Aktueller Gemeindebrief (Mai-Juni) - in der deutschsprachigen ...

FÜR SIE GELESEN
Ulrich Wickert
Neugier und Übermut
Verlag Hoffmann und
Campe 2012
ISBN 13:978-3455502770
Geb. 22.99 €
Man möchte dabei
gewesen sein: beim Treffen
mit dem Bruder des
Kaisers von China, beim
Tennis mit Arthur Miller
und dem Kaffee mit
Meryl Streep. Man
möchte zugehört haben
bei den Gesprächen mit Kanzlern und Außenministern,
mit Schriftstellern, Malern
und Käseherstellern. Neugier brauchte Ulrich
Wickert gewiss, um auf alle die
Menschen, die er traf, zuzugehen, und
manchmal war auch auch eine Portion
Übermut hilfreich, vor allem in jüngeren
Jahren, um es überhaupt zu wagen, sich
den Größen der Zeit zu nähern.
Wickerts Elternhaus und seine besonderen
Lebensumstände haben ihm den
Weg geebnet. Wenn man als Sohn eines
Diplomaten in Tokio geboren wurde, in
Frankreich zur Schule gegangen ist und in
den USA studiert hat, kann es einem nicht
allzu schwer fallen, weltoffen zu sein und
Türen zu öffnen. Dass er auch ein empathischer
Zuhörer ist, der es versteht,
Zungen zu lösen und Herzen zu öffnen, ist
selbstverständlich. Wie sonst hätte er in
seinem Buch fünfzig Jahre Zeitgeschichte
auf so interessante und vielfältige Weise
festhalten können!
Ulrich Wickert, 1942 geboren, ist einer
der interessantesten deutschen Journalisten,
in Deutschland hauptsächlich als
langjähriger Moderator der Tagesthemen
bekannt, aber auch als Autor von Büchern
wie Der Ehrliche ist der Dumme oder
Gauner muss man Gauner nennen
(hier besprochen).
Das vorliegende Werk über „die
Menschen, die er traf“, ist gespickt mit
Anekdoten. Wie jene, in der Wichert
einem Kollegen zeigt, wie man in Paris als
Fußgänger über die vielbefahrene Place de
la Concorde kommt: Man muss sich nur
voraussehbar verhalten, also nicht anhalten,
sondern in gleicher Geschwindigkeit
nach vorn gehen. Dann kann der Autofahrer
es sich überlegen, ob er vor oder
hinter dem Fussgänger vorbeifährt. Oder
die Geschichte von der falschen Augenfarbe
in Ionescos Pass. Oder die von dem
alten Brasilianer, der einen „Friedenssatelliten“
bastelte, der tatsächlich abgeschossen
wurde und seitdem Friedensbotschaften
von sechstausend Kindern ins
All sendet. Von den politischen Porträts
sticht besonders das von Hans-Dietrich
Genscher und seiner Arbeit als Außenminister
hervor. Überhaupt kann man viel
an jüngerer Geschichte lernen oder sich ins
Gedächtnis zurückrufen.
Ein rundherum interessantes Buch.
AS
Mai — Juni 2013 23