FUTURES
Publikation zum 2. Jubiläum von PLATFORM3 München, als Ergänzung zum Künstlerkatalog PLATFORM3 works. Die Natur dieser Publikation ist ausdrücklich dokumentarisch. Fotografien: Jörg Koopmann. Herausgeber: Birgit Pelzmann, Nikolai Vogel, Marlene Rigler für PLATFORM3-Räume für zeitgenössische Kunst. München, 2011
Publikation zum 2. Jubiläum von PLATFORM3 München, als Ergänzung zum Künstlerkatalog PLATFORM3 works. Die Natur dieser Publikation ist ausdrücklich dokumentarisch. Fotografien: Jörg Koopmann.
Herausgeber: Birgit Pelzmann, Nikolai Vogel, Marlene Rigler für PLATFORM3-Räume für zeitgenössische Kunst. München, 2011
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Monsieur&Madame Magritte gestatteten ihm jedoch erst,<br />
unter freiem Himmel zu malen, als René glaubhaft versichern<br />
konnte, dass er in der Lage sei, ohne fremde Hilfe auf die Toilette<br />
zu gehen. Diese Form der Selbstständigkeit war in den vier Augen<br />
von Monsieur&Madame eine Voraussetzung, um unbeaufsichtigt<br />
Talente zur Blüte zu bringen. Sobald René die Kontrolle über<br />
seine Ausscheidungsorgane übernommen hatte, setzte er sich<br />
auf einen der Rasenstreifen zwischen den Müll und die parkenden<br />
Autos und porträtierte seine Umgebung in all ihren bizarren<br />
Details. Er malte die Wohnhäuser, das Einkaufszentrum mit seinen<br />
Konsumenten, den Wohnturm und das Haus der Silberrücken.<br />
Eines Tages jedoch verspürte René während des Malens<br />
einer vierköpfigen Familie, die in einem Einkaufswagen saß, der<br />
von nichts anderem als ihrer Puste in Bewegung versetzt wurde,<br />
das dringende Bedürfnis, sich zu erleichtern. Er war umsichtig<br />
genug, damit ja nichts passiere, Vater&Mutter der Familie, die er<br />
gerade schuf, vorerst kopflos zu lassen, obgleich die Puste der<br />
Kinder kaum ausreichen würde, um Fahrt aufzunehmen. Eiligen<br />
Schrittes begab er sich zu dem Gebäude, das die elterliche<br />
Wohnung mitsamt seinem früheren Arbeitsplatz beherbergte,<br />
und rief per Knopfdruck den Lift. Sein Bedürfnis wurde im Nu so<br />
heftig, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als von einem Fuß auf<br />
den anderen zu steigen. Da das Haus über siebzig Stockwerke<br />
verfügte, dauerte es unendlich lange, bis der Lift unten angekommen<br />
war. René gelang es nur, seinen Drang einigermaßen in<br />
den Griff zu bekommen, indem er sich während der Fahrt mit zwei<br />
Fingern dort kniff, wo er aufzuplatzen drohte. Der Schmerz, den<br />
er sich auf diese Weise zufügte, lenkte ihn vorübergehend von<br />
seinem Harndrang ab. Das alles nutzte jedoch nichts, weil sich<br />
die Wohnung der Magrittes im einundsechzigsten Stockwerk<br />
befand, und der Lift noch langsamer hinauffuhr, als er heruntergekommen<br />
war. René hätte gleich unten bleiben können,<br />
so aber stand er mit tropfendem Hosenbein vor der elterlichen<br />
Wohnungstüre.<br />
Madame&Monsieur Magritte verboten ihm die nächsten<br />
Wochen über, auf einem der Rasenstreifen nach der Natur zu<br />
malen. Dieses Verbot blieb solange aufrecht, bis René sie davon<br />
überzeugen konnte, dass so etwas nie wieder passieren würde.<br />
Und wirklich, er verhielt sich besonnener. Zunächst ver -<br />
zichtete René beim petit déjeuner auf den Cognac in seinem<br />
Café, vormittags dann auf das anempfohlene Glas Wein. Darüber<br />
hinaus malte er fortan ganz in der Nähe des Aufzugs und achtete<br />
auf das geringfügigste Anzeichen von Urgenz, was in der Sprache<br />
der damaligen Zeit soviel hieß wie dringend aufs Klo zu müssen.<br />
Bereits bei der leisesten Ahnung warf er den Pinsel, ungeachtet<br />
der Tatsache, dass die Landschaft, die er gerade malte und die sich<br />
merkwürdigerweise einem Blick in den Innenraum darbot, noch<br />
über keinerlei Beleuchtung verfügte, von sich und flitzte los Richtung<br />
Lift. Auf den ersten paar Schritten musste René jedoch mitansehen,<br />
wie die Lifttüre gemächlich zuging. Als er die verschlossene<br />
Türe erreicht hatte und mit seinen zarten Malerhänden dagegen<br />
hämmerte, antwortete sie mit metallenem Pumpern. Der Lift befand<br />
sich bereits auf dem Weg nach oben.<br />
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Wieder dauerte es mehrere Wochen, bis René ein neuerliches<br />
d’accord erhielt, auf einem der Rasenstücke zu arbeiten.<br />
Zunächst hatten Madame&Monsieur Magritte gar gemeint, eine<br />
nächste Chance komme nicht mehr in Frage, denn offenbar habe die<br />
Malerei etwas mit seiner fortwährenden Beflecktheit zu tun. Renés<br />
aufrichtiges Bemühen, seine Bereitschaft, auf die Einnahme jeglichen<br />
stimulierenden Getränks zu verzichten, was ihm gelegentliche<br />
Entzugserscheinungen bescherte, stimmten Madame&Monsieur<br />
schließlich um. Einen Beitrag dazu leisteten nicht zuletzt die Siedlungsbewohner,<br />
die sich an den malenden Knaben mit dem verkniffenen<br />
Gesichtsausdruck gewöhnt hatten.<br />
Mit strenger Miene erinnerten Madame&Monsieur ihren<br />
Sohn daran, was auf dem Spiel stand, aber das wusste René allemal,<br />
und er betrat den Hof der Siedlung wie Adam&Eva den Garten Eden<br />
betreten hätten, hätte man ihnen, nach der Geschichte mit dem Apfel,<br />
noch ein letztes Mal Einlass gewährt. René schwor bei all seinen<br />
Vorbildern und zukünftigen Nachfolgern, diese Chance zu nutzen.<br />
Als erste Vorsichtsmaßnahme verlagerte er seinen Arbeitsplatz,<br />
ungeachtet der intensiv riechenden Tonnen mit Bioabfällen,<br />
auf ein Rasenstück in unmittelbarer Nähe des Aufzugs. In der Folge<br />
berechnete er den Zeitpunkt, an dem sich das Quäntchen Feuerwasser,<br />
das er heimlich zu sich nahm, ungefähr melden würde. Wenn<br />
es soweit war, beendete er mit ein paar flinken Strichen die Propeller<br />
an den Köpfen der schwarzen Vögel auf seiner Leinwand, die auf<br />
dem benachbarten Rasenstück Zigarettenstummel rauchten, legte<br />
den Pinsel beiseite und ging gemächlich Richtung Lift. Erst auf den<br />
letzten paar Metern begann er zu traben, um nicht unnötig Zeit zu<br />
verlieren. Selbst wenn der Lift sich im obersten Stockwerk befände,<br />
müsste sich diesmal alles bequem ausgehen.<br />
Auf dem Zettel, der an der Aufzugtür hing, las René, die<br />
Wartung werde höchstens bis nach dem Mittagessen dauern.<br />
In seiner Verzweiflung beschloss er, es so zu machen, wie er es bei<br />
Remy beobachtet hatte. Der schlaue Hund suchte sich ein halbwegs<br />
dichtes Gebüsch, und René fand eines, vor dem an diesem<br />
Tag das Lieferauto des Einkaufszentrums parkte. Ausgerechnet als<br />
er mit seinem Geschäft begann, brach es jedoch zu einer Lieferung<br />
auf, und der ständig nüchterne Hausmeister packte René am<br />
Kragen und kündigte dienstübereifrig an, er werde ihn unverzüglich<br />
Madame&Monsieur aushändigen, damit er eine strenge Strafe<br />
erhalte. Mit der Malerei en plein air war es nunmehr endgültig vorbei,<br />
und dem heranwachsenden Künstler blieb nichts anderes übrig,<br />
als sich darauf zu besinnen, dass man auch bei einem Blick aus dem<br />
Fenster in seinem Kopf zu sehen bekommt, wie es draußen zugeht<br />
oder zugehen wird oder zugehen könnte. Hatte er sich nicht auch<br />
angesichts des natürlichen Beschaffenseins so vieler Dinge seinen<br />
eigenen Reim darauf gemacht?<br />
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