P.P./Journal CH - 8038 Zürich 4/4 – Fabrikzeitung Nr ... - Rote Fabrik
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P.P./<strong>Journal</strong> <strong>CH</strong> - <strong>8038</strong> <strong>Zürich</strong> 4/4 <strong>–</strong> <strong><strong>Fabrik</strong>zeitung</strong> <strong>Nr</strong>. 267 Dezember 2010
in die Geheimnisse des Tonbandschnitts<br />
eingeweiht. Er konnte dabei mit Schere<br />
und Klebestreifen die komplexesten Aufnahmen<br />
neu arrangieren ohne dass man es<br />
gehört hat. Seine Aufnahmetechnik führte<br />
zu den besten Aufnahmen seiner Zeit. Er<br />
war mit seiner Arbeitsweise eine grosse<br />
Inspiration für mich.<br />
Das Sampling seiner eigenen Werke halte<br />
ich für legitim, die Arbeiten anderer Künstler<br />
ohne deren Wissen und Einvernehmen<br />
zu benutzen hingegen halte ich für<br />
frech. Bei Arbeiten mit einem Orchester<br />
für einen Filmmusik bin ich für mein<br />
Verständnis bis hart an die Grenzen des<br />
Vertretbaren gegangen. Das Stück einer<br />
damals sehr populären Sängerin gefiel mir<br />
so gut, dass ich es einspielen liess. Die<br />
Rhythmusspuren habe ich im Anschluss<br />
umgearbeitet, um dem Plagiatsverdacht<br />
zu entgehen. Ich höre den Original Groove<br />
aber immer noch raus.<br />
aufgezeichnet von Silvano Sarno<br />
I was new to the keyboards and so I wanted to<br />
simplify it for myself. With the beats, even though<br />
I was a drummer I still was new to the drum<br />
machine. So I simplified everything and made<br />
it straightforward so I could teach myself these<br />
new instruments. It just happened that I stumbled<br />
across something that was close to the field of<br />
disco music. — Larry Heard<br />
Dann<br />
eben<br />
House<br />
Obwohl nur 26 Jahre jung, ist DJ Le<br />
Noir bereits ein Urgestein der Schweizer<br />
House-Szene. Leandro Fina, wie Le Noir<br />
bürgerlich heisst, legt seit den späten<br />
Neunziger Jahren House in all seinen<br />
Spielarten auf, mit seinen Produktionen<br />
auf Labels wie International Deejay<br />
Gigolo Records präsentiert er sich seit<br />
drei Jahren auch im internationalen DJ-<br />
Zirkus. Für die <strong><strong>Fabrik</strong>zeitung</strong> denkt er<br />
über die Bedeutung und die Definition<br />
von House nach.<br />
«House ist in erster Linie Tanzmusik, die<br />
von einem DJ gespielt wird. Mittels der<br />
Houseplatten kann man im besten Fall<br />
eine ganze Band mit all ihren Nuancen<br />
und Möglichkeiten ersetzen. Mit der<br />
Monotonie von House soll der DJ das<br />
Partyvolk führen, was wiederum viel mit<br />
richtigem Musizieren zu tun hat. Ein DJ<br />
sollte wie ein Bandleader dirigieren und<br />
die Stimmung im Publikum im Laufe der<br />
Zeit immer wieder zu einem weiteren<br />
Höhepunkt führen. Nur durch den Aufbau<br />
von Spannung kann man eine ganze Halle<br />
für sich gewinnen. Dies kann nur durch<br />
die geschickten Auswahl der Stücke und<br />
eine wohlüberlegte Reihenfolge geschehen.<br />
Bei den allermeisten Plattenauflegern<br />
ist dies leider nicht der Fall, da diese entweder<br />
planlos Platte an Platte reihen oder<br />
nicht wissen, mit welchen Stücken Spannung<br />
auf- und abgebaut werden kann.<br />
Für den klassischen NY House oder Garage gillt<br />
für mich immer noch: “ It’s a feeling”. Die meisten<br />
Neuinterpretationen dieses Genres sind jedoch<br />
komplett stehen geblieben. Man kann die Magic<br />
nicht erzwingen und sollte sich halt ab einem<br />
gewissen Zeitpunkt neu erfinden. Darum hab ich<br />
auch zum Techno gewechselt. Da gibt es neue<br />
hungrige Leute die diese Vibes aus dieser Zeit<br />
modern interpretieren und sich nicht nonstop<br />
wiederholen. — DJ Le Noir<br />
Es geht einfach gesagt darum, im richtigen<br />
Moment die richtige Platte zu spielen.<br />
Nach dem Aufbau einer Grundstimmung<br />
kann eine bestimmte Platte für das Publikum<br />
wie ein Erlösungspunkt wirken.<br />
Ein House-Set kann dann als Konzert mit<br />
Schallplatten gelten. Prägend war für mich<br />
dabei ein Auftritt von Little Louie Vega<br />
und Kenny Dope. Die beiden Masters At<br />
Work verstanden es, das Publikum zu unterhalten<br />
und immer wieder auf bestimmte<br />
Höhepunkte hin zu steuern. Dabei musste<br />
das Publikum den DJ’s jedoch auch Zeit<br />
geben, damit sie mit den Nuancen der<br />
einzelnen Platten die gewünschte Stimmung<br />
aufbauen konnten. Das Publikum<br />
ist dazu jedoch nur bereit, wenn es dem<br />
House Music is House Music if Larry Sherman says<br />
its House Music. — Marshall Jefferson<br />
DJ vertraut. Dieser muss fähig sein, dem<br />
Publikum das Gefühl zu geben, genau zu<br />
wissen, was er macht. Ich vergleiche den<br />
DJ in diesem Fall mit einem Verkäufer,<br />
der das Produkt Musik verkaufen können<br />
muss. Dies ist ebenso wichtig wie die<br />
musikalische Komponente.<br />
Mit Musik bin ich durch meinen Vater<br />
früh in Berührung gekommen. Bereits als<br />
Dreijähriger spielte ich am Schlagzeug<br />
meines Vaters und habe später auch weitere<br />
Instrumente hinzugelernt. Mein Vater<br />
stammt aus dem Kongo und spielte in vielen<br />
Bands. Musik war in unserer Familie<br />
immer ein grosses Thema. Daher wusste<br />
ich bereits in der Primarschule, dass ich<br />
meinen Lebensunterhalt mit Musik verdie-<br />
nen wollte. Als Schlagzeuger stand ich<br />
vor der grossen Frage, wie ich es anstellen<br />
kann, genügend Auftritte zu haben.<br />
Das Auflegen schien mir dabei der einzig<br />
gangbare Weg zu sein.<br />
For me Housemusic is art if it´s not done by a formula,<br />
i´m bored of.. If it´s not comprehensible for<br />
me how it´s done. If it´s free. — Dj Koze<br />
House ist für mich eng mit dem Platten-<br />
auflegen verknüpft. Die Musik, die etwa<br />
der legendäre Larry Levan in der Paradise<br />
Garage gespielt hat, inspirierte Künstler<br />
wie Blaze, Masters At Work oder Joe<br />
Claussell ihre ersten Stücke zu produzieren.<br />
Diese Platten machen für mich House<br />
oder zumindest House aus New York aus.<br />
Als ich anfing, Musik zu kaufen, war es<br />
mir jedoch nicht bewusst, dass es sich<br />
dabei um House gehandelt hat. Ich habe<br />
dabei in den Anfangstagen sicherlich auch<br />
viele grässliche Scheiben gekauft. Einige<br />
der Platten gefielen mir schnell nicht mehr,<br />
andere begeisterten mich auch noch nach<br />
einiger Zeit. Dabei waren es die perkussiven<br />
Elemente, der schleppende Shuffle-<br />
Beat, ein Tempo um die 120 BPM, soulige<br />
Chords und der markante Gospelgesang,<br />
die es mir bei diesen Platten angetan hatten.<br />
Als ich schliesslich erfuhr, dass es sich<br />
hierbei um House handeln sollte, dachte<br />
ich mir: Gut, dann lege ich eben House auf.<br />
Musical variety. Back in the days of the Loft, the<br />
Gallery, the Garage and Zanzibar, DJs used to<br />
play four-on-the-floor with funk, jazz, Euro and<br />
syncopated rhythms. — Little Louie Vega<br />
House in seiner Urform gibt es für mich<br />
heute nicht mehr. Besser ist es, wenn man<br />
davon ausgeht, dass es sich bei der Musik,<br />
die sich heute House nennt, um eine<br />
Neuinterpretation des Genres handelt. Dabei<br />
gibt es Künstler, die ewig die gleichen<br />
Strukturen und Elemente in ihrer Musik<br />
verwenden. Nur weil man die Musik aus<br />
den Mittneunzigern kopiert, erschafft man<br />
aber meiner Meinung nach keinen House.<br />
Es ist dabei wichtig, dass Impulse aus<br />
anderen Genres mit einfliessen können.<br />
So ist in meinen Produktionen unüberhörbar<br />
der Einfluss von zeitgenössischem<br />
Techno zu finden. Meiner Meinung nach<br />
hat die Öffnung der beiden Genres füreinander<br />
viel fantastische Musik hervorgebracht.<br />
Hymnische Stücke wie Ferrer &<br />
Sydenhams «Sandcastles» oder auch das<br />
magische «Rej» von Âme haben dabei<br />
eine spannende Phase in der Entwicklung<br />
von House eingeläutet. Dem klassischen<br />
House eine Prise Techno verabreichen;<br />
das war für mich eine wahre Erleuchtung.<br />
Es gibt meiner Meinung nach nichts langweiligeres<br />
als die Vorhersehbarkeit von<br />
Musikstücken. Diese wurde etwa durch<br />
den French House Hype stark beeinflusst.<br />
Das Stilmittel der Überkompression und<br />
die ewig gleichen Signale haben zu einer<br />
Monokultur im Housebereich geführt.<br />
Meiner Meinung nach ging dabei jedoch<br />
ein grosser Teil der Musikalität verloren,<br />
was in den Anfangstagen noch innovativ<br />
war wurde irgendwann zur Routine. Dies<br />
empfand ich immer als schade, da mir<br />
immer die Tiefe und Spiritualität in der<br />
Musik gefallen haben. Es gibt Platten, die<br />
eine gewisse Magie ausstrahlen. Leider<br />
kann man diese nicht beliebig neu erzeugen.<br />
Im NuJazz-Hype versuchte man<br />
etwa House mit den Vorbildern Jazz und<br />
Soul kurz zu schliessen. Leider wurde<br />
Musik dabei sehr verkopft konstruiert,<br />
dieser Reissbrettmusik kann ich nicht<br />
viel abgewinnen. House ist und bleibt für<br />
mich halt eng mit Gefühlen verknüpft, zuviel<br />
Verkopftheit bei der Erschaffung von<br />
Musik schadet da nur.»<br />
aufgezeichnet von Silvano Sarno<br />
work<br />
your<br />
body<br />
Über mögliche Zusammenhänge zwischen<br />
«doing gender» und «Maschine machen»<br />
House maschinisiert, digitalisiert Disco.<br />
Oder wie es F.S.K. singen: «From Disco<br />
to House with the click of the computer<br />
mouse.» Wobei House mit dem «Bigger<br />
Than Life»-Anspruch auch noch eine<br />
Popverwandtschaft aufweist. Auch das<br />
ist jedoch suspekt. «House steckt mit<br />
dem Synthesizer unter einer Decke, ist ein<br />
Kollaborateur mit dem Frivolen und lässt<br />
sich mit Maschinen ein.» (Kodwo Eshun)<br />
Mehr noch: Wir haben es hier fast überall<br />
mit frivolen Maschinen zu tun. Mit Ent-<br />
wendungen, Resiginifizierungen von dem,<br />
was gemeinhin unter Maschinen verstanden<br />
wird. Nur: Haftete den ersten - litera-<br />
risch - beschriebenen Maschinen nicht<br />
auch immer schon etwas Frivoles, auch<br />
Schrilles wie Unheimliches an? Denken<br />
wir nur an die Tanzpuppen (!) bei E.T.A.<br />
Hoffmann («Die Automate», «Der Sandmann»).<br />
Anders gefragt: Mit was für einem<br />
Maschinenbegriff haben wir es hier<br />
(nicht nur bei House) überhaupt zu tun?<br />
Wohl eher einem solchen, wie er Gilles<br />
Deleuze und Felix Guatarri vorschwebte.<br />
Auch wenn es sich hierbei um einen mittlerweile<br />
schon zum Allgemeinplatz ge-<br />
wordenen Topos elektronischer Musik<br />
handelt, werden wir gerade auf den<br />
Dancefloor immer wieder mit Musik-<br />
Maschinen konfrontiert, die als Maschine<br />
als «Verblüffungsapparatur und Verwirreinrichtung»,<br />
als nicht kalkulierbare<br />
«Wunschmaschinen»/«wünschenden<br />
Maschinen» fungieren.<br />
House music belongs to crisis periods, to make<br />
the crowd shout and have fun. — Ellen Alien<br />
«Maschine machen» meint dabei auch<br />
«Maschinen zu bauen, die vor allem demontierbar<br />
sind», die «maschinellen Ver-<br />
kettungen», die a priori in bestimmte soziale<br />
Ensembles eingebunden und gesellschaftlich<br />
determiniert sind, gerade in der<br />
Demontage erscheinen lassen (was im<br />
Endeffekt auch auf die Demontage/Auflösung<br />
der «menschlichen Körperorganisation»<br />
zielt und im Housekontext u.a auch<br />
als performative Aufforderung «Jack Your<br />
Body» bzw. «Work It» bekannt ist). Im<br />
Prinzip ist Acid-House ja genau so entstanden:<br />
Ein ursprünglich als Begleitinstrument<br />
für Alleinunterhalter konzipierter Bass-<br />
Synthesizer (der Roland TB 303) wurde<br />
zwar nicht direkt Demontiert, aber seine<br />
Funktion wurde komplett neu signifiziert.<br />
Wenn Judith Butler davon spricht, «Den<br />
Körper als konstruierten Körper zu denken<br />
verlangt, die Bedeutung der Konstruktion<br />
selbst neu zu denken», dann treffen<br />
hier «Maschine machen» und «doing gender»<br />
zusammen. Durchkreuzen sich (auf<br />
dem Dancefloor), gehen dabei aber über<br />
den Aspekt des (performativen) «Tuns»<br />
auch weit über rein ästhetische, philosophische<br />
Fragen hinaus. Wenn F.S.K.<br />
singen «Die performative Garage unter<br />
Asphalt/erlaubt die Entwicklung einer<br />
ganz neuen Gestalt», dann ist das nur mit<br />
«Maschine machen» im theoretischen<br />
Handgepäck zwar angelegt, aber nicht der<br />
Fokus, um den es geht. Musik-Maschinen<br />
und Maschinen-Musik standen immer<br />
auch schon für Überschreitungen, für<br />
neue Grenzverläufe, für das, was jenseits<br />
(auch musikalischer) Klischees möglich<br />
war. Es eröffnen sich hier mannigfaltigste<br />
Diskurse zwischen Entfremdung (etwa<br />
als ethnische, sexuelle Minderheit), Verfremdung<br />
(des akustischen Materials)<br />
und Befremdung (die Irritation auf Seiten<br />
jener, die dadurch ihre Normen untergraben<br />
sehen wie es etwa in Hardcore-Punk-<br />
Kreisen der Fall war, als Queercore mit<br />
Synthesizern und Drumboxen im Gepäck<br />
House is the modern sound of Chicago made<br />
by DJs and local singers using the most up-todate<br />
studio techniques. It’s a club sound: dub,<br />
sampling, cross-fading and jacking the house.<br />
— Farley Jackmaster Funk<br />
auftauchte). Dabei ist elektronische Musik<br />
per se kein Ort, der nun frei wäre von normativen<br />
Zwängen, von Ausblendungen<br />
und Ausschlüssen. Blacktronica (etwa<br />
die schon in den siebziger Jahren erfolgten<br />
Synthesizer-Undeutungen von Herbie<br />
Hancock, Stevie Wonder oder Bernie<br />
Worrell) oder Queertronica (Le Tigre bis<br />
Peaches) bilden immer noch Sub-Geschichten,<br />
die auf der durchschnittlichen<br />
«House-Party» meist keinen Platz haben.<br />
«Bringing Down The Walls»<br />
(Robert Owens)<br />
Wenn es für Jacques Lacan ein spezifisch<br />
weibliches Geniessen gibt, das «über den<br />
Phallus hinaus» geht und der «Ordnung<br />
des Unendlichen» angehört, könnten dann<br />
nicht auch gewisse Musiken zumindest<br />
andeuten, das auch lacanisch gesprochen<br />
«jenseits des Phallus» getanzt werden<br />
kann? Denn die Bipolarität (zwischen<br />
dem «Männlichen» und dem «Weiblichen»,<br />
wie auch dem «Künstlichen» und<br />
«Natürlichen») besteht ja nur insofern, solange<br />
Begehren und Geniessen innerhalb<br />
einer Ordnung situiert sind, die keine weiteren<br />
Möglichkeiten zulässt. Was erneut<br />
die Idee von «House» als «Erlösungs»-<br />
Idee/Ideologie im Sinne eines utopischen<br />
Versprechens eines nichtphallischen Geniessen<br />
ins Spiel bringt: Männer singen<br />
mit hohen Stimmen (wie Frauen), Frauen<br />
singen mit tiefen Stimmen (wie Männer)<br />
- beides steht für / ist das Geniessen der<br />
/ des (jeweils) Anderen. Tomboys & Jerrygirls,<br />
I´ll House Ya!<br />
Bei der Kritik an Disco schwang immer<br />
schon etwas Homophobes mit. Erinnert<br />
sei dabei nur an das «Disco Demolition<br />
Derby» vom 12. Juli 1979, als im Chicagoer<br />
Cominskey Park als Höhepunkt der<br />
von einem Rock-DJ initiierten «Disco<br />
Sucks»-Kampagne tausende Disco-Platten<br />
in die Luft gesprengt wurden. Dabei<br />
mussten die Acts und die Songs gar nicht<br />
explizit sein. Selbst die durchwegs dem<br />
It’s economics, that’s what I’ve said. It’s electronics<br />
and economics that started this trend, and<br />
there’s nothing wrong with it. — Tony Humphries<br />
Boy/Girl-Schema entsprechenden Disco-<br />
Hits der Bee Gees wurden als «Kastraten-<br />
Gesang» quasi geoutet. Eben als Musik<br />
«ohne Eier». Disco feminisierte Männer<br />
(Sylvester und eben auch die Bee Gees)<br />
und maskulinisierte Frauen (Amanda<br />
Lear, später - noch um einiges radikaler<br />
- Grace Jones).<br />
Viele, eindeutig gay codierte Disco-<br />
Klassiker der achtziger Jahre verbinden<br />
elektronische Rhythms & Sounds mit<br />
Frauenstimmen. Etwa Patrick Cowleys<br />
«Menegry» (1981) oder das ebenso explizite<br />
«Cruisin’ The Streets» der Boys<br />
Town Gang (1981). Daneben gab es Männerstimmen,<br />
die sich immer schon eindeutigen<br />
Gender-Zuschreibungen entzogen<br />
haben. Exemplarisch dafür Sylvester, der<br />
mit seinem (von Patrick Cowley elektronisch<br />
unterstützen) Hit «You Make Me<br />
Feel (Mighty Real)» schon 1978 «Realness»<br />
als performativen Akt eines erotischen<br />
Begehrens beschrieb. Kurz: Gender<br />
als «eine Art von Tun» (Judith Butler).<br />
Eine «Selbstformierung der Subjekte» wie<br />
es Foucault ausdrückt, um «sich selbst zu<br />
bearbeiten, sich selbst zu transformieren<br />
und zu einer bestimmten Seinsweise Zugang<br />
zu gewinnen.»<br />
What you hear now in clubs is basically a progression<br />
of disco music. Cut-ups of disco tunes,<br />
which just goes to show that the music which was<br />
coming out then wasn’t so bad to begin with <strong>–</strong><br />
it just took twenty years for people to get their<br />
heads ’round it... — Carl Cox<br />
Daher verwundert die Nähe zu Camp überhaupt<br />
nicht. Schon Disco bediente sich<br />
bei Musicals und Broadway-Melodien.<br />
Die (auch männlichen) Diven des House<br />
(wie etwa Robert Owens) behielten immer<br />
noch zumindest ein Quäntchen Discoaffinität<br />
zu Sängerinnen wie Mae West oder<br />
Judy Garland (die bekanntlich einmal in<br />
einer TV-Show darauf bestand ihren Hit<br />
«Somewhere Over The Rainbow» heute<br />
mal «In the Key of ‘Q’» zu singen). House<br />
als «Sonic-Drag» (Thomas Meinecke)<br />
braucht dazu jedoch nicht immer Vocals.<br />
Aber auch wenn nicht ausschliesslich an<br />
ein sexuell andersdenkendes Publikum gedacht<br />
wird, transportieren die elektronischen<br />
Disco-Tracks der siebziger Jahre mehrfach<br />
codierte doppelte Botschaften, die<br />
je nachdem straight oder queer gelesen<br />
werden können. Dabei sollte nicht vergessen<br />
werden, dass «Disco» - zumindest<br />
im deutschsprachigen Raum - erst mit<br />
«Saturday Night Fever» (1977) ein Thema<br />
wurde. Dementsprechend war auch der<br />
Blick determiniert. Denn rund um John<br />
Travolta galt scheinbar: No blacks, no<br />
gays. Was umso fragwürdiger erscheint,<br />
da ein Jahr zuvor in «Carwash» (dem vielleicht<br />
ersten Disco-Film überhaupt) genau<br />
diese beiden nun ausgeblendeten Gruppen<br />
eine zentrale Rolle spielten (sogar in<br />
der Kombination black, gay & feminine).<br />
D.h., selbst bei den eindeutigen Songs der<br />
Village People konnten die Codes überhört<br />
und das Ganze als lustiger Kostümfasching<br />
entkontextualisiert werden. Selbst als bei<br />
Amanda Lear, die mit «Follow Me» 1978<br />
ebenfalls eine sexuell nicht ganz eindeutige,<br />
in der Tradition von Marlene Dietrich<br />
(eine Frau performt einen Mann, der eine<br />
Frau performt) stehende Stimme mit Elektronik<br />
koppelte, die Frage nach dem «eigentlichen»<br />
biologischen Geschlecht auf-<br />
kam, ging es im Mainstream-Diskurs vor<br />
allem um eine Selbstvergewisserung, ob<br />
diese Femme Fatal nun einen Phallus hat,<br />
oder ein Phallus ist (bzw. was da am Anfang<br />
mal gewesen ist). Nichtsdestotrotz<br />
öffnete sich hier ein (noch kleiner) diskursiver<br />
Raum zwischen nicht fixierbaren<br />
Subjektivitäten, dem was der Mainstream<br />
reinlässt (und damit auch was nicht) und<br />
den Funktionen, die dabei Popmusik einnimmt.<br />
It’s not just boom boom boom. They’re telling me<br />
something here. Something I can dance to and<br />
learn from. I can see house music becoming universal<br />
one day. It’ll just take time for people to<br />
receive it. — Robert Owens<br />
Zwar gab es einschlägige Clubs (und<br />
wurde etwa Marianne Rosenberg mit<br />
ihrem Hit «Er gehört zu mir» von ihrem<br />
Management ganz bewusst durch Discotheken<br />
mit grossteils schwulem Klientel<br />
geschickt), aber es bedurfte erst eines<br />
zweiten, dritten Blicks, eben eines so zusagen<br />
schon durch House gegangenen, um<br />
Disco auch als (emanzipatorischen, utopische)<br />
Projekt sexueller wie ethnischer<br />
Minderheiten zu resignifizieren.<br />
«I Feel Love» (Donna Summer)<br />
Nehmen wie exemplarisch «I Feel Love».<br />
Der erste vollelektronische Disco-Hit wurde<br />
1977 vom Südtiroler Giorgio Moroder<br />
für Afro-Amerikanerin Donna Summer in<br />
München geschrieben und aufgenommen.<br />
(soviel auch zum Thema Disco als - neben<br />
Punk - cosmopolitischer Gegenentwurf zu<br />
«national» definierten Musikformen). In<br />
der herkömmliche Rezeption ist der Track<br />
für männliche Voyeurohren gemacht. Je<br />
nachdem als verbotener Blick oder zur<br />
eigenen Ausfüllung der Leerstelle (in sich<br />
hinein imaginiert werden kann) gedeutet<br />
bzw. gelesen. Was aber geschieht wenn wir<br />
die heterosexuelle (männliche) Matrix ver-<br />
lassen? Schon 1975 war der Moroder/<br />
Summer-Track «Love To Love You Baby»<br />
ein vor allem durch Discotheken der gay<br />
Szene bekannt gewordener Hit, bei dem<br />
das Geschlecht des angesungenen «Babys»<br />
auch eher im Unklaren blieb. Männer konn-<br />
ten die Zeilen an Männer richten, ebenso<br />
Frauen an Frauen, beide auch nur an<br />
sich selbst.<br />
Chicagos Antwort auf Hip Hop. — Lexx<br />
«I Feel Love» kombinierte nun all dies<br />
mit einer elektronisch generierten Maschinen-Motorik,<br />
die nun das Begehren,<br />
die Liebe, die Lust auch auf die Ma-<br />
schinen projizieren konnte. Zwar wurden<br />
diese Maschinen von einem Mann programmiert,<br />
jedoch laufen die Sequenzen<br />
und Patterns ohne grosse weitere Teil-<br />
oder Einflussname von aussen so zusagen<br />
vollmechanisch durch den ganzen Track.<br />
Nach dem Drücken des Start-Knopfes<br />
sind es die Maschinen, die spielen. Dann<br />
könnte der Satz «I Feel Love» jedoch<br />
auch so verstanden werden: als erotischer<br />
Diskurs, der nur zwischen Donna Summer<br />
und den Maschinen abläuft (an einem<br />
Ort, wo es «das Phallische» im Sinne von<br />
Freud und Lacan nicht mehr gibt, oder<br />
es sich anders manifestiert), bzw. als ein<br />
Diskurs, der nur zwischen den Maschinen<br />
als Maschinen des Begehrens abläuft,<br />
wobei Donna Summer dann die Rolle der<br />
Stimme der Maschinen (bzw. die einer<br />
mechanischen Braut oder eines Cyborgs)<br />
einnimmt. Diese Interpretation bekommt<br />
zudem noch Unterfutter, wenn wir uns<br />
damalige Liveauftritte ansehen, wo das,<br />
was zuerst möglicherweise noch als Pantominegesten<br />
gedeutet werden kann, sich<br />
relativ schnell als Roboter-Bewegungen<br />
herausstellt. Donna Summer also einen<br />
Roboter tut (und dabei auch Fritz Langs<br />
«Metropolis» zitiert, in ihrer Zitation<br />
jedoch der «Mensch-Maschine» den<br />
Vorzug vor dem Menschlichen gibt). So<br />
gelesen meint «I Feel Love» eben auch<br />
Sex/Lust mit Maschinen/zu Maschinen<br />
und deutet zudem in eine Richtung, die<br />
unter «Maschinensex» eine Angelegenheit<br />
versteht, die ausschliesslich zwischen<br />
Maschinen stattfindet (wo nicht nur<br />
Männer, sondern Menschen überhaupt<br />
keine Rolle mehr spielen). Und kommt<br />
die «Sexyness» diverser House-Tracks<br />
Soul Electrica. — Roy Davies Jr.<br />
nicht genau von daher? Etwa wenn sich<br />
verschiedene Maschinen gegenseitig antriggern<br />
und einem eigentlich nur noch<br />
die Rolle eines Zuhörers (oder eben Voyeurs)<br />
bleibt? Zudem: Haben Maschinen<br />
überhaupt ein Geschlecht und wenn ja<br />
welches? Als der Detroit-Techno-Pionier<br />
Juan Atkins einmal seine Faszination für<br />
Musikmaschinen mit deren Nichtwissen,<br />
ob die Person, die mit ihnen spielt )bzw.<br />
mit der die Maschine spielt) nun weiss,<br />
schwarz, Mann, Frau, hetero oder nicht<br />
ist, begründete, sprach er von all den<br />
transversalen Potentialen, die es hier noch<br />
zu erforschen gilt. Was umso wichtiger<br />
ist, als Musik-Maschinen über Jahrzehnte<br />
fest in der Hand technokratischer Eliten<br />
waren und sich etwa der afro-futuristische<br />
Free-Jazz-Visionär Sun Ra noch in den<br />
Sechzigern in einem Musikgeschäft mit<br />
einem Verkäufer konfrontiert sah, der Bedenken<br />
hatte, ob ein so hochkomplexes<br />
Instrument wie ein Moog-Synthesizer<br />
nicht Schaden nehmen würde, wenn es<br />
mit schwarzen Haut in Kontakt käme.<br />
Kurz: Auch wenn einiges schon immer<br />
sichtbar schien, es muss erst erkannt<br />
werden, muss ansprechen. Es müssen sich<br />
Kanäle ins jeweilige symbolische Universum<br />
erst eröffnen. Der campe Blick muss<br />
erst erkannt und dann geschult werden<br />
(die sexuelle Orientierung kann dabei eine<br />
Rolle spielen, muss es aber nicht). Disco<br />
Energy. — DJ Pierre<br />
(wie später auch House) als rein kommerziell<br />
ausgerichtete Fliessbandmusik<br />
zu kritisieren, bei der es nur um künstliche<br />
Gefühle, viel Plastik (an den Körpern<br />
und in der Musik, auch wenn dieses Plastik<br />
aus Elektrizität gemacht wurde) und<br />
stereotype Beats geht, ignoriert nicht nur<br />
ganze - über fast jeden Zweifel erhabene -<br />
Kapital der Pop-History (angefangen von<br />
den Songfabriken der Tin Pan Alley und<br />
des Brill Buildings bis hin zu Motown<br />
und Sugarhill Records). Aber sind es<br />
nicht gerade diese «künstlichen Gefühle»<br />
als Abweichung von der Norm, die Disco<br />
wie House als Soundtrack, Entwurf, Mani-<br />
festation eines nicht herteronormierten<br />
Lebenstils erscheinen lassen?<br />
«Let Me Be Your Fantasy»<br />
(The Love Symphony Orchestra)<br />
Schon einige (europäische) «Vorbilder»<br />
von House (aber auch von Detroit-Techno)<br />
deuteten ja in diese Richtung (und<br />
waren ihrerseits von Disco beeinflusst).<br />
Etwa Soft Cell, Divine, Gary Newman/<br />
Tubeway Army, Depeche Mode (speziell<br />
in ihrem S/M-Lederjacken-Frühphase).<br />
Dabei ist allen eines gemein: Sie irritierten<br />
die heterosexuelle Matrix und taten dies<br />
mit ausschliesslich elektronisch erzeugten<br />
Maschinenklängen. Aber finden wir diese<br />
beiden Aspekte nicht auch schon früher?<br />
Denken wir nur an den Moog-Pionier<br />
Walter Carlos, der später zu Wendy Carlos<br />
wurde, oder an Brian Eno zu seiner<br />
«Paradiesvogel»-Phase bei Roxy Music.<br />
Geschminkt und in «full drag» schraubte<br />
Eno hier bei exemplarischen Tracks wie<br />
«Remake/Remodell» am Synthesizer und<br />
verwirrte doppelt. Einmal optisch, einmal<br />
akustisch. Schliesslich Kraftwerk, die<br />
Andy Warhols Idee einer Mal-Maschine<br />
auf das Konstrukt Band als Musik-Maschine<br />
umsetzten und dabei immer auch<br />
mit einer androgynen Sexyness spielten<br />
und die dazu auch gerne in die Disco gingen<br />
(sowohl die «Schaufensterpupen», die<br />
«Mensch-Maschine» wie «Die Roboter»<br />
tanzen bekanntlich gerne).<br />
If the music formerly known as “house” has less or<br />
more meaning than any other music conveniently<br />
categorized into a one-word catchphrase, it is<br />
because of weak, uninformed, uninspired, lazy<br />
music journalism. — Theo Parrish<br />
Zudem erzählen Disco wie auch House<br />
(und ebenso der frühe, vor allem durch<br />
Kraftwerk inspirierte, damals auch noch<br />
als Electric-Funk bezeichnete HipHop)<br />
beinahe exemplarisch davon, was unter<br />
der produktiven Kraft kultureller Missverständnisse<br />
zu verstehen ist. House<br />
definiert als Nachstellung von u.a. Italo-<br />
Disco und dem ganze Euro-Zeugs zwischen<br />
Synthie-Wave und in kontinentaleuropäischen<br />
Studios mit elektronischem<br />
... it was minimalistic, it was tribal, it was driving, it<br />
was the four on the floor, and it was the sampling.<br />
It was based on the 808 and then later progressed<br />
into a 909 drum machine. That is the beginning of<br />
house music. — Chip E<br />
Equipment nachgestellte Imaginationen<br />
us-amerikanischer Disco-Konstruktionen<br />
rückübersetzt so zusagen europäische<br />
Amerikabilder als amerikanische Europa-<br />
bilder in eigene Kontexte. Das Fremde<br />
des Europäischen in Form einer posthumanen<br />
Elektronik und eines «falschen»<br />
Englisch (das je nachdem als «exotisch»<br />
oder auch als nicht wirklich männlich/<br />
weiblich gehört werden konnte) hatte<br />
genau jenes Alienhafte, von dem Kodwo<br />
Eshun immer spricht, wenn er auf die<br />
scheinbar un-afro-amerikanische Faszination<br />
für all diese elektronischen (und<br />
mitunter auch schwer unfunky) Musiken<br />
zu sprechen kommt. Es ist das Erkennen<br />
der eigenen Fremdheit (als Alien in den<br />
USA) in und durch eine andere Fremdheit.<br />
Die Elektronik ist dabei der Future-<br />
Shock (selbst House kennt - bei allen<br />
Rückgriffen auf Gospel und Soul - keine<br />
stellvertretend leidenden afro-amerikanischen<br />
Subjekte, weshalb auch Blues<br />
nie ein Rolle spielte). «Doing Gender»<br />
das zweite Angebot (exemplarisch 1982<br />
vom Studioprojekt Q als «The Voice Of<br />
Q» in die queere Space-Disco gebracht).<br />
Auch weil vieles von dem, was in Europa<br />
als Euro-Trash in jeder (durchwegs heteronormiert<br />
frequentierten) Discothek lief,<br />
in den USA fast nur in den Clubs sexuell<br />
Andersdenker zu hören war.<br />
What we did was gather all the right ingredients,<br />
and luckily I was just fortunate enough to be able<br />
to take all of that and make it into the sound we<br />
know today as House — Jesse Saunders<br />
Angesicht all dieses Gewusels erscheint<br />
auch «House» an sich als freischwebender<br />
Begriff, als «eine Art von Tun» (House<br />
wie Disco beschreiben ja nicht nur Musikstile,<br />
sondern auch Lebenseinstellungen,<br />
Lifestiles). Wir müssen gleich gar nicht<br />
von irgendeinem «Real» House anfangen<br />
zu sprechen. Es reicht schon eine Idee von<br />
House als Entfaltung eines Raums, eines<br />
Ort, einer Idee wo, wie es Foucault einmal<br />
so schön definierte, Möglichkeiten gegeben<br />
sind «‘anders’ zu sein, ohne dem ‘anderen<br />
Geschlecht’ angehören zu müssen»<br />
und wo auch nicht «alles Beunruhigende<br />
ausblendet» ist.<br />
Von Didi Neidhart<br />
I don’t think that there’s such a thing called house<br />
- I think house is a name people made up of underground<br />
music. — Timmy Regisford<br />
promised<br />
LAND<br />
House und Techno waren der letzte Umsturz<br />
im System «Pop», zumindest der<br />
letzte, der dieses System ordnungsgemäss<br />
erschütterte und die alten Symbole ausstrich,<br />
um neue an ihre Stelle zu setzen.<br />
Dadurch brachten House und Techno<br />
noch einmal Popgeschichte im alten<br />
Sinne hervor: als die Ordnung sich verändernder,<br />
immer nur vorläufiger Zeichen.<br />
Als das Wissen, dass es immer weiter gehen<br />
muss, weil nur die konstante Veränderung<br />
das Änderungserlebnis «Pop» be-<br />
wahren kann.<br />
Die klassischen Pop-Revolutionen bestanden<br />
stets in Veränderungen, die eine neue<br />
Ordnung etablierten. Und sie traten dort<br />
auf, wo die Alte nicht mehr in der Lage<br />
war, eine Differenz zwischen Subkultur<br />
und der Welt, die sie umgab, zu erzeugen.<br />
Also bedurfte es neuer, noch unverstandener<br />
Formen der Differenzierung. Ende<br />
der Achtziger waren dies: Groove, Sampling,<br />
Club, DJ/ane, die hedonistische<br />
Feier und die Effekte bestimmter Drogen.<br />
Und vor allem: der Track. Wie bei früheren<br />
Poprevolutionen war das meiste davon<br />
bereits vorhanden. Aber nun verbanden<br />
sie sich zu einer neuen Erzählung, einem<br />
neuen Verhältnis zur Welt.<br />
The term House music comes from three different<br />
factors: funk, imported European dance music<br />
and the technology factor. It’s the sound Chicago<br />
invented by borrowing from everywhere else. —<br />
Rocky Jones, CEO DJ International Records<br />
Um aus einer neuen Pop-Strategie eine<br />
verbindliche und evidente Erzählung zu<br />
machen, die die Grundlage für eine «Bewegung»<br />
hergibt, musste sich die Veränderung<br />
des Materials und der subkulturellen<br />
Praxis, die daran geknüpft war, aber<br />
noch stimmig mit dem Aussen verbinden<br />
lassen, der Welt, die sie gerade dabei war<br />
zu verändern. Am besten ging dies über<br />
einen Theorieanschluss, optimalerweise<br />
an eine Theorie, die selbst noch im Stand<br />
akademischer Unschuld verweilte. So<br />
funktionierte Popgeschichte, zumindest<br />
als sie noch funktionierte.<br />
House-Politik<br />
Pop hat immer mit einer historisch und individuell<br />
unterschiedlich zugeteilten Frei-<br />
zeit zu tun, die gestaltet werden will.<br />
Um in die Aggregatstufe der Bewegung<br />
einzutreten, musste in die allerneuste<br />
Freizeitgestaltung jedoch ein Überschuss<br />
imaginiert werden. Die Veränderung<br />
musste über die konkrete Form, an der sie<br />
sich zeigte, hinausschiessen. Sie musste<br />
etwas enthalten oder bereitstellen, das<br />
das Bestehende überschritt. Erst dadurch<br />
konnte sie die Umrisse eines Versprechens<br />
annehmen. In diesem Versprechen,<br />
nicht in herunter gebeteten Meinungen,<br />
bestand die Politik von Pop. Der beste Indikator<br />
für das Politische von Pop waren<br />
jene bekannten Warnungen vor der politischen<br />
Verwahrlosung der Jugend, die<br />
bürgerliche Medien so gerne aussprechen.<br />
Verwahrlosung nicht in den Extremismus,<br />
sondern in die Entpolitisierung. Sie<br />
begleiteten die Einführungsphase von<br />
House und Techno. Den Eingeweihten<br />
machten sie deutlich, dass gerade etwas<br />
passierte, was die bestehende Ordnung<br />
überschritten oder sogar bereits verlassen<br />
hatte. <strong>–</strong> Dass die Protagonistinnen<br />
auf mediale Kontrollverlustängste mit<br />
verstrahlt-debilen «Love, Peace & Nochwas»-Parolen<br />
reagierten, zitierte klassische<br />
subkulturelle Reaktanzmuster.<br />
Selbst wenn die, die das taten, vielleicht<br />
nur Sparkassen-Azubis auf Ecstasy waren.<br />
Wichtig war, dass das Recht auf Party<br />
und Spass als Einspruch gegen Zurichtungsweisen<br />
gesetzt wurde, die mündige<br />
Bürgerinnen und staatstragende Subjekte,<br />
notfalls in grünalternativer Edelausführung,<br />
produzieren wollten.<br />
Die perfekte, reduzierte Weiterführung von Disco<br />
<strong>–</strong> extrem tanzbar, sexy und in den besten Fällen<br />
euphorisch und melancholisch zur gleichen Zeit.<br />
— Motor City Drum Ensemble<br />
Theorie’n’Praxis<br />
Dieses hedonistische Programm knüpfte<br />
an uralte Modelle von Poppolitik an. Aber<br />
anders als ihre Vorgängerinnen verfügten<br />
Techno und House erstmals auch über die<br />
entsprechenden Mittel, um tatsächlich mit<br />
der Ideologie des Subjekts zu brechen, in<br />
die sich die älteren Poprevolten meist recht<br />
schnell verheddert hatten. Das war eine<br />
neue Eskalationsstufe und machte den unwiderstehlichen<br />
Glanz der allerneusten<br />
Bewegung aus. Zum Beispiel wurde die<br />
Figur des Autors, die bislang kultureller<br />
wie subkultureller Standard gewesen<br />
war, endlich wirklich einmal konsequent<br />
abgeschafft: Die serielle Weissmuster-<br />
Ästhetik von Housemaxis und die verwirrenden<br />
Namenswechsel derjenigen, die<br />
darauf agierten, waren ein elementarer<br />
Bruch mit der bürgerlichen Kulturtradition,<br />
die bisher noch jede Popbewegung<br />
mühelos kassiert und eingemeindet hatte.<br />
Zugleich verwischten Remix und Sampling<br />
Werkgrenzen. Das Original verflüssigte<br />
sich zu einer endlosen Kette von<br />
Versionen. All das waren keineswegs nur<br />
blind um sich schlagende antibürgerliche<br />
Reflexe. Sie sabotierten ausgesprochen<br />
effizient die bürgerliche Ideologie des<br />
Subjekts. Diese Ideologie war seit der<br />
Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft<br />
mittels Kunst eingebläut worden: in Form<br />
des «Genies», als Autonomieästhetik, als<br />
Vorstellung von Werkeinheit usw.<br />
It’s a spiritual thing; a body thing; a soul thing.<br />
— Eddie Amador<br />
Frühere Poprevolten schleppten diese Kategorien<br />
meist unbedacht mit sich herum<br />
und hingen dergestalt noch mit einem<br />
Bein in der alten Ordnung fest, egal wie<br />
wild sie dagegen aufbegehrten. House<br />
und Techno schienen dagegen tatsächlich<br />
das humanistische Kontinuum zu verlassen.<br />
Und das ohne revolutionäres Gekeife.<br />
Sie waren eine posthumane Musik der<br />
Maschinen und Serien, der Programme<br />
und Codierungen. Hiervon sprachen die<br />
neuen Zeichen, die House und Techno<br />
eingeführt hatten: als Sound, als Design,<br />
als Ausgehverhalten, als Trip, als räumliche<br />
Anordnung der frühen Clubs usw.<br />
Samples<br />
aus der Werkzeugkiste<br />
Das alles fiel <strong>–</strong> zufällig oder nicht <strong>–</strong> mit<br />
der Durchsetzungsgeschichte poststrukturalistischer<br />
Theorie zusammen. Foucault,<br />
Barthes, Lyotard, Butler, Derrida<br />
hatten bereits in den 1970ern begonnen,<br />
Autor, Mensch, Subjekt und »die grossen<br />
Erzählungen» als ideologische Konstruktionen<br />
zu beschreiben, um ihre Abschaffung<br />
fordern zu können. Auch die<br />
klassischen Vorstellungen vom Ganzen<br />
und seiner Einheit gehörten in dieses Ensemble.<br />
Dabei machte die neue Theorie<br />
vor sich selbst nicht halt: Seine Bücher<br />
seien «Werkzeugkisten», meinte Foucault.<br />
Und in dieser Form <strong>–</strong> als Theoriesample<br />
<strong>–</strong> eignete der Poststrukturalismus<br />
sich gut, die neue ästhetische Erfahrung<br />
zu beschreiben. Feedbacks stellten sich<br />
schnell ein: Die Force Inc.-Nachfolgerin<br />
Mille Plateaux benannte sich nach einem<br />
Hauptwerk der Bewegung, einem Buch<br />
von Gilles Deleuze und Félix Guattari,<br />
das seine Leserinnen aufforderte, sie<br />
sollten sich von ihm nehmen, was sie<br />
brauchten. Das erste Kapitel von «Mille<br />
Plateaux» war Ende der Siebziger bereits<br />
als Theorie-Maxisingle ausgekoppelt<br />
worden: das berühmte «Rhizom» (so der<br />
Titel der Einleitung). Nur wenig später<br />
wurde ein Produktionsmittel für elektronische<br />
Musik nach ihm benannt.<br />
House is Chicago music. If I play Run DMC or<br />
New York beat music they’d stop dancing. I like<br />
rap but my crowd on the South Side are serious<br />
House. They won’t accept anything else.<br />
— Tyree Cooper<br />
Die Abschaffung<br />
des Songs<br />
Mit dem Begriff des Rhizoms liess sich<br />
gut beschreiben, wodurch sich die neue<br />
Form des Tracks vom älteren Songmodell<br />
unterschied. Bei Deleuze/Guattari bezeichnet<br />
das Rhizom eine hierarchielose,<br />
offene, polyperspektivische Struktur ohne<br />
Zentrum, in der unendlich viele Verknüpfungen<br />
möglich waren. Sie war der<br />
«Baumstruktur», in der Wissen und Gesellschaft<br />
seit der Antike herrschaftsförmig<br />
organisiert waren, entgegengesetzt.<br />
Analoge Strukturen durchzogen die kapitalistische<br />
Gesellschaft, und das Subjekt<br />
war nur eine davon. Auch der Song war<br />
«als Baum» organisiert. Das Einzelne<br />
hatte dort nur Bedeutung in seiner Beziehung<br />
zum Ganzen. Insofern war auch der<br />
Song ein weiteres Abbild von Herrschaft,<br />
Unterordnung und Abhängigkeit: zwischen<br />
Strophe und Refrain, zwischen Rhythmus<br />
bzw. Sound und Melodie, zwischen<br />
Vordergrund und Hintergrund. Auf diese<br />
Weise war er ein Propagandainstrument<br />
der alten Ordnung. Und die in ihm entworfene<br />
Subjektivität wiederum nur ein<br />
weitere Version des Staates und seiner<br />
Ökonomie. Zwar hatte es in der Popgeschichte<br />
bereits rhizomatische Songwriterinnen-Entwürfe<br />
gegeben (wie Bob<br />
Dylan oder Helge Schneider), aber der<br />
Song war um 1990 zu sehr als Bastion<br />
pophumanistischer Gefühls- und Subjektduselei<br />
erkennbar, um ihn noch retten<br />
zu können. Die, die ihn sangen, korrespondierten<br />
durch ihn mit «dem System».<br />
Er musste also hinab, und es brauchte<br />
eine neue und pophistorisch verbindliche<br />
Form, die dieses Wissen exekutierte.<br />
Der Track war etwas kategorisch anderes<br />
als der Song. Er organisierte Sounds<br />
nicht mehr als Elemente einer linearen<br />
Erzählung oder einer Melodie. Im Track<br />
waren sie bewegliche, umherschweifende<br />
Klangereignisse, die sich eben nicht in<br />
der symbolischen Form von Machtbeziehungen<br />
anordneten. Der Groove, der sie<br />
zusammenhielt, setzte sich anders zu seinen<br />
Elementen in Verbindung, als es der<br />
landläufige Rhythmus tut (insbesondere<br />
in der Lesart von Rock). Damit war der<br />
Track als Organisationsprinzip etwas<br />
Neues. Etwas, das neue Verhältnis entwarf<br />
und sie in neue Bewegungsmuster<br />
übersetzte. Und die musste man/frau sich<br />
erarbeiten. Anfangs klangen sie fremd<br />
und seltsam, kalt und monoton. Die Ohren<br />
mussten sich erst an den Track gewöhnen,<br />
um in der vermeintlichen Monotonie den<br />
Reichtum zu entdecken, und in der Kälte<br />
die post-humane Wärme, das ort- und subjektlose<br />
Glück. Denen, die etwas schwerer<br />
von Begriff waren, bauten die neuen<br />
Drogen psycho-chemische Brücken. Der<br />
Track war auch kein fertiges Kunstwerk.<br />
Wo er auf Tonträgerin festgehalten wurde,<br />
war er nur Ausgangsmaterial für neue,<br />
andere Tracks. Er konnte gesampelt und<br />
remixt werden. DJ/anes konstruieren mit<br />
ihnen ihre Sets, die im Prinzip selbst wiederum<br />
Tracks waren, indem sie sie manipulierten,<br />
über- und ineinander blendeten.<br />
Im Mix erschuf sich der Track ständig<br />
neu. Er konnte einen Abend oder sogar ein<br />
ganzes Wochenende dauern. «The groove<br />
that won’t stop», verspricht der Titel eines<br />
Tracks von Kevin Saunderson. Das war<br />
eine klassische Utopie: das Versprechen,<br />
die Gefängnismauern der verwalteten Welt<br />
der Subjekte niederzureissen. Und genau<br />
so wurde er auch aufgenommen, auch von<br />
denen, die keinerlei poststrukturalistische<br />
Lektüreerfahrungen hatten. Einen kurzen<br />
historischen Moment lang zumindest.<br />
Pop hatte immer wieder davon gelebt,<br />
derlei einleuchtende Freiheitsversprechen<br />
auszugeben. Doch nach einer Weile hatten<br />
sie sich alle mit der schlechten Welt verbacken.<br />
Aus Gegenkultur war Ökokapi-<br />
talismus geworden, aus Pop Kontrollgesellschaft.<br />
Heute hat sich das alte Frei-<br />
heitsversprechen von House längst in<br />
ein kleinlautes Nischendasein verdünnisiert.<br />
Es koexistiert dort friedlich mit<br />
dem schlechten Subjektrock von Indiepop.<br />
Denn um 2000 begann Popge-<br />
schichte sich plötzlich zu wiederholen.<br />
Als gute Marxistin tat sie das aber nicht<br />
mehr als Tragödie, sondern als The-Band-<br />
Schwemme. Bands wie die Strokes waren<br />
all das, was ihnen nachgesagt wurde<br />
(Talking Heads, Velvet Underground etc.)<br />
nur noch in Farce-Form. Parallel dazu<br />
verwässerte sich die alte Abschaffung zu<br />
Electroclash, der Song und Track crossfadete<br />
und weder als das eine noch als das<br />
andere funktionierte.<br />
House ist für mich eine modernere elektronische<br />
Form von Disco, wobei gerne Live-Instrumente<br />
und Vovals mit modernen Beats kombiniert werden<br />
dürfen. Das bringt Soul mit und tut House oft<br />
gut. Nicht zuletzt durch die bpm-Zahl von +/- 120<br />
eignet sich House als besonders gute Tanzmusik.<br />
— Rainer Trüby<br />
Dass die vorübergehende Suspendierung<br />
von Song und Rocksubjektivität nichts<br />
Wesentliches verändert hat, könnte uns<br />
eine Lehre sein. Denn bürgerlich an der<br />
Begeisterung, mit der wir die antibürgerliche<br />
Ästhetik des Tracks aufgenommen<br />
wurde, war doch zu guter letzt das Eine:<br />
der Glaube, dass uns ein Medium erlösen<br />
wird. Dass wir die Verhältnisse nicht än-<br />
dern, sondern nur irgendwie anders ab-<br />
bilden müssen. Dies jedoch ist eine Leitidee<br />
der bürgerlichen Gesellschaft, egal,<br />
ob sie eher die freie Presse, das graswurzelrevolutionäre<br />
Potential des Netzes,<br />
Jimi Hendrix’ Gitarre oder hierarchiefreie<br />
Tracks favorisiert. Möglicherweise steht<br />
bald ja eine neue Poprevolte an, von denen,<br />
die endlich gelernt haben, zwischen Medien<br />
und der Gesellschaft, die sie benutzt, zu<br />
unterscheiden. Aber vielleicht wäre auch<br />
das wieder nur mehr Desselben…<br />
von Frank Apunkt Schneider<br />
Jetzt<br />
tanzen!<br />
Der Schweizer Bruno Spoerri ist ein Pionier<br />
der elektronischen Musik. In seiner<br />
Kindheit in Basel erlernte er das Klavierspiel,<br />
wurde später vom Jazzfieber gepackt<br />
und fand sein Instrument: das Saxophon.<br />
Als erfolgreicher Komponist für<br />
Werbe- und Filmmusik reicherte er seine<br />
Arbeiten bereits in den sechziger Jahren<br />
mit elektronischen Klängen an. Seither<br />
begleiten ihn synthetisch erzeugte Musik.<br />
Noch heute tritt er im Alter von 75 Jahren<br />
regelmässig auf, verzückt das Publikum<br />
mit seiner Vitalität und überrascht mit<br />
elektronischen Klangexperimenten. Für<br />
die <strong><strong>Fabrik</strong>zeitung</strong> hat er sich Zeit genommen<br />
Tanzmusik der letzten 30 Jahre<br />
anzuhören.<br />
Lil Louis & The World: I Called U<br />
( Why’d’ U Fall) (1990)<br />
www.discogs.com/Lil-Louis-The-World-I-Called-U<br />
Was der Künstler hier im Intro mit der<br />
Stimme anstellt, gefällt mir sehr gut.<br />
Es fasziniert mich, wie die Stimme sich<br />
langsam in einen Synthesizerton umwandelt.<br />
Das halte ich für ein gelungenes<br />
Beispiel einer vielversprechenden Idee,<br />
die auch gut umgesetzt wurde. Ehrlich<br />
gesagt habe ich selten so spannende moderne<br />
Elektronikmusik gehört. (wippend)<br />
Dazu müsste man sich bewegen können,<br />
diese Musik treibt mich an. (Shaker setzt<br />
ein) Der Groove gefällt mir immer besser,<br />
dieses Stück langweilt mich trotz der wenigen<br />
Klänge kein bisschen. Diese Art von<br />
klanglicher Reduktion und der überlegte<br />
Aufbau sind bewundernswert. Als Jazzmusiker<br />
tendiert man häufig dazu, das<br />
Publikum mit zu vielen Ideen in kurzer<br />
Zeit zu überfordern. Dem Hörer muss man<br />
Zeit lassen sich in ein Stück hineinzufühlen,<br />
erst dann lohnt es sich mit Variationen<br />
eines Themas zu spielen. Zuviel klangliche<br />
Veränderung ist der Hörbarkeit von<br />
Musik nicht zuträglich. Dabei kann ein<br />
solches Stück gerade durch den wohlüberlegten<br />
Einsatz der wenigen Mittel punkten.<br />
(klopft mit der rechten Hand im<br />
Takt auf das Knie) Und es groovt weiter-<br />
hin unendlich.<br />
Em, Wow. I don’t think that I can say. It’s a hybrid<br />
of the whole Disco thing, you know. It’s not different.<br />
The energy is the same, the only thing that<br />
makes it different NOW is that most of this music<br />
is being made by DJ’s or bedroom producers or<br />
bedroom DJ’s so to speak. That’s what takes the<br />
music downwards. — Frankie Knuckles<br />
Puls und Rhythmus sind mir als Jazzer<br />
natürlich sehr wichtig. Heute findet Jazz<br />
leider eher in geschlossenen Zirkeln statt.<br />
In den sechziger Jahren war diese Musik<br />
aber in erster Linie Tanzmusik. Die Aufgabe<br />
für uns Musiker war es, das Publikum<br />
zum Tanzen zu bringen. Das spürt man<br />
meiner Musik hoffentlich heute noch an.<br />
Tanzmusik wie House aus Chicago<br />
oder Techno aus Detroit habe ich in den<br />
achtziger Jahren überhaupt nicht wahrgenommen.<br />
Ich kam erst viel später mit<br />
dieser Musik in Kontakt. Die Gründe<br />
dafür waren vielfältig. In dieser Zeit habe<br />
ich wirklich sehr viel Werbemusik aufgenommen<br />
und Soundtracks komponiert.<br />
Ich war so gut wie immer beschäftigt.<br />
Neben meinen Aufträgen interessierte<br />
mich in diesen Jahren vor allem die aufkommende<br />
Musiksoftware. So konnte ich<br />
glücklicherweise früh Kontakte mit den<br />
Entwicklern dieser Software in den USA<br />
aufnehmen und lernte mit Begeisterung<br />
neue Wege der Klangerzeugung und<br />
deren Steuerung kennen. Ich habe mich<br />
dabei eher in den Kreisen von Experimentalmusikern<br />
bewegt, die Funktionalität der<br />
Musik stand dabei eher im Hintergrund.<br />
Ich war sogar Gründungsmitglied der<br />
Gesellschaft für Computer Musik in der<br />
Schweiz, in der sich rund fünfzig Mitglieder<br />
organisierten. Wir waren alle in<br />
erster Linie an klanglichen Experimenten<br />
und Improvisation interessiert. Die neuen<br />
Möglichkeiten reizten uns und gaben uns<br />
genug Spielraum für endloses Musizieren.<br />
House music for me is about a multicultural mix.<br />
it’s a part of bringin’ black folks back into the<br />
clubs. That’s what it really means to me. And to<br />
me that’s real important. — Armand van Helden<br />
Delia Gonzalez & Gavin Russom:<br />
Relevee (Carl Craig Remix) (2006)<br />
www.discogs.com/Delia-Gonzalez-Gavin-Russom-Relevee/<br />
release/697839<br />
Diese sich ständig wiederholende Phrase<br />
erinnert mich an das Arbeiten mit den<br />
ersten Computern, die ihre Midi-Noten<br />
unermüdlich an die Synthesizer gesendet<br />
haben. Das war natürlich ein Riesenschritt<br />
in der Entwicklung der elektronischen<br />
Musik. Davor war es wirklich mühsam,<br />
den elektrischen Geräten gute Klänge abzugewinnen.<br />
Meinen ersten elektronischer<br />
Klangerzeuger habe ich mir Mitte der<br />
sechziger Jahre besorgt. Nachdem das<br />
Werbefernsehen eingeführt worden war,<br />
habe ich über 500 Clips vertont. Schnell<br />
habe ich jedoch gemerkt, dass es zentral<br />
ist, sich von den anderen Mitbewerbern<br />
zu unterscheiden. Ich erinnerte mich an<br />
einen Kongress zur elektronischen Musik<br />
in meiner Heimatstadt Basel im Jahr<br />
1955. Da hörte ich bei einem Auftritt von<br />
Oskar Sala zum ersten Mal, wie vielfältig<br />
elektronische Klangerzeugung sein kann.<br />
Vor allem die neuartigen Klänge haben<br />
mich damals fasziniert. Diese klangliche<br />
Erweiterung liess meine Werbeaufträge<br />
noch zahlreicher werden.<br />
They always say it started from the Chicago or Detroit<br />
thing, but to me it’s just regular dance music<br />
<strong>–</strong> it’s disco to me. — Todd Terry<br />
(nach 3 min 45 sec setzt eine gerade Bassdrum<br />
ein) Also das hätte man aber auch<br />
spannender machen können. Diese Einfallslosigkeit<br />
enttäuscht mich, da gibt man<br />
sich soviel Mühe mit der Variation eines<br />
Themas und findet am Schluss rhythmisch<br />
nur zu so einer einfachen Lösung. Die<br />
Signalwirkung «Jetzt tanzen!» scheint mir<br />
etwas abgelutscht zu sein. Aber natürlich<br />
lohnt sich der Versuch, es den Leuten einfach<br />
zu machen. Das Publikum braucht<br />
das manchmal. Obwohl ich grundsätzlich<br />
nichts gegen eine gerade Bassdrum habe,<br />
finde ich häufig schade, sie als Allzweckmittel<br />
einzusetzen. Das Intro ist das Beste<br />
an diesem Werk. Häufig wenn ich elektronische<br />
Musik höre, gefällt mir die Einleitung<br />
in das Stück sehr gut und ich bin<br />
gespannt, wie es weitergeht. Doch dann<br />
wird es oft eintönig und öde.<br />
(nach 8 min 44 sec ertönt eine Klavierimprovisation)<br />
Diese Klavierimprovisation<br />
gefällt mir gut. Ich finde es immer<br />
spannend, wenn die rein elektronischen<br />
Klänge in einem Stück durch akustische<br />
Instrumente angereichert werden. Rein<br />
elektronisch erzeugte Musik empfinde ich<br />
meist als zu wenig lebendig. Bei meinen<br />
Arbeiten war es mir wichtig, den elek-<br />
trischen Klängen Lebendigkeit und Virtuosität<br />
einzuhauchen. Daher habe ich für<br />
meine Arbeiten viel mit Schlagzeugern<br />
zusammengearbeitet. Lange Zeit empfand<br />
ich elektronische Rhythmen als zu leblos<br />
und zu wenig groovig. Die Musik von<br />
Kraftwerk habe ich daher nie gemocht.<br />
Ich habe mich damals sogar zur Aussage<br />
hinreissen lassen, die Musik die Kraftwerk<br />
veröffentlichen, erschaffe ich wenn ich<br />
meine Instrumente stimme. Damit mag ich<br />
etwas über das Ziel hinaus geschossen zu<br />
haben, aber als Jazzer waren mir lebendige<br />
Drums sehr wichtig.<br />
Giorgio Moroder: Evolution (1978)<br />
www.discogs.com/Giorgio-Moroder-Music-From-Battlestar-Galactica-And-Other-Original-Compositions<br />
Die Faszination für das Weltall war eine<br />
Modeerscheinung der auslaufenden siebziger<br />
Jahre. Das lag nicht direkt an der<br />
elektronischen Musik oder an einer allgemeinen<br />
Faszination für den technischen<br />
Fortschritt. Es gab zu jener Zeit einfach<br />
viele gute Science Fiction Filme, die beim<br />
Publikum gut ankamen. Mein Favorit war<br />
«Close Encounters of the Third Kind», die<br />
Filmmusik war elektronisch erzeugt und<br />
hat mich inspiriert. Mein Produzent riet<br />
mir daher, auch auf diesen Zug aufzuspringen<br />
und meinen Produkten auch diesen<br />
kosmischen Stempel aufzudrücken. So<br />
kam es zu meinem Album «Voices Of Taurus»<br />
mit dem galaktischen Cover. Solange<br />
ich meine Musik veröffentlichen konnte,<br />
habe ich bei solchen verkaufsfördernden<br />
Masnahmen gerne mitgemacht.<br />
It was a great movement. It still is in my heart. It<br />
will stay in my heart forever. — DJ Deep<br />
Die Disco-Rhytmen auf «Voices Of Taurus»<br />
waren ganz klar eine Hommage an<br />
den Zeitgeist und die erfolgreichen Tanzplatten.<br />
Die von Giorgio Moroder produzierte<br />
Musical-Sängerin Donna Summer<br />
war mit ihren elektronischen Liebesbeteuerungen<br />
weit oben in den Charts. Als<br />
ich hörte, was sich gerade so verkauft,<br />
dachte ich mir: das kann ich auch. Die<br />
zwei tanzbarsten Stücke auf dem Album<br />
wurden so aus kommerziellen Überlegungen<br />
geschrieben. Wichtig war mir jedoch,<br />
das ich diesem Album mit dem ersten<br />
elektronischen Blasinstrument, dem Lyricon,<br />
Leben einhauchen konnte. Als Saxophonist<br />
empfand ich die Möglichkeit,<br />
Dynamik und Virtuosität in elektronische<br />
Klänge umzusetzen als sehr bereichernd.<br />
It’s all music, man! The thing about house that is<br />
frustrating pour moi is its lack of neophilia and<br />
futurist aspiration. Quite the opposite, in fact:<br />
people who get into house often seem to take<br />
on/buy into this suffocating sense of inheritance<br />
and heritage <strong>–</strong> legacy, tradition, the notion of a<br />
noble past that is long-gone, of declining musical<br />
standards. The culture is always looking back<br />
and honoring its ancestors, rather than looking<br />
forward and desecrating them. — Joe Claussell<br />
Leider war es schwierig, meine Experimentierfreude<br />
auch in meinen Werbearbeiten<br />
umzusetzen. Der Kunde wollte<br />
etwas frisches und überraschendes, doch<br />
oft hatte ich bis zur Abgabe des fertigen<br />
Produkts keine vier Tage Zeit. Dazu kam,<br />
dass ich mich immer um Studiozeit bemühen<br />
musste, um meine Arbeiten auch<br />
aufnehmen und bearbeiten zu können. Daher<br />
entschied ich mich 1974 ein eigenes<br />
Tonstudio zu eröffnen. Doch die Investitionen<br />
für diese Projekte waren enorm,<br />
auch der Zwang das investierte Geld rentabel<br />
nutzen zu können lastete nun auf mir.<br />
Ich gründete daher eine Produktionsfirma<br />
und nahm eigene Künstler unter Vertrag.<br />
Leider traf ich trotz ökonomischer Überlegungen<br />
nie den Geschmack der Masse.<br />
Mit den Aufnahmen von Künstlern wie<br />
Franz Hohler, Toni Vescoli oder Hardy<br />
Hepp habe ich nie Geld verdient. Anfangs<br />
der 80er Jahre musste ich dieses Projekt<br />
beenden und habe mir geschworen nie<br />
wieder als Musikproduzent tätig zu sein.<br />
House music is summed up in 200 pieces of<br />
vinyl. The rest is derivative, just a variation.<br />
— Daniel Wang<br />
Caribou: Bowls (Holden Remix) (2010)<br />
www.discogs.com/Caribou-Bowls/release/2357736<br />
Interessanterweise werde ich heutzutage<br />
häufig zu den Krautrockern gezählt. Das<br />
mag an meiner Zusammenarbeit mit Irmin<br />
Schmidt von Can liegen. Bei den<br />
Krautrockern lagen die Wurzeln aber<br />
klar im Rockbereich und da komme ich<br />
wirklich nicht her. Zur Zeit interessieren<br />
There are no boundaries. — Steve Silk Hurley<br />
sich aber wieder vermehrt mehr Leute<br />
für diese Musik, davon profitiere ich also<br />
auch. Der englische DJ Andy Votel etwa<br />
ist ein Fan meiner Musik und hat zwei<br />
Platten mit verschiedenen meiner Stücke<br />
wieder veröfffentlicht. Ehrlich gesagt<br />
finde ich die anderen Platten auf seinem<br />
Label sehr speziell, was Votel ausgräbt ist<br />
häufig wirklich sehr obskur.<br />
Mit Irmin Schmidt habe ich viel improvisiert,<br />
das Aufnahmegerät lief dabei immer<br />
mit. Viele dieser Aufnahmen waren absolut<br />
unbrauchbar. Andere hingegen tönten<br />
interessant und mit viel Arbeit haben wir<br />
daraus unser gemeinsames Album entstehen<br />
lassen. Bei diesem Stück scheint mir<br />
auch viel experimentiert worden zu sein.<br />
Doch leider ist es meiner Meinung nach<br />
völlig misslungen. Die Klänge scheinen<br />
ganz zufällig einzusetzen und abzubrechen.<br />
Das Stück rumpelt vor sich hin. Im Idealfall<br />
kann das sehr reizvoll sein. Doch hier<br />
passen die einzelnen Spuren nur selten gut<br />
zusammen. Die atonalen Elemente stören<br />
mich. Da hätte man noch viel Arbeit reinstecken<br />
müssen. Heutzutage tönt es eben<br />
im Gegensatz zu früher dank der vielfältigen<br />
Möglichkeiten und der einfach zu bedienenden<br />
Software sehr schnell mal gut.<br />
Um ein ausserordentliches Stück zu erschaffen,<br />
muss man sich jedoch wie auch<br />
früher viel Zeit lassen und auch viel Arbeit<br />
investieren. (Beat setzt ein) Jetzt tönt<br />
es interessant. Ich würde die rhytmischen<br />
Elemente jetzt rausschneiden, das könnte<br />
die Grundlage für ein gutes Stück bilden.<br />
Dieser Künstler war wirklich zu schnell<br />
zufrieden mit seiner Arbeit. Früher konnte<br />
und musste man sich wegen dem grösseren<br />
Zeitaufwand mehr mit der Musik auseinandersetzen.<br />
Da hat man häufig wirklich<br />
House Music ist ein Lebensgefühl. Durch ihre<br />
unvergleichliche Offenheit gegenüber anderen<br />
musikalischen Strömungen ist sie sehr vielseitig<br />
und facettenreich. Ihre Spiritualität und Emotionalität<br />
verleihen dieser Musik eine Bedeutung, die<br />
weit über den Dancefloor hinausgeht. Sie bewegt<br />
tief und kann identitätsstiftend sein. Für mich ist<br />
House Music der Pulsgeber zu meinem eigenen<br />
Rhythmus. — André Lodemann<br />
hart gekämpft mit der Technik. Bis jeder<br />
Klang am richtigen Platz war, verging<br />
viel Zeit. Die beschränkten Möglichkeiten<br />
führten auch oft zu Fehlern und Patzern.<br />
Meist war dies ärgerlich, denn das bedeutete,<br />
dass man die Aufnahme erneut machen<br />
musste. Ab und zu kam es jedoch vor,<br />
dass ein misslungene Arbeit seinen ganz<br />
eigenen Charakter erhielt. So fing mein<br />
Arp 2600 Synthesizer bei einer Liveaufnahme<br />
im Hochsommer 1978 auf einer<br />
Terrasse in Montreux an zu brummen. Die<br />
analogen Bauteile wurden durch die Hitze<br />
so fest erwärmt, dass das Gerät ganz andere<br />
Klänge erzeugte. Beim Anhören der<br />
Aufnahme gefielen mir die angezerrten<br />
Klänge jedoch so gut, dass ich das Stück<br />
unbedingt so veröffentlichen wollte. Ein<br />
solcher Zwischenfall kann natürlich auch<br />
als Glücksfall gesehen werden. Leider<br />
kann man diese Momente nicht mehr<br />
wiederholen. Viele Jahre habe ich auch<br />
Vorträge an Schulen gehalten und habe<br />
jungen Menschen zeigen können, wie einfach<br />
elektronische Musik mit Computern<br />
erzeugt werden kann. Um diese Aufgabe<br />
war ich wirklich froh, denn mein Versuch<br />
als Produzent andere Musiker zu produzieren<br />
war auch eine finanzielle Misere für<br />
mich. Denn mit meiner Leidenschaft, dem<br />
Jazz, konnte ich nie Rechnungen zahlen.<br />
Auf solche Fragen lassen sich eigentlich nur steife,<br />
nörgelnde oder feixende Antworten finden. DJ<br />
Pierre hatte als Replik einst “a unique form” parat,<br />
Frankie Knuckles nannte es die Rache von Disco<br />
im Sparmantel. Technisch: Tanzmusik im Viervierteltakt.<br />
Im schlimmsten Falle unglaublich öde und<br />
dumpf, im Besten Fall zwanglos, freigeistig und angenehm<br />
stumpf. — Gerd Janson<br />
Chic: I Want Your Love<br />
(Tangoterje Edit)<br />
www.discogs.com/Tangoterje-I-Want-Your-Love-Sweet-<br />
Dynamite/release/1269728<br />
Das Editieren einer Aufnahme gehört für<br />
mich wie das Komponieren zum Musikerhandwerk.<br />
Bei vielen meiner eigenen<br />
Stücke denke ich: «Dieses Element sollte<br />
man rausschneiden, loopen und dazu was<br />
Neues erarbeiten». Dabei ist das Gefühl<br />
wichtig, tönt ein Takt oder ein Abschnitt<br />
gut, dann kann man ihn gebrauchen. Auf<br />
diese Art habe ich häufig auch viele Jahre<br />
später noch meine eigenen Werke bearbeitet.<br />
Als Grundlage dienten mir dabei<br />
stundelange Improvisationen, die ich auf<br />
Tonbänder aufgenommen hatte. Ich habe<br />
mit Bruno Repetto gar ein ganzes Album<br />
aufgenommen, auf dem wir alte Ideen<br />
aufgreifen und neu zusammensetzen.<br />
Auch das ist heute durch die Arbeit mit<br />
Computern viel einfacher. Der legendäre<br />
Tonmeister Walter Wettler aus Schlieren<br />
hat mich bereits in den sechziger Jahren