05.04.2014 Aufrufe

Senioren Zeitschrift Frankfurt

Senioren Zeitschrift Frankfurt

Senioren Zeitschrift Frankfurt

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Im Porträt<br />

>> „Die Grünbaums<br />

sind wie meine Familie geworden”<br />

Inge Geiler<br />

Inge Geiler weiß sofort, dass sie einen<br />

bedeutenden Fund gemacht<br />

hat. „Mir war nach zwei Minuten<br />

klar, dass es sich um jüdische Briefe<br />

und Dokumente handelt“, erzählt die<br />

77-Jährige. „Ich war erschüttert und<br />

aufgewühlt zugleich“, sagt sie. Das<br />

war im Sommer 1986. In ihrer Westend-Wohnung,<br />

nur einen Steinwurf<br />

von der Synagoge entfernt, in der<br />

Liebigstraße 27B, findet die damals<br />

51-Jährige hinter der Heizung in der<br />

Wandverkleidung durch einen Zufall<br />

bei Renovierungsarbeiten Fotos,<br />

50 Dokumente, 47 Briefe und acht<br />

Postkarten, die von jüdischen Schicksalen<br />

erzählen. Vier Tage lang sichtet<br />

sie den Fund und erfährt, „dass<br />

hier in meiner Wohnung das Ehepaar<br />

Grünbaum bis zu ihrer Deportation<br />

nach Theresienstadt in großer<br />

Verzweiflung gelebt hat“. Sie ist<br />

fassungslos und wie gelähmt, als sie<br />

die handschriftlich verfassten, persönlichen<br />

Briefe liest. Dennoch sortiert<br />

und säubert sie alles sorgfältig –<br />

und packt es erst einmal in einen<br />

großen Plastiksack, den sie in den<br />

Keller stellt.<br />

„So aufwühlend das für mich war,<br />

konnte ich mich damals noch nicht<br />

damit beschäftigen“, erzählt die<br />

Autorin, die aus dem Fund Jahre<br />

später die fast 500 Seiten starke<br />

Dokumentation „Wie ein Schatten<br />

sind unsere Tage“ (Schöffling & Co.<br />

10 SZ 2/ 2013<br />

Foto: Oliver Schleiter-Hofer<br />

Verlag, <strong>Frankfurt</strong>) verfassen wird.<br />

Sie arbeitet damals noch in der<br />

Zahnarztpraxis ihres Mannes Peter<br />

und kümmert sich um ihre kranken<br />

Eltern. Auch Peter Geiler wird irgendwann<br />

schwer krank und braucht<br />

sie. 20 Jahre sollte es dauern, bis in<br />

Inge Geiler der kriminalistische<br />

Spürsinn erwacht und sie sich an<br />

den Fund heranwagt. „Das Ehepaar<br />

Grünbaum war aber in der ganzen<br />

Zeit gedanklich bei mir.“<br />

Die „Initiative Stolpersteine“, ein<br />

Projekt des Künstlers Gunter Demnig,<br />

bringt sie dazu, die blaue Mülltüte<br />

2007 wieder aus dem Keller<br />

hoch in ihre Wohnung zu holen. Betonquader<br />

mit einer Messingplatte<br />

und den Namen von neun ehemaligen<br />

jüdischen Hausbewohnern sollen<br />

vor ihrem Haus verlegt werden.<br />

Die Grünbaums sind nicht dabei.<br />

„Ich wollte ihre Geschichte sichtbar<br />

machen“, beschreibt Inge Geiler ihre<br />

Motivation. Drei Monate lang studiert<br />

sie die Unterlagen und schreibt<br />

die zum Teil stark verschlissenen<br />

Papiere und Brieffetzen ab. „Das war<br />

aufregend und hat mich unglaublich<br />

gefesselt. Ich wollte wissen, um welche<br />

Familie es sich handelt.“ Sie ist<br />

wie besessen, fühlt sich getrieben.<br />

„Jeder Gedanke war beherrscht von<br />

der Familie Grünbaum.“ Auch im<br />

stressigen Alltag mit ihrem schwer<br />

kranken Mann. Mit ihm spricht sie<br />

viel über die schreckliche Nazizeit.<br />

Er ist zwölf Jahre älter als sie und<br />

hat den Krieg als Soldat unter anderem<br />

in Frankreich und Italien erlebt.<br />

Als Peter Geiler 2009 stirbt, beginnt<br />

für seine Frau ein neuer Lebensabschnitt.<br />

Jetzt kann sie für<br />

ihre Recherchen zu Archiven und<br />

Standesämtern reisen, sie sucht in<br />

Geburts- und Sterberegistern nach<br />

Daten der Familie. Stück für Stück<br />

setzt sie das Bild der großen Familie<br />

zusammen, von ihren Ursprüngen in<br />

Geisa und Forchheim bis in die USA,<br />

wo heute noch die Nachfahren der<br />

weitverzweigten Familie leben. Sie<br />

bekommt Tipps, wer sich auch mit<br />

der Herkunft von jüdischen Familien<br />

beschäftigt und tauscht sich mit<br />

Stammbaumforschern und Historikern<br />

aus. „Ich bin immer mehr in<br />

den jüdischen Alltag und in die Familiengeschichte<br />

eingetaucht“, erzählt<br />

sie. Sie erfährt Details von den<br />

schrecklichen Repressalien gegen<br />

die Juden: Sie dürfen sich nicht<br />

mehr frei bewegen, kein Radio hören,<br />

kein Telefon benutzen, ihre Geschäfte<br />

werden zerstört. „Diese grauenhaften<br />

Demütigungen, ständig<br />

verfolgt zu werden – das hat mich<br />

permanent beschäftigt. Wie können<br />

Menschen das verkraften?“ Die Grünbaums<br />

waren immerhin beide um<br />

die 80 Jahre alt. „Ich habe mich oft gefragt,<br />

was ich damals wohl gemacht<br />

hätte?“ Eine eindeutige Antwort hat<br />

sie auf diese Frage bis heute nicht.<br />

„Ich wollte ihre<br />

Geschichte sichtbar machen“<br />

Inge Geiler leidet still mit den<br />

Schicksalen mit. Was ihr zeitweise<br />

sehr zu schaffen macht: Sie kann mit<br />

niemanden aus ihrem Freundeskreis<br />

darüber sprechen. „Die meisten<br />

konnten nicht nachvollziehen,<br />

was diese Entdeckung hinter der<br />

Wandverkleidung mit mir gemacht<br />

hat.“ Deshalb schneidet sie das Thema<br />

privat nicht mehr an und arbeitet<br />

für sich weiter an der Dokumentation,<br />

die sich mehr und mehr zu<br />

einem großen Biografie-Projekt entwickelt.<br />

Das <strong>Frankfurt</strong>er Institut für<br />

Stadtgeschichte, dem Inge Geiler ihren<br />

Fund übergeben hat, hatte sie<br />

2008 mit dieser Dokumentation<br />

beauftragt. „Ich bin aber keine Schriftstellerin“,<br />

betont die Autorin. Sie will<br />

authentisch bleiben und hält sich eng<br />

an die Tatsachen. Fünf Jahre lang dauern<br />

die emotional zum Teil sehr aufreibenden<br />

Recherche- und Schreibarbeiten.<br />

„Ich musste zwischendurch immer<br />

wieder Pausen einlegen, weil mich<br />

die Details der Gesetze zur Judenverfolgung<br />

sehr mitgenommen haben.“

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!