau hat Wagners „Ring“-Götter vermenschlicht,<br />

Christoph Schlingensief reiste<br />

mit „Führerwein“ nach Bayreuth<br />

und suchte in Afrika<br />

nach Mythenwurzeln. Stefan<br />

Herheim hat seinen<br />

„Parsifal“ in der Villa Wahnfried<br />

unter dem Hakenkreuz<br />

angesiedelt, und Frank Castorf<br />

wird Wagner nun als<br />

Chefankläger der Ölmultis<br />

in Szene setzen.<br />

Oft sind von den Revolutionären<br />

des 19. Jahrhunderts<br />

heute nur noch Bühnenblut,<br />

Sängerschweiß und Regiesperma<br />

übrig. Auch, weil die Revolution im heutigen<br />

bürgerlichen Europa domestiziert<br />

ist. Weil der Skandal in die Kultur integriert<br />

wurde. Und: Weil Europa nach zwei<br />

Kriegen eine Balance gefunden, seine wirtschaftliche<br />

Abhängigkeit erkannt und seine<br />

gemeinsame Tradition entdeckt hat. Angela<br />

Merkel, Mario Monti und wir werden<br />

auch heute noch von Verdi und Wagner<br />

herausgefordert. Unser Blick auf sie<br />

bestimmt unseren Blick auf unsere Nationen<br />

und ihre Rolle in Europa. Ihre Opern<br />

zeigen uns, dass Politik mit dem Individuum<br />

beginnt, dass sie die souveräne Kulturnation<br />

braucht und eine Stabilität der<br />

einzelnen Staaten. Denn am Ende ist Nation<br />

keine Frage von nationaler Überheblichkeit,<br />

sondern von kultivierter europäischer<br />

Identifikation jedes Einzelnen.<br />

A XEL B RÜGGEMANN<br />

ist Journalist und Buchautor. Ende<br />

Januar erscheint von ihm „Genie<br />

und Wahn – <strong>Die</strong> Lebens geschichte<br />

des Richard Wagner“<br />

FOTO: PRIVAT<br />

118 <strong>Cicero</strong> 1.2013


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| S A L O N | M A N S I E H T N U R , W A S M A N S U C H T<br />

<strong>Die</strong> Kunst<br />

der freien Rede<br />

120 <strong>Cicero</strong> 1.2013


„Guten Abend, Herr <strong>Die</strong>kmann, ich rufe Sie an aus Kuwait, bin grad auf dem Weg zum Emir“: So beginnt die berühmtberüchtigte<br />

Sprachnachricht des damaligen Bundespräsidenten, die jetzt zum Kunstwerk geadelt wurde<br />

Der Berliner Maler Clemens von Wedel hat jene<br />

ominöse Botschaft, die der damalige Bundespräsident<br />

Christian Wulff in der Mailbox des Bild-Chefredakteurs<br />

hinterließ, auf sechs Leinwänden verewigt<br />

V ON B EAT WYSS<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 121


| S A L O N | M A N S I E H T N U R , W A S M A N S U C H T<br />

N<br />

E BIS IN IDEM, nicht zweimal für<br />

das Gleiche: Der Grundsatz aus<br />

dem Römischen Recht stehe als<br />

Motto über einer Bildbetrachtung, die,<br />

auf den ersten Blick, sich gegen Christian<br />

Wulff richtet. Nachtreten ist nicht nur<br />

unfair, es ist auch nicht rechtens.<br />

Aber haut denn Clemens von Wedel<br />

mit seinem Kunstwerk einfach nochmals<br />

in dieselbe Kerbe, wie schon die deutsche<br />

Presse im abgelaufenen Jahr? Der Künstler<br />

hat, Wort für Wort, in großen Lettern,<br />

die verhängnisvolle Mailbox-Nachricht<br />

des ehemaligen Bundespräsidenten an den<br />

Bild-Chefredakteur Kai <strong>Die</strong>kmann auf<br />

sechs große Bildtafeln gemalt. In seiner<br />

Botschaft hatte Wulff gebeten, die Zeitung<br />

solle die Veröffentlichung von Einzelheiten<br />

über einen Privatkredit (zumindest<br />

vorerst) unterlassen. <strong>Die</strong> Öffentlichkeit<br />

ist darüber inzwischen hinreichend informiert,<br />

es genüge hier die Erinnerung daran,<br />

dass jener Versuch präsidialer Beeinflussung<br />

vom 12. Dezember 2011 zu den<br />

belastenden Momenten gehörte, die das<br />

Staatsoberhaupt am 17. Februar 2012 zum<br />

Rücktritt bewogen.<br />

Der Vorwurf, dass Wulff mit dem<br />

Werk von Wedel noch einmal nachverurteilt<br />

wird, wäre dem Künstler dann zu<br />

machen, wenn Kunst und Journalismus<br />

das Gleiche wären. Gewiss können beide,<br />

Kunst und Presse, sich nur entfalten bei<br />

garantierter Meinungsfreiheit. Doch von<br />

dieser gemeinsamen Ebene an bohrt sich<br />

der Freiheitsbegriff in unterschiedliche<br />

Tiefen. <strong>Die</strong> Presse kämpft für die angewandte<br />

Freiheit öffentlicher Meinung. Sie<br />

verteidigt diese gegen Einflussnahme von<br />

jedweder politischen Couleur. Gründliche<br />

Information ist das bildende Fundament<br />

öffentlicher Meinung. Als vierte<br />

Gewalt ist die Presse mit ihrem Freiheitsbegriff<br />

eine staatstragende Institution.<br />

Künstlerische Freiheit hingegen bohrt<br />

sich in dunklere Zonen hinein, bis hinunter<br />

in das schwer Vermittelbare und Unzugängliche<br />

des machtlosen Subjekts. Kunst<br />

steht ein für das Recht des Individuums,<br />

in-dividuum, ungeteilte Person sein zu<br />

dürfen. Künstlertum vertritt die Figur des<br />

122 <strong>Cicero</strong> 1.2013


FOTOS: DANIEL BISKUP (SEITEN 120 BIS 124), ARTIAMO (AUTOR)<br />

Anderen, jenes Unteilbaren jenseits öffentlicher<br />

und veröffentlichter Meinung.<br />

Aus Kunstwerken spricht nicht Common<br />

Sense, welcher der Presse wohl ansteht,<br />

sondern Dissens. <strong>Die</strong> Politik der Kunst<br />

besteht darin, das Neinsagen zu üben und<br />

dessen Toleranz zu vermitteln. Als notwendige<br />

Kulturtechnik einer offenen Gesellschaft<br />

macht das Neinsagen-Können<br />

die angewandte Pressefreiheit erst möglich.<br />

Ihr Instrument ist das Schreiben, dazu<br />

da, gelesen werden zu können, so wie ein<br />

Bildkonsument auch ohne Kenntnis klassischer<br />

Poetik gern gerührt, erfreut und<br />

belehrt sein möchte. <strong>Die</strong>se Annehmlichkeit<br />

verschafft uns Wedel nicht. Denn<br />

hätte der Künstler den politisch brisanten<br />

Text nur gut leserlich aufbereitet, er hätte<br />

im Sinne der investigativen Presse gehandelt;<br />

das ist aber noch keine Kunst.<br />

Der Künstler macht Schrift und Malerei<br />

als Medien sichtbar, die sich durch Verfremdung<br />

gegenseitig stören. <strong>Die</strong> Lettern<br />

sind zu Wörtern zusammengefasst, die<br />

vor farblich wechselndem Grund einzeln<br />

skandiert sind, als würde jener Text, Wort<br />

für Wort, geschrien, gestammelt, buchstabiert.<br />

Das Werk wirkt als gestische Notation<br />

im Stil von Antonin Artaud, jenem<br />

mit Verrücktheit begnadeten und gequälten<br />

Schauspieler und Dichter. Er war<br />

ein Zeit- und Leidensgenosse von Adolf<br />

Wölfli, den Wedel seinen Lehrer nennt.<br />

Von diesem angeregt sind die bunten<br />

Wimmelbilder, die Text und Bild engmaschig<br />

miteinander verweben. Jahrzehntelang<br />

waren Artaud und Wölfli in Irrenhäusern<br />

interniert. Ihren Werken wird<br />

heute eine Wertschätzung zuteil, die den<br />

Schöpfern zu Lebzeiten verweigert war.<br />

„<strong>Die</strong> Würde des Menschen ist unantastbar“:<br />

Der erste Satz im Grundgesetz<br />

gilt für Artaud, für <strong>Die</strong>kmann, Wedel und<br />

Wölfli. Er gilt auch für den vor einem Jahr<br />

zurückgetretenen Bundespräsidenten.<br />

B E AT W Y S S<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt in Karlsruhe<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 123


| S A L O N | A L T E M U S I K<br />

DIE EWIGEN<br />

ZOMBIES<br />

Rock ’n’ Roll ist nicht tot, er riecht<br />

nur etwas streng: Von Led Zeppelin<br />

bis zu Neil Young beherrschen<br />

lauter Altvordere die Charts – aber<br />

der musikalische Manierismus<br />

hat seine Berechtigung<br />

VON A RNE WILLANDER<br />

E<br />

IN BLICK IN DIE CHARTS im Dezember<br />

2012: Led Zeppelin stehen<br />

ganz oben, dahinter die Rolling<br />

Stones, die vorher ganz oben<br />

standen, dann Joe Cocker und<br />

Rod Stewart. Im Buchhandel liegen Autobiografien<br />

von demselben Rod Stewart,<br />

von Neil Young und Pete Townshend –<br />

und ein dickleibiger Band mit sämtlichen<br />

Briefen, Telegrammen, Zetteln und Notizen<br />

von John Lennon, gekauft, ersteigert,<br />

geschnorrt und gesammelt von einem Authentizitätsfanatiker<br />

mit viel Zeit. Eben<br />

veröffentlicht wurden alle Vinyl-Schallplatten<br />

von The Who und den Beatles als<br />

originalgetreue Repliken, das Gesamtwerk<br />

von Johnny Cash im Schuber, die Platte<br />

„The Gift“ von The Jam aus dem Jahr 1982<br />

in einer Luxus-Edition. Und im März erscheint<br />

ein neues Album von Jimi Hendrix,<br />

aufgenommen 1968.<br />

Krise? Welche Krise? <strong>Die</strong> Plattenindustrie<br />

meldet erstmals seit der Jahrtausendwende<br />

leichte Gewinne, der Anteil<br />

von Schallplatten am Gesamtumsatz<br />

steigt, fast jedes Album wird in einer teuren<br />

Vinyl-Ausgabe aufgelegt. Während<br />

die Jugend die Tracks von Casting-Figuren<br />

aus Wolken herunterlädt, kaufen<br />

die Juvenilen von 1965 teure Plattenspieler<br />

und Lautsprecherboxen und hören<br />

neue Scheiben von Leonard Cohen,<br />

Neil Young und Donald Fagen. Und weil<br />

mit Konzerten heute mehr Geld verdient<br />

wird als mit CDs, befinden sich die Altvorderen<br />

auf einer Never Ending Tour:<br />

Bob Dylan natürlich, Bruce Springsteen,<br />

Donovan, Cliff Richard, die Beach Boys,<br />

Crosby, Stills & Nash, Leonard Cohen,<br />

Meat Loaf, The Cure. Und die Rolling<br />

Stones im 51. Jahr ihres Bestehens. Der<br />

Rock ’n’ Roll, hätte Frank Zappa gesagt,<br />

ist nicht tot – er riecht nur ein bisschen<br />

komisch.<br />

Das Lamento über die ewige Wiederkehr<br />

der Gleichen ist wohlfeil – denn wir<br />

laufen ja in einem Gemenge aus Sentimentalität,<br />

Neugier und Torschlusspanik immer<br />

wieder hin, wenn Neil Diamond singt<br />

oder Kris Kristofferson. Der Songschreiber<br />

Randy Newman, selbst 68 Jahre alt, konstatiert<br />

in seinem Song „I’m Dead (But I<br />

Don’t Know It)“: „Each record that I make<br />

is like a record that I made – just not as<br />

good.“ Bei Konzerten witzelt er, dass all die<br />

Bands noch unterwegs sind – und alle haben<br />

ihre Abschiedstourneen längst hinter<br />

sich: R. E. O. Speedwagon, Journey, Mötley<br />

Crüe, Chicago, die Scorpions. Nach den<br />

sechziger und siebziger Jahren wurden die<br />

Achtziger historisch-kritisch aufgearbeitet<br />

und zum „Kult“ reduziert, jetzt erscheinen<br />

die Neunziger als Fünf-CD-Box-Sets mit<br />

124 <strong>Cicero</strong> 1.2013


FOTOS: JIM DYSON/REDFERNS VIA GETTY IMAGES, PRIVAT (AUTOR)<br />

Bildband, Textbüchlein, Geleitwort und<br />

Aufnahmen aus der Werkstatt.<br />

Der englische Autor Simon Reynolds<br />

untersucht das Phänomen der nicht weichenden<br />

Vergangenheit in seinem Buch<br />

„Retromania“ und formuliert einige steile<br />

Thesen. In einer Überlegung setzt er die<br />

Popkultur parallel zum Finanzwesen: virtuelle<br />

Werte, windige Geschäfte, Handel<br />

mit immer neu verpackten Derivaten,<br />

steigende und fallende Kurse, Verlust des<br />

Überblicks – und irgendwann der Zusammenbruch<br />

des fragilen Systems. Doch der<br />

kühne Vergleich hinkt: Für die Popkultur<br />

hatte die letzte Stunde schon geschlagen,<br />

als CD-Brenner, MP3-Geräte und<br />

Tauschbörsen gegen Ende der neunziger<br />

Jahre das eben noch florierende Geschäft<br />

zunichtemachten. Im Jahr 2000 verkaufte<br />

die Gruppe N’Snyc in den USA zehn Millionen<br />

CDs. Seitdem erreichte kaum ein<br />

It’s only Rock ’n’ Roll<br />

(but I like it): <strong>Die</strong><br />

Rolling Stones geben<br />

sich auch ein halbes<br />

Jahrhundert nach ihrer<br />

Gründung noch viel<br />

Mühe auf der Bühne<br />

Album zwei Millionen Exemplare, bis die<br />

Sängerin Adele es im vergangenen Jahr auf<br />

mehr als fünf Millionen Einheiten brachte;<br />

Taylor Swift steht derzeit bei mehr als vier<br />

Millionen. Darunter sind freilich Downloads<br />

und Streams; aber es wird Geld<br />

verdient.<br />

Der beispiellose Aufstieg der Retro-<br />

Kunstfigur Lady Gaga zeigt, dass auch das<br />

Prinzip des Eklektizismus funktioniert. <strong>Die</strong><br />

Sex-Künstlerin Rihanna hat mittlerweile<br />

mehr Nummer-eins-Singles in den USA<br />

zu verzeichnen als Madonna und Whitney<br />

Houston, obwohl junge Menschen gar<br />

nicht wissen, was früher eine Single war.<br />

Zwar sind die Zeiten vorbei, da ein Songschreiber<br />

wie Jackson Browne sieben Millionen<br />

Stück von einem Album absetzen<br />

konnte, doch der globale Erfolg der schottischen<br />

Rumpel-Folk-Band Mumford &<br />

Sons belegt, dass es neue Retro-Phänomene<br />

gibt, die sich der Analyse entziehen: <strong>Die</strong><br />

gläubigen Musiker spielen herzzerreißend<br />

naive Weisen auf Waschbrett, Schlagzeug,<br />

Banjo und Flöte – in Stadien.<br />

Nach dem Triumph und Tod von Amy<br />

Winehouse wurden eine, zwei, viele Amys<br />

entdeckt – Retro-Soul war das Gebot der<br />

Stunde. Mit verhalltem Gesang und einer<br />

Bläser-Sektion im Stil der sechziger Jahre<br />

reproduzieren tüchtige Adepten den Sound<br />

der Supremes, der Ronettes, der Shirelles<br />

und Shangri-Las. Amy Winehouse war so<br />

gut und so verblüffend, weil sie die Songs<br />

auf den alten Platten kannte und internalisiert<br />

hatte – den Retro-Stil musste sie gegen<br />

ihre Plattenfirma durchsetzen. Heute singen<br />

die Mädchen bei „Deutschland sucht<br />

den Superstar“ den amerikanischen Soul<br />

der Sechziger.<br />

In der Kunst gibt es diese Rückbesinnung<br />

seit je – dort heißt sie Manierismus.<br />

Wir rekurrieren auf die alten Helden, weil<br />

wir das Authentische begehren, das gelebte<br />

Leben, die gemeinsame Geschichte,<br />

die Narben auf der Seele. Wir weinen bittere<br />

Zähren, wenn Donna Summer stirbt.<br />

Wir trauern um Robin Gibb. Wir legen<br />

alte Abba-Platten auf. Und in der Erinnerung<br />

wird das Konzert von R.E.M. immer<br />

besser. <strong>Die</strong> Rockmusik ist eine Nostalgieund<br />

Verklärungsmaschine, die uns zugleich<br />

eine ewige Gegenwart vorgaukelt und brutal<br />

daran gemahnt, dass die Einschläge näher<br />

kommen.<br />

Es spricht viel dafür, dass die Zukunft<br />

der Popmusik in der Gleichzeitigkeit liegen<br />

wird, im „Anything goes!“ Also dort,<br />

wo sie schon immer lag. Auch die nimmermüden<br />

Alten gehorchen nicht der billigen<br />

Etikettierung als „Vintage Rock“: Der<br />

ehemalige Schnulzensänger und Mädchenschwarm<br />

Scott Walker ist heute der konsequenteste<br />

Avantgardist, der enigmatische<br />

Hörspiele für ein seltsames Instrumentarium<br />

wie Schweinehälften und Krummsäbel<br />

komponiert. Auch dieser Sonderling<br />

plant, nach vier Jahrzehnten wieder<br />

auf Tournee zu gehen. Soll er nur! Wir rufen<br />

dann aber nach „The Sun Ain’t Gonna<br />

Shine Anymore“.<br />

ARNE WILLANDER<br />

ist stellvertretender Chefredakteur<br />

der deutschen Ausgabe des Musikmagazins<br />

„Rolling Stone“<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 125


| S A L O N | Z E I T E N W E N D E 1 9 1 3<br />

Berlin, Alexanderplatz<br />

im Jahr 1913: Der Puls<br />

der neuen Zeit macht sich<br />

auch an den öffentlichen<br />

Verkehrsmitteln bemerkbar<br />

126 <strong>Cicero</strong> 1.2013


DIE LETZTEN TAGE<br />

VOR DEM STURM<br />

1913 schließt sich das Tor zur Vergangenheit Alt-Europas und öffnet sich zugleich die Tür zu<br />

einer neuen Zeit – es ist das Jahr, in dem sich zwei Epochen in finaler Verdichtung berühren.<br />

Blicken wir darauf zurück, sehen wir ein Bild, das unserer heutigen Welt erstaunlich ähnelt<br />

VON KONSTANTIN S AKKAS<br />

FOTO: RUDOLF ALBERT/BPK IMAGES/STAATSBIBLIOTHEK ZU BERLIN<br />

N<br />

OCH NIE IN DER GESCHICHTE hat sich die Welt in so kurzer<br />

Zeit so radikal verändert wie in den 100 Jahren<br />

zwischen 1913 und 2013. 1913 war das letzte Jahr des<br />

Ancien Régime: <strong>Die</strong> europäischen Großmächte waren,<br />

mit Ausnahme Frankreichs, monarchisch verfasst. Lediglich<br />

in England hatte das Parlament weitergehende Kompetenzen,<br />

aber selbst dort war das Königshaus einflussreich, wie sich<br />

in der Julikrise am Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 zeigte.<br />

<strong>Die</strong> Gesellschaft war, zumindest oberflächlich, vor allem noch<br />

ständisch gegliedert, noch immer bestimmte weitgehend die Geburt,<br />

ob man zu den privilegierten Kreisen aus Adel und Bürgertum<br />

zählte oder nicht. Unterbürgerlich – das waren 85 Prozent<br />

der Gesellschaft; die Eliten, insbesondere in Deutschland, rekrutierten<br />

sich aus einem Reservoir adliger und großbürgerlicher<br />

Familien, das sich zwar stetig, aber nur langsam erweiterte. <strong>Die</strong><br />

große Weltpolitik wurde von den fünf Großmächten England,<br />

Deutschland, Frankreich, Russland und Österreich-Ungarn bestimmt;<br />

die USA waren zwar damals schon, vor dem Deutschen<br />

Reich und Großbritannien, die Wirtschaftsmacht Nummer eins,<br />

pflegten aber ihre splendid isolation, die sie erst 1917, mit dem<br />

Eintritt in den Weltkrieg aufseiten der Entente, aufgeben sollten –<br />

dann aber, um im Handumdrehen die erste und lange Zeit einzige<br />

Supermacht der Welt zu werden.<br />

Asien spielte damals als Subjekt von Politik keine Rolle. Indien,<br />

heute eine kommende Weltmacht, war britische Kolonie,<br />

1911 hatte sich Georg V in einer bombastischen und sündhaft<br />

teuren Zeremonie zum Kaiser von Indien gekrönt. Japan machte<br />

seit dem 19. Jahrhundert ehrgeizige Versuche, in der Weltpolitik<br />

eine Rolle zu spielen, arbeitete sich aber vorerst an Russland ab,<br />

dem größten Staat der Erde, der, unterstützt durch die panslawistische<br />

Ideologie in Osteuropa, ein eurasisches Großreich ansteuerte,<br />

dessen innenpolitische Probleme aber dem Land keine Ruhe ließen<br />

und 1917 schließlich zur kommunistischen Revolution führten.<br />

Das kaiserliche China erwachte erst mit der Revolution 1911<br />

aus seinem jahrhundertelangen Dornröschenschlaf, und es sollte<br />

weitere 50 Jahre brauchen, bis es auf der Bühne der Weltpolitik<br />

als vollwertiger Player auftreten konnte; dennoch sprach man vorausahnend<br />

schon damals von der „gelben Gefahr“.<br />

In den europäischen Hauptstädten ahnte man, dass es mit<br />

der politischen Dominanz der Alten Welt bald vorbei sein würde.<br />

Nach außen freilich schien die alte Ordnung, die sich im 19. Jahrhundert<br />

vom Wiener Kongress 1815 über die bürgerlichen Revolutionen<br />

1848 bis zur deutschen Reichseinigung 1871 eingepegelt<br />

hatte, fest und unerschütterlich. „Ich führe euch herrlichen<br />

Zeiten entgegen“, hatte Deutschlands Kaiser Wilhelm II bei seinem<br />

Regierungsantritt 1888 verkündet, meinte damit aber eigentlich<br />

die „guten alten Zeiten“, von denen ganz Europa insgeheim<br />

hoffte, dass sie ewig dauern würden. Seit 1871 hatte zwischen<br />

den europäischen Mächten kein Krieg mehr stattgefunden; stattdessen<br />

Wirtschaftswachstum, langsame Öffnung der gesellschaftlichen<br />

Schranken, steigender Wohlstand auch für die klein- und<br />

unterbürgerlichen Schichten. Europa erlebte 1913 seine halkyonischen<br />

Tage.<br />

Andererseits ist 1913 ein vorweggenommenes 2013. <strong>Die</strong> Wirtschaft<br />

war damals international so sehr verflochten, wie es erst<br />

nach dem Ende des Kalten Krieges in den neunziger Jahren wieder<br />

der Fall sein sollte. <strong>Die</strong> weltweite familiäre und institutionelle<br />

Verflechtung vieler Industriellendynastien stammt aus eben<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 127


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Neue Verbindung: Das Telefon als moderne Kommunikationstechnik steht im Jahr 1913 nicht mehr<br />

nur Ämtern und Kontoren zur Verfügung, sondern erobert auch die privaten Haushalte<br />

jener Zeit; darin taten sie es den Monarchen gleich, deren Häuser<br />

untereinander heirateten und die durch dieses Konnubium<br />

die internationale Stabilität zu sichern schienen. <strong>Die</strong> ehemals<br />

stand- und rechtlosen Massen emanzipierten sich, die Arbeiterbewegung,<br />

1913 genau ein halbes Jahrhundert alt, hatte, anstatt<br />

blind gegen den Staat zu rebellieren, die Unterschicht behutsam<br />

an eben diesen Staat herangeführt, und der Erfolg der Sozialdemokratie<br />

bei der Reichstagswahl 1912 bewies eindrucksvoll, dass<br />

die Arbeiter zum Staat gehörten und Mitsprache bei der Leitung<br />

dieses Staates verlangten. Bismarcks Sozialgesetzgebung, in den<br />

1880er Jahren als Reaktion auf die erstarkende Sozialdemokratie<br />

begonnen, ebnete den Weg in den modernen Sozialstaat. Zum<br />

1. Januar 1900 war das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft getreten;<br />

es gilt noch heute.<br />

Vielleicht am deutlichsten werden die Gemeinsamkeiten von<br />

1913 und 2013 am Beispiel der technischen Entwicklung. 1913<br />

ist die Zeitscheide, der Dreh- und Angelpunkt in den 200 Jahren<br />

zwischen 1813, dem Jahr der Befreiungskriege, und 2013,<br />

dem Jahr der Eurokrise. 1813 schlief Europa noch den Schlaf der<br />

Gerechten; man heizte mit Holz, leuchtete mit Kerzen, reiste in<br />

der Postkutsche auf meistens schlecht oder gar nicht gepflasterten<br />

Straßen. Das Impfwesen stand ganz an seinem Anfang, Kindersterblichkeit<br />

und Unterernährung waren gang und gäbe. 1913<br />

dagegen war Europa von einem dichten Netz aus Eisenbahnlinien<br />

durchzogen, das Reisen mit dem Dampfzug war längst kein Privileg<br />

der Wohlhabenden mehr, in der Holzklasse saßen Arbeiter<br />

und einfache Soldaten auf dem Weg in ihre Garnison. 1813, nach<br />

der Völkerschlacht bei Leipzig, waren die siegreichen Monarchen<br />

zu Pferde in die eroberte Stadt eingeritten; 1913 ließ sich Kaiser<br />

Wilhelm II, ein Techniknarr wie alle großen Herren seiner Zeit,<br />

in der Mercedeslimousine chauffieren, auf dem Grill freilich nicht<br />

der Stern, sondern das Hohenzollernwappen.<br />

DIE MEDIZIN HATTE ungeheure Fortschritte gemacht, schon Rudolf<br />

Virchow hatte die erste erfolgreiche Herz-OP durchgeführt, Impfungen<br />

und eine immer professionellere Anästhesie verlängerten<br />

Jahr für Jahr die durchschnittliche Lebenserwartung. Der Tod im<br />

Wochenbett wurde seltener, es gab keine Epidemien mehr, und<br />

die Arbeiter verdienten zwar in der Regel immer noch schlecht,<br />

hatten aber wenigstens genug zu essen und konnten sich anständig<br />

kleiden. 1813 hatte man noch die Nachttöpfe in den Gassen<br />

ausgekippt, 1913 gab es großflächig funktionierende Kanalisationen<br />

und in immer mehr Wohnungen fließendes Wasser.<br />

Hungerperioden, die wie 1816, im „Jahr ohne Sommer“, noch<br />

ganz Europa heimgesucht hatten, gehörten nun der grauen Vorzeit<br />

an. Der europäische Mensch, der 1789 mit seiner Lebenswelt<br />

noch tief im Mittelalter gesteckt hatte, war 1913 in der Moderne<br />

angekommen.<br />

FOTO: SZ PHOTO/IMAGEBROKER<br />

128 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Motorkutsche: Kaiser Wilhelm II, ein Techniknarr wie alle großen Herrscher seiner Zeit, ließ sich in der Mercedeslimousine<br />

chauffieren; diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs<br />

FOTO: A. GROHS/PAUL THOMPSON/FPG/HULTON ARCHIVE/GETTY IMAGES<br />

Längst fuhr man in den Städten nicht mehr mit der Pferdedroschke,<br />

sondern mit der „Elektrischen“; überhaupt war Elektrizität<br />

die Technologie der Zukunft. Gaslaternen und Petroleumlampen<br />

verschwanden, bald erhellte elektrisches Licht die Straßen,<br />

Plätze und öffentlichen Gebäude. „Glühwürmchen, Glühwürmchen<br />

flimm’re“ – der Schlager von Paul Lincke tönte aus dem<br />

Grammofon in Tanzlokalen und Betrieben. Fotografie und Film<br />

waren die Medien der Zeit, und die Monarchen, allen voran der<br />

deutsche Kaiser, waren die ersten Medienstars. Überhaupt, die<br />

Medien: Wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch fleißig<br />

zensiert, so waren Zeitungen und Zeitschriften am Vorabend des<br />

Ersten Weltkriegs in der Unabhängigkeit angekommen. Zum<br />

ersten Mal in der europäischen Geschichte wurden Meinungen<br />

„gemacht“, Verleger waren nicht nur schwerreich und gehörten<br />

selbstverständlich zum Establishment, sondern konnten mit ihren<br />

Erzeugnissen Regierungen stürzen oder wenigstens – wie Maximilian<br />

Harden, der mit seiner „Zukunft“ 1906 die Eulenburg-Affäre<br />

auslöste und damit Kaiser Wilhelm II an den Rand der Abdankung<br />

brachte – in arge Bedrängnis versetzen. Das Analphabetentum<br />

war im Zuge der Industrialisierung so gut wie verschwunden,<br />

und so gab es zum ersten Mal wirklich so etwas wie eine öffentliche<br />

Meinung. Klassische Kabinettspolitik, wie Bismarck sie in seinen<br />

ersten Jahren als preußischer Ministerpräsident noch gemacht<br />

hatte, wurde da unmöglich. Auch deshalb geriet der Weltkrieg<br />

zum ersten modernen „Volkskrieg“: <strong>Die</strong> Massen waren informiert<br />

und wollten mitreden.<br />

Längst fuhr der reiche Landadel in Wien, Berlin und London<br />

im Sommer mit dem eigenen Automobil „auf die Länder“, die Industriellenfamilien<br />

von heute, ob Großkonzerne oder Mittelstand,<br />

legten vielfach in der Hochkonjunktur von 1900 das Fundament<br />

für ihren Reichtum. Das Geld, das heute die Welt regiert, ob in<br />

den USA oder in Europa, ist oft fünf oder sechs Generationen alt,<br />

seine Ursprünge liegen in jener Zeit des aggressiven Wirtschaftswachstums,<br />

zwischen 1815 und 1914 flankiert von einer Politik<br />

der „balance of power“ ohne größere kriegerische Zwischenfälle.<br />

Übrigens etablierte sich auch die Schweiz, um 1850 noch ein bitterarmes<br />

Land, als Nibelungenhort der Reichen und Mächtigen,<br />

die dort ihr Vermögen vor dem kommenden Gewitter in Sicherheit<br />

brachten; Österreichs schöne Kaiserin Elisabeth, die 1898 einem<br />

Mordanschlag zum Opfer fiel, war eine der Ersten, die in der<br />

Schweiz mit sicherem Instinkt ihre Millionen anlegte.<br />

Der Weltkrieg schließlich, der 1914 überraschend und zugleich<br />

von allen erwartet ausbrach, offenbarte vollends, dass man nicht<br />

mehr im 19. Jahrhundert lebte. Schon lange war das Telefon als<br />

erste Wahl in der Telekommunikation in den Ämtern und Kontoren,<br />

aber auch in den Häusern der Wohlhabenden angekommen.<br />

Im Krieg schlug dann die Stunde der drahtlosen Kommunikation.<br />

Wovon Leonardo da Vinci 400 Jahre zuvor geträumt<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 129


| S A L O N | Z E I T E N W E N D E 1 9 1 3<br />

FOTOS: CULTURE IMAGES/FAI, AKG IMAGES<br />

Künstlerische Avantgarde: Wassily Kandinsky (sitzend), Wegbereiter<br />

der Abstraktion, und Mitglieder der Gruppe „Blauer Reiter“<br />

hatte, war nun Realität: Man kämpfte nicht nur zu Wasser und<br />

zu Lande, sondern auch in der Luft und unter Wasser. Luft- und<br />

U-Boot-Waffe entschieden zwar nicht den Krieg, aber sie läuteten<br />

das Zeitalter der modernen Kriegstechnologien ein. Ihre kriegerische<br />

Nutzung wirkte, wie immer, als gewaltiger Katalysator auf<br />

die Entwicklung der Luftfahrt.<br />

Marcel Proust beschrieb in seinem Epos „Auf der Suche nach<br />

der verlorenen Zeit“ mit gruseliger Faszination die ersten deutschen<br />

Bombenangriffe auf Paris. <strong>Die</strong> Eröffnung des uneingeschränkten<br />

U-Boot-Kriegs durch das Deutsche Reich 1917 rief die USA auf<br />

den Plan und legte so eigentlich den Grundstein zur Weltmachtstellung,<br />

die Amerika, einmal aus seinem Isolationismus erwacht, in<br />

kürzester Zeit erringen sollte. Zugleich schuf er die Voraussetzung<br />

für die politische Entwicklung der kommenden 30 Jahre: Was den<br />

verbündeten Engländern und Franzosen auf den Schlachtfeldern<br />

zwischen Kanalküste und Schweizer Grenze in drei Jahren nicht<br />

gelungen war, schafften sie mit Hilfe der materiell himmelhoch<br />

überlegenen Amerikaner in sechs Monaten: Deutschland bat um<br />

Waffenstillstand, verlor seinen Kaiser und seine Landesfürsten und,<br />

wie sich zeigen sollte, seine innere Stabilität. <strong>Die</strong> Geburtsstunde<br />

des „Politikers“ Adolf Hitler hatte geschlagen.<br />

1913 ist das Jahr, in dem alte und neue Zeit einander in finaler<br />

Verdichtung berühren. Als am 24. Mai in der Reichshauptstadt<br />

Franz Marcs Gemälde „Der Turm der blauen Pferde“ stammt aus<br />

dem Jahr 1913 und wurde später als „entartet“ gebrandmarkt<br />

Berlin, die sich längst von der niedlichen biedermeierlichen Residenz<br />

zur Wirtschafts- und Kulturmetropole von internationalem<br />

Rang entwickelt hat, die Hochzeit der Kaisertochter Prinzessin<br />

Viktoria Luise mit dem braunschweigischen Thronprätendenten<br />

Prinz Ernst August von Hannover gefeiert wird, feiert sich zugleich<br />

das alte, monarchische Europa – es sollte die letzte glänzende Zusammenkunft<br />

der europäischen Fürsten sein, an ihrer Spitze Wilhelm<br />

II und seine beiden Cousins, König Georg V von England<br />

und Zar Nikolaus II von Russland. Anlässlich dieses Ereignisses<br />

entstand übrigens der erste Farbfilm und lieferte Bilder von Berlins<br />

festlich geschmücktem Prachtboulevard Unter den Linden,<br />

aufgesessenen Gardekürassieren in schimmernder Rüstung und<br />

mit schwarz-weißen Wimpelchen an ihren Paradelanzen. Auch da<br />

also eine Begegnung von Tradition und Moderne, genauso wie<br />

bei der Verkündung der Mobilmachung ein Jahr später: Mit altmodisch<br />

gesetzten Worten sprach der Kaiser, der den Krieg, genauso<br />

wie seine royalen Vettern, nicht wirklich gewollt hatte, zur<br />

Bevölkerung vor dem Berliner Stadtschloss: „Wir werden kämpfen<br />

bis zum letzten Atemzug von Mann und Ross“ – doch die Rede<br />

wurde mithilfe modernster Technik aufgezeichnet und ist als Tondokument<br />

bis heute überliefert. Und nicht mehr Rösser sollten<br />

im folgenden Krieg die Entscheidung bringen, sondern motorisierte<br />

Einheiten, Panzer und Giftgas.<br />

130 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Jetzt im Handel<br />

Das größte Wunder unserer Zeit:<br />

der Glaube daran.<br />

Weitere Themen<br />

Tiere im Bau<br />

Der Winterschlaf in Bildern.<br />

Berge im Nebel<br />

Mit Stefan Glowacz in den Wänden der Tepui.<br />

Russen im Eis<br />

Energie aus der Arktis.<br />

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GEO. <strong>Die</strong> Welt mit anderen Augen sehen


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<strong>Die</strong> Welt gehört denen,<br />

die schlau sind und<br />

nicht auf klug machen.


Z E I T E N W E N D E 1 9 1 3 | S A L O N |<br />

FOTO: PRIVAT<br />

Nach außen schien alles<br />

unerschütterlich. In den<br />

Hauptstädten aber ahnte<br />

man, dass es mit der<br />

Dominanz der Alten Welt<br />

bald vorbei sein würde<br />

So schließt sich 1913 das Tor zur Vergangenheit Alt-Europas<br />

und öffnet sich zugleich die Tür zu einer neuen Zeit, einer Zeit,<br />

wie es der Historiker Christian Graf von Krockow formulierte, die<br />

nicht mehr „Neuzeit“ ist, sondern eine neue, noch unbekannte<br />

und unbenannte Zeit. 1990 war nicht, wie Francis Fukuyama<br />

schrieb, das Ende der Geschichte, aber 1914 war der Abschluss<br />

der Neuzeit, die mit der Reformation und dem Einzug von Nationalstaat<br />

und Kapitalismus begonnen hatte – und gleichzeitig<br />

Beginn eines neuen Zeitalters, auf dessen Namen man sich wohl<br />

erst in den kommenden Generationen festlegen wird. Wenn wir<br />

Heutige auf 1913 schauen, so sehen wir ein Bild, das unserer Welt<br />

erstaunlich ähnelt, während die Jahrzehnte und Jahrhunderte davor<br />

verblassen, als gehörten sie zu einem anderen, längst vergangenen<br />

und vergessenen Strom in der Weltgeschichte.<br />

Doch die Gemeinsamkeiten zwischen heute und gestern reichen<br />

noch tiefer. 1913 ist das Abschlussjahr des „fin de siècle“, jener<br />

geistigen Strömung, die tief im 19. Jahrhundert, im früh modern<br />

gewordenen Paris erwachte und sich nach und nach über das<br />

ganze zivilisierte Europa ausbreitete. 1913 ist auch das eigentliche<br />

Geburtsjahr einer echten Weltliteratur: Oscar Wilde und Marcel<br />

Proust, Musil, Kafka und der junge Brecht, Schnitzler und Kraus,<br />

Rilke und Trakl, Stefan Zweig sowie, als melancholischer Nachklang,<br />

Joseph Roth – sie zusammen haben das neue Testament<br />

der mitteleuropäischen Literatur geschrieben, in einer Verdichtung<br />

von Stil, Ausdruck und philosophischem Gestus, die niemals<br />

wieder erreicht wurde und die die große Literatur bis in unsere<br />

Tage geprägt hat.<br />

DASSELBE GILT VON BILDENDER KUNST UND MUSIK. Der Expressionismus<br />

öffnete das Tor zu unserer heutigen Wahrnehmung von Kunst,<br />

die sich von der gefälligen Abbildung der Realität verabschiedet<br />

hat, um in die Tiefen der Seele zu steigen mit ihren Schlacken<br />

und ihrer unharmonischen Verbogenheit. Arnold Schönberg verabschiedete<br />

sich mit der Zwölftonmusik vom klassischen Ideal der<br />

Diatonik, wie es seit den Tagen Bachs bis zu Bruckner und Mahler<br />

unerschütterlich gegolten hatte. Wer immer vom 20. Jahrhundert<br />

spricht, bezieht sich auf 1913 und die Vorarbeiten, die damals<br />

die geistige Situation der Zeit prägten und eine Strömung lostraten,<br />

die noch heute, noch nach 100 Jahren, aktiv und mächtig ist.<br />

1913 ist das eigentliche Geburtsjahr der Moderne.<br />

Alles, was den europäischen Menschen von heute prägt und<br />

verstört – die ideologische Orientierungslosigkeit, das Gefühl von<br />

(wie es Hannah Arendt nannte) Weltlosigkeit, von absoluter Freiheit<br />

des Geistes, die aber eben zugleich völlige Halt- und Hilflosigkeit<br />

bedeutet, ist in jenem Schicksalsjahr 1913 angelegt. Unter<br />

ihrem Pionier Sigmund Freud, auf dessen Couch in Wien sich<br />

das halbe Großbürgertum „Kakaniens“ behandeln ließ, etablierte<br />

sich damals die Psychologie, die irrlichternde Wissenschaft von der<br />

menschlichen Seele, die sich bekanntlich keiner Wissenschaft erschließt,<br />

als Leitdisziplin der Moderne. <strong>Die</strong> Philosophie Friedrich<br />

Nietzsches, die keine Philosophie gewesen war, sondern ein einziger<br />

Hilfeschrei des erwachsen und damit standlos gewordenen<br />

modernen Menschen nach Orientierung und Halt, nach Glauben<br />

und Erlösung, beherrschte das europäische Denken in allen seinen<br />

Schattierungen und warf in seinen militanten, rassistischen Verhärtungen,<br />

die langsam, oben wie unten, in Mode kamen, erste<br />

dunkle Schatten. Und die Lehre von Karl Marx breitete sich mit<br />

unheimlicher Geschwindigkeit in der ganzen Welt aus, mit der<br />

Parole Schillers, die sie zur geschichtlichen Wirklichkeit erhob:<br />

„Zu was Besserem sind wir geboren!“<br />

Aber nicht in Europa zündete der bestrickende Gedanke<br />

von der Gleichheit aller Menschen, sondern in den Randmächten<br />

Russland und China – und genau diese Mächte sind es, die<br />

heute, nach 100-jährigem, strammem Aufstieg, nach etlichen Verwerfungen<br />

und ungeheuren Opfern, immer mehr den Ton in der<br />

Weltpolitik angeben. Gemeinsam mit dem Islam, der mit dem<br />

Zerbrechen des Osmanischen Reiches zu seinem geschichtlichen<br />

Selbstbewusstsein gelangte, das heute mit unheimlicher Macht<br />

seine Stimme erhebt. An diesem Zerbrechen aber, das in der Zeit<br />

Napoleons, 100 Jahre zuvor, seinen Anfang genommen hatte und<br />

dann schließlich auf dem Balkan seinen Kulminationspunkt erreichte,<br />

entzündete sich wiederum 1914 der Erste Weltkrieg – auch<br />

hier schließt sich der Kreis zwischen damals und heute, da der<br />

Orient durch die arabische Revolution endgültig das postkoloniale<br />

Zeitalter hinter sich lässt.<br />

<strong>Die</strong> Welt von 1913 war, wie der Heilige Augustinus<br />

1<strong>500</strong> Jahre zuvor, an einem anderen Epochenbruch, geschrieben<br />

hatte, „wie in einem Kelter“: Alles wurde infrage gestellt,<br />

alles durcheinandergewirbelt, Stabilität gab es nur noch äußerlich,<br />

in den wankenden Machtgebilden, die das 19. Jahrhundert<br />

hinterlassen hatte, die aber keinen wirklichen Halt mehr gaben,<br />

was die Eliten dieser Mächte am besten wussten. Der Sturm, der<br />

damals in den Höhlen hauste, um im Jahr des Kriegsausbruchs<br />

1914 loszubrechen, fegt auch heute noch durch die Welt, freilich<br />

mit anderer Richtung und mäßiger Geschwindigkeit. Doch die<br />

Ungewissheit von damals ist geblieben, mitsamt jenem brisanten,<br />

krisenhaften Gefühlscocktail aus Nervosität und Lethargie, aus<br />

Selbstbewusstsein und Angst, aus Aufklärung nach außen und<br />

Hilflosigkeit nach innen. Das abgeklärte Wissen um die Souveränität<br />

des Menschen in einer Weltgeschichte ohne göttliche<br />

Eingriffe, dieses Erbteil des 19. Jahrhunderts, haben wir bezahlt<br />

mit dem bangen Nichtwissen, wohin uns diese Geschichte führen<br />

wird – 1913 wie 2013.<br />

KONSTANTIN S AKKAS<br />

studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte.<br />

Als freier Autor schreibt er regelmäßig für <strong>Cicero</strong><br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 133


| S A L O N | B E N O T E T<br />

Eine Suite von<br />

Benjamin Britten<br />

Auch unser Kolumnist kennt Geschenkestress.<br />

Und erinnert sich an eine Anekdote des Jahrhundert-Cellisten<br />

Mstislaw Rostropowitsch<br />

V ON D ANIEL H O P E<br />

S<br />

OBALD DIE TAGE KÜRZER WERDEN, beginnt man sich über<br />

eine der großen Menschheitsfragen Gedanken zu machen:<br />

Was schenkt man bloß zu Weihnachten? Es gibt<br />

natürlich auch noch andere Welträtsel, die dringend gelöst werden<br />

müssten – „Wie war das mit dem Urknall?“ zum Beispiel. Aber<br />

kaum eine, die einen so beschäftigt. Erledigt man die Einkäufe<br />

bereits im Herbst und lässt sie gemütlich im Schrank verstauben?<br />

Oder gönnt man sich den Last-Minute-Stress am 24. Dezember?<br />

Spätestens Anfang des neuen Jahres, nachdem man die Festivitäten<br />

glimpflich überstanden hat, fragt man sich trotzdem, ob das<br />

eine oder andere Geschenk tatsächlich das richtige gewesen ist.<br />

Eine der schönsten Geschichten über das beinahe perfekte<br />

(Weihnachts-)Geschenk wurde mir vor Jahren vom legendären<br />

Cellisten Mstislaw Rostropowitsch gebeichtet. „Slava“, wie ihn<br />

fast die halbe Welt liebevoll nannte, gehörte nicht nur dank seines<br />

fulminaten Spiels, sondern auch aufgrund seiner ebenso fulminanten<br />

Persönlichkeit zu den inspirierendsten Menschen des<br />

20. Jahrhunderts. Bei seinem viel zu frühen Tod im Jahr 2007 hinterließ<br />

er eine riesige Lücke in der Musikwelt, die bisher niemand<br />

füllen konnte. Er war eng befreundet mit den größten Komponisten<br />

seiner Zeit, von Prokofjew und Schostakowitsch bis hin zu Leonard<br />

Bernstein und Witold Lutosławski, die allesamt Werke für<br />

ihn geschrieben haben. Fast jeder Musiker, mich eingeschlossen,<br />

hat ihn bewundert und geliebt. 1971 wurde vom sowjetischen<br />

Regime ein Ausreiseverbot über ihn verhängt, weil er den Literaturnobelpreisträger<br />

Alexander Solschenizyn bei sich zu Hause<br />

aufnahm. 1974 kehrte er der Sowjetunion den Rücken und setzte<br />

sich auf bewundenswerte Art und Weise für die Demokratie und<br />

die Menschenrechte ein. Seine Gagen ließ sich Rostropowitsch<br />

gern in bar auszahlen, und er hat des Öfteren eine Brieftasche dafür<br />

verlangt. Wenn er in Italien spielte, wurde er in Lire bezahlt –<br />

und eine Brieftasche reichte nicht aus. Ich habe mich oft gefragt,<br />

was er wohl mit den ganzen Brieftaschen gemacht hat.<br />

Einmal kam Slava spontan zu uns zu Besuch. Er konnte die<br />

tollsten Geschichten erzählen, und ich liebe es, solchen grandiosen<br />

Persönlichkeiten Anekdoten zu entlocken. Also öffnete ich<br />

eine Flasche Wodka und bat ihn, uns eine Geschichte zu erzählen.<br />

„Mein geliebter Danuschka“, sagte er, „du brauchst nie zu fragen.<br />

Slawitschka sagt doch immer Ja!“<br />

„Dann“, sagte ich, „erzähle uns bitte etwas über den Komponisten<br />

Benjamin Britten.“<br />

„Oh, mein Freund Ben“, antwortete Slava mit breitem Grinsen.<br />

„Ich erzähle dir, wie ich das beste Weihnachtsgeschenk meines<br />

Lebens bekam. Wir waren in Aldeburgh, Brittens Festival.<br />

Britten kam zu mir und sagte: Slava, wir haben gerade eine Nachricht<br />

vom Buckingham Palace bekommen. Lady Mary Frances Bowes-<br />

Lyon, die Schwester der Königinmutter, wird übermorgen hier sein.<br />

Sie kommt ins Konzert, und danach gibt es einen Empfang. Ich war<br />

ein einfacher russischer Junge, hatte noch nie ein Mitglied eines<br />

Königshauses kennengelernt und war sehr aufgeregt. Für mich,<br />

da sie die Schwester der Königinmutter war, war sie eine Prinzessin.<br />

Eine Prinzessin wie Tschaikowskis Dornröschen! Ich konnte<br />

die ganze Nacht nicht schlafen und überlegte, wie ich mich verhalten<br />

sollte, wenn ich sie kennenlernen würde. Sollte ich mich<br />

verbeugen, wenn ich vor sie trat? Ich kam auf eine fantastische<br />

Idee. Ich würde eine Pirouette machen! Ich übte es in meinem<br />

Zimmer. Am nächsten Tag kam ich wieder mit Britten zusammen<br />

und sagte: Ben, ich habe mir etwas überlegt. Ich werde der Prinzessin<br />

meine Hand geben und einen Ehrentanz machen.<br />

Darauf Britten: Was meinst du mit Ehrentanz?<br />

Ich: Ich werde es dir vorführen. Und ich führte es vor.<br />

Britten war entsetzt: Bist du wahnsinnig, das geht nicht!<br />

Ich: Doch, das mache ich. Ich werde zum ersten Mal eine richtige<br />

Prinzessin kennenlernen, und ich werde das machen.<br />

Britten: Nein, Slava, das geht nicht. Das wird ein Skandal.<br />

Britten sah, dass es mir ernst war und fragte: Was kann ich tun,<br />

damit du es nicht machst?<br />

Ich: Du kannst mir eine Suite für Solocello komponieren!<br />

Britten: Das ist doch lächerlich. Ich bin schließlich nicht Bach.<br />

Ich: Eine Suite für Solocello – oder ich mache diese Pirouette.<br />

Am nächsten Tag erschien Prinzessin Mary in Aldeburgh. <strong>Die</strong><br />

Hofdamen stellten mich vor: Your Royal Highness, das ist Mstislaw<br />

Rostropowitsch. Ich sank fast auf die Knie, sah noch einmal zu Britten<br />

und flüsterte: Ben, eine Suite für Solocello!“<br />

Weihnachten 1964 hat Rostropowitsch sie bekommen.<br />

D ANIEL H O P E ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband<br />

„Familien stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch<br />

„Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt)<br />

und die CD „Recomposed by Max Richter – Vivaldi, The four<br />

Seasons“ (Deutsche Grammophon). Er lebt in Wien<br />

ILLUSTRATION: ANJA STIEHLER/JUTTA FRICKE ILLUSTRATORS<br />

134 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Elegant durch das Jahr 2013<br />

Der <strong>Cicero</strong>-Kalender<br />

Der Original-<strong>Cicero</strong>-Kalender<br />

Mit praktischer Wochenansicht auf einer Doppelseite<br />

und herausnehmbarem Adressbuch. Begleitet<br />

von Karikaturen, bietet der Kalender viel Platz für<br />

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K Ü C H E N K A B I N E T T | S A L O N |<br />

ILLUSTRATION: THOMAS KUHLENBECK/JUTTA FRICKE ILLUSTRATORS; FOTO: ANTJE BERGHÄUSER<br />

Ende mit<br />

Schrecken<br />

<strong>Die</strong> Crème Brûlée verteidigt seit bereits mehr als<br />

20 Jahren ihren Titel als Nachtisch der Stunde.<br />

Aber jetzt kündigt sich eine Zeitenwende an<br />

V ON JULIUS G RÜTZ KE UND T HOMAS PLATT<br />

K<br />

EIN VERDIKT KANN SO VERNICHTEND SEIN wie die Bezeichnung<br />

eines kulturellen Phänomens als „Mode“. Das<br />

schmähende Etikett unterstellt, dass es sich nur um eine<br />

Laune handelt, die eine längere Aufmerksamkeit nicht verdient,<br />

weil sie ohnehin vergeht, ehe noch eine Theorie dazu entwickelt<br />

werden könnte. Dabei lassen sich gerade aus den wechselnden<br />

Moden wertvolle Erkenntnisse zur Verfassung von Epochen gewinnen.<br />

<strong>Die</strong> Speisekultur macht da keine Ausnahme.<br />

Besonders beim Dessert, das ja immer auch eine Belohnung<br />

darstellt für den fleißigen Esser, der seinen Hunger mit salzigen<br />

Speisen bereits besiegt hat, können sich kulinarische Neuheiten<br />

prägnant entwickeln. Zum Beispiel die Mousse au chocolat: Heute<br />

spielt dieses schwere und etwas eintönige Dessert kaum noch eine<br />

Rolle und fristet im Kühlregal ein Schattendasein. Aber in den<br />

siebziger Jahren hatte jeder, der etwas auf sich hielt, ein eigenes<br />

Rezept für die Schokoladenmousse. <strong>Die</strong> mit Ei und Sahne auf Volumen<br />

gebrachte Schaumspeise symbolisiert geradezu eine Zeit,<br />

die vom Rückzug in eine üppige Häuslichkeit geprägt war. <strong>Die</strong><br />

Grenzen des Wachstums schienen erreicht zu sein, der revolutionäre<br />

Aufbruch war in die Institutionen marschiert und hatte<br />

sich in behördlichen Planstellen verfestigt. Analog zur politischen<br />

Bewegungslosigkeit betäubte sich das Bürgertum zu orchestralen<br />

Klängen aus teuren Hi-Fi-Anlagen mit der Kalorienbombe, nach<br />

deren Verzehr man sich auf dem Schlafsofa zur Ruhe bettete.<br />

Nach dem Regierungswechsel der achtziger Jahre änderte sich<br />

nicht nur das politische Personal, sondern vor allem die Lebenshaltung:<br />

<strong>Die</strong> Menschen legten die Angst vor dem Ungewissen ab<br />

und tanzten der Zukunft mit dem Walkman entgegen. Als adäquate<br />

Süßspeise bereitete man eine Spezialität mit reichlich aufputschendem<br />

Kaffee zu. Das Tiramisu aus der verdickten Sahne<br />

Mascarpone mit Biskuit und viel Kakaopulver ist zwar nicht<br />

minder mächtig als die französische Schokoladenspeise, macht<br />

aber mit Espresso und Kaffeelikör Lust auf eine lange Nacht. Als<br />

Hinwendung zum deutschen Sehnsuchtsland Italien begleitete<br />

sie auch den Aufstieg der Toskanafraktion.<br />

Nach dem Mauerfall setzte wieder eine große Unsicherheit<br />

ein. <strong>Die</strong> bipolare Welt war Vergangenheit, eine neue Ordnung<br />

ließ auf sich warten. Beim Nachtisch wollte man da keine Experimente<br />

wagen. <strong>Die</strong> Crème Brûlée ist ein ganz simples Dessert,<br />

das keine Fragen aufwirft – nicht viel mehr als eine Vanillecreme,<br />

die mit einer frisch abgeflämmten Karamellschicht interessant gemacht<br />

wird. Der Kontrast zwischen dem heißen und krossen Zuckerbrand<br />

und der glatten, kalten Creme darunter macht nicht<br />

nur einen kulinarischen Reiz aus, er steht auch für ein Unterhaltungsbedürfnis,<br />

das die Berliner Republik kennzeichnet. Rückblickend<br />

klingt das Rezept wie ein gekochter Kommentar auf das<br />

Versprechen von Gerhard Schröder, er werde nicht alles anders,<br />

aber vieles besser machen als sein Vorgänger. <strong>Die</strong> zunehmende<br />

Vereinzelung der Ego-Gesellschaft findet in der Darreichungsform<br />

der Crème Brûlée ihre Entsprechung. Sie lässt sich nicht<br />

mehr in Schüsseln oder Lasagneformen zu einer Party mitbringen<br />

und dann mit Freunden teilen, sondern muss in einzelnen<br />

Portionen zubereitet und serviert werden.<br />

Seit dem Aufkommen der Crème Brûlée sind nun bereits mehr<br />

als 20 Jahre vergangen. Warum noch kein neuer Trend an ihre<br />

Stelle getreten ist, obwohl sie inzwischen längst als Geschmacksrichtung<br />

von Joghurt und Speiseeis existiert, erscheint zunächst<br />

rätselhaft. Bisher hatten sich die Moden seit dem Krieg alle zehn<br />

Jahre gewandelt – angefangen beim Wackelpudding der Fünfziger.<br />

Gut möglich, dass die lange Regentschaft der Crème Brûlée eine<br />

Rampe für eine große Umwälzung bildet. Am Horizont zeichnet<br />

sich bereits die neue Richtung ab. In der Avantgarde von Küchen<br />

und Kochlaboratorien werden immer häufiger Elemente aus der<br />

salzigen Küche in die Confiserie transponiert. Das passt zur Banken-<br />

und Rentenkrise: Das Dessert verliert seine Sonderstellung<br />

als Abschluss des Menüs und muss demnächst auch zur Sättigung<br />

beitragen. Wer seinen Ruhestand als Dessert des Arbeitslebens<br />

angesehen hat, wird am Schicksal des Nachtischs bald erkennen,<br />

wem die Stunde geschlagen hat.<br />

JULIUS G RÜTZ KE und T HOMAS PLATT<br />

sind Autoren und Gastronomiekritiker.<br />

Beide leben in Berlin<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 137


„Ich habe eine<br />

praktische Sammlung“:<br />

Als Direktor der Anna-<br />

Amalia-Bibliothek<br />

kann Michael Knoche<br />

in den eigenen vier<br />

Wänden auf kostbare<br />

Bücher verzichten<br />

138 <strong>Cicero</strong> 1.2013


B I B L I O T H E K S P O R T R Ä T | S A L O N |<br />

VOM GERUCH VERFÜHRT<br />

Wie Michael Knoche Direktor der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar wurde, ist eine Geschichte für<br />

sich – in seiner privaten Bücherwand residiert Homer aus Prinzip ganz oben auf der linken Seite<br />

V ON EVA GESINE BAUR<br />

FOTO: CHRISTOPH BUSSE FÜR CICERO<br />

H<br />

INEINZUKOMMEN IST NICHT LEICHT. Weder ins Innere der<br />

Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar noch in<br />

das ihres Direktors Michael Knoche dringt der Neugierige<br />

ungehindert vor. <strong>Die</strong> Katastrophe vor acht Jahren<br />

hat ihn wie sein Haus berühmt gemacht. Privatadresse<br />

geheim halten, schärft mir sein Büro ein. Und hinterher<br />

vernichten.<br />

Der Mann, der die Wohnungstür im Hochparterre einer Jahrhundertwendevilla<br />

öffnet, trägt freundliche Dezenz und einen Gesichtsausdruck,<br />

der so wenig über ihn zu verraten scheint wie die<br />

Wohnung. Sehr aufgeräumt wirkt beides. „Ich verfolge mit meiner<br />

Bibliothek hier zu Hause keine bibliophilen Interessen“, sagt Knoche.<br />

„Ich habe eine praktische Sammlung. Fürs Bibliophile habe<br />

ich ja die Bibliothek. Hier befindet sich nur das, was ich brauche.“<br />

Wäre er seinem Vater nachgeschlagen, Verwaltungsdirektor<br />

im Krankenhaus, bräuchte er fast gar nichts zwischen Buchdeckeln.<br />

Er geriet jedoch der Mutter nach. Sie war Krankenschwester<br />

und vererbte ihm nicht durch ihre Gene, sondern<br />

durch ihr Vorbild, was ihn prägt: die Leidenschaft fürs Lesen.<br />

Schon ihr Vater, sagt Knoche, war „ein Bücherverrückter. Von<br />

Thomas Mann kannte er jede Seite.“ Sein Beruf? „Arbeiter bei<br />

Krupp. Jahrgang 1898, überzeugter Kruppianer. In Essen gab<br />

es ja die Krupp’sche Lesehalle.“<br />

Wie sein Enkel, geboren im sauerländischen Werdohl, aufgewachsen<br />

in Leverkusen und Düsseldorf, vom Nutzer örtlicher<br />

Leihbibliotheken zum Direktor der berühmtesten Bibliothek<br />

Deutschlands wurde, hört sich an wie die Erfolgsgeschichte eines<br />

Blenders. Der promovierte Germanist war 39 und hatte vier Jahre<br />

als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Fachbuchverlag Springer<br />

in Heidelberg gearbeitet, als er in einer Fachzeitschrift an einer<br />

Stellenanzeige hängen blieb: „In der Zentralbibliothek der deutschen<br />

Klassik an den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten<br />

der klassischen deutschen Literatur in Weimar ist die Stelle<br />

eines Direktors neu zu besetzen.“ Gefordert waren „langjährige<br />

Erfahrungen“, und zwar „in Leitungsaufgaben“. Knoche, darin<br />

nicht einmal kurzjährig erfahren, bewarb sich trotzdem. Das Datum<br />

macht deutlich, mit welcher Bereitschaft zum Verzicht: Es<br />

geschah zwar nach dem Fall der Mauer, doch noch gehörte Weimar<br />

zur DDR. „Für mich bis dahin ein Polizeistaat, mit dem ich<br />

nichts zu tun haben wollte.“ Mit dem ihn auch nichts verband,<br />

weder familiäre Beziehungen noch Freundschaften. Aber er liebte<br />

die beschriebenen Wirklichkeiten aus dem anderen Teil Deutschlands,<br />

wie er sie aus Büchern kannte: aus der Prosa von Uwe Johnson<br />

und Christa Wolf und aus den Gedichten von Wulf Kirsten.<br />

Sie alle drei sind für einen Fremden schwer aufzufinden in der Bibliothek<br />

des Direktors. Privat sortiert er nämlich nicht alphabetisch,<br />

sondern chronologisch. Kirsten, Jahrgang 1934, wohnt ganz<br />

unten rechts. Als Antipode zu Homer, geschätzter Jahrgang 850<br />

vor unserer Zeitrechnung, der ganz oben links haust.<br />

Knoches Bewerbung ins Woher des Wulf Kirsten war zuerst<br />

liegen geblieben, wurde nach der Vereinigung jedoch rasch aufgegriffen<br />

und angenommen. Enthält seine Bibliothek einen Hinweis<br />

darauf, was oder wer ihn dazu trieb, für eine Vergütung, die<br />

nur 60 Prozent der westlichen betrug, in eine Stadt zu ziehen, die<br />

sich wie so viele damals kurz vor dem Zusammenbruch in den<br />

Umbruch gerettet hatte? Wo es, wie sich Knoche erinnert, kaum<br />

Mietwohnungen gab, aus den Schornsteinen schwefelgelber Rauch<br />

von Rotbraunkohle stieg, Abgasschwaden der Zweitaktmotoren<br />

den Himmel verdunkelten, und die Verkehrsverbindungen so wenig<br />

funktionierten wie die Telefonverbindungen?<br />

Einer vor allem hatte ihn verlockt. Einer, der nun so nah ist,<br />

aber nicht leicht erreichbar: Goethe steht so, dass Knoche nur mit<br />

der Leiter herankommt, Nachteil der frühen Geburt. „In dieser<br />

Hinsicht ist meine Ordnung dumm“, sagt er und blickt mit gerunzelter<br />

Stirn ins obere Regaldrittel. „Goethes Briefe könnte ich<br />

täglich lesen. Und seit ich Weimar kennengelernt habe, sind sie ein<br />

noch tieferes Erlebnis. Ich kenne jeden Stuhl, jeden Salon, jeden<br />

Weg, jede Treppe.“ Auch in den „Wahlverwandtschaften“ öffnen<br />

sich ihm ständig neue Fenster. „Sie sind ja nicht genau lokalisierbar,<br />

aber es steigen sofort Bilder auf, wenn man die Umgebung<br />

hier, wenn man Tiefurt und Großkochberg kennt.“ Vor allem aber<br />

steht Wilhelm Meister viel zu hoch. „Ich habe bei keinem Buch<br />

die Erfahrung gemacht, dass man es beim Wiederlesen derart unterschiedlich<br />

erleben kann, wie bei diesem.“ Knoche verstummt<br />

kurz und lächelt dann hinter einer Gedankenwolke hervor. „Goethe<br />

ist immer unglaublich frisch.“<br />

Anders das, was Bibliotheken ausdünsten. „Ein Whisky-Hersteller<br />

hat einmal das Bouquet seines Malt beschrieben als Anna-<br />

Amalia-Bibliotheksgeruch.“ Der Duft der alten Bücher hat für<br />

Knoche eine besondere Bedeutung. Mit 18 besuchte er einen<br />

Freund in Münster, der Jesuit werden wollte, und geriet in die<br />

dortige Klosterbibliothek. „Der Geruch, der mir in die Nase stieg,<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 139


| S A L O N | B I B L I O T H E K S P O R T R Ä T<br />

hat mich fasziniert.“ Und ihn verführt, Bibliothekar zu werden.<br />

„Ein Bücherparadies“ nennt Knoche diesen Ort seiner Bestimmung.<br />

Teilt er die Vision von Jorge Luis Borges, der gestand, er<br />

stelle sich das Paradies als Bibliothek vor?<br />

„Ach, das ist nicht besonders originell“, sagt er mit einem Zucken<br />

des Mundwinkels. Wenn er Besucher persönlich durch den<br />

Rokokosaal der Anna-Amalia-Bibliothek führt und sie ihm verschwörerisch<br />

zuflüstern: „Wissen Sie, wovon ich heimlich träume?“,<br />

sagt er: „Ja, das weiß ich: Sie wollen hier mal über Nacht eingeschlossen<br />

werden.“ Wie erklärt er sich das Phänomen, dass Bibliotheken<br />

und alte Bücher, in der Literatur wie in der Wirklichkeit,<br />

solches Interesse finden? „Ganz einfach: Im<br />

Zeichen digitaler Verfügbarkeit von Inhalten<br />

wächst die Magie der Originale“, sagt er trocken.<br />

Und liefert zwischen zwei Schlucken<br />

Tee den Satz ab, der die Unersetzbarkeit des<br />

Buches besser erfasst als tausendseitige Abhandlungen:<br />

„Wenn wir etwas über die Vergangenheit<br />

sagen wollen, müssen wir sie in<br />

ihren Produkten wahrnehmen.“<br />

Wertvoll werden für ihn Bücher durch<br />

die Verknüpfungen mit dem eigenen Leben.<br />

„Besonders viel wert sind mir solche, in die<br />

mir der Autor etwas reingeschrieben hat.“ Er<br />

zeigt mir Martin Mosebachs Roman „Das<br />

Beben“, Ingo Schulzes Roman „Neue Leben“<br />

und Gedichtbände, die ihm handschriftlich<br />

ausführlich gewidmet sind. Durs Grünbeins<br />

„Erklärte Nacht“ und Wulf Kirstens „Erdlebenbilder“.<br />

„Eigentlich komme ich vom Roman<br />

her, in dem man sich verlieren kann. Lyrik ist Übungssache.<br />

Man muss sehr viel Lyrik gelesen haben, um herauszufinden, was<br />

einen angeht.“<br />

Am 2. September 2004, um halb neun Uhr abends, rief ein<br />

Angestellter den Direktor zu Hause an. „<strong>Die</strong> Bibliothek brennt.<br />

Wollen Sie kommen?“ Was sich zum größten Bibliotheksbrand im<br />

Nachkriegsdeutschland ausweiten sollte, mehr als 50 000 Bücher<br />

umbrachte und mit 380 000 Litern Löschwasser weitere Zigtausende<br />

lebensgefährlich verletzte, forderte eine Qualität, die laut<br />

Knoche nicht ihn, sondern alle in seinem Beruf auszeichnet: „Bibliothekare<br />

sind cool.“ <strong>Die</strong> Feuerwehr sagte ihm, er habe mit seinen<br />

Leuten nur bis zehn Uhr Zeit für die Bergung. Dann müsse<br />

das Haus geräumt sein, weil voraussichtlich der Dachstuhl einbreche.<br />

„Ich habe mich wie ein Sanitäter gefühlt, der an die Unfallstelle<br />

gerufen wird und sieht: Überall ist jetzt Hilfe nötig. Aber ich<br />

muss mich entscheiden, wo sie am <strong>wichtigsten</strong> ist.“ Als er schließlich<br />

mit seiner Mannschaft vor dem brennenden Gebäude stand,<br />

rannte der Direktor nochmals zurück. „Ich hatte vergessen, den<br />

<strong>wichtigsten</strong> Schatz der Anna-Amalia-Bibliothek zu retten.“ Was er<br />

herausschleppte, waren zwei Bände mit Holzdeckeln, in schweres<br />

Rindsleder gebunden, aus dem Jahr 1534: die Lutherbibel. „Zu der<br />

habe ich eine sehr enge emotionale Beziehung.“ In seiner Hausbibliothek<br />

liegt der Nachdruck, 2002 bei Taschen erschienen. „<strong>Die</strong>se<br />

Rettung war für mich nicht mehr als eine Episode von vielen, von<br />

Hunderten, aber es ist mir lieb, dass sie an mir haftet.“ Dass er dafür<br />

nicht nur gefeiert wurde, sondern auch anonym verleumdet,<br />

selbst der Brandstifter gewesen zu sein, nimmt er achselzuckend<br />

Jugendliteratur ist auch vorhanden: Franz<br />

Seinsches „Blinkfeuer über der Ostsee“<br />

hin. „Mir war klar, dass man da Fantasie aller Art auf sich zieht.“<br />

Bibliothekare sind eben cool.<br />

„Wer während der Arbeit liest, ist verloren“, sagt Michael Knoche.<br />

Außerhalb ist das Sichverlieren erlaubt. In der Ausbildungszeit<br />

in Karlsruhe hatte er die Nächte durchgelesen. „Ich konnte mich<br />

kaum beruhigen nach all den Anregungen, die tagsüber auf mich<br />

einstürzten.“ Damit genügend Zeit für Lektüre bleibt, blendet<br />

Knoche Ablenkungen radikal aus und lebt ohne Fernsehen. Jede<br />

Art des Zappens ist ihm fremd, Drinbleiben in einer Geschichte<br />

ein Anliegen. Bei einem Buch, das er im Urlaub gelesen hat, erinnert<br />

er sich daran, ob er am Ort des Geschehens weilte, der so<br />

den Inhalt verdichtete, oder an einem ganz<br />

anderen Ort, wo sich das Buch stärker erweisen<br />

konnte als die Reize der schönsten Gegend.<br />

Fontanes „Vor dem Sturm“ war ein<br />

solches Buch, das über Meer und Sand und<br />

Schlösser siegte.<br />

Am Tag unseres Gesprächs noch fährt er<br />

nach Südtirol. Nun bekommen Heimito von<br />

Doderers „<strong>Die</strong> Dämonen“ die Chance, Michael<br />

Knoche den Wanderwegen abspenstig<br />

zu machen. Wenn sie mit ihm zurückkehren,<br />

werden sie trotz achtsamer Behandlung Spuren<br />

zeigen, und das findet er gut so. Besitzt er<br />

Werke wie die von Gottfried Keller in zwei<br />

Ausgaben, ist ihm die benutzte näher als die<br />

neue. Für Knoche sind Veränderungen die<br />

Indizien des Gelebten. Er meidet aus diesem<br />

Grund als Privatmann nicht nur E-Books, er<br />

meidet auch Klassentreffen. „Weil dann jeder<br />

einen als den Alten wiedererkennen will. Aber ich will nicht<br />

mehr der Alte sein. Ich möchte der Veränderte sein, als den ich<br />

mich erfahre.“ Für sein Gewordensein gibt er Weimar die Verantwortung.<br />

„Ich wäre als Lehrer in Südwürttemberg heute ein ganz<br />

anderer. Seit ich in Weimar bin, bin ich bei mir selber.“ Doch gehört<br />

zu dem Geisteshimmel dieser Stadt nicht auch die Hölle vor<br />

den Toren namens Buchenwald?<br />

Auf Knoches Schreibtisch liegt „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon.<br />

Und daneben ein Buch über wissenschaftliche Bibliothekare<br />

im Nationalsozialismus. Er hat das Buch herausgegeben und daran<br />

mitgeschrieben. „Anfangs habe ich mich gefragt: Was sollen<br />

die schon verbrochen haben? Aber beim genauen Hinsehen zeigte<br />

sich: Es war ziemlich viel.“ Er senkt den Blick. Als er ihn hebt,<br />

sagt er: „Aber ich betrachte das nicht aus moralischer Sicht. Ich<br />

will die Mechanismen verstehen.“<br />

Bibliothekare sind cool. Es sei denn, sie dächten an Bücher,<br />

die ihnen fehlen. In vier Jahren dräut dem Direktor die Pensionierung.<br />

„Wenn ich nicht mehr im Amt bin, muss ich meine private<br />

Bibliothek gewaltig ausbauen.“ Er stöhnt leise. „Stellen Sie sich<br />

vor: Mir fehlt sogar der Don Quichotte. Und zu leben, ohne einen<br />

Don Quichotte in der Nähe, kann ich mir nicht vorstellen.“<br />

E VA G ESINE B AUR<br />

schreibt Bücher, die von Musik handeln. Soeben<br />

erschien unter ihrem Pseudonym Lea Singer der<br />

Roman „Verdis letzte Versuchung“<br />

FOTOS: CHRISTOPH BUSSE FÜR CICERO, PRIVAT (AUTORIN)<br />

140 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Ab 40 ist das<br />

Ende nah.<br />

unnötiger<br />

Selbstzweifel<br />

Jetzt<br />

im<br />

Handel


| S A L O N | D A S S C H W A R Z E S I N D D I E B U C H S T A B E N<br />

Recht haben,<br />

bis der Arzt kommt<br />

Tuvia Tenenbom, Ulrike Meinhof, Christoph Schlingensief:<br />

neue Bücher über den schaurigen Narzissmus der Deutschen<br />

D IE B ÜCHERKOLUMNE VON R OBIN D ETJ E<br />

T<br />

UVIA TENENBOM, Sohn einer<br />

deutsch-jüdisch-polnischen Familie<br />

und Gründer des „Jewish Theater<br />

of New York“, findet die Deutschen<br />

doof, und das auf sehr lustige Weise. Er ist<br />

durchs ganze Land gereist und hat Normalos<br />

und berühmte Menschen getroffen,<br />

Gutmenschen, Nazis und Türken, Komiker<br />

und Altbundeskanzler. Er hat einen<br />

sehr komischen, aber auch sehr traurigen<br />

Bericht darüber geschrieben, und dann<br />

wurde es richtig komisch: Der Rowohlt-<br />

Verlag, der diesen Bericht in Auftrag gegeben<br />

hatte, wollte ihn plötzlich nicht mehr<br />

haben. Es gab ein wenig Skandal, als „jüdischer<br />

Hysteriker“ soll der Autor in einem<br />

Verlagsgutachten betitelt worden sein (was<br />

angeblich nett gemeint war), und jetzt ist<br />

das Buch bei Suhrkamp erschienen. Und<br />

siehe, es war gut. (Tuvia Tenenbom: „Allein<br />

unter Deutschen“; aus dem Englischen<br />

von Michael Adrian; Suhrkamp, Berlin<br />

2012; 431 Seiten, 16,99 Euro; als E-Book<br />

14,99 Euro.)<br />

<strong>Die</strong> Deutschen, denen Tuvia Tenenbom<br />

begegnet ist, saufen unendlich viel<br />

Bier. Ihre Autofabriken sind Kirchen.<br />

Sie wollen immer Kuschelkonsens. Und<br />

sie wollen nicht zu genau über die Dinge<br />

nachdenken. Eine Meinung haben sie immer<br />

schon, Fakten stören sie nur. Besonders<br />

wenn es um Israel geht. Israel geht gar<br />

nicht. <strong>Die</strong> Deutschen wollen den Judenmord<br />

nämlich wiedergutmachen, indem sie<br />

die Palästinenser als die neuen guten Juden<br />

vor den Israelis schützen, den bösen alten<br />

Juden. <strong>Die</strong>ses Deutschland, das Tenenbom<br />

erlebt, hat keinen Kern. Eine Imagekampagne<br />

(„Völkisches Deutschland – Herrscher<br />

der Welt“) ist in die Hose gegangen<br />

und einfach durch eine andere ersetzt worden<br />

(„Braves Deutschland – Großer bunter<br />

Streichelzoo“). Aber wer dumme Fragen<br />

stellt, hört dieses Deutschland ganz leise<br />

„Wir können auch anders“ knurren.<br />

Am Ende gesteht Tenenbom: „Ich kann<br />

die Deutschen nicht lieben.“ Er hasst ihr<br />

Musterschülertum, ihren heimlichen oder<br />

offenen Antisemitismus, „ihr ständiges<br />

Bedürfnis, geliebt und beglückwünscht zu<br />

werden, und ihre vorgebliche Rechtschaffenheit“.<br />

Und schließt: „<strong>Die</strong> Deutschen,<br />

entschuldigen Sie die Verallgemeinerung,<br />

würden absolut alles dafür tun, gut auszusehen,<br />

schön rüberzukommen, klug zu wirken.<br />

Aber wer sind sie in Wirklichkeit? Sie<br />

sind das narzisstischste Volk auf Erden.“<br />

Er hat diesen Schluss sehr unterhaltsam<br />

belegt.<br />

***<br />

Kurzer Lesetipp für alle, die das Thema<br />

„Deutscher Narzissmus“ ins Ideologische<br />

vertiefen wollen: Ein schwedischer Roman<br />

über Ulrike Meinhof ist auf Deutsch erschienen.<br />

(Steve Sem-Sandberg: „Theres“; Roman,<br />

aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek;<br />

Klett-Cotta, Stuttgart 2012; 391 Seiten,<br />

22,95 Euro; als E-Book 17,99 Euro.) Da<br />

ILLUSTRATION: CORNELIA VON SEIDLEIN<br />

142 <strong>Cicero</strong> 1.2013


FOTO: LOREDANA FRITSCH<br />

Anzeige<br />

wird das Quellenmaterial literarisch aufgeschüttelt<br />

und verwirrt, bis wir es verstehen.<br />

Da treten die Terroristin und ihr Verfolger<br />

Horst Herold im Grunde gegeneinander<br />

an wie King Kong und Godzilla in einem<br />

japanischen Monsterfilm – irrtümlich aufgetaut<br />

aus dem ewigen Eis des Hitlertums<br />

mit seinem ganzen Pathos und seiner klirrenden<br />

Gewalttätigkeit. Und beide haben<br />

sie gnadenlos recht. Und nur einer von beiden<br />

kann siegen. Und … es ist einfach zum<br />

Schaudern. Brrr!<br />

***<br />

Der vor etwas über zwei Jahren viel zu jung<br />

verstorbene Künstler Christoph Schlingensief<br />

hat den deutschen Narzissmus entweder<br />

auf unvergleichliche Weise verkörpert<br />

oder zum Ausdruck gebracht. Oder beides<br />

– man weiß es nicht recht. Ein neues<br />

Buch mit abgetippten Tonbanddiktaten,<br />

herausgegeben von seiner Witwe Aino Laberenz,<br />

erlaubt eine Wiederbegegnung mit<br />

dieser Unklarheit und dem leisen Unwohlsein,<br />

das sie erzeugt. <strong>Die</strong> Texte sind rührend<br />

wirr und wollen dabei immer auch Rührung<br />

erzeugen. Auch die Fotos sind rührend,<br />

besonders die Kinderbilder. (Christoph<br />

Schlingensief: „Ich weiß, ich war’s“;<br />

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012; 304 Seiten,<br />

19,99 Euro; als E-Book 17,99 Euro.)<br />

Schlingensief horcht in sich hinein und<br />

spürt: Jede Empfindung ist augenblicklich<br />

heilig. Und jede Empfindung, die er<br />

in seinem Körper hat, sagt unbedingt etwas<br />

über die gesamte Gesellschaft aus. Sie<br />

muss es tun, blitzartig, sonst ist sie nicht zu<br />

ertragen. „Ich“ allein wäre zu schrecklich.<br />

Schlingen-„Ich“ muss sich blitzartig ausdehnen,<br />

eine narzisstisch-parasitäre Superexplosion.<br />

Erst dann herrscht Frieden auf<br />

Erden, also in „Ich“.<br />

Schlingensiefs letztes Kunstprojekt, das<br />

ohne ihn weitergeführt wird, das Operndorf<br />

in Afrika – ganz große Oper! Strahlende<br />

kleine schwarze Kinder, umstanden<br />

von strahlenden deutschen Sponsoren, alle<br />

beseelt von einem auf ganz deutsche Weise<br />

absoluten Bewusstsein, etwas total Gutes<br />

zu tun. Verzweifelt sucht man da nach einem<br />

Fitzelchen Ironie. In diesem Buch findet<br />

man es nicht. Schlingensief steht da<br />

wie die Domina, der man früher nach Mitternacht<br />

beim Zappen in der Telefonsexwerbung<br />

begegnet ist: „Ruf! Mich! An!“<br />

Nur dass er sagt: „Liebt! Mich! Jetzt!“ Und<br />

Tausende sind seinem Ruf gefolgt. Es ist<br />

unmöglich geworden, Schlingensief nicht<br />

zu lieben. Erst wenn diese Liebe nachlässt,<br />

wird man ihn wieder als Künstler betrachten<br />

können, dessen Gegenstand der deutsche<br />

Narzissmus war. Er muss raus aus der<br />

Kitsch-Falle, die er selbst mit aufgestellt<br />

hat. Bis dahin bleibt er der liebe Christoph,<br />

der Terrorist der Herzen. Der große<br />

Empfindungs-Diktator.<br />

***<br />

Und wo kommt dieser deutsche Narzissmus<br />

nun her? Das ist doch bestimmt die<br />

Jugend von heute, die ja nichts anderes<br />

kennt als unsere hohle Medienglitzerwelt,<br />

den Terror der Werbung mit ihrem Dauerversprechen<br />

der sofortigen Wunscherfüllung.<br />

Oder? Mitnichten. Wer die Ur-Narzisse<br />

der Deutschen sehen will, muss sich<br />

Leni Riefenstahls Film „Triumph des Willens“<br />

ansehen. Wie dieser kleine Mann mit<br />

dem Schnurrbart da auf- und abtigert. Wie<br />

der Volkswille ihn da aufs Podium drängt!<br />

Das ist er, auf ihn richtet sich der Neid aller,<br />

die es ins Rampenlicht drängt, bis heute. So<br />

möchte man auch einmal alle Scheinwerfer<br />

zwingen, sich auf einen selbst zu richten.<br />

Und dann – recht haben, bis der Arzt<br />

kommt!<br />

Wer sind wir? Sind wir wieder wer? War<br />

wieder wer sein zu wollen schon der Fehler?<br />

„Spiegel online“ meldet: Tenenbom<br />

hat recht! <strong>Die</strong> Deutschen sind antisemitisch!<br />

Außerdem: Spermienzahl der Franzosen<br />

sinkt! So hat jede Nation ihr Säckel<br />

zu tragen. Tenenbom selbst hat es übrigens<br />

nicht so mit Nationen. Ständig wechselt<br />

er auf seiner Deutschlandreise ganz nach<br />

Laune die Staats- und Religionszugehörigkeit<br />

und gibt sich mal als Araber, mal als<br />

Arier aus. Hinter dem Verwirrspiel steckt<br />

eine freiheitliche Utopie: Weg von der<br />

Scholle! Raus aus der Kirche! Mich aber<br />

sollt ihr trotzdem fortan zum Volk der Tuvianer<br />

zählen. Tuvia, unser Präsident und<br />

Gott, kann auch nerven. Und das ist gut<br />

so. Freiheit ist nämlich, wenn man den anderen<br />

die Freiheit lässt, einen zu nerven. So<br />

hat Karl Popper das mit der offenen Gesellschaft<br />

gemeint. Mit Narzissmus ist dann<br />

natürlich nicht mehr viel zu wollen.<br />

R OBIN D ETJ E<br />

lebt als Autor, Übersetzer und<br />

Performancekünstler in Berlin<br />

Internationale Messe<br />

für Klassische Moderne<br />

und Gegenwartskunst<br />

7. – 10. März 2013<br />

Messe Karlsruhe<br />

www.art-karlsruhe.de<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 143


144 <strong>Cicero</strong> 1.2013


D I E L E T Z T E N 2 4 S T U N D E N | S A L O N |<br />

Schön auf der hohen Note<br />

zusammenklappen<br />

Der Comedian Thomas Hermanns verbringt seinen letzten Tag in<br />

New York, besucht eine Broadway-Show – und eine Gospel-Messe<br />

FOTO: MAURICE WEISS/OSTKREUZ FÜR CICERO<br />

E<br />

S WIRD PRÄCHTIG! Ich werde mit<br />

Glanz und Gloria untergehen,<br />

auf keinen Fall deutsch und depressiv.<br />

Denn der Tod ist doch die größte<br />

Show. Also macht es euch nicht zu<br />

schwer und genießt die Party! Ich würde<br />

mir in New York eine Broadway-Show<br />

ansehen. Hauptsache groß, Hauptsache<br />

Spektakel. Mein Mann und ich fliegen<br />

also morgens los, mit der Zeitverschiebung<br />

landen wir rechtzeitig zum Brunch.<br />

Und ich würde alles essen, was ich in den<br />

USA am liebsten mag: Angefangen mit<br />

Eggs Benedict – die es in Deutschland zu<br />

Unrecht noch nicht oft genug gibt –, und<br />

zwar sofort! Guten amerikanischen Bohnenkaffee<br />

und Pancakes mit Ahornsirup<br />

und Blaubeeren.<br />

Noch heute widerstrebt es mir, Uptown<br />

zu wohnen, weil ich dann das Gefühl<br />

habe, ich müsste FDP beziehungsweise<br />

die Republikaner wählen. Deshalb<br />

ziehe ich zu den interessanten Leuten<br />

nach Downtown, miete mir kein Doppelzimmer,<br />

sondern gleich eine Suite im<br />

Crosby Street Hotel. Mein Geld kann<br />

ich jetzt ja raushauen. Es bleibt eh nichts<br />

übrig, und Vererbung ist Geschmackssache.<br />

Ich würde noch einmal in den<br />

Meat Market District wandern, wo ich<br />

Ende der achtziger Jahre gewohnt habe,<br />

14. Straße Ecke Hudson. Damals gab<br />

es hier nur transsexuelle Prostituierte,<br />

Er tanzte in der Girlreihe, sang<br />

mit Sister Sledge, und wenn er<br />

lacht, scheint sein Mund erst<br />

wieder irgendwo hinter den Ohren<br />

aufzuhören: Der deutsche Komiker<br />

T homas H ermanns, 49, gründete<br />

vor 20 Jahren den Quatsch Comedy<br />

Club und machte damit die Stand-up-<br />

Comedy in Deutschland salonfähig<br />

www.cicero.de/24stunden<br />

Fleischer – und mich. Ich bin zwar kein<br />

Nostalgiker, aber vor dem Tod wird doch<br />

jeder ein bisschen sentimental und denkt<br />

sich: „Hach, hier bin ich früher auch mal<br />

rumgesprungen.“<br />

Im Algonquin-Hotel in Midtown,<br />

dem berühmten Literatenhotel, in dem<br />

von Dorothy Parker bis Noel Coward alle<br />

meine Idole gewohnt haben, wird dann<br />

endlich der erste Martini des Tages getrunken.<br />

(Es müsste auch schon nach<br />

fünf sein.) In Manhattan schmeckt er irgendwie<br />

anders als bei uns, der klassische<br />

mit Gin, sehr stark, mit Oliven und<br />

Nüsschen. <strong>Die</strong> gehören ja zum Cocktail<br />

dazu. Um 20 Uhr ist Showtime, deshalb<br />

müssen wir jetzt noch schnell am Times<br />

Square einen Imbiss zu uns nehmen, und<br />

zwar kalte Sesamnudeln. Das klingt hässlich,<br />

ist aber köstlich! Und dann ist es<br />

Zeit für den Broadway. Wir brauchen etwas<br />

Opulenz zum Sterben. Am liebsten<br />

Radio City Music Hall, eine große Revue<br />

mit den Rockets, 100 Mädchen in einer<br />

Reihe, Tiere auf der Bühne – herrlich!<br />

Oder ein klassisches Musical wie Billy Elliot,<br />

für das Gefühl. Das wäre das Beste.<br />

Da heule ich jedes Mal.<br />

Danach geht man im Rainbow Room<br />

noch einmal an die Bar. Eine alte Jazz-<br />

Legende singt Cole Porter, und man betrinkt<br />

sich hemmungslos. Dann aber mit<br />

Champagner, Dom Perignon, so viel ich<br />

will. Ich bin ja eh gleich tot. Selber muss<br />

ich nicht mehr auf die Bühne, außer vielleicht,<br />

es würde Abba anrufen und sagen,<br />

sie tun sich extra für mein Ableben noch<br />

mal zusammen. Ein letztes „Thank you<br />

for the Music“, da sag ich nicht Nein. Im<br />

Central Park sehen wir dann die Sonne<br />

ein letztes Mal aufgehen, und dann ab<br />

nach Harlem in die Gospel-Messe. Wenn<br />

die großen schwarzen Frauen anheben,<br />

fällt schließlich der Hammer. Mit einem<br />

„I will follow him“ in den Sarg, schwer<br />

verkatert von Martini und Champagner.<br />

Schön auf der hohen Note zusammenklappen.<br />

Den Oscar hätte ich vorher<br />

noch gewinnen können, aber sonst …<br />

Aufgezeichnet von Sarah Maria Deckert<br />

1.2013 <strong>Cicero</strong> 145


C I C E R O | P O S T S C R I P T U M<br />

Das bürgerliche Elend<br />

V ON A LEXANDER M ARGUIER<br />

J<br />

ETZT GEHT DAS SCHON WIEDER LOS! Pünktlich zur Einstimmung<br />

auf das bevorstehende Wahljahr machen CDU<br />

und CSU mal wieder ihr Fass mit der „Bürgerlichkeit“<br />

auf. Besser gesagt: Sie machen es zu, denn es geht ja vor allem<br />

darum, dass sich niemand außer ihnen selbst an dem köstlichen<br />

Saft darin (er schmeckt in Wahrheit schon etwas ranzig) laben<br />

möge. Also vor allem nicht die Grünen. „Finger weg!“ „Haltet<br />

den <strong>Die</strong>b!“ „Da kann ja jeder kommen!“ So ungefähr klingen<br />

derzeit die alarmistisch-verzweifelten Hilferufe aus den Reihen<br />

der Unionsparteien. Aber was meinen sie eigentlich mit der<br />

viel beschworenen Bürgerlichkeit, die ihren eigenen Wählern<br />

so exklusiv vorbehalten sein soll wie der Abschlepp-Service für<br />

ADAC-Mitglieder? Schauen wir doch einfach genauer hin.<br />

Da wäre zum Beispiel CSU-Landesgruppenchefin Gerda<br />

Hasselfeldt, die in einem Interview mit der Welt eine mangelnde<br />

Bürgerlichkeit der Grünen daran festmacht, diese seien „stark<br />

nach links gerückt“ und planten eine „Umverteilungsorgie“. Das<br />

Argument mit dem Linksruck würden wir an Frau Hasselfeldts<br />

Stelle zwar noch einmal überdenken, bevor jemand aus dem heimischen<br />

Lager auf die Idee kommt, dumme Fragen zu stellen.<br />

Aber Orgien, so viel sehen wir ein, sind mit bürgerlichen Tischmanieren<br />

nur schwer in Einklang zu bringen. <strong>Die</strong> Grünen wären<br />

also gut beraten, ihre Umverteilung mit Messer, Gabel und in<br />

aufrechter Sitzhaltung zu vollziehen. Macht auch weniger Dreck.<br />

Ein deutlich vielschichtigeres Bild von Bürgerlichkeit zeichnete<br />

unlängst Christean Wagner in einem Meinungsbeitrag auf<br />

Spiegel online. Der Fraktionsvorsitzende der hessischen CDU<br />

konstatiert wie folgt: „Für eine bürgerlich-konservative Partei ist<br />

die Familie unverzichtbare Keimzelle des Staates. <strong>Die</strong>s schließt<br />

eine Unterstützung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften<br />

nicht aus, aber der Idealfall für die Mehrheit sind sie nicht.“<br />

Aha. Bedeutet das nun im Umkehrschluss, dass unbürgerlichprogressive<br />

Parteien auf die Familie als Keimzelle des Staates verzichten<br />

wollen, was wiederum eine Unterstützung von gleichgeschlechtlichen<br />

Paaren ausschließt, obwohl sie der Idealfall für die<br />

Mehrheit sind? Klingt irgendwie wenig plausibel und ziemlich<br />

kompliziert. Vielleicht wollte Herr Wagner ja einfach nur sagen,<br />

dass Schwule unser aller Mitleid verdient haben und zum Dank<br />

die Klappe halten sollen. Zumindest aus bürgerlicher Sicht.<br />

Der Bürger Wagner aus Hessen kennt sogar noch ein paar<br />

andere nichtbürgerliche Untugenden und zählt dazu eine, wie er<br />

schreibt, „bevormundende Weltsicht“ der Grünen. Es sind übrigens<br />

dieselben Grünen, denen der CDU-Mann wenige Zeilen<br />

später zum Vorwurf macht, sie wollten „das Tanzverbot am Karfreitag<br />

abschaffen“. Wer darin einen Widerspruch zu erkennen<br />

glaubt, liegt allerdings falsch. Denn Wagners Krypto-Bürgerlichkeit<br />

folgt der einfachen Regel, dass Bevormundung durchaus<br />

okay ist, solange sie nur von der Kirche ausgeht. Oder zumindest<br />

von einer Partei mit dem Buchstaben „C“ im Namen.<br />

Beklemmend an dieser albernen Bürgerlichkeitsdebatte, die<br />

CDU und CSU vor allem mit sich selbst führen, um sich ihres<br />

nicht mehr vorhandenen Markenkerns zu vergewissern, ist<br />

die Tatsache, dass darin von bürgerlicher Teilhabe am politischen<br />

Geschehen wenig bis gar nicht die Rede ist. Das selbst<br />

ernannte bürgerliche Lager soll sich den Grünen nicht anbiedern<br />

– aber was Partizipation betrifft, könnte ein Blick über<br />

den Tellerrand auch für die eigene Klientel wohltuender sein<br />

als der hilflose Versuch, die politische Konkurrenz wie unwürdige<br />

Nestbeschmutzer in die Ecke zu stellen. Sonst entsteht<br />

am Ende nämlich der Eindruck, die Bundeskanzlerin meine<br />

nur ein knappes Drittel der Bevölkerung, wenn sie ihre Neujahrsansprache<br />

mit dem Satz „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!“<br />

beginnt.<br />

A LEXANDER M ARGUIER<br />

ist stellvertretender Chefredakteur von <strong>Cicero</strong><br />

ILLUSTRATION: CHRISTOPH ABBREDERIS; FOTO: ANDREJ DALLMANN<br />

146 <strong>Cicero</strong> 1.2013


Jetzt<br />

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