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Cicero 10 Jahre (Vorschau)

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Nº05<br />

MAI<br />

2014<br />

€ 8.50<br />

CHF 13<br />

Das Beste kommt noch<br />

Zehn gute Gründe,<br />

warum Europa<br />

eine goldene Zukunft hat<br />

Das Jubiläumsheft<br />

mit Beiträgen von Michael<br />

Ringier, Wolfram Weimer und<br />

Michael Naumann<br />

Ihr seid die Besten!<br />

Deutschlands Bosse<br />

danken ihren<br />

Arbeitnehmern<br />

Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €<br />

Spanien: 9.50 €, Finnland: 12.80 €<br />

05<br />

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ATTICUS<br />

N°-5<br />

DIE MEISTERLEISTUNG<br />

Illustration: Anja Stiehler/ Jutta Fricke Illustrators<br />

Am Anfang des modernen Europas<br />

stand ein Mord. Nachdem der serbische<br />

Nationalist Gavrilo Princip den österreichischen<br />

Thronfolger Herzog Franz<br />

Ferdinand und dessen Frau am 28. Juni<br />

1914 in Sarajevo erschossen hatte, entschlossen<br />

sich die Fürsten und Premiers<br />

des alten Kontinents zum Krieg aller gegen<br />

alle. Sie und ihre Bürger waren – in<br />

den Worten Thomas Manns – „friedenssatt“.<br />

Der folgende Weltkrieg endete nach<br />

<strong>Jahre</strong>n des diplomatischen, tribalistischen<br />

und ideologischen Wahnsinns im Grunde<br />

genommen erst mit der deutschen Niederlage<br />

im Mai 1945. Über <strong>10</strong>0 Millionen<br />

Tote und Invaliden fielen dem bewaffneten<br />

Nationalismus, dem imperialistischen,<br />

rassistischen und totalitären Größenwahn<br />

des Kontinents zum Opfer. Deutschlands<br />

historische Verantwortungslast ist in den<br />

Nachbarstaaten unvergessen. Seine Politiker,<br />

die in diesen Tagen nach einem europäischen<br />

„Narrativ“ fahnden, können<br />

jederzeit auf den Tausenden Soldatenfriedhöfen<br />

zwischen Moskau und Sizilien mit<br />

der Suche beginnen.<br />

Doch der Hinweis auf die politische<br />

Meisterleistung der Europäischen Union,<br />

über ein halbes Jahrhundert hinweg den<br />

europäischen Frieden in wachsendem<br />

Wohlstand bewahrt zu haben, verschlägt<br />

bei vielen deutschen Wählern nicht mehr.<br />

Die Verfassungsrichter in Karlsruhe fürchten<br />

um Kompetenzverluste zum Vorteil<br />

des Europäischen Gerichtshofs. Die Abgeordneten<br />

im Bundestag warnen vor einer<br />

Verletzung ihrer Budgethoheit. Die Bundesbank<br />

trauert ihrer verlorenen Machtstellung<br />

nach. Die populistischen Euroskeptiker<br />

mobilisieren die deutsche<br />

Inflationsangst. Dass das Europaparlament<br />

( Porträt seines Präsidenten Martin Schulz<br />

ab Seite 62 ) inzwischen mit dem Lissabon-<br />

Vertrag zahlreiche neue, demokratisch legitimierte<br />

Mitbestimmungsrechte behauptet,<br />

ist mehr oder weniger unbekannt. Die meisten<br />

Bürger sind „europasatt“.<br />

Die Staatsidee der Bundesrepublik<br />

setzt sich zusammen aus sozialer Wohlstandssicherung,<br />

Rechtsstaatlichkeit<br />

und Wachstumspolitik. Das reicht aber<br />

nicht. Die Europäische Union hat mehr<br />

anzu bieten: die Freiheit ihrer Bürger,<br />

die nicht mehr an Landesgrenzen endet<br />

( zehn Gründe, warum Europa eine goldene<br />

Zukunft hat ab Seite 22 ). Nur eines<br />

findet sich nicht in ihren bisweilen lästigen<br />

Vorschriftskatalogen – das Recht auf<br />

Vergesslichkeit, auf engstirnige Verdrängung<br />

ihrer eigenen Herkunft aus Mord<br />

und Totschlag. Das moderne Europa ist<br />

ein Glücksfall der Geschichte. Wer sie<br />

nicht kennt, wird im Pech landen.<br />

Mit besten Grüßen<br />

MICHAEL NAUMANN<br />

war von 20<strong>10</strong> bis 2012 Chefredakteur von<br />

<strong>Cicero</strong> und führt anlässlich des Jubiläums<br />

in diese Ausgabe ein. Der ehemalige<br />

Kulturstaatsminister ist heute Direktor der<br />

Barenboim-Said-Akademie<br />

3<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

14<br />

DAS JUBILÄUM<br />

Vor zehn <strong>Jahre</strong>n erschien<br />

<strong>Cicero</strong> zum ersten Mal. Mit dem<br />

Magazin für politische Kultur<br />

wurde ein neues Genre in<br />

Deutschland etabliert. Verleger<br />

Michael Ringier denkt auf<br />

den Jubiläumsseiten über die<br />

Zukunft des Journalismus nach.<br />

Atticus und Postscriptum<br />

schreiben die zwei ehemaligen<br />

Chefredakteure Michael<br />

Naumann und Wolfram Weimer<br />

03<br />

MICHAEL NAUMANN<br />

Europa hat mehr zu<br />

bieten als die Bundesrepublik:<br />

Nicht nur<br />

Frieden, sondern Freiheit<br />

über Grenzen hinweg<br />

Illustration: Martin Haake<br />

22<br />

ZEHN GRÜNDE, WARUM EUROPA<br />

EINE GOLDENE ZUKUNFT HAT<br />

Am 25. Mai ist Europawahl, und die EU-Skeptiker<br />

dürften an Zustimmung gewinnen. Eine gute<br />

Gelegenheit, um die Vorzüge und Errungenschaften<br />

unserer europäischen Gemeinschaft zu würdigen<br />

24 01. FRIEDEN – Von JANUSZ REITER<br />

26 02. LANDSCHAFTEN – Von WOLFGANG BÜSCHER<br />

27 03. WOHLSTAND – Von ALAIN MINC<br />

28 04. EINFALLSREICHTUM – Von BENOÎT BATTISTELLI<br />

30 05. DEMOKRATIE – Von KAREL HVÍŽĎALA<br />

32 06. KULTUR – Von CHRISTOPH STÖLZL<br />

33 07. KÜCHE – Von JUAN AMADOR<br />

34 08. RECHT UND ORDNUNG – Von RUPERT SCHOLZ<br />

36 09. BENUTZERFREUNDLICHKEIT – Von GÜNTER VERHEUGEN<br />

38 <strong>10</strong>. JUGEND – Von JANNE TELLER<br />

14<br />

MARKUS C. HUREK<br />

Von den ersten Ideen<br />

bis zum Bundes verfassungsgericht:<br />

Kleine<br />

Gründungs geschichte<br />

eines politischen Magazins<br />

20<br />

MICHAEL RINGIER<br />

Die digitale Euphorie hat<br />

viele Journalisten<br />

verunsichert. Grundlos,<br />

denn das gedruckte Wort<br />

hat seinen Wert<br />

138<br />

WOLFRAM WEIMER<br />

In einer Zeit, in der der<br />

Opportunismus<br />

triumphiert, lädt<br />

<strong>Cicero</strong> zum autonomen<br />

Denken ein<br />

5<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />

40 DIE GUMMISOHLEN DER MACHT<br />

Reinhard Kardinal Marx verfügt über<br />

ein effektives Instrumentarium<br />

Von SOPHIE DANNENBERG<br />

42 POLITIK MACHT LANGWEILIG<br />

Drei <strong>Jahre</strong> als Baden-Württembergs<br />

Integrationsministerin haben<br />

Bilkay Öney gezeichnet<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

44 DAS SCHLÜSSELKIND<br />

Jacob Appelbaum ist der Mann,<br />

der in Snowdens Daten Merkels<br />

Handynummer fand<br />

Von PETRA SORGE<br />

47 FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… ob Individualisten in<br />

Gruppen reisen sollten<br />

Von AMELIE FRIED<br />

48 IN PUTINS BURG<br />

Ukrainekrise? In der russischen<br />

Botschaft speist man „Hering<br />

unterm Pelzmantel“<br />

Von WERNER SONNE<br />

52 SMOG RAUBT DIE SICHT<br />

Alles wissen, nichts verstehen: Das<br />

ist die Formel der Netz-News<br />

Von FRANK A. MEYER<br />

54 SALZ, SONNE UND MEER<br />

Die Grünen brauchen ein<br />

Freiheitskonzept, das an<br />

Albert Camus anknüpft<br />

Von FRANZISKA BRANTNER und<br />

ROBERT HABECK<br />

44<br />

Jacob Appelbaum, Gesicht der<br />

digitalen Bürgerrechtsbewegung<br />

58 DER UNHEIMLICHE HERR MODI<br />

Narendra Modi will Indien<br />

regieren. Wenn da nur nicht seine<br />

dunkle Vergangenheit wäre<br />

Von BRITTA PETERSEN<br />

60 „ICH WOLLTE DEN<br />

POSTEN NICHT“<br />

Hala Shukrallah ist die erste Frau,<br />

die in Ägypten einer Partei vorsteht<br />

Von JULIA GERLACH<br />

62 DER DOPPELTE SCHULZ<br />

Martin Schulz will Chef der EU-<br />

Kommission werden. ​Ist der<br />

Polterer dafür geeignet?<br />

Von CONSTANTIN MAGNIS<br />

66 TÖTEN FÜR DEN TERRORSTAAT<br />

Attentate im Irak, Massaker in<br />

Syrien, Autobomben im Libanon –<br />

Ableger des Terrornetzwerks Al<br />

Qaida sind aktiver denn je<br />

Von WILLIAM J. DOBSON<br />

70 PUTIN = HITLER?<br />

Ist der deutsche Einmarsch im<br />

Sudetenland vergleichbar mit der<br />

russischen Annektierung der Krim?<br />

Von PHILIPP BLOM<br />

72 DIE PRÄSIDENTENMACHER<br />

Das Duell in der Ukraine: Neben<br />

den Kandidaten spielen deren<br />

Berater eine entscheidende Rolle<br />

Von MORITZ GATHMANN<br />

76 MÖRDERISCHE MAUER<br />

An der Grenze zwischen Mexiko und<br />

den USA sterben täglich Menschen.<br />

Gleichzeitig blüht die Kultur<br />

Von STEFAN FALKE<br />

72<br />

Wer die Ukraine regieren will,<br />

braucht erst mal gewiefte Berater<br />

86 DIE WEGSEHERIN<br />

CSU-Politikerin Dagmar Wöhrl feiert<br />

sich als Helferin der Armen. Dabei<br />

arbeitet sie für eine Schweizer Bank,<br />

mit der Reiche den Staat schröpften<br />

Von TIL KNIPPER<br />

88 ADIDAS, PUMA, NIKE UND WIR<br />

Jochen und Mathias Mieg sind<br />

die Hersteller des Kultspiels Tipp-<br />

Kick, das ausgerechnet im WM-<br />

Jahr aus der Mode zu geraten droht<br />

Von BENNO STIEBER<br />

90 DANKE, LIEBE ARBEITERSCHAFT!<br />

Die Wirtschaft wächst und wächst,<br />

auch dank der Arbeitnehmer.<br />

Allerhöchste Zeit für eine<br />

Würdigung durch die Chefs –<br />

pünktlich zum 1. Mai<br />

Von MARGRET SUCKALE, DIRK ROSSMANN,<br />

NICOLA LEIBINGER-KAMMÜLLER,<br />

BURKHARD SCHWENKER, ANTON<br />

F. BÖRNER, MATTHIAS WISSMANN und<br />

WOLFGANG GRUPP<br />

90<br />

Nicola Leibinger-Kammüller<br />

baut Maschinen für die Welt<br />

Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong>, Thomas Bernhardt/VISUM; Illustration: Jens Bonnke<br />

6<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


STIL<br />

SALON<br />

CICERO<br />

STANDARDS<br />

Fotos: Langston Hues, Beowulf Sheehan/Corbis, privat<br />

96 SIE MACHT ES STIMMIG<br />

Wie viel zählt die Stimme?<br />

Luise Helm, Synchronsprecherin<br />

im Film „Her“, weiß es<br />

Von LENA BERGMANN<br />

98 SIE SPIELEN ​<br />

MIT KONFLIKTSTOFF<br />

Eine modehungrige Generation<br />

verschleierter Musliminnen<br />

interpretiert das Kopftuch neu<br />

Von KATHARINA PFANNKUCH<br />

<strong>10</strong>4 ECHT WOW!<br />

Joop – vom bissigen, belesenen<br />

Modedesigner zur Fernsehnase<br />

in Heidi Klums Zickenkrieg<br />

Von ANKE SCHIPP<br />

<strong>10</strong>6 „MERKEL FRISIERT<br />

SICH EINE KRONE“<br />

Steen T. Kittl ist Experte für Haare.<br />

Ein Interview über Powermähnen,<br />

Kopfformen und färbende Männer<br />

Von LENA BERGMANN<br />

<strong>10</strong>8 WARUM ICH TRAGE,<br />

WAS ICH TRAGE<br />

Als rauchender Vamp macht<br />

man ein Versprechen<br />

Von KATRIN BAUERFEIND<br />

98<br />

Alaa Elharezi aus Chicago trägt<br />

Konfliktstoff<br />

1<strong>10</strong> IHRE EPEN SIRREN KRAFTVOLL<br />

An einem ihrer vielschichtigen Romane<br />

schreibt Donna Tartt ein Jahrzehnt lang<br />

Von PETER HENNING<br />

112 HEY, WIDERSPRICH MIR DOCH<br />

Der Sänger Jan Delay ist ein<br />

Großmeister der Gegensätze<br />

Von THOMAS WINKLER<br />

114 „EIN ZIVILISATIONSBRUCH“<br />

Der Historiker Jörg Friedrich<br />

im Gespräch über die globale<br />

Dimension des Ersten Weltkriegs<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

120 AM ANFANG WAR DER RAUB<br />

Die Fälle Gurlitt und<br />

Welfenschatz beleuchten die<br />

Zukunft der Museen<br />

Von BEAT WYSS<br />

122 DAS LEBEN IST EIN PONYKOPF<br />

Was ist los im Zoo von<br />

Kopenhagen? Ein Spaziergang ​<br />

unter Fleischfressern<br />

Von MARIE AMRHEIN<br />

126 LITERATUREN<br />

Bücher von Patricia Highsmith,<br />

Andreas Bernard, Dorothee Elmiger,<br />

Aaron James und David Levithan<br />

132 BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />

Der Sprecher und Schriftsteller Gert<br />

Heidenreich lernte aus Büchern<br />

die Grammatik der Liebe<br />

Von EVA GESINE BAUR<br />

136 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />

In der Pampa hoch zu Pferd<br />

Von HORTENSIA VÖLCKERS<br />

1<strong>10</strong><br />

Donna Tartt schrieb zehn <strong>Jahre</strong><br />

an dem Roman „Der Distelfink“<br />

03 ATTICUS<br />

Von MICHAEL NAUMANN<br />

08 STADTGESPRÄCH<br />

<strong>10</strong> FORUM<br />

12 IMPRESSUM<br />

138 POSTSCRIPTUM<br />

Von WOLFRAM WEIMER<br />

Der Künstler<br />

Eigentlich ist es eine<br />

Aufgabe zum Scheitern.<br />

Für unser Titelthema<br />

Europa baten wir den<br />

Berliner Künstler Martin<br />

Haake um die Illustration<br />

von zehn Begriffen, die<br />

teils so sperrig klingen wie<br />

Rechtsstaatlichkeit oder<br />

Benutzerfreundlichkeit.<br />

All das noch in Verbindung<br />

mit der EU! Unzählige<br />

Brüsseler Protagonisten<br />

mühen sich doch vergeblich<br />

seit Jahrzehnten<br />

damit ab, Europa fassbar,<br />

fühlbar, erfahrbar zu<br />

machen. Umso glücklicher<br />

waren wir, als uns Martin<br />

Haake seine Illustrationen<br />

schickte. Spielerisch und<br />

detailreich. Realistisch<br />

und dann wieder abstrakt.<br />

Zum Geheimnis seiner<br />

Arbeit gehört, dass er ins<br />

Zentrum seiner Collagen<br />

Menschen stellt. Um sie<br />

herum platziert er Farben<br />

und Ideen. Die EU sollte<br />

ihn anwerben: Martin<br />

Haake, Kommissar für ein<br />

sinnliches Europa.<br />

7<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Ein Ehepaar übt Rollentausch, Herr Lindner lässt sich umwerben, ein<br />

CSU‐Minister spricht Klartext und Frau Merkel verblüfft Gesprächspartner<br />

Wuttke und Broich:<br />

Die Familie ermittelt<br />

Ehrungen:<br />

Liberaler Grünkohl<br />

Bundestagskarossen:<br />

Mercedes ausgebremst<br />

Die Rolle des Leipziger „Tatort“-<br />

Kommissars Andreas Keppler<br />

muss Martin Wuttke zum Leidwesen<br />

seiner Fangemeinde aufgeben. Die Ermittlerrolle<br />

bleibt aber in der Familie,<br />

denn Margarita Broich, die zukünftige<br />

Frankfurter „Tatort“-Kommissarin,<br />

ist Wuttkes Ehefrau. Sie geriet in die<br />

Schlagzeilen, weil sie auf den Namen<br />

einer von den Nazis nach Theresienstadt<br />

deportierten Jüdin hören sollte,<br />

was zum Glück rechtzeitig revidiert<br />

wurde. Das Theatertier Wuttke weiß<br />

seinen neuen Freiraum schon zu nutzen.<br />

An der Berliner Volksbühne hat<br />

er einen Abend nach Honoré de Balzac<br />

gestaltet, in dem er selbst die Hauptrolle<br />

spielt: einen Sträfling und Parvenü<br />

mit vielen Identitäten. Bei Balzac<br />

heißt dieser Emporkömmling „Trompela-Mort“<br />

– „Täusche den Tod“. Wuttkes<br />

Stück, das in diesen Tagen Premiere<br />

hat, heißt „Trompe-l’amour“. Weil man<br />

den Tod nicht betrügen kann – aber die<br />

Liebe? kis<br />

FDP-Chef Christian Lindner sammelt<br />

eifrig Titel. Unlängst wurde er<br />

in Aachen mit dem „Orden wider den<br />

tierischen Ernst“ dekoriert. Jetzt kürte<br />

ihn der Wirtschaftspolitische Club<br />

Bonn zum „Grünkohlkönig 2014“ –<br />

eine Ehrung, die der neue FDP-Vorsitzende<br />

zu einem ironischen Seitenhieb<br />

gegen seine Vorgänger nutzte.<br />

Kohl, sagte er, sei bei falscher Zubereitung<br />

ungenießbar. Dies sei eine<br />

„Eigenschaft, die er mit dem Liberalismus<br />

teilt“. Im Düsseldorfer Landtag gehört<br />

Lindner zu den notorischen Kritikern<br />

der rot-grünen Regierung. Dabei<br />

würde er am liebsten selbst mit der<br />

SPD regieren. Der nordrhein-westfälische<br />

SPD-Wirtschaftsminister Garrelt<br />

Duin, der Lindners Ambitionen kennt,<br />

bot deshalb dem neuen Grünkohlkönig<br />

in seiner Laudatio einen „kleinen<br />

Deal“ an: „Wenn ihr aufhört, über uns<br />

die Unwahrheit zu sagen, hören wir auf,<br />

über euch die Wahrheit zu sagen.“ tz<br />

Unsere Volksvertreter dürfen sich<br />

künftig nicht mehr im E-Klasse-<br />

Mercedes zur Arbeit und zu Terminen<br />

fahren lassen. Sie müssen sich mit den<br />

gehobenen, umweltfreundlichen Mittelklasse-Limousinen<br />

vom Typ „VW Passat<br />

1,4 Ecofuel“ und Dieselfahrzeugen<br />

des Modells „Audi A6 2,0 TDI Ultra“<br />

begnügen. Grund: Sparzwänge. Unions-Fraktionsvize<br />

Thomas Strobl trägt<br />

es gelassen, obwohl er als Landesvorsitzender<br />

der baden-württembergischen<br />

CDU eigentlich für die Schwabenkarosse<br />

mit dem Stern kämpfen müsste.<br />

Wichtig sei doch, sagt er, dass deutsche<br />

Politiker in deutschen Autos fahren.<br />

Mit Audi ist er im Übrigen sehr einverstanden,<br />

„die bauen auch sehr schicke<br />

Autos“ – übrigens auch in seinem Wahlkreis<br />

Heilbronn. Und Porsche? Das<br />

gäbe nur Ärger, „wenn wir uns darin<br />

kutschieren ließen“. Strobl selbst ist in<br />

Berlin gern mit dem Fahrrad unterwegs.<br />

„Bei den vielen Staus käme man ja sonst<br />

immer zu spät.“ tz<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

8<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Ende einer Parteifreundschaft:<br />

Ramsauers Rache<br />

Er hat sie sich nicht ausgesucht, seine<br />

neue Freiheit, aber jetzt lebt er sie<br />

aus. Zweimal schon hat Peter Ramsauer<br />

zugeschlagen, nachdem ihm CSU-Chef<br />

Horst Seehofer sein Dasein als Verkehrsminister<br />

jäh beendete. Mit einem<br />

Plädoyer für die Kernkraft brachte<br />

es der neue Vorsitzende des Bundestagsauschusses<br />

für Wirtschaft und<br />

Energie auf Antrag der Grünen zu einer<br />

Aktuellen Stunde, da legte er nach<br />

und forderte Fracking für Deutschland.<br />

Entfesselt, der Mann.<br />

Zu Ramsauers 60. Geburtstag hatte<br />

die CSU-Landesgruppe nun zu einem<br />

kleinen Empfang in die bayerische Landesvertretung<br />

geladen, also in den Berliner<br />

Amtssitz des bayerischen Ministerpräsidenten.<br />

Michael Glos, versiertes<br />

Schandmaul und schon länger von Fesseln<br />

und Rücksichtnahmen befreit,<br />

rühmte Ramsauers Erfolge als Wahlkreiskönig<br />

(„Fast wie Honecker!“), um<br />

dann anzumerken, dass jemand mal gesagt<br />

habe, wer solche Ergebnisse hole,<br />

der empfehle sich für alle hohen Ämter.<br />

Allerdings sei die Erinnerung mancher<br />

Leute an das von ihnen Gesagte<br />

manchmal sehr kurz. „Das von denen,<br />

die es trifft, aber sehr lang.“<br />

Auch Ramsauer sprach Klartext. Er<br />

habe, sagte der ausgemusterte Minister,<br />

extra nur engste Wegbegleiter zu<br />

diesem Abend einladen lassen und den<br />

Termin auf den 19. März gelegt. Damit<br />

all jene einen guten Grund hätten, nicht<br />

da zu sein, die er eh nicht dahaben<br />

wollte. An dem Abend war Derblecken<br />

auf dem Nockherberg in München. Für<br />

Seehofer ein Pflichttermin. swn<br />

Zoff mit Israel:<br />

Schiffe versenken<br />

Von wem stammt noch mal der Satz,<br />

dass Israels Sicherheit zur deutschen<br />

Staatsräson gehört? Richtig, von<br />

Angela Merkel, März 2008 vor der<br />

Knesset. Aber wenn es um die Umsetzung<br />

dieses hohen Anspruchs geht, hat<br />

die Kanzlerin ganz andere Maßstäbe<br />

als ihr Jerusalemer Gesprächspartner<br />

Benjamin Netanjahu. Klar, Deutschland<br />

liefert seit über einem halben Jahrhundert<br />

Waffen an Israel, darunter<br />

sechs U-Boote, die zur atomaren Abschreckung<br />

eingesetzt werden, zum erheblichen<br />

Teil finanziert mit deutschem<br />

Steuergeld. Aber schon bei der Genehmigung<br />

des sechsten Dolphin-U-Bootes<br />

ließ Merkel Netanjahu vier <strong>Jahre</strong> hängen,<br />

bis der ein paar wenige Konzessionen<br />

an die Palästinenser machte.<br />

Jetzt legt sie eine noch härtere<br />

Gangart ein. Wieder wollen die Israelis<br />

Kriegsschiffe, diesmal vier Korvetten<br />

von Thyssen Krupp Marine Systems<br />

zum Schutz ihrer neuen Mittelmeer-<br />

Gasfelder. Kosten: 400 Millionen. Und<br />

wie bei den U-Booten wollen sie hohe<br />

Subventionen von Berlin. Doch Merkel<br />

hat Netanjahu Ende Februar klargemacht:<br />

Lieferung gerne, finanzielle Unterstützung<br />

auch – aber nur, wenn die<br />

Friedensinitiative von US‐Außenminister<br />

John Kerry zum Erfolg kommt und<br />

die Siedlungsfrage gelöst wird. Ihre<br />

Linie: Kein deutsches Geld, das Netanjahu<br />

in den Siedlungsbau umleiten<br />

kann. Wenn die US-Friedensinitiative<br />

auseinanderfällt, wird es wohl nichts<br />

mit den Schiffen – es sei denn, die Israelis<br />

zahlen diesmal alles selber. ws<br />

Spargelkönig Sarkozy:<br />

„Mamie“ Merkel<br />

Wer glaubte, nur von deutschen Politikern<br />

werde die Bundeskanzlerin<br />

zuweilen als „Mutti“ apostrophiert,<br />

sieht sich getäuscht. Wie Bruno<br />

Le Maire, der während der Präsidentschaft<br />

Nicolas Sarkozys als Landwirtschaftsminister<br />

diente, zu berichten<br />

weiß, machte sich auch der französische<br />

Staatschef diesen Spitznamen für Angela<br />

Merkel zueigen. In seinem soeben<br />

auf Deutsch erschienenen Erinnerungsband<br />

„Zeiten der Macht“ beschreibt Le<br />

Maire folgende Szene: Jean-François<br />

Copé, Generalsekretär der damaligen<br />

Regierungspartei UMP, erkundigt sich<br />

im Regierungsflugzeug bei Sarkozy nach<br />

Merkel. Dessen Antwort: „Mamie, die<br />

tut sich schwer im Moment. Aber man<br />

muss sagen, sie arbeitet dran. Sie folgt.<br />

Sie sagt Nein, sie denkt nach, und dann<br />

folgt sie, auf ihre Art.“<br />

Offenbar war Nicolas Sarkozy zuvor<br />

tatsächlich zum Opfer von Angela<br />

Merkels mütterlicher Art geworden.<br />

Bruno Le Maire zitiert den Präsidenten<br />

mit diesen Worten aus kleiner Runde:<br />

„Ja, Angela – eines Tages habe ich ihr<br />

gesagt, ich liebte Spargel und Wiener<br />

Schnitzel. Was habe ich da nur gesagt!<br />

Jetzt bekomme ich jedes Mal, wenn ich<br />

sie sehe, Spargel und Wiener Schnitzel.<br />

Letztens sagte sie: ,Weißt du was, Nicolas,<br />

ich habe eine Überraschung für<br />

dich.‘ – ,Spargel und Wiener Schnitzel?‘<br />

– ,Wie hast du das denn erraten?‘ –<br />

,Ich weiß nicht, einfach so …‘“<br />

Ob der amtierende französische<br />

Präsident ebenfalls Spargel mag – womöglich<br />

sogar mit Sauce hollandaise, ist<br />

bisher nicht überliefert. mar<br />

9<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

FORUM<br />

Es geht um Luthers Judenhass, Oettingers<br />

Einsichten, die Sperrklausel und um – Nudeln<br />

Zum Titelthema „Judenfeind Luther“ mit dem Beitrag „Die dunkle Seite des Reformators“<br />

von Christian Pfeiffer und dem <strong>Cicero</strong>-Gespräch mit Heinz Schilling, Margot Käßmann und<br />

Walter Kardinal Brandmüller, <strong>Cicero</strong> 4 / 2014<br />

Ultimative Rechtfertigung<br />

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Herr Pfeiffer ein Vertreter​<br />

einer nach Aufträgen suchenden Aufarbeitungsindustrie ist. Die Kenntnis, dass<br />

Luther in Wort und Schrift antijudaistische Äußerungen und Positionen vertrat,<br />

ist ja nicht neu. Die Stellungnahme der Frau Käßmann, dass die lutherischen<br />

Auslassungen furchtbar seien und dass dafür in der heutigen evangelischen Kirche<br />

kein Platz mehr sei, macht den Luther’schen Antijudaismus zu einem historischen<br />

Ereignis und damit zum Gegenstand der akademischen Geschichtsforschung.<br />

Was ist nun der Zweck einer extraordinären Aufarbeitung? Ist ihr Ziel<br />

die ultimative Rechtfertigung für jede derartige Aufarbeitung, die darin besteht,<br />

eine gerade Linie vom Luther’schen Antijudaismus zum Antisemitismus nationalsozialistischer<br />

Prägung festzustellen oder zu konstruieren?<br />

Laurenz Kaspar, Düren<br />

Ein Kind seiner Zeit<br />

Seit die christliche Religion zur<br />

Staatsreligion erhoben wurde, war<br />

die christliche Kirche immer mehr<br />

oder weniger judenfeindlich. Wenn<br />

wir also mit einer Situation zu<br />

tun haben, die grundsätzlich über<br />

1500 <strong>Jahre</strong> mehr oder weniger judenfeindlich<br />

war, warum dann mit<br />

dem Finger auf Martin Luther zeigen?<br />

Seine kulturhistorische Leistung<br />

liegt woanders. Martin Luther<br />

und die Reformation sind der wichtigste<br />

kulturhistorische Beitrag aus<br />

Deutschland für die Neuzeit. Dass<br />

er auch ein Kind seiner Zeit und seiner<br />

Welt war, auch mit Schattenseiten,<br />

sollten wir nicht überbetonen.<br />

Es ist gut dokumentiert.<br />

Bernhard Kopp, Potsdam<br />

Vergrämter, alter Mann<br />

Was ist daran bitte neu? Schon zu<br />

Luthers Zeiten haben sich einige<br />

seiner treuesten Freunde für die<br />

antijüdischen Ausfälle des alternden<br />

Reformators geschämt. Als<br />

junger Mann hatte sich Luther in<br />

wunderbarer Weise über die Juden<br />

geäußert. Was er als vergrämter alter<br />

Mann über sie von sich gab, ist<br />

traurig. Aber Gott sei Dank hatte er<br />

viel wichtigere Erkenntnisse.<br />

Uwe Siemon-Netto, Laguna Woods, CA, USA<br />

Omerta der Schwurbler<br />

Die Omerta der Hosianna-Schwurbler<br />

bröckelt langsam, trotzdem wäre<br />

es angebracht, die Fakten zusammenzustellen,<br />

damit den christlichen<br />

Schönrednern die Argumente<br />

ausgehen: Martin Luthers Hass<br />

ge gen Frauen ist paranoid, seine<br />

Sprachkenntnis eher armselig,<br />

sein psychopathologischer Wahn<br />

men schenverachtend. Seine<br />

Hetze gegen Andersgläubige<br />

dient Jahrhunderte später als<br />

Vorlage zur Reichs kristallnacht.<br />

H. A. Goerke, Begur, Spanien<br />

Entlastung durch Luther<br />

Ein Christ ohne Schuldgefühl, dem<br />

fehlt etwas. Also muss jemand für<br />

ihn eine Schuld finden. Dafür ist der<br />

Christ dankbar. Wenn Luther schon<br />

judenfeindlich war, ist der evangelische<br />

Christ trotzdem etwas entlastet.<br />

Vergessen haben aber die Theologen,<br />

dass Luther auch Folgendes gesagt<br />

hat: „Die Christen sind schlimmer<br />

als die Juden, denn die Juden<br />

nehmen wenigstens keinen Zins von<br />

ihren eigenen Leuten.“ Aber dies<br />

überlesen die evangelischen Theologen<br />

gerne, denn auch sie leben von<br />

einem gut unterhaltenen und ernährten<br />

Schuldgefühl.<br />

Manfred Stricker, Straßburg<br />

Erinnerung überfällig<br />

Es wird Zeit, dass man sich der stetigen<br />

Judenfeindlichkeit der Kirche<br />

erinnert. Herrn Pfeiffer ist für diesen<br />

Artikel zu danken.<br />

Botho Krämer, Worms<br />

Latenter Antisemitismus<br />

Die protestantische Kirche wusste<br />

jahrhundertelang um Luthers Judenfeindlichkeit<br />

und hat diese mehr<br />

oder weniger akzeptiert – jetzt darf<br />

diese Seite an ihm nicht unter den<br />

Teppich gekehrt werden, da sich antisemitische<br />

und rassistische Rechte<br />

schon lange darüber die Hände reiben,<br />

und der Antisemitismus ist in<br />

Deutschland latent vorhanden!<br />

Lutz Grubmüller, Wangenheim<br />

Richtigstellung:<br />

In Christian Pfeiffers Text zu<br />

Luthers Judenhass hieß es,<br />

die Reichstagswahlen vom Juli<br />

1937 hätten die NSDAP mit<br />

37,2 Prozent zum ersten Mal zur<br />

stärksten Partei gemacht.<br />

Gemeint war die Wahl von 1932.<br />

Die Redaktion<br />

<strong>10</strong><br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


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TEXTCHEF Georg Löwisch<br />

CHEFIN VOM DIENST Kerstin Schröer<br />

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( Reportagen ), Dr. Frauke Meyer-Gosau ( Literaturen )<br />

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POLITISCHER CHEFKORRESPONDENT<br />

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REDAKTIONSASSISTENTIN Sonja Vinco<br />

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PRODUKTION Utz Zimmermann<br />

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GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />

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Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist dann in der<br />

Regel am Folgetag erhältlich.<br />

Zum Beitrag: „Man hört mein<br />

Schwäbisch. Und?“ Interview mit<br />

Günther Oettinger, <strong>Cicero</strong> 4/2014<br />

Fehlende Speicher<br />

Das ausführliche Gespräch mit<br />

Kommissar Oettinger ist sehr aufschlussreich.<br />

Nach anfänglicher<br />

Zustimmung zum EEG ist bei ihm<br />

Ernüchterung eingekehrt. Er hat<br />

erkannt, dass zum Gelingen der<br />

Energiewende nicht nur Netze und<br />

Leitungen fehlen, sondern vor allem<br />

Speichermöglichkeiten des<br />

„Flatterstroms“. Und die sind in der<br />

dafür notwendigen Größenordnung<br />

nicht erreichbar.<br />

Gerade mal 24 Minuten Versorgung<br />

mit Strom sind durch die vorhandenen<br />

Pumpspeicherwerke möglich<br />

– das ist die unbarmherzige<br />

Wirklichkeit. Schon deshalb ist eine<br />

sofortige Beendigung des teuren Experiments<br />

nötig.<br />

Es wird sich zeigen, ob die Regierung<br />

ihr Vorhaben verwirklicht,<br />

den weiteren ungebremsten Ausbau<br />

zu stoppen. Eine riesige Lobby versucht<br />

gerade dies mit allen Mitteln<br />

zu verhindern.<br />

Walter Faulenbach, Olpe<br />

Zum Beitrag: Frau Fried fragt sich,<br />

was an Gutmenschen schlecht sein soll,<br />

<strong>Cicero</strong> 4/2014<br />

„Löwe von Münster“<br />

Frau Fried vermutet, dass die Nazis<br />

den Begriff „Gutmenschen“ erfunden<br />

hätten, „um die Gegner der<br />

Euthanasie um Graf von Galen verächtlich<br />

zu machen“. Leider erklärt<br />

sie nicht, warum der Bischof (und<br />

spätere Kardinal) von Münster, Clemens<br />

August Graf von Galen, den<br />

Nazis so verhasst war. Wegen seiner<br />

mutigen Predigten hieß er im Volk<br />

„Löwe von Münster“, hohe Nazis erwogen,<br />

ihn aufhängen zu lassen. Joseph<br />

Goebbels aber wollte im Krieg<br />

keine katholischen Märtyrer schaffen<br />

und sprach sich dafür aus, die<br />

Sache auf die Zeit „nach dem Endsieg“<br />

zu verschieben.<br />

Friedrich G. Blasberg, Langenfeld<br />

12<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

Zum Beitrag: „Unter den Roben<br />

die Politik“ von Frank A. Meyer,<br />

<strong>Cicero</strong> 4/2014<br />

Unberechtigte Kritik<br />

Frank A. Meyer fragt sich, woher<br />

sich das Bundesverfassungsgericht<br />

das Recht nimmt, die Drei-Prozent-<br />

Hürde für die Wahlen zum Europäischen<br />

Parlament für verfassungswidrig<br />

zu erklären. In diesem Punkt<br />

muss man das BVG vor unberechtigter<br />

Kritik in Schutz nehmen.<br />

Zu einer Demokratie gehört<br />

auch, dass man abweichende Meinungen<br />

kleinerer Gruppen toleriert.<br />

Deswegen ist es zu begrüßen, dass<br />

das Gericht eine Privilegierung der<br />

großen Parteien durch eine Sperrklausel<br />

nicht zugelassen hat.<br />

Felicitas Schumacher, Köln<br />

Karikatur: Hauck & Bauer<br />

Ausschluss der Kleinen<br />

Für Meyer ist es ein unangebrachter<br />

politischer Akt des BVG, die<br />

Sperrklausel für ungültig zu erklären.<br />

Es ist wohl umgekehrt so, dass<br />

die Sperrklausel ein politischer Akt<br />

ist, mit dem ein Teil des Wahlvolks<br />

von der politischen Willensbildung<br />

ausgeschlossen wird. Und ein solcher<br />

Ausschluss ist wohl dann nicht<br />

zwingend notwendig, wenn ein<br />

Parlament nicht die Aufgabe hat,<br />

eine Regierung zu bilden und zu<br />

kontrollieren.<br />

Almuth Schröder, München<br />

Privilegien der Großen<br />

Es gab zahlreiche Versuche der<br />

großen Parteien, sich gegenüber<br />

den kleineren Parteien Privilegien<br />

zu verschaffen. Es ist Aufgabe des<br />

Wahlvolks, unabhängig von den<br />

Bedürfnissen der etablierten Parteien<br />

über die Zusammensetzung<br />

des Europäischen Parlaments zu<br />

entscheiden. Und es ist nicht Aufgabe<br />

des BVG, mithilfe einer Sperrklausel<br />

den größeren Parteien auf<br />

Kosten der kleineren Parteien Vorteile<br />

zu verschaffen.<br />

Dr. Raimund Schlüter, Köln<br />

Zu den Beiträgen in <strong>Cicero</strong> 3/2014<br />

Folgen des Nudelkaufs<br />

Unterwegs von einem sehr erfolgreichen<br />

Kundenbesuch erreichte uns<br />

die Nachricht, dass unser Sohn Nudeln<br />

wünscht. Gefüllte. Wir also<br />

zu Kaisers: Nudeln, Champagner<br />

und … dazu noch aus diesem tollen<br />

Zeitschriftenrack – <strong>Cicero</strong>. Ein<br />

Reflexkauf.<br />

Seit wir zu Hause sind, lesen<br />

wir, diskutieren erbittert (Junge gegen<br />

Alte, Papa gegen Kind, alle gegen<br />

alle), telefonieren mit Freunden<br />

und Bekannten, sind auf Facebook,<br />

scannen Seiten, um die an Leute in<br />

Übersee zu schicken. Wir sind einverstanden,<br />

nicht einverstanden,<br />

schütteln den Kopf, wir lieben die<br />

Fotostrecke mit Müttern und Töchtern<br />

(einen Lead Award hier bitte)<br />

und ärgern uns über die letzte Seite<br />

zu Sarrazin (zu einfach). Wir sind<br />

immer noch wach. Und reden. Simply<br />

said: Was für ein Blatt!<br />

Und das alles nur, weil mein<br />

Sohn Nudeln wollte.<br />

Matthias Giese, Essen<br />

Leserbrief von I. Köhnecke, <strong>Cicero</strong> 4/2014<br />

Ein Weckruf<br />

Mit Vergnügen habe ich in Ihrer<br />

letzten Ausgabe den Leserbrief<br />

von Frau Köhnecke (93) aus Wedel<br />

zum Thema Dativ und Genitiv gelesen,<br />

auch wenn sie Rechtschreibung<br />

mit Grammatik verwechselt. Ein<br />

Weckruf aus einer verloren geglaubten<br />

Zeit. Bemerkenswert, dass sich<br />

überhaupt noch jemand darüber<br />

aufregt, wo man sich bekanntlich an<br />

allem gewöhnt, auch am Dativ. In<br />

den von mir abonnierten zwei Tageszeitungen<br />

lese ich mit besonderem<br />

Interesse Gedenkberichte. Da<br />

gedenken sie hartnäckig dem teuren<br />

Verblichenen und dem besonderen<br />

Jubiläum. Und was sich erst auf den<br />

Sportseiten vor, während und nach<br />

dem Spiel an grammatikalischen<br />

Foulspielern herumtreibt.<br />

Danke, Frau Köhnecke, bei Ihnen<br />

wäre ich gern Schüler gewesen.<br />

Winfried Grund, Werl<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen<br />

senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />

13<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


<strong>Cicero</strong> feiert Geburtstag: Seit zehn <strong>Jahre</strong>n bereichert<br />

das „Magazin für politische Kultur“ die deutsche<br />

Medienlandschaft. Markus C. Hurek, Mitarbeiter der<br />

ersten Stunde, erinnert sich an die Anfänge – ​<br />

und an den ersten großen Skandal<br />

14<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


TITEL<br />

Jubiläum<br />

Fotos: Markus C. Hurek, archiv-klar<br />

CICERO ENTSTEHT IN POTSDAM<br />

„Wie sähe für dich eigentlich das ideale Magazin aus?“<br />

Wolfram Weimer stellte diese Frage im April 2003<br />

zwischen Hauptgang und Nachspeise in einem kleinen<br />

Restaurant am Nauener Tor in Potsdam. Und wartete bereits<br />

– typisch für ihn – mit der richtigen Antwort: Es müsste monatlich<br />

erscheinen, edel daherkommen, politisch relevant sein,<br />

mit Texten wichtiger Meinungsmacher und – ohne Fotos. „Vergiss<br />

Fotos!“, sagte er beim Espresso, „volle Konzentration auf<br />

den Text!“ – „Karikaturen?“, fragte ich. Ein edles Magazin ohne<br />

Optiken konnte ich mir einfach nicht vorstellen. „Meinetwegen“,<br />

sagte Weimer, „aber sparsam dazwischengestreut, das Wichtigste<br />

sind die Texte!“<br />

CICERO HAT EINEN DECKNAMEN<br />

Am 15. August 2003 meldet das Branchenblatt Kress Report, dass<br />

der Schweizer Großverlag Ringier hinter dem „ambitionierten<br />

Projekt“ von Wolfram Weimer stecke, „ein intellektuelles politisches<br />

Magazin aus der Hauptstadt“ zu veröffentlichen. Die Medienjournalisten<br />

bezweifelten in ihrer Meldung, dass dieses Magazin<br />

tatsächlich Parzival heißen werde.<br />

Zwischen dem Mittag am Nauener Tor und der Meldung im<br />

Kress Report war viel passiert: Wolfram Weimer und Michael Ringier<br />

waren sich einig geworden. Nach etlichen Besuchen am Verlagssitz<br />

in Zürich, nach Gesprächen und Präsentationen hatte der<br />

mächtige Verleger vom Zürichsee grünes Licht gegeben für das<br />

Wagnis. Und inzwischen stand auch so etwas wie eine Redaktion.<br />

In Potsdam, direkt hinter der Glienicker Brücke, vor den Toren<br />

der Hauptstadt, hatte <strong>Cicero</strong> unter dem Decknamen Parzival eine<br />

adäquate Bleibe gefunden. Der moderne Anbau einer aufwendig<br />

renovierten Villa an der Berliner Straße passte genau: Ein verglastes<br />

Großraumbüro für das Layout, ein Konferenzraum mit Balkon,<br />

das repräsentative Büro für den Chefredakteur, und neben<br />

dem offenen Sekretariat drei Räume für Redakteure.<br />

CICERO BEKOMMT MITSTREITER<br />

Wie sucht man Mitarbeiter für ein Heft, das noch nie erschienen<br />

ist? Es gab eine Idee, ein Büro, eine Liste möglicher <strong>Cicero</strong>-Autoren<br />

– das war es. Und es gab das etwas vage Versprechen, ein<br />

ganz neues Magazin zu entwickeln, das frische Ideen braucht.<br />

Wolfram Weimer wollte diese Ideen diskutieren. Wer dazu Lust<br />

hatte, war herzlich eingeladen, unverbindlich.<br />

Bis in den Spätherbst 2003 veranstalteten wir jede Woche<br />

eine offene Redaktionskonferenz mit wechselnden Teilnehmern:<br />

Journalisten, Schriftsteller, junge Werber, Anzeigenkunden in spe,<br />

„ Vergiss Fotos!<br />

Volle Konzentration<br />

auf den Text “<br />

Wolfram Weimer<br />

Schöner Start: In dieser Potsdamer<br />

Villa (oben) wurde <strong>Cicero</strong> 2004<br />

gegründet und hatte die Redaktion in<br />

den Anfangsjahren ihren Sitz.<br />

Inzwischen sind Magazin und Verlag<br />

nach Berlin gezogen<br />

Stolzer Chefredakteur: <strong>Cicero</strong>-<br />

Gründer Wolfram Weimer (unten) im<br />

Konferenzraum des neuen „Magazins<br />

für politische Kultur“<br />

15<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Auf den Treppen vor<br />

Sanssouci: Wolfram<br />

Weimer mit der<br />

<strong>Cicero</strong>-Ausgabe vom<br />

Januar 2005


TITEL<br />

Jubiläum<br />

Politiker. Sie alle saßen um den großen Glastisch und tauschten<br />

sich aus. Was erwarten Redakteure von einem „Magazin für<br />

politische Kultur“, was wünschen sich mögliche Autoren? Wie aktuell<br />

muss es sein, wie intellektuell darf es daherkommen? In unseren<br />

Räumen traf Henryk M. Broder auf Frank A. Meyer. Wolf Jobst<br />

Siedler junior diskutierte mit Rudolf Scharping (der schließlich<br />

einen Text zur ersten Ausgabe beisteuerte), Alexander Gauland<br />

kam vorbei, Klaus Harpprecht, Maxim Biller, Christine Eichel,<br />

Roger de Weck und eines Tages auch Jim Rakete. Dem Schwarz-<br />

Weiß-Fotografen und früheren Produzenten von Nena verdankt<br />

<strong>Cicero</strong> bis heute seine Zuwendung zur Fotografie. Raketes gewaltige<br />

Aufnahmen überzeugten Weimer. Das „Vergiss Fotos“-Postulat<br />

war aufgehoben!<br />

Eingekehrt war dafür eine Stimmung, die <strong>Cicero</strong> bis heute<br />

ausmacht: Alles darf gedacht werden, von jedem am Tisch. Die<br />

Idee zählt, egal, wer sie formuliert. Es gibt keine Denkhierarchien.<br />

Wer einmal in Konzernstrukturen gearbeitet hat, in Abteilungsschubladen<br />

und Organigrammschablonen, der weiß um den Wert<br />

dieses <strong>Cicero</strong>-Schatzes.<br />

„ Alles darf<br />

gedacht werden,<br />

von jedem. Nur<br />

die Idee zählt “<br />

Markus C. Hurek<br />

Fotos: archiv-klar, Markus C. Hurek, Marc Darchinger<br />

APRIL 2004: DIE ERSTE AUSGABE VON CICERO<br />

Bis zuletzt dachten wir über den Titel nach. Die Hauptgeschichte<br />

war eine fulminante Beobachtung von Gerhard Schröder. Der<br />

Schriftsteller Peter Schneider hatte den Bundeskanzler begleitet,<br />

mehrere Tage lang, auf Reisen und Terminen. Schneiders<br />

Text vom „einsamen Kanzler“, ein Interview mit Schröder und<br />

Raketes Fotografien sollten der Titel sein. Das Deckblatt hatte<br />

Jörg Immendorff gestaltet. Es zeigte den Bundeskanzler mit einem<br />

der Immendorff’schen Affen auf der Schulter. Nur eine gute<br />

Zeile wollte uns nicht einfallen: Wir waren stolz auf Schneiders<br />

Schröder-Porträt, doch <strong>Cicero</strong> sollte nicht als Kanzlerblatt starten.<br />

Dazu war das Konzept zu konservativ, Wolfram Weimer sowieso.<br />

In unserer Not fetteten wir die Oberbegriffe auf dem Titel.<br />

Die lasen sich nun aus der Ferne so: SPD – MACHT – EINSAM.<br />

Wir waren zufrieden.<br />

CICERO HAT EINE AFFÄRE<br />

Mehr als ein Jahr später, am 12. September 2005, an einem nebligen<br />

Morgen um kurz nach acht Uhr, erlebt die kleine Potsdamer<br />

Redaktion, was Relevanz heißt. Gesprochen hatten wir viel<br />

darüber, Relevanz war quasi das Mantra der Mannschaft: Texte<br />

sollten bewegen, aufrütteln, vielleicht auch verletzen, Debatten<br />

anzetteln, wenn möglich, Aufsehen erregen am besten. Dass all<br />

dies bereits Monate vorher geschehen sein musste, im Verborgenen<br />

allerdings, das wurde uns an diesem Morgen langsam bewusst.<br />

Das Tribunal: Wolfram Weimer<br />

im Februar 2007 vor dem Bundesverfassungsgericht<br />

( oben ). Verhandelt<br />

wird die Durchsuchung der Redaktion<br />

durch die Staatsanwaltschaft<br />

Der Innenminister: Otto Schily<br />

äußert sich im Oktober 2005 nach<br />

einer außerordentlichen Sitzung des<br />

Innenausschusses des Bundestags zur<br />

<strong>Cicero</strong>-Affäre ( unten )<br />

17<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


TITEL<br />

Jubiläum<br />

Diese geheimen<br />

Informationen,<br />

dachte man im BKA<br />

nach der Lektüre,<br />

konnten nur aus<br />

dem eigenen Haus<br />

stammen<br />

Mitarbeiter der ersten Stunde:<br />

Utz Zimmermann ( Produktion ), Karen<br />

Schröder ( Art-Direktion ) und Wolfgang<br />

Glabus ( Ressort Kapital ) im Oktober<br />

2003 ( oben, von links nach rechts )<br />

Im Namen des Volkes: Am 27. Februar<br />

2007 verkündet das Bundesverfassungsgericht<br />

sein „<strong>Cicero</strong>-Urteil“ ( unten ) –<br />

eine Entscheidung im Sinne<br />

der Pressefreiheit<br />

Zwei Potsdamer Staatsanwälte standen in den Redaktionsräumen,<br />

gesichert durch Beamte des Landeskriminalamts und der Polizei:<br />

Redaktionsdurchsuchung, Verdacht auf Beihilfe zum Geheimnisverrat.<br />

In jedem Büro, an jedem Schreibtisch wachte ein Polizist.<br />

Monate zuvor hatte Bruno Schirra, bekannt für seine guten<br />

Quellen im Geheimdienstmilieu, über den „gefährlichsten Mann<br />

der Welt“ geschrieben, einen zwischenzeitlich liquidierten Al-<br />

Qaida-Anführer. In seinem Text hatte Schirra ein überwachtes<br />

Mobiltelefon erwähnt. Diese geheime Information, dachte man<br />

im Bundeskriminalamt nach der Lektüre, konnte nur aus dem eigenen<br />

Haus stammen. Nach wochenlangen internen Ermittlungen<br />

musste das BKA feststellen, dass es den Verräter so nicht würde<br />

ausfindig machen können. Die Behörde entschloss sich zu einem<br />

Strategiewechsel, der später als „<strong>Cicero</strong>-Affäre“ in die Rechtsgeschichte<br />

eingehen sollte: Das BKA, angefeuert durch Innenminister<br />

Otto Schily, übergab den Fall an die Staatsanwaltschaft<br />

Potsdam. Diese nahm nun Ermittlungen gegen Bruno Schirra<br />

und unser Magazin auf. Was man innerhalb der eigenen Wände<br />

nicht aufdecken konnte, so die Überlegung der eifrigen Ermittler,<br />

müsste sich doch aufseiten der Journalisten finden lassen. Also<br />

suchten sie in unseren Redaktionsräumen und zeitgleich bei Bruno<br />

Schirra nach E-Mails, Kalendernotizen, Bewirtungsbelegen und<br />

Ähnlichem, um herauszubekommen, wie <strong>Cicero</strong> die Information<br />

über den abgehörten Terroristen zugespielt worden war.<br />

„Diese Aktion hatte den Wert einer millionenschweren Kampagne“,<br />

schrieb ein bekannter Werbeagentur-Chef Monate später<br />

voller Anerkennung. Ein Gedanke, der uns an jenem Montagmorgen<br />

zwischen Kriminalbeamten, Staatsanwälten und einem<br />

sichtlich verunsicherten Hausmeister („Wat hat’n Euer Chef anjestellt?“)<br />

nicht gekommen wäre.<br />

Doch inzwischen hatte sich Innenminister Otto Schily im<br />

Bundestag wegen Missachtung der Pressefreiheit erklären müssen.<br />

Das Bundesverfassungsgericht hatte schließlich die Verfassungsbeschwerde<br />

von Wolfram Weimer gegen die Durchsuchung<br />

zugelassen und am 27. Februar 2007 das sogenannte „<strong>Cicero</strong>-Urteil“<br />

gefällt. Es besagt, dass es Behörden nicht erlaubt ist, Redaktionsräume<br />

zu durchsuchen, um ein Leck in den eigenen Reihen<br />

ausfindig zu machen.<br />

Es war ein Sieg für die Pressefreiheit. Und viel wichtiger noch:<br />

Unser Magazin war spätestens jetzt deutschlandweit bekannt.<br />

MARKUS C. HUREK<br />

war Wolfram Weimers erster Mitarbeiter und seit<br />

Erscheinen von <strong>Cicero</strong> bis 20<strong>10</strong> stellvertretender<br />

Chefredakteur. Heute leitet der 41-Jährige die<br />

Politikredaktion des Nachrichtenmagazins Focus<br />

Fotos: Markus C. Hurek, Uli Deck/Picture Alliance/DPA, Kerstin Bungert-Hurek (Autor)<br />

18<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


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30.4.– 3.8.2014 · GALERIE NEUE MEISTER<br />

ALBERTINUM DRESDEN<br />

KURZE CICERO-CHRONIK<br />

APRIL 2003 – DIE ANFÄNGE<br />

In einem kleinen Potsdamer Restaurant<br />

entstehen die ersten Ideen für ein neues<br />

Magazin, für das „volle Konzentration auf den<br />

Text“ gelten soll. <strong>Cicero</strong>-Gründer Wolfram<br />

Weimer lässt sich später aber doch noch von<br />

der Wirkungsmacht der Bilder überzeugen.<br />

15. AUGUST 2003 – NEUIGKEITEN<br />

Das Branchenblatt Kress Report meldet, der<br />

Schweizer Verlag Ringier stehe hinter den<br />

Plänen für ein intellektuelles politisches<br />

Magazin aus der Hauptstadt. Der Verleger<br />

Michael Ringier hat zuvor dem Projekt<br />

zugestimmt. Inzwischen existiert auch schon<br />

so etwas wie eine Redaktion.<br />

APRIL 2004 – ERSTAUSGABE<br />

Die erste Ausgabe von <strong>Cicero</strong> erscheint mit<br />

einem von Jörg Immendorff gemalten<br />

Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem<br />

Titel. Die Überschrift dazu lautet:<br />

„SPD – MACHT – EINSAM“.<br />

12. SEPTEMBER 2005 – DURCHSUCHUNG<br />

Kurz nach acht Uhr am Morgen verschaffen<br />

sich zwei Potsdamer Staatsanwälte mit<br />

mehreren Polizisten Zutritt in die Redaktion.<br />

Sie suchen nach Dokumenten, die Aufschluss<br />

über den Informanten für einen Bericht aus<br />

der Terroristenszene geben sollen. Damit<br />

beginnt die sogenannte <strong>Cicero</strong>-Affäre, an<br />

deren Ende das Bundesverfassungsgericht die<br />

Pressefreiheit stärkt.<br />

JANUAR 20<strong>10</strong> – WECHSEL<br />

<strong>Cicero</strong>-Gründer und -Chefredakteur Wolfram<br />

Weimer verlässt das Magazin und geht nach<br />

München, um dort Chefredakteur von Focus<br />

zu werden. Sein Nachfolger ist Michael<br />

Naumann, der zuvor langjähriger Herausgeber<br />

der Zeit war und während der Kanzler schaft<br />

Gerhard Schröders erster Kulturstaatsminister<br />

der Bundesrepublik.<br />

MAI 2012 – NOCH EIN WECHSEL<br />

Michael Naumann wechselt als Direktor zur<br />

Barenboim-Said-Akademie in Berlin. Sein<br />

Nachfolger wird Christoph Schwennicke,<br />

bis dahin stellvertretender Leiter des<br />

Hauptstadtbüros des Magazins Spiegel.<br />

WWW.SKD.MUSEUM<br />

Hauptförderer


TITEL<br />

Jubiläum<br />

NACH<br />

DER<br />

EUPHORIE<br />

Von MICHAEL RINGIER<br />

Das Atomium als Mahnmal eines<br />

fast religiösen Technikglaubens:<br />

Gedanken zum Geburtstag einer<br />

gedruckten Zeitschrift<br />

Kohle und Öl verbrennen, das<br />

konnte schon der Neandertaler.<br />

Atomkerne spalten konnte er dagegen<br />

nicht.“ Dieser Satz, zitiert in der<br />

NZZ am Sonntag von Hans Rudolf Lutz,<br />

dem ersten Direktor des Kernkraftwerks<br />

Mühleberg in der Schweiz, erinnert an<br />

eine Zeit, in der man einer neuen Technologie<br />

mit grenzenloser Euphorie begegnete.<br />

Die Energieprobleme schienen<br />

für alle Zeiten gelöst, und laut Wikipedia<br />

träumte man von atomaren Antrieben<br />

für Flugzeuge und Lokomotiven und von<br />

der Entsalzung des Meerwassers oder der<br />

Begrünung der Wüsten dank Atomenergie.<br />

Ultimativer Ausdruck dieser Technologiegläubigkeit<br />

war das Atomium, ein<br />

Gebäude aus neun Atomen als Wahrzeichen<br />

der Weltausstellung 1958 in Brüssel.<br />

Auch die Schweiz legte mit dem Bau<br />

von fünf Atomkraftwerken innerhalb<br />

von 15 <strong>Jahre</strong>n ein Bekenntnis zur atomaren<br />

Energiezukunft ab. Und Michael<br />

Kohn, langjähriger Präsident von Motor<br />

Columbus, einem schweizerischen Energieversorgungsunternehmen,<br />

bekam von<br />

den Medien den Titel „Atom-Papst“ verpasst<br />

– sehr passend zu einem fast religiösen<br />

Glauben an eine neue Technologie.<br />

Wer heute die westlichen Medien zum<br />

Thema Atomenergie durchstöbert, wird<br />

allerdings auf ein ganz anderes Vokabular<br />

stoßen. Das am häufigsten benutzte<br />

Wort heißt „Ausstieg“.<br />

Und was hat das mit unserer Medienwelt<br />

zu tun? Die ersten Atomjahrzehnte<br />

erinnern mich fatal an die Verbreitung<br />

des Internets seit den neunziger <strong>Jahre</strong>n.<br />

Was wurde uns da nicht alles versprochen.<br />

Grenzenlose Freiheit, schrankenlose Offenheit,<br />

unbeschränkte Individualität und<br />

noch viel mehr gesellschaftliches Manna<br />

aus der Internetparadiesbäckerei. Lauter<br />

Zuckerguss. Und was ist heute – ebenfalls<br />

– ein Teil der Realität? Grenzenlose<br />

Datensammlerei, schrankenlose Überwachung<br />

und unbeschränkte Manipulation.<br />

Und in der NZZ am Sonntag eine durchaus<br />

provokative Schlagzeile „Das Ende<br />

des Internets“ – ohne Fragezeichen!<br />

Wenn uns die Geschichte eines gelehrt<br />

hat, dann dies. Die Welt ist nie<br />

schwarz oder weiß. Energie aus Atom<br />

war sicher nie so großartig, wie man uns<br />

weismachen wollte, aber vielleicht auch<br />

nicht dermaßen des Teufels, wie uns das<br />

seit Fukushima gepredigt wird.<br />

Foto: Christian Lanz/Ex-Press<br />

20<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Eines haben die digitalen Euphoriker<br />

allerdings geschafft. Sie haben die<br />

Kollegen vom Print dermaßen verunsichert,<br />

dass die selber nicht mehr an ihre<br />

Zukunft glauben.<br />

Ich darf zitieren: „Um eine Verzettelung<br />

und eine Überforderung zu vermeiden,<br />

sind eine strategisch konsistente Positionierung<br />

im Markt, eine entsprechende<br />

Fokussierung auf die Kernstärken einer<br />

Marke und eine sorgsam vorgenommene<br />

Angebotsentwicklung unabdingbar.“<br />

Wer schreibt denn so? Ein Berater<br />

von McKinsey? Ein Marketingchef eines<br />

digitalen Multis? Viel schlimmer: Es<br />

ist ein Journalist! Die „strategisch konsistente<br />

Positionierung und die sorgsam<br />

vorzunehmende Angebotsentwicklung“<br />

stammt aus der Feder eines Chefredakteurs<br />

einer großen, renommierten<br />

Zeitung.<br />

So weit vom Journalismus verabschiedet<br />

hat sich der Journalist selbst.<br />

Er schreibt wie ein Unternehmensberater,<br />

und das folgerichtig unter dem Titel<br />

„Die Zeitung spürt den Herbst“. Wie ein<br />

vorzeitig gealterter Mensch, resigniert<br />

bis ins Knochenmark, beerdigt hier einer<br />

sein ureigenes Produkt, indem er betont,<br />

„dass es gilt, dem Unabwendbaren<br />

ins Auge zu sehen“. Unabwendbar? Faktum!<br />

Aus! Beschlossen! Für mich ist das<br />

einzig Unabwendbare zurzeit die Tatsache,<br />

dass ich schlicht nicht weiß, was in<br />

den nächsten <strong>Jahre</strong>n und Jahrzehnten<br />

passieren wird. Ich habe Ahnungen, es<br />

gibt Szenarien, ich höre Meinungen und<br />

ich sehe Möglichkeiten. Aber gesichertes<br />

Wissen?<br />

Ein bisschen Hoffnung kommt immerhin<br />

aus Hollywood. Im Film „State<br />

of Play“ sind der Starreporter Cal<br />

McAffrey alias Russel Crowe und die<br />

Gedrucktes<br />

muss die<br />

Prüfung der<br />

Zeit bestehen.<br />

Es ist meist<br />

Resultat eines<br />

langen<br />

Prozesses<br />

Onlinejournalistin Della Frye alias Rachel<br />

McAdams einer Skandalgeschichte<br />

auf der Spur. Als der Enthüllungsspezialist<br />

aus der Printwelt zu seiner Onlinekollegin<br />

sagt: „Ich dachte, du bist längst<br />

unten und haust in deine Bloggertasten“,<br />

meint diese: „Bei so einer großen Geschichte<br />

sollten die Leute schon Druckerschwärze<br />

unter den Fingern haben, wenn<br />

sie es lesen. Findest du nicht?“<br />

Selbstverständlich können Sie mir<br />

jetzt vorwerfen, dass ich einen Film zitiere,<br />

der 2009 produziert wurde, als es<br />

möglicherweise noch eine kleine Hoffnung<br />

für Print gab. Aber die nächste<br />

Medienerfahrung, die ich anfüge, hat<br />

sich erst vor kurzer Zeit ereignet. Und<br />

sie stammt nicht aus der virtuellen Welt<br />

von Hollywood, sondern aus der Realität<br />

zwölfjähriger Schüler in Zürich.<br />

Das Schulamt der Stadt Zürich organisiert<br />

dreimal jährlich einen Kurs, in<br />

dem Kinder bis zwölf <strong>Jahre</strong> die Zeitung<br />

Flip Flop erarbeiten. Wie bei allen Zeitungen<br />

schaffen es nicht alle Artikel ins<br />

Blatt. „Wenn ich den Kindern dann jeweils<br />

vorschlage, einen Teil der Artikel<br />

online zu publizieren, sind sie mächtig<br />

enttäuscht“, sagt die Journalistin, die<br />

den Kurs begleitet: „Ihnen fehlt die Magie,<br />

dass ihre Artikel 15 000 Mal auf Papier<br />

existieren.“ Online zu erscheinen, ist<br />

offenbar auch heute bei den ganz Jungen<br />

noch nicht richtig cool. Oder ist es mehr?<br />

Woher kommt dieses Gefühl, dass<br />

auf Papier Gedrucktes „mehr wert“ sei?<br />

Vielleicht, weil Gedrucktes die Prüfung<br />

der Zeit bestehen muss. Es steht<br />

„schwarz auf weiß“, meint unauslöschlich,<br />

gesagt ist gesagt. Es meint Wertigkeit.<br />

Gedrucktes ist meistens das Resultat<br />

eines langen Prozesses von der Idee<br />

über die Recherche, von der Schreibe<br />

über das Gegenlesen bis zum Korrektorat.<br />

Erst dann wird „publiziert“. Und es<br />

bleibt fassbar, verschwindet nicht in der<br />

„Cloud“, dieser digitalen Wolke, genauso<br />

wenig fassbar wie die echte Wolke oben<br />

am Himmel.<br />

Außer zwölfjährigen Zürchern und<br />

amerikanischen Schauspielern scheint allerdings<br />

niemand mehr an eine Zukunft<br />

des Gedruckten zu glauben. Vor allem<br />

nicht die Journalisten traditioneller Medienhäuser.<br />

Aber auch für diese Situation<br />

habe ich eine Lebenserfahrung gemacht.<br />

Lineare Strategien eines Unternehmens<br />

führen zwangsläufig in die Sackgasse.<br />

Lineare Euphorie meistens in die Pleite.<br />

Deshalb möchte ich hier an den Lieblingssatz<br />

meiner Frau erinnern. Er stammt von<br />

Francis Picabia, einem der bedeutendsten<br />

Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts:<br />

„Der Kopf ist rund, damit das Denken die<br />

Richtung wechseln kann.“<br />

MICHAEL RINGIER ist Verleger und<br />

Herausgeber von <strong>Cicero</strong><br />

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Spektakuläre Justizirrtümer<br />

Es kann jeden treffen: Wer unschuldig in Haft gerät, geht durch<br />

die Hölle. Jan Schmitt rollt spektakuläre Kriminalfälle auf, lässt<br />

sie durch Prozessakten und Aussagen noch einmal lebendig<br />

werden. Der Überlebenskampf von Menschen, die nie straffällig<br />

geworden sind, liest sich spannend wie ein Krimi und gibt den<br />

Blick frei in das Innerste unserer Justiz – in ein oftmals intransparentes<br />

System mit vielen Schattenseiten.<br />

www.gtvh.de<br />

GÜTERSLOHER<br />

VERLAGSHAUS<br />

Jan Schmitt<br />

UNSCHULDIG IN HAFT<br />

Wenn der Staat zum Täter wird<br />

Mit einem Vorwort von Sonia Mikich<br />

235 S. / geb. mit Schutzumschlag<br />

€ 19,99 (D) / € 20,60 (A) / CHF* 28,50<br />

ISBN 978-3-579-07068-1<br />

*empf. Verkaufspreis


TITEL<br />

Europas goldene Zukunft<br />

GOLDENES<br />

EUROPA<br />

Ende Mai wählen die Europäer ihr Parlament. Nichts wird so<br />

lustvoll schlechtgeredet wie die Europäische Union. Warum<br />

eigentlich? Sie ist eine politische Jahrhundertidee, das Beste,<br />

was diesem Kontinent nach zwei Kriegen passieren konnte.<br />

Zehn Gründe, warum Europa großartig ist. Zehn<br />

leidenschaftliche Plädoyers namhafter Autoren<br />

Illustration MARTIN HAAKE<br />

22<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


23<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


TITEL<br />

Europas goldene Zukunft<br />

1. FRIEDEN<br />

Ein Krieg in Europa gilt trotz aller Krisen für viele als<br />

unvorstellbar. Das sollte uns aber nicht in Sicherheit wiegen<br />

Von JANUSZ REITER<br />

Es war 1986 in Warschau. Eine Gruppe junger Oppositioneller<br />

traf sich, weil einer von ihnen über seine<br />

Reise nach New York berichten sollte. Dort hatte er,<br />

selbst Historiker, einen im Exil lebenden Berufskollegen<br />

getroffen. Sie sprachen über das polnische Jozef-<br />

Pilsudski-Archiv, das während des Zweiten Weltkriegs in New<br />

York Zuflucht gefunden hatte. Hoffentlich werde das Archiv<br />

nach Polen zurückkehren, sagte der Besucher aus Warschau.<br />

Der New Yorker reagierte entschlossen: „Niemals!“ „Wieso niemals?“,<br />

empörte sich der Jüngere, „auch nicht wenn Polen frei<br />

wird?“ „Nein, auch dann nicht!“ Gerade als Historiker müsse<br />

man doch wissen, dass Polen ein viel zu unsicherer Ort sei, als<br />

dass man dort so wertvolle Archivbestände deponieren könne.<br />

Die Gewissheit des Exilpolen, dass es zwischen Oder und<br />

Bug keine dauerhafte Sicherheit geben könne, ließ die Teilnehmer<br />

der Warschauer Diskussion nicht los. Sie sprachen über die<br />

Ost-West-Teilung, aber auch über Polens Geopolitik zwischen<br />

Russland und Deutschland, suchten nach Auswegen aus einer<br />

scheinbar ausweglosen Situation. Ihr Fazit lautete: Man darf<br />

vor der Geografie nicht kapitulieren. Man muss für die polnische<br />

Frage eine europäische Lösung finden. Die meisten kamen<br />

zu dem Schluss, dass es ohne eine Vereinigung Deutschlands<br />

kaum Chancen für einen europäischen Aufbruch geben wird.<br />

Keiner der Gesprächsteilnehmer konnte damit rechnen, dass<br />

solche Überlegungen nur drei <strong>Jahre</strong> später Wirklichkeit werden<br />

würden. Schon gar nicht konnten sie ahnen, dass sich innerhalb<br />

von 15 <strong>Jahre</strong>n mit dem Nato- und EU-Beitritt Polens Geopolitik<br />

grundlegend verändern würde. Auch das deutsch-polnische Verhältnis<br />

hat alle Erwartungen übertroffen. Inzwischen halten viele<br />

Polen die vergangenen 25 <strong>Jahre</strong> für die erfolgreichste, glücklichste<br />

Epoche der polnischen Geschichte. Und das habe viel mit<br />

Europa zu tun. Erst mit der Ukrainekrise wird diese Bilanz mit<br />

etwas Unsicherheit gezogen. Geht die beste Zeit schon zu Ende?<br />

Nein, die Frage von Krieg und Frieden wird nicht direkt<br />

gestellt. Ein Krieg innerhalb der EU gilt weiter als undenkbar.<br />

Was aber, wenn er in unmittelbarer Nachbarschaft auszubrechen<br />

droht? Oder wenn es gar keinen Krieg gibt, aber ein Staat<br />

seine Unabhängigkeit als Ergebnis einer „diplomatischen Lösung“<br />

verliert? So abwegig ist der Gedanke nicht. Die Teilungen<br />

Polens Ende des 18. Jahrhunderts waren ein Ergebnis der<br />

Diplomatie. Die russische Zarin entwarf in Moskau die innere<br />

Ordnung Polens, ihre Agenten sorgten in Polen dafür, dass sie<br />

die nötige Unterstützung fanden. Am Ende verschwand Polen<br />

von der politischen Landkarte. Vor den Teilungen war Polen ein<br />

pazifistisches Land. Ein militärisch schwacher Staat provoziere<br />

niemanden, argumentierte der regierende Adel, und würde deshalb<br />

von den Nachbarn in Ruhe gelassen. Heute kann man nur<br />

sagen: Wie dumm, seine Nachbarn nicht richtig zu kennen …<br />

Der Fehler, die Außenwelt nicht zu verstehen, könnte auch<br />

die EU teuer zu stehen kommen. Sie ist weder schwach noch<br />

klein. Sie wird von vielen beneidet, imponiert aber wenigen.<br />

Sie hält sich für eine Ausnahme, hat aber, anders als Amerika,<br />

nicht den Ehrgeiz, ihr Modell anderen anzubieten. Sie<br />

will sich vor der Welt schützen, anstatt sie zu gestalten. Wenn<br />

eine Macht wie Russland zu verstehen gibt, die EU sei ein Nebenprodukt<br />

des Kalten Krieges und habe zumindest mit dessen<br />

Ende ihre Existenzberechtigung verloren, tun wir so, als<br />

ob wir nicht wüssten, worum es geht.<br />

Doch seit der Ukrainekrise müssten wir das genau wissen.<br />

Es geht darum, ob das Friedensprojekt EU nur eine relativ kurze<br />

Episode in der Geschichte Europas bleibt. Oder ob die EU den<br />

Mut aufbringt, Freunde zusammenzubringen und Gegner fernzuhalten.<br />

Es geht darum, ob die Union genug Selbstrespekt findet,<br />

um anderen zu imponieren. Und es geht um ihr Konzept des Friedens,<br />

zu dem mehr gehört als die Abwesenheit von Krieg. Was<br />

das genau ist? Der Luxus, dem Nachbarn vertrauen zu können.<br />

JANUSZ REITER war Botschafter Polens in Berlin und<br />

Washington. Der 61-Jährige ist zurzeit Richard-von-Weizsäcker-<br />

Fellow der Robert-Bosch-Stiftung<br />

24<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Illustration: Martin Haake<br />

25<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


TITEL<br />

Europas goldene Zukunft<br />

2. LANDSCHAFTEN<br />

Eine Reise durch Europa ist wie der Gang durch eine reiche<br />

Ausstellung – hinter jeder Ecke eröffnet sich ein neues Bild<br />

Von WOLFGANG BÜSCHER<br />

Die romantische Vorstellung vom Reisen geht dahin,<br />

es erweitere das Bewusstsein, und der Reisende<br />

kehre stets fremder heim, als er losgezogen<br />

sei. Das ist auch nicht ganz falsch. Und doch kann<br />

ich sagen, von jeder großen Reise bin ich europäischer<br />

heimgekommen, als ich loszog.<br />

Ein Blick auf den Globus ist deprimierend. Er zeigt Europa<br />

als verzipfelte, ausfransende Warze am eurasischen Großkontinent.<br />

Aber der Astronautenblick sieht das Wesentliche<br />

nicht. Was so klein und zerklüftet ausschaut, ist Europas unverwechselbare<br />

Stärke. Nur hier herrscht nicht die Wucht schierer<br />

Fläche und Masse. Nur hier hat sich, begünstigt von einem<br />

lebensfreundlichen Klima, ein unglaublicher Reichtum des Besonderen<br />

herausgebildet. Und mir scheint, die Landschaft hat<br />

starken Anteil daran. Dass die Schweizer anfingen, Uhren zu<br />

bauen, die besten der Welt, hat etwas mit ihren Tälern zu tun.<br />

Dass die Italiener Kleidung herstellen, die beste der Welt, hat<br />

etwas mit Städten zu tun, in denen man Lust hat, sie auszuführen.<br />

Und dass die Deutschen Autos bauen, die besten der<br />

Welt, hat etwas mit den Bewegungsgesetzen unserer kontinentalen<br />

Zentrallage zu tun. Die Reihe ließe sich lange fortsetzen.<br />

Europas Genius lebt und webt in Landschaften. Es gibt<br />

Landschaften der Renaissance, solche der Reformation und katholisch<br />

durchbildete Landschaften. Es gibt Magna-Graecia-<br />

Küsten mit uralten Handelsstädten und karge Gegenden, die<br />

Konquistadoren brüteten. Es gibt die Wein-, Bier- und Schnapsbreiten,<br />

sie teilen Europa entlang von landschaftlichen so gut<br />

wie kulturellen, ja religiösen Meridianen: der weinige Westen,<br />

die bierige Mitte, der schnapsige Osten. Und das sind nur die<br />

allergröbsten Striche eines ungeheuer fein gezeichneten Bildes.<br />

Karl Marx hat von der asiatischen Despotie gesprochen.<br />

Nachdem ich durch die Große Kasachensteppe gefahren bin,<br />

durch die Gluthitze des Persischen Golfes und andere Zonen<br />

von mächtiger Monotonie, denke ich, es gibt auch eine Despotie<br />

solcher Landschaften. Eine Despotie der Sonne, des Staubes,<br />

der Tropen. Es gibt Entsprechungen zwischen Staats- und<br />

Landschaftsformen. Ich vermag mich nicht darüber zu wundern,<br />

dass der deutsche Rechtsstaat oder die italienische Stadtrepublik<br />

nicht in der arabischen Wüste entstanden sind.<br />

Durch die gewaltig-monotonen Landschaften der Großkontinente<br />

zu reisen, hat seine Magie und Schönheit, ich möchte<br />

sie nicht missen. Aber es bleibt eine Reise durch ein einziges so<br />

monströses wie grandioses Bild. Durch Europa zu reisen, ist etwas<br />

radikal anderes. Es heißt, Bilder über Bilder zu sehen, hinter<br />

jeder Biegung des Flusses, der Autostrada ein neues – durch<br />

eine unfassbar reiche Ausstellung zu gehen, von Saal zu Saal,<br />

und in jedem wechseln Licht, Farben, Motive.<br />

Die europäische Malerei, Musik, Literatur, sie konnten nur<br />

hier entstehen, in diesem von Natur und Mensch in Jahrtausenden<br />

durchgeistigten, durchgearbeiteten Weltwinkel. Das ist<br />

Europas Charme und Genius – das Durchgearbeitete, wieder<br />

und wieder. Eine Dignität der Erinnerung, die das Neue sät,<br />

nicht erstickt. Das geht nicht in der Steppe, in der Wüste, in<br />

der Prärie, das geht nur hier. Aus all dem heraus lebe, träume,<br />

schreibe ich, auch wenn ich fern davon bin.<br />

WOLFGANG BÜSCHER, Jahrgang 1951, ist Reiseschriftsteller<br />

und Reporter bei der Tageszeitung Die Welt. Sein Buch „Berlin –<br />

Moskau. Eine Reise zu Fuß“ war ein Bestseller<br />

Illustration: Martin Haake<br />

26<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


3. WOHLSTAND<br />

Die Kaufkraft der Europäer ist in den vergangenen 25 <strong>Jahre</strong>n<br />

fast kontinuierlich gewachsen – und das lässt sich fortsetzen<br />

Von ALAIN MINC<br />

Illustration: Martin Haake<br />

Obwohl Europäer sich dessen nicht bewusst sind,<br />

leben sie in einem Fleckchen Paradies und hätten<br />

viele Gründe, stolz zu sein.<br />

In der Eurokrise haben die Regierungschefs<br />

und die Europäische Zentralbank ihre Arbeit getan.<br />

Sie haben die notwendigen Maßnahmen ergriffen, selbst<br />

wenn dies für einige Länder mit schmerzhaften Reformen einherging.<br />

Lassen wir den Sonderfall Griechenland beiseite; dort<br />

müssten vor allem Steuern effizienter erhoben werden. Die Kaufkraft<br />

der Spanier und Portugiesen ist zwar gesunken. Doch gemessen<br />

an den Vorteilen, die diese Länder vom Beitritt zur Währungsunion<br />

haben, ist es ein wenig wie in der Bibel: Nach den<br />

sieben fetten <strong>Jahre</strong>n des Überflusses kommen die mageren. Insgesamt<br />

hat sich Europa mit viel Können aus einer Krise herausgearbeitet,<br />

die aus den Vereinigten Staaten importiert worden war.<br />

Wer hätte sich einst vorstellen können, dass Deutschland<br />

einen Mechanismus zur finanziellen Hilfe für EU-Mitgliedstaaten<br />

akzeptieren würde? 2008 hatte es in Amerika sechs Monate<br />

gedauert, bis ein Rettungsplan für die Banken bereitlag;<br />

2011 stand der Staat am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Die<br />

Mitgliedstaaten der Eurozone hingegen konnten Griechenland<br />

ihre Hilfe schnell zusichern. Europa kommt im Krebsgang voran,<br />

aber die Blockaden in Brüssel sind längst nicht so gravierend wie<br />

in Washington. Barack Obama skandiert „Yes we can“, aber er<br />

handelt nicht. Europa hat zwar kein Gesicht, aber es packt an.<br />

Denjenigen, die das schwache Wachstum als Argument vorbringen,<br />

sage ich: Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts<br />

pro Kopf ist relevanter. Die Kluft zwischen Europa und den USA<br />

fällt dabei viel kleiner aus. Mittel- und langfristig ist es uns gelungen,<br />

das Gleichgewicht zwischen Protektion und Wettbewerb<br />

zu wahren, das den Kern des europäischen Modells bildet. Um<br />

die deutsche Wirtschaft wieder anzukurbeln, hatte Gerhard<br />

Schröder den Sozialstaat zwar angetastet, ihn aber nicht grundsätzlich<br />

infrage gestellt. Auch in anderen Ländern können wir<br />

die soziale Marktwirtschaft rationaler gestalten, Verzerrungen<br />

korrigieren, ohne sie radikal umzukrempeln.<br />

Innerhalb der westlichen Welt ist die europäische Gesellschaft<br />

recht egalitär. Der Anteil des 1 Prozents der Reichsten<br />

am Nationaleinkommen betrug vor 30 <strong>Jahre</strong>n in den USA 8 Prozent.<br />

In Europa war es ähnlich. Heute repräsentiert dasselbe<br />

1 Prozent ein Viertel des amerikanischen Nationaleinkommens,<br />

in Europa sind wir bei 8 bis 9 Prozent geblieben. Wenn wir ein<br />

gewisses Maß an Gleichheit für einen Grundwert halten, dann<br />

ziehe ich das europäische System bei weitem dem amerikanischen<br />

vor. Die Kaufkraft der Europäer ist außerdem in 25 <strong>Jahre</strong>n<br />

fast kontinuierlich gewachsen. Auch die These, die Konkurrenz<br />

der Schwellenländer stelle ein Problem dar, ist ein Hirngespinst.<br />

Im Gegenteil. Diese Länder sind hervorragende Kunden, und<br />

der Export ist ein Beschäftigungsmotor.<br />

Was wiederhergestellt werden muss, ist kein gutgläubiger<br />

Optimismus, sondern Vertrauen. Politiker neigen dazu, aus Europa<br />

einen Sündenbock für alles zu machen. Man muss damit<br />

rechnen, dass Populisten an Bedeutung gewinnen. Aber wir<br />

leben nicht im Jahr 1933! Europa hat alle Möglichkeiten, den<br />

Weg zu mehr Konjunktur und Stabilität zu finden.<br />

ALAIN MINC, Jahrgang 1949, ist einer der führenden<br />

Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen Frankreichs. Er beriet<br />

den ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy<br />

27<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


TITEL<br />

Europas goldene Zukunft<br />

4. EINFALLSREICHTUM<br />

Keine Region der Welt exportiert so viele Ideen wie Europa.<br />

Aber wir müssen uns anstrengen, damit das auch so bleibt<br />

Von BENOÎT BATTISTELLI<br />

Innovation, insbesondere technische Innovation – und darum<br />

geht es bei Patenten – ist der Schlüssel zur Zukunft.<br />

Sie schafft Arbeitsplätze und Wohlstand. In unserer heutigen<br />

Wissensgesellschaft zeichnen sich erfolgreiche Unternehmen<br />

in erster Linie dadurch aus, dass sie immer an vorderster<br />

Front ihres jeweiligen Technologiegebiets stehen. Das<br />

geistige Eigentum, das durch ihre Forschungs- und Entwicklungstätigkeit<br />

entsteht, braucht Schutz – unter anderem durch<br />

Patente. Mehr als 66 000 Patente hat das Europäische Patentamt<br />

im vergangenen Jahr erteilt, nach rigoroser Prüfung, in<br />

höchster Qualität und an Erfinder aus der ganzen Welt.<br />

Regelmäßig höre ich, Europa sei beim Thema Erfindungen<br />

ins Hintertreffen geraten, nicht nur was die Anzahl der Patente<br />

anbelangt, sondern auch, was seine Rolle im weltweiten<br />

Wettbewerb um die besseren Ideen und Produkte betrifft. Die<br />

Fakten sprechen eine andere Sprache: Keine Region der Welt<br />

exportiert so viele seiner Ideen in die ganze Welt. Europa erwirtschaftet<br />

sozusagen eine positive Innovationsbilanz. Ob es<br />

die USA, Japan oder China sind – die Patentanfragen europäischer<br />

Unternehmen überwiegen jeweils bei weitem die Schutzanfragen<br />

von Erfindern dieser Länder in Europa. Umgekehrt<br />

ist Europa ein offener Markt für innovative Unternehmen aus<br />

der ganzen Welt. Und das ist gut so: Eine Welt ohne Protektionismus<br />

ist in meinen Augen eine bessere Welt. Gerade für<br />

junge Menschen sind die Perspektiven in einer offenen Welt<br />

weit größer als in geschlossenen Ökonomien.<br />

Wir Europäer haben beim Thema Innovation eine besondere<br />

Pflicht: Die Systeme zum Schutz geistigen Eigentums<br />

basieren auf einer zutiefst europäischen Idee, die Ende des<br />

18. Jahrhunderts ihren Siegeszug um den Globus angetreten hat<br />

und mittlerweile überall Anerkennung findet. Darauf können<br />

wir stolz sein, aber das reicht nicht. Europa muss eine führende<br />

Rolle bei der Entwicklung eines globalen Patentsystems spielen.<br />

So freuen wir uns, dass China sein Patentsystem weitgehend<br />

am europäischen ausgerichtet hat. Das hilft europäischen<br />

Unternehmen, wenn sie den chinesischen Markt erobern wollen.<br />

Wir sehen es ebenso gerne, dass mehr als 40 Patentämter überall<br />

auf der Welt mit den von uns entwickelten elektronischen<br />

Systemen etwa zur Patentrecherche arbeiten, und dass unsere<br />

Patentdatenbanken als die weltweit umfangreichste Sammlung<br />

technischen Wissens angesehen werden.<br />

Wenn es um einzelne Technologien geht, ist Europa in vielen<br />

Bereichen weltweit vorne dabei. Allerdings ist das kein Grund,<br />

uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen. Wer aufhört zu forschen<br />

und zu entwickeln, der gibt die Zukunft auf. In manchen Bereichen<br />

ist das leider schon weitgehend geschehen: In der digitalen<br />

Kommunikation oder in der Unterhaltungselektronik spielt Europa<br />

nur noch eine untergeordnete Rolle. Hier zeigt sich, dass<br />

Deindustrialisierung nicht zuletzt zu einer Schwächung der eigenen<br />

Innovationsfähigkeit führt. Bei der Biotechnologie muss<br />

und kann eine ähnliche Entwicklung noch verhindert werden.<br />

Deshalb freue ich mich, dass die EU diese Bereiche in ihre Liste<br />

der „Lead technologies“ aufgenommen hat und jetzt Anstrengungen<br />

zur Reindustrialisierung unternimmt.<br />

Unsere Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen<br />

gehören nach wie vor zu den kreativsten weltweit.<br />

Wir müssen aber Anstrengungen unternehmen, um die Rahmenbedingungen<br />

für Innovation zu verbessern. Das fängt beim<br />

Risikokapital an und hört beim Patentsystem selbst auf. Ein<br />

wichtiger Schritt war die Entscheidung, die bestehenden, immer<br />

noch zu einem weiten Teil nationalen Patentsysteme zumindest<br />

in 25 EU-Staaten zu vereinheitlichen. Damit wird das System<br />

nicht nur zugänglicher, sondern auch bis zu 70 Prozent kosteneffizienter.<br />

Ich kann die EU-Staaten deshalb nur dazu auffordern,<br />

den Vertrag zur Gründung eines EU-Patentgerichts zügig<br />

zu ratifizieren, damit das neue System in Kraft treten kann.<br />

BENOÎT BATTISTELLI ist Präsident des Europäischen Patentamts<br />

in München, einer Organisation mit 38 Mitgliedstaaten, darunter<br />

sämtliche EU-Länder. Battistelli, Jahrgang 1950, ist Franzose<br />

28<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Illustration: Martin Haake<br />

29<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


30<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


TITEL<br />

Europas goldene Zukunft<br />

5. DEMOKRATIE<br />

Die Verfasstheit einer Gesellschaft erkennt man auch an den<br />

Seitenstreifen der Straßen. Gut, dass wir diese Streifen haben<br />

Von K AREL HVÍŽĎALA<br />

Illustration: Martin Haake<br />

Als ich im Sommer 1978 ins Exil ging, sagte mir ein<br />

deutscher Freund: „Stell dir vor, ich war vor kurzem<br />

in der Tschechoslowakei, und das totalitäre<br />

Regime kann man bei euch bereits auf dem Weg<br />

vom Flughafen erkennen. Es fehlen die weißen Seitenstreifen<br />

an den Straßen. Die Bürger wissen also nicht, wo die<br />

Grenzen des Bereichs verlaufen, für den der Staat haftet, und ab<br />

welcher Stelle der Fahrer die Verantwortung übernimmt. Das<br />

ist in einer funktionierenden Demokratie unzulässig.“<br />

Damals ist mir zum ersten Mal klar geworden, was Demokratie<br />

in der Praxis bedeutet: eine Gemeinschaft vollberechtigter<br />

Bürger, die die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten<br />

und somit auch der öffentlichen Straßen übernehmen. Sie<br />

schützt die Bürger – und dient nicht einer kleinen Anzahl von<br />

manipulativen Machthabern. Im heutigen Europa sind weiße<br />

Seitenstreifen fast allgegenwärtig, sie enden irgendwo in Polen<br />

hinter Bialystok und in der Slowakei hinter Košice. Wir<br />

teilen gemeinsam einen vernetzten Raum und somit auch die<br />

Regeln und Vorstellungen darüber, wie man Demokratie weiterentwickeln<br />

kann.<br />

Ich erinnere mich bis heute, wie wir das erste Mal aus<br />

Deutschland über Österreich in die italienischen Alpen zum<br />

Skifahren gereist sind und unterwegs nicht ein einziges Mal angehalten<br />

wurden. Nur mein kleiner Sohn beschwerte sich, denn<br />

für ihn waren die Grenzüberschreitungen ins freie Europa so<br />

etwas wie ein Actionspiel gewesen. Er musste dann immer so<br />

tun, als ob er im Auto auf dem Rücksitz schlafen würde, während<br />

unter ihm gestapelte Manuskripte versteckt waren. Hätten<br />

die Zollbeamten sie entdeckt, wären wir im Gefängnis gelandet.<br />

Heute können meine Enkel solche Geschichten nicht glauben.<br />

Wer heute von Berlin nach Prag fährt, wird nicht an der<br />

Grenze abgebremst, sondern erst dort, wo die Autobahn endet<br />

– und zwar von protestierenden Umweltschützern, die verhindern<br />

wollen, dass diese neue und wichtige Verkehrsader die<br />

herrliche Natur des Böhmischen Mittelgebirges zerstört. Auch<br />

das ist Demokratie: Die Bürger haben das Recht, ihre Landschaft<br />

zu verteidigen.<br />

Demokratie ist jedoch kein starrer Zustand, sondern ein<br />

endloser Prozess, der mit der jeweiligen Tradition in den unterschiedlichen<br />

Ländern zusammenhängt. Sie wird in Großbritannien,<br />

wo ihr Beginn markiert wird von der mythischen Magna<br />

Carta aus dem Jahr 1215, anders verstanden als in Frankreich,<br />

wo sie ihre Wurzeln hat in der Französischen Revolution des<br />

<strong>Jahre</strong>s 1789. Anders auch in Deutschland und Österreich, wohin<br />

sie nach 1945 exportiert wurde. In Mitteleuropa konnte<br />

die Demokratie sogar erst nach 1989 Fuß fassen. Heute bauen<br />

wir in Europa an einer neuen, gemeinsamen demokratischen<br />

Tradition – was dazu führt, dass man anfängt, über die Demokratie<br />

anders zu denken. Der Soziologe und Philosoph Ralf<br />

Dahrendorf fasste es vor einigen <strong>Jahre</strong>n in seinem Buch „Der<br />

Wiederbeginn der Geschichte“ zusammen.<br />

Die gegenwärtig nachklingende Krise der Europäischen<br />

Union sowie die aggressive Annexion der Krim durch Russland,<br />

die der Annexion des Sudetenlands durch Deutschland<br />

im Jahr 1938 sehr ähnlich ist, könnten für die gesamte Europäische<br />

Union womöglich eine große Chance sein, um Veränderungen<br />

herbeizuführen. Ich denke da beispielsweise an eine<br />

noch engere Zusammenarbeit, insbesondere was Verteidigung<br />

und Sicherheit betrifft.<br />

Es sind letztlich einige Grundwerte, die die Basis unseres<br />

gemeinsamen Kontinents bilden: Freiheit, Gleichheit, Toleranz,<br />

Rechtsstaatlichkeit. Es sind die Prinzipien der Demokratie.<br />

Europa ergibt einen Sinn, solange wir noch über und<br />

für diese Werte streiten. Es ist ein Streit über das Wesen Europas.<br />

Solange wir diesen Streit mit Ausdauer und ohne Unterlass<br />

führen, wie Nietzsche sagte, befinden wir uns in Europa.<br />

KAREL HVÍŽĎALA ist einer der bekanntesten Journalisten und<br />

Essayisten Tschechiens. Die Bücher des 1941 geborenen Havel-<br />

Biografen sind auch auf Deutsch erschienen<br />

31<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


TITEL<br />

Europas goldene Zukunft<br />

6. KULTUR<br />

Europa ist weniger ein Kontinent denn eine kulturelle<br />

Lebensform – und deren Mission ist noch lange nicht erfüllt<br />

Von CHRISTOPH STÖLZL<br />

Wir sind schon durch ein Dutzend Fürstenthümer,<br />

durch ein halbes Dutzend Großherzogthümer<br />

und durch ein paar Königreiche<br />

gelaufen, und das in der größten Übereilung<br />

in einem halben Tag.“ So ruft es in Georg<br />

Büchners „Leonce und Lena“ der Hofnarr Valerio seinem Prinzen<br />

zu, mit dem er auf romantische Italienreise ausgezogen ist.<br />

Souveränität im Kleinen ist das europäische Urprinzip. Nicht<br />

Flächenstaat und Zentralismus, sondern Pluralismus vieler Majestäten<br />

machte und macht den Reichtum des Kontinents aus,<br />

der nur dem Namen nach einer ist.<br />

Hätten die beiden Wanderer in Büchners Lustspiel in allen<br />

Staaten, die sie so flugs durchquerten, einen Abstecher in die<br />

Theater und Opernhäuser, Philharmonien und Museen, Schlösser<br />

und Parks, Kathedralen und Kapellen gemacht – sie wären bis<br />

heute nicht beim Happy End des Dramas angekommen. Allein<br />

in Deutschland öffnen sich 6250 Museen jährlich <strong>10</strong>6 Millionen<br />

Besuchern, und um die Musikfreunde wetteifern 132 Symphonieorchester<br />

und 82 Opernhäuser. Aber was sollen Statistiken:<br />

Mutatis mutandis sieht es bei unseren Nachbarn ähnlich aus. Wer<br />

Europa durchwandert, der erlebt einen unermesslichen Reichtum<br />

an Ausdrucksformen, an Variationen der Künste auf den<br />

verschiedensten Feldern der Humanität. Elementar ist die Polyfonie<br />

der Kommunikation: Europas Menschen und also auch<br />

Kulturen sprechen viele Sprachen und Dialekte. Die europäische<br />

Seele ist vielsprachig, und sie fühlt und erlebt sich selbst so.<br />

Das alles zusammen nennen wir „Kultur“, und nur Puristen<br />

mokieren sich über die Ungenauigkeit dieses Begriffs, der<br />

das Abstrakte wie die Kunst der Fuge wie das Sinnliche der<br />

Kochkunst umgreifen kann. Seit die antiken Denker Europa<br />

zu definieren begannen, fanden sie, es handle sich vor allem<br />

um eine kulturelle Lebensform. Sie hat bis heute eine erstaunliche<br />

Kontinuität der Schönheitsideale und Gestaltungsprinzipien<br />

bewahrt. Sie ist seit drei Jahrtausenden in einem unendlichen<br />

Selbstgespräch über das Verhältnis von Gut und Böse,<br />

von Schön und Hässlich. Sie hat aus drei radikal verschiedenen<br />

Weltentwürfen, dem griechisch-individualistischen, dem<br />

römisch-rechtlichen und dem jüdisch-christlichen der Nächstenliebe<br />

eine Synthese versucht, die nie vollständig gelungen<br />

ist und darum als Vor-Wurf ewig lebendig bleibt.<br />

Wie sieht es mit der Zukunft aus? Nach Befunden der Uno<br />

lebten im <strong>Jahre</strong> 1900 in Europa 21 Prozent der Weltbevölkerung;<br />

heute sind es weniger als 12 Prozent, und am Ende unseres<br />

Jahrhunderts werden es den Schätzungen zufolge weniger als<br />

4 Prozent sein. Wird Europa zu einer quantité négligeable der<br />

Menschheitsgeschichte? Dazu wird es nicht kommen. Denn<br />

die Mission Europas ist noch lange nicht erfüllt. Die europäische<br />

Doppelformel von forschendem, formendem Menschengeist<br />

und forderndem Menschenrecht ist immer noch auf ihrem<br />

Weg rund um den Globus – selbst verschuldete Rückschläge inbegriffen.<br />

Aber es gibt für uns Europäer keine Alternative dazu.<br />

Wer das Goethe’sche „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“<br />

über Bord wirft und Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Freiheit<br />

des Individuums garantiert, sich in allen Formen Gehör zu<br />

verschaffen in der Welt, der ist schon halb verloren.<br />

CHRISTOPH STÖLZL ist Präsident der Hochschule für Musik<br />

Franz Liszt in Weimar. Der Historiker, Jahrgang 1944, war von<br />

2000 bis 2001 Berliner Kultursenator<br />

Illustration: Martin Haake<br />

32<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


7. KÜCHE<br />

So große Vielfalt auf so kleinem Raum – auch deshalb bleiben<br />

die Küchen Europas ein globaler Innovationsmotor<br />

Von JUAN AMADOR<br />

Ich bin als Sohn spanischer Gastarbeiter in Schwaben aufgewachsen,<br />

und diese Herkunft war für mich natürlich auch<br />

beim Essen prägend – zu meiner kulinarischen Sozialisation<br />

hat die Paella meiner Mutter genauso gehört wie Maultaschen<br />

und Zwiebelrostbraten. Nicht zu vergessen französische<br />

Spezialitäten wie Käse, Geflügelgerichte oder sogar<br />

Gänseleberpastete, die ich bereits als Kind kennenlernen durfte,<br />

wenn wir früher regelmäßig Verwandte im Elsass besucht haben.<br />

Und genau darin zeigt sich eigentlich schon, was die „europäische<br />

Küche“ so besonders macht: Es ist ihre geradezu überwältigende<br />

Vielfalt, noch dazu auf einem eher kleinen Raum.<br />

Der gastronomische Variantenreichtum entspricht gewissermaßen<br />

dem Landschaftsbild unseres Kontinents, weswegen ich den<br />

Begriff „Küchen Europas“ bevorzuge. Wer etwa durch Asien<br />

reist, dem erscheinen die kulinarischen Unterschiede von Region<br />

zu Region doch eher nuancenhaft. Wer dagegen von Flensburg<br />

nach Freiburg fährt oder gar von Nordfrankreich ans Mittelmeer,<br />

dem wird unterwegs gehörige Abwechslung auf dem<br />

Teller geboten.<br />

Respekt davor, wie konsequent etliche meiner Kollegen – besonders<br />

im hohen Norden – diesen Ansatz verfolgen. Denn darin<br />

spiegelt sich ja auch das Bedürfnis der Europäer nach regionaler<br />

Identität. Von europäischer Gleichmacherei kann also<br />

keine Rede sein, im Gegenteil. Ich denke, dass wir in dieser<br />

Hinsicht besonders aus den Küchen Osteuropas in Zukunft noch<br />

einiges zu erwarten haben. Denn vom kulinarischen Potenzial<br />

her haben Länder wie Polen, Bulgarien, Rumänien oder auch<br />

Russland sehr viel zu bieten. Um die Zukunft Europas braucht<br />

man sich also keine Sorgen zu machen – zumindest nicht, was<br />

die Gastronomie betrifft.<br />

JUAN AMADOR, 1968 in der Nähe von Stuttgart geboren, zählt<br />

zu den besten Köchen Deutschlands. Sein Restaurant Amador in<br />

Mannheim ist mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet<br />

Illustration: Martin Haake<br />

EUROPA WAR SCHON IMMER ein großer Impulsgeber für globale<br />

Küchentrends – man denke nur an den Siegeszug der Pizza<br />

oder an das Raffinement der französischen Haute Cuisine, die<br />

ganze Generationen von Spitzenköchen in aller Welt geprägt<br />

hat. Ich glaube, daran wird sich auch nichts ändern, weil Europa<br />

gerade wegen seiner unterschiedlichen Küchen eine Art kulinarisches<br />

Laboratorium bleibt. Aus Spanien, dem Land meiner<br />

Eltern, stammt ja eine der wichtigsten gastronomischen Innovationen<br />

der vergangenen zwei Jahrzehnte, nämlich die Molekularküche.<br />

Und das ist gewiss kein Zufall, weil die Spanier<br />

(allen voran das Küchengenie Ferran Adrià) einen Nachholbedarf<br />

gegenüber ihren französischen Nachbarn spürten. Außerdem<br />

war die spanische Küche bis dahin ziemlich einfach und<br />

rustikal, was dort einen radikalen Neuanfang einfacher machte<br />

als in den traditionsbewussten Spitzenküchen Frankreichs. So<br />

fordern sich die Küchen Europas nicht nur immer wieder zu<br />

Höchstleistungen heraus; sie befruchten einander auch in Sachen<br />

Kochtechnik oder Produktauswahl.<br />

Seit einigen <strong>Jahre</strong>n gibt es ja den Trend zur verfeinerten<br />

Regionalküche, sogar auf allerhöchstem Niveau. Ich selbst bin<br />

zwar kein Anhänger davon, weil ich mir bei meiner Arbeit<br />

keine Beschränkungen auferlegen will. Aber ich habe großen<br />

33<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


TITEL<br />

Europas goldene Zukunft<br />

8. RECHT UND ORDNUNG<br />

Der europäische Rechtsstaat ist Realität – er garantiert seinen<br />

Bürgern größtmögliche Freiheit und Sicherheit<br />

Von RUPERT SCHOLZ<br />

Obwohl der europäische Einigungsprozess in der<br />

jüngsten Vergangenheit auf viel Kritik gestoßen<br />

ist – von der Eurokrise bis hin zu überzogener<br />

Bürokratie und Kompetenzexpansionismus<br />

bei den Organen der EU –, hat er Grundlegendes<br />

geleistet, vor allem in den Bereichen von Demokratie und<br />

Rechtsstaatlichkeit. Artikel 2 des Vertrags über die Europäische<br />

Union (EUV) bekennt sich ausdrücklich zu den „grundlegenden<br />

Werten“ des Schutzes der Menschenwürde, der Freiheit,<br />

der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit<br />

und der Wahrung der Menschenrechte. Artikel 3 des EUV garantiert<br />

den Bürgerinnen und Bürgern der EU „einen Raum<br />

der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“.<br />

Dies alles baut auf den gemeinsamen rechtsstaatlichen<br />

und demokratischen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten<br />

der Europäischen Union auf und verdichtet diese zum<br />

nicht nur gemeinsamen Programm, sondern auch zur verbindlich-gemeinsamen<br />

Gesamtstruktur.<br />

Herausragend ist der Schutz der Menschenwürde und der<br />

Menschenrechte. In ihm liegt der Grundwert nicht nur der Verfassungstraditionen<br />

aller Mitgliedstaaten der EU, sondern auch<br />

der aller modernen Verfassungsstaatlichkeit. In den Anfängen<br />

des europäischen Einigungsprozesses gab es hierzu noch keine<br />

gemeinschaftsrechtlichen Verbürgungen. Aber der Europäische<br />

Gerichtshof hat diese Lücke sehr bald geschlossen und die zentralen<br />

Grundlagen für einen an Menschenwürde und Menschenrechte<br />

gebundenen europäischen Rechtsstaat gelegt. Ihre Vollendung<br />

hat diese Entwicklung über den EUV und den Vertrag<br />

über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie<br />

ganz entscheidend über die Europäische Grundrechtecharta<br />

erfahren. Allerdings hat bereits zuvor die Europäische Menschenrechtskonvention<br />

aus dem Jahr 1950 für alle Mitgliedstaaten<br />

des Europarats verbindliche Grundrechtsgewährleistungen<br />

festgelegt und in der Zuständigkeit des Europäischen<br />

Gerichtshofs für Menschenrechte auch abgesichert.<br />

In alledem spiegelt sich eine gemeinsame europäische<br />

Rechtskultur wider, die in den vergangenen 200 <strong>Jahre</strong>n Schritt<br />

für Schritt erwachsen wurde und die heute für jedermann in<br />

Europa zur wahrhaftigen Selbstverständlichkeit geworden ist.<br />

Der europäische Rechtsstaat ist heute gesellschaftliche Realität;<br />

niemand in Europa stellt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit<br />

infrage. Wer sich daran nicht hält, untersteht den Sanktionsmechanismen<br />

des europäischen Unionsrechts und kann nicht<br />

Mitglied der EU werden. Die Diskussion um die mitgliedschaftlichen<br />

Ambitionen etwa der Türkei demonstrieren dies in aller<br />

Nachhaltigkeit. Die Europäische Union wahrt Demokratie und<br />

Rechtsstaatlichkeit, und sie findet in diesen Grundprinzipien<br />

moderner Verfassungsstaatlichkeit ebenso die eigene Grundlegitimation<br />

wie die maßgebende integrierende Grundgemeinsamkeit.<br />

Dies alles steht nicht mehr zur Diskussion – und dies<br />

alles gehört zu den ganz großen Leistungen des europäischen<br />

Einigungsprozesses.<br />

Rechtsstaatlichkeit bedeutet für den Bürger Gewähr von<br />

Freiheit und Gewähr von Rechtssicherheit. In freiheitsrechtlicher<br />

Sicht ist der europäische Rechtsstaat fast komplett. In<br />

sicherheitsrechtlicher Hinsicht besteht jedoch noch weiterer<br />

Entwicklungsbedarf. Trotz einiger institutioneller Anfänge,<br />

wie der in Gestalt von Europol, verharrt auch die grenzüberschreitende<br />

Sicherheitspolitik nach wie vor in den Händen der<br />

nationalen Gesetzgeber und nationalen Sicherheitsbehörden.<br />

Immer noch dominiert in der Sicherheitspolitik der nationale<br />

Souveränitätsgedanke. Der in Artikel 3 EUV versprochene gemeinsame<br />

„Raum (auch) der Sicherheit“ muss jedoch ebenso<br />

grundlegend weiterentwickelt und ausgebaut werden. So heißt<br />

jedenfalls die maßgebende Agenda aller künftigen europäischen<br />

Rechtsstaatspolitik.<br />

RUPERT SCHOLZ war Verteidigungsminister im Kabinett von<br />

Helmut Kohl. Der 1937 geborene Jurist ist Rechtsanwalt und<br />

Mitherausgeber des Grundgesetzkommentars Maunz/Dürig<br />

34<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Illustration: Martin Haake<br />

35<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


TITEL<br />

Europas goldene Zukinft<br />

9. BENUTZERFREUNDLICHKEIT<br />

Reisefreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Auslandsstudium:<br />

Die Integration hat unser Leben erheblich leichter gemacht<br />

Von GÜNTER VERHEUGEN<br />

Wer früher in Europa eine Reise tat, hatte eine<br />

Menge zu erzählen – und nicht nur Erhebendes.<br />

Es gab lästige Grenzprozeduren, den<br />

Geldumtausch und vieles mehr. Da war die<br />

Sprachbarriere noch das kleinste Hindernis,<br />

wenn man einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz im Ausland<br />

suchte, jenseits der Grenze ein Unternehmen gründen wollte,<br />

eine Ware, die von Land zu Land unterschiedliche Sicherheitsund<br />

Qualitätsstandards erfüllen musste, verkaufen oder gar<br />

eine Dienstleistung grenzüberschreitend erbringen wollte.<br />

Für die EU ist dies Vergangenheit, und kein vernünftiger<br />

Mensch würde sich diese Zeiten zurückwünschen. Aber was<br />

wir heute als unser gutes Recht ansehen, ist nicht vom Himmel<br />

gefallen. All das ist Ergebnis der Politik der europäischen Integration.<br />

Doch sosehr sie unser Leben im Einzelnen auch erleichtert<br />

und bereichert, die heutige Integrationsdebatte ist nicht<br />

voll flammender Begeisterung. Sie ist nüchtern und oft auch<br />

mit allerhand Verdruss und Verständnislosigkeit beladen. Dabei<br />

sind es nicht ihre großen politischen Ziele, die die Misstöne<br />

begründen. Sondern es ist der europäische Alltag. Da gibt es<br />

berechtigte Kritik an Unvollkommenheiten und Fehlern, aber<br />

auch Kritik, die sich auf Vorurteile und Nichtwissen gründet.<br />

Wer ein Auto kauft, verlässt sich darauf, dass alles funktioniert,<br />

vom Lenkrad bis zur Bremse. Früher hätte der deutsche<br />

Gesetzgeber dafür gesorgt. Heute tut es die EU – und niemanden<br />

stört es. Wenn aber die EU nationale oder internationale Regeln<br />

zu Handelsklassen übernimmt, ist plötzlich das Geschrei groß,<br />

und die EU gilt als Regulierungstrottel, dem nichts Sinnvolleres<br />

eingefallen ist, als sich etwa über krumme Gurken Gedanken zu<br />

machen. Seit 2009 tut sie das nicht mehr, was dazu geführt hat,<br />

dass die Gurkenkrümmung 2011 wieder dort geregelt wurde, wo<br />

sie herkam: bei der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen<br />

für Europa – übrigens mit aktiver deutscher Beteiligung.<br />

Dennoch scheinen die europäischen Handelsklassenregeln,<br />

die Qualitätsstandards festlegen, Menschen sehr wichtig zu sein,<br />

denn sonst würden sich heute nicht so viele geradezu panisch<br />

darum sorgen, dass die europäischen Gesundheits- und Qualitätsstandards<br />

bei Lebensmitteln auf dem Altar der transatlantischen<br />

Verhandlungen geopfert werden könnten – auch wenn<br />

dies überhaupt nicht zur Disposition steht.<br />

Oder nehmen wir den Euro, der in Deutschland auch deshalb<br />

einen schweren Start hatte, weil wir im Gegensatz zu anderen<br />

Ländern die doppelte Preisauszeichnung (in DM und Euro)<br />

von 1999 an für überflüssig hielten – mit dem Ergebnis, dass<br />

der Euro als „Teuro“ empfunden wurde. Es hat lange gedauert,<br />

bis auch wir begriffen, welch ein Segen der Euro für uns ist.<br />

Reisefreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Möglichkeit,<br />

woanders zu studieren, sind europäischer Alltag. Millionen Deutsche<br />

nutzen das gern. Aber wenn andere Völker das Gleiche tun,<br />

finden sich bei uns immer Leute, die nahezu hysterisch reagieren<br />

– man denke an die Diskussion um die Arbeitnehmerfreizügigkeit<br />

für Rumänen und Bulgaren. Da zeigte sich, dass eine<br />

grundlegende Frage der Integration noch nicht völlig verstanden<br />

wird. Nicht der Geldbeutel regiert die Integration, sondern<br />

die Gleichheit aller Staaten: bei den Pflichten, bei den Rechten.<br />

GÜNTER VERHEUGEN, Jahrgang 1944, war Vizepräsident der<br />

Europäischen Kommission und EU-Kommissar für Unternehmen<br />

und Industrie sowie für die Erweiterung der Union<br />

Illustration: Martin Haake<br />

36<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELT.DE/NEU<br />

Die Welt gehört denen,<br />

die nicht nach links<br />

oder rechts denken,<br />

sondern nach vorn.<br />

ROBIN ALEXANDER,<br />

REDAKTEUR


TITEL<br />

Europas goldene Zukunft<br />

<strong>10</strong>. JUGEND<br />

Europas Jugendliche haben mit vielen Problemen zu kämpfen.<br />

Nur radikales Umdenken verspricht ihnen eine goldene Zukunft<br />

Von JANNE TELLER<br />

In Europa wächst eine Generation im Bewusstsein auf, mit<br />

schlechteren Lebensumständen konfrontiert zu sein als<br />

ihre Eltern. Junge Europäer müssen sich mit unterschiedlichsten<br />

Problemen auseinandersetzen: einem unumkehrbaren<br />

Klimawandel, verschmutzten Meeren, Überbevölkerung<br />

und einer überalterten Gesellschaft. Zudem steigt die<br />

wirtschaftliche Ungleichheit. Immigranten und Flüchtlinge,<br />

die – zu Recht – auf der Suche nach besserer Lebensqualität<br />

zu uns kommen, schwächen die europäische Infrastruktur.<br />

Die Einwanderung wird zunehmen, je mehr die wirtschaftliche<br />

Ungleichheit wächst. Außerdem rückt durch die Entwicklung<br />

neuer Medien die Privatsphäre der Menschen in den Hintergrund.<br />

Und die radikale Rechte in Europa gewinnt an Boden.<br />

Im Durchschnitt ist in Europa ein Viertel der jungen Menschen<br />

arbeitslos. Im Süden, in Griechenland, Süditalien und<br />

Spanien, sind es mehr als 50 Prozent. Junge Südeuropäer wandern<br />

aus, um im Norden Jobs zu finden. Zu Hause oder im<br />

Ausland müssen sich europäische Jugendliche einem starken<br />

Konkurrenzdruck unterwerfen. Sie beginnen, einem unnatürlich<br />

schnellen Rhythmus zu folgen, der sie dazu bringt, selbstzerstörerische<br />

Verhaltensformen zu entwickeln. Sie leiden unter<br />

Essstörungen, ritzen sich, nehmen Drogen, Antidepressiva<br />

und trinken sich bewusstlos. Andere werden von sozialen Medien,<br />

Arbeit und Schönheitsoperationen abhängig. Oder sie gehen<br />

in dem Stress ganz unter.<br />

Selbstverständlich kann man über die unzähligen Möglichkeiten<br />

sprechen, die der europäischen Jugend heute geboten<br />

werden. Sie können in ganz Europa studieren und überall auf<br />

dem Kontinent arbeiten. Die Europäische Union hat sie stärker<br />

und reicher gemacht als den Großteil ihrer Altersgenossen<br />

auf der Welt. Aber all diese Gründe lassen in meinen Augen<br />

die Zukunft der europäischen Jugend nicht rosig erscheinen.<br />

Junge Europäer werden nur deshalb eine schönere, spannendere<br />

Zukunft haben, weil sie früher oder später begreifen<br />

werden, dass wir, sie, Europa und die Welt nicht so weitermachen<br />

können. Sie werden verstehen, dass Fortschritt aus einer<br />

zirkulären Harmonie des Gebens und Nehmens mit unserem<br />

Planeten entsteht und nicht aus einer Haltung des Plünderns<br />

und Wegwerfens. Sie werden begreifen, dass wir für alles, das<br />

wir in unserer Natur und unserer menschlichen Umgebung zerstören,<br />

irgendwann bezahlen.<br />

Ich habe auf Reisen mit vielen jungen Europäern gesprochen.<br />

Ihre Haltungen haben mich sowohl traurig als auch hoffnungsvoll<br />

gestimmt. Viele waren frustriert, weil sie dem Leistungsdruck<br />

nicht entsprachen; gleichzeitig suchten sie nach einem tieferen<br />

Sinn in der heutigen Gesellschaft. Wir haben ihnen keinen<br />

Weg vorgegeben, deswegen liegt es in ihrer Hand, ihn zu finden.<br />

Wenn die Jugend aufhört, zu oberflächlichen, leeren Idealen<br />

aufzuschauen, wird sie verstehen: Das Problem in unserem<br />

heutigen System liegt darin, dass man es nicht aufrechterhalten<br />

kann. Wenn sie begreifen, dass das Leben nicht nur aus<br />

kapitalistischem Wettbewerb besteht, werden sie einen sinnvolleren<br />

Weg finden.<br />

Das ist der Weg in die goldene Zukunft, nicht nur der europäischen<br />

Jugend, aber Europas. Und hoffentlich auch der Welt.<br />

JANNE TELLER ist eine vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin<br />

und Essayistin. Die gebürtige Dänin, Jahrgang 1964, war in den<br />

neunziger <strong>Jahre</strong>n Beraterin für die EU<br />

Illustration: Martin Haake<br />

38<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

„ Der einzige Ort,<br />

an dem du<br />

ganz sicher bist,<br />

ist dein Kopf “<br />

Jacob Appelbaum, Hacker und Journalist in Deutschland – und<br />

Sicherheitsrisiko aus Sicht der USA, Porträt ab Seite 44<br />

39<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

DIE GUMMISOHLEN DER MACHT<br />

Reinhard Kardinal Marx hat mehr Einfluss als jeder andere katholische Geistliche in<br />

Deutschland. Wie arbeitet er? Unterwegs mit dem neuen Chef der Bischofskonferenz<br />

Von SOPHIE DANNENBERG<br />

Foto: Wolf Heider-Sawall/Laif<br />

Der Kardinal könnte ein guter Pokerspieler<br />

sein. Die sparsamen<br />

Handbewegungen verraten, dass<br />

er sich steuern kann. Reinhard Marx wartet<br />

auf seinen Einsatz in der Katholischen<br />

Akademie zu Berlin, der Soziologe Hans<br />

Joas redet vor ihm. Der mächtige Körper<br />

des Kardinals bleibt reglos, obwohl er eigentlich<br />

gewohnt ist, einen Raum gleich<br />

einzunehmen mit seiner angerauten, starken<br />

Stimme, sodass jeder sofort weiß: Das<br />

ist der Chef. Aber er beherrscht sich.<br />

Beim Pokerspiel gibt es den sogenannten<br />

„Tell“, das Zeichen, mit dem ein<br />

Spieler unbewusst preisgibt, was er vorhat.<br />

Auch Marx hat einen „Tell“. Es sind<br />

seine Schuhe. Er trägt breite Schuhe mit<br />

gerippten Gummisohlen, an den Rändern<br />

abgerundet. Keine Pradas oder gar Adriano<br />

Stefanellis, nichts Rahmengenähtes,<br />

Handgefertigtes. Erinnert man sich<br />

an die roten Schuhe, in denen Papst Benedikt<br />

XVI. mit zierlichen Schritten die<br />

höfische Mode der Renaissance zitierte,<br />

wohl auch das Blut der Kreuzigung, dann<br />

sind Marx’ Schuhe Symbole der soliden<br />

Gegenwart, praktisch und gemütlich.<br />

Während Joas Ideen versprüht, referiert<br />

Marx die Grundprinzipien der katholischen<br />

Soziallehre. Seine Sprache ist<br />

volkstümlich. Selbstironisch schildert er,<br />

wie er sich wunderte, als er, der Westfale<br />

aus Geseke, auf einmal in der Sixtina saß,<br />

um den Papst zu wählen. Um dann auch<br />

noch dessen Berater zu werden.<br />

Das Publikum lacht an solchen Stellen,<br />

dankbar: Marx ist ja einer von uns!<br />

Ein Kardinal zum Anfassen. Der irdisch<br />

bleibt. „Guckt mal empirisch nach,<br />

wie es wirklich in der Kirche zugeht!“,<br />

ruft er. Das habe er auch Papst Franziskus<br />

gesagt: „Heiliger Vater, ich bin ein<br />

bisschen aristotelisch. Erstens: Vedere!<br />

Zweitens: Vedere! Drittens: Vedere!“<br />

Das heißt hinschauen, übersetzt er aus<br />

dem Italienischen, und wiederholt es auf<br />

Deutsch. Kirche sei nicht sein Besitz, er<br />

brauche die Meinung der anderen.<br />

Aber oft macht er doch, was er allein<br />

für richtig hält. Beispiel Kloster Ettal:<br />

Als ein Missbrauchsverdacht im Internat<br />

der Benediktinerabtei aufkam, drängte<br />

er Abt und Schulleiter zum Rücktritt. Der<br />

Vertuschungsverdacht gegen das Erzbistum<br />

war damit medienwirksam ausgeräumt.<br />

Die Abtei jedoch fühlte sich beschädigt.<br />

Eine Prüfungskommission des<br />

Vatikans entlastete die frühere Führung –<br />

weder Abt noch Prior hätten die vorgeschriebene<br />

Meldepflicht verletzt. Zwar<br />

durften beide in ihr Amt zurückkehren.<br />

Aber einige enge Freunde von Marx sind<br />

auch von der Unschuld des verdächtigten<br />

Lehrers überzeugt. Wegen der Affäre<br />

sind sie bis heute mit Marx zerstritten.<br />

ALS CAPITANO beschreiben ihn Weggefährten,<br />

als Volkstribun, der mit Macht<br />

umgehen kann und auch nach ihr greift.<br />

Schnell kam er nach oben: Erst Bischof<br />

von Trier, dann Erzbischof von München<br />

und Freising, seit vier <strong>Jahre</strong>n Kardinal.<br />

Mitglied der achtköpfigen Kardinalsgruppe<br />

zur Beratung von Papst Franziskus.<br />

Und nun auch noch Vorsitzender der<br />

Deutschen Bischofskonferenz.<br />

Als Macher gilt er, der seine Mitarbeiter<br />

nicht schont. Der den Ruhm genießt<br />

und auch mal ein Schwätzchen mag.<br />

Und der auch was Biegsames hat. Vor wenigen<br />

<strong>Jahre</strong>n betonte er, dass er für die<br />

Änderung des kirchlichen Eheverständnisses<br />

wenig Spielraum sehe. Inzwischen<br />

setzt er sich für die Kommunion wiederverheirateter<br />

Geschiedener ein. Das<br />

kann man auch als Lernprozess sehen.<br />

Eine Woche nach Berlin in der St. Michael-Kirche<br />

in München. Marx zelebriert<br />

die Versöhnungsfeier zur Fastenzeit.<br />

Mitra und Bischofsstab verleihen<br />

ihm jene Würde der Jahrtausende. Feierlich<br />

schreitet er die Reihen entlang. Unter<br />

dem festlichen Messgewand trägt er die<br />

gummibesohlten Schuhe. Später nimmt<br />

er die Beichte ab. Er begrüßt die Gläubigen<br />

mit Handschlag. Ihr gemeinsames<br />

Flüstern zuckt durch die Kirche.<br />

Am nächsten Tag in Freising. Auf<br />

dem Domberg diskutiert das Landeskomitee<br />

der Katholiken in Bayern das<br />

Thema Jugend. Hier ist der Kardinal unter<br />

Freunden. Seine Gesten sind locker,<br />

raumgreifend, er patscht auf den Tisch,<br />

schaut den Leuten mit seinen hellen,<br />

blauen Augen ins Gesicht. „Eine Kirche,<br />

die alles weiß, die auf alles eine Antwort<br />

hat, ist nicht glaubwürdig“, sagt er. Am<br />

Ende fällt gar nicht auf, dass er nicht gesagt<br />

hat, was nun mit der Jugend werden<br />

soll. Und wohin mit der Transzendenz,<br />

bei all der Realitätsbeschau?<br />

Zum Abschluss gibt es eine Predigt,<br />

begleitet von einer Band aus dem<br />

Münchner Arbeiterviertel Giesing, die<br />

sich „Vision“ nennt. „Mit Christus Brücken<br />

bauen“, schmettert die Band, „Wege<br />

eröffnen“, „Stärke zeigen“. Der Kardinal<br />

singt mit.<br />

Es ist spät geworden an diesem Freitag<br />

in der Fastenzeit, vom Domberg aus<br />

sieht man die Lichter schwirren. Beim Essen<br />

im Speisesaal des Kardinal-Döpfner-<br />

Hauses wird Marx familiär. Den Rotwein<br />

trinkt er in langen Zügen, vom Kalbsbraten<br />

mit Rahmschwammerl nimmt er<br />

zweimal nach, beim zweiten Mal drei<br />

Krustenstücke. Er kaut, schimpft und<br />

lacht. Aber den Nachtisch lässt er stehen,<br />

und als alle denken, jetzt geht der Abend<br />

erst richtig los, da ist der Kardinal weg.<br />

SOPHIE DANNENBERG ist Journalistin<br />

und Romanautorin. Bei der Recherche<br />

beeindruckte sie besonders die gotische<br />

Johanniskirche in Freising<br />

41<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

POLITIK MACHT LANGWEILIG<br />

Als Bilkay Öney in Baden-Württemberg als Integrationsministerin anfing, brachte sie<br />

viele gegen sich auf. Nach drei <strong>Jahre</strong>n kennt sie die Gesetze der Branche. Ob das gut ist?<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

Die Politikerin Bilkay Öney steht<br />

zwischen den Welten, notorisch,<br />

wild, von klein auf. Sie war das<br />

Mädchen, das in Berlin-Spandau von einer<br />

anderen Einwanderertochter verpetzt<br />

wurde, weil es mit Jungs rumhing.<br />

Sie war die Journalistin im Berliner Büro<br />

des türkischen Fernsehens, die der Chef<br />

„die Deutsche“ nannte. Sie saß für die<br />

Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus<br />

und lief zur SPD über.<br />

2008 – noch als Grüne – forderte sie,<br />

man müsse Roland Koch zuhören, obwohl<br />

der gerade eine Ausländerkampagne fuhr;<br />

ihre Partei distanzierte sich. 2011 traf sie<br />

Recep Tayyip Erdogan, obwohl ihre Eltern,<br />

linke Kemalisten, dessen Politik verachten.<br />

Bilkay Öney, Integrationsministerin<br />

von Baden-Württemberg, schwimmt<br />

zwischen den Strömungen. Das ist das Besondere<br />

an ihr. Das ist ihr Problem.<br />

Sonntagnachmittag, Akademie der<br />

Künste am Brandenburger Tor. Die SPD<br />

inszeniert sich auf einer Konferenz. Sieben<br />

Stuhlreihen mit Ministern, Bürgermeistern,<br />

Senatoren und Abgeordneten,<br />

denen Sigmar Gabriel den Sonntagnachmittag<br />

abzwackt. Öney kommt spät, in<br />

Reihe drei winkt sie jemand auf einen<br />

freien Platz: Raed Saleh, SPD-Chef im<br />

Berliner Abgeordnetenhaus, er stammt<br />

aus dem Westjordanland. Eine blonde<br />

Frau guckt zu den beiden rüber. Noch<br />

mal. Öney beugt sich zu Saleh. „Kommt<br />

dir das auch so vor, dass die uns anschaut,<br />

als kämen wir vom Mars?“ Öney wendet<br />

sich der Frau zu. „Wo kommen Sie eigentlich<br />

her?“ Schock. „Sachsen-Anhalt.<br />

Und Sie?“ Öney: „Früher Berlin, jetzt<br />

Baden-Württemberg.“<br />

2011, Grün-Rot hatte die Wahl im<br />

Südwesten gewonnen, suchte SPD-Chef<br />

Nils Schmid eine Integrationsministerin.<br />

Er stieß auf Öney. Diplom-Kauffrau,<br />

Ex-Journalistin. Unerschrocken, gut<br />

aussehend, nicht radikal. Sie zog nach<br />

Stuttgart, um das neue Ministerium mit<br />

knapp 60 Mitarbeitern aufzubauen.<br />

In einem ihrer ersten Interviews erklärte<br />

Öney: „Die Türken gucken fünfmal<br />

mehr Fernsehen als die Deutschen.“<br />

Grüne und Migrantenverbände tobten.<br />

„Burkinis finde ich Quatsch“, sagte sie<br />

ein paar Interviews später.<br />

Die CDU, eigentlich noch in der<br />

Mappus-Malaise, merkte auf. Bernhard<br />

Lasotta, ein Arzt aus Bad Wimpfen, war<br />

gerade integrationspolitischer Sprecher<br />

der Landtags-CDU geworden. Fortan<br />

röntgte er Öneys Äußerungen auf Skandalpotenzial.<br />

Redete sie türkisch, ließ<br />

er übersetzen. Einmal sprach sie im Zusammenhang<br />

mit dem NSU von „tiefem<br />

Staat“, ein Begriff, der in der Türkei Verbindungen<br />

von Justiz, Politik, Geheimdiensten<br />

und organisierter Kriminalität<br />

beschreibt. Das über Deutschland! Lasotta<br />

platzierte den ersten Treffer.<br />

DEM CDU-MANN ist ihre unausrechenbare<br />

Politik unverständlich. Früher war<br />

sie – selbst keine Muslimin – strikt für<br />

das Kopftuchverbot an Schulen und Kitas.<br />

Später erklärte sie, man müsse noch<br />

mal darüber nachdenken. Lasotta sagt:<br />

„Ich kann nie einschätzen, wo sie steht.“<br />

Eine, die zwischen den Strömungen<br />

schwimmt, wird immer wieder untergespült.<br />

In Stuttgart hielt Winfried Kretschmann<br />

sie oben. Der Ministerpräsident hat<br />

sich selbst ein Leben lang dem Mainstream<br />

widersetzt: Maoisten, Fundigrünen,<br />

den Wichtigtuern von Berlin. Als die<br />

CDU im Sommer 2013 beantragte, Öney<br />

zu entlassen, stützte er sie. Lasotta warf<br />

ihr vor, in einem türkischen Internetportal<br />

der CDU Rassismus unterstellt zu haben.<br />

Kretschmann tadelte sie im Landtag,<br />

lobte aber ihre unverstellte Sprache.<br />

Öney liefen Tränen übers Gesicht.<br />

Ihre zwei besten Freunde hat sie immer<br />

noch in Berlin. Die eine ist Putzfrau,<br />

sie stammt aus dem Kaukasus. Der andere<br />

heißt Ilhami, ein schwuler Friseur.<br />

In der Landtags-SPD bleibt sie ein<br />

Fremdkörper. „Die sagen: He he, was hat<br />

sie jetzt wieder angestellt“, analysiert ein<br />

einflussreiches Parteimitglied. Kein Politgeruch,<br />

kein Sozigeruch und dann auch<br />

noch frech. Die SPD, die sich endlich erweitern<br />

müsste, irritiert die Erweiterung.<br />

Öney sagt: „Ich fühle mich frei. Ich<br />

bin so lange dabei, wie ich kann. Und<br />

wenn nicht mehr, ist auch gut.“<br />

Sie arbeitet. Sie hat den Gesinnungstest<br />

für Einwanderer abgeschafft. Sie hat<br />

die Sargpflicht gelockert, sodass Muslime<br />

ihre Toten im Tuch bestatten können. Sie<br />

zeigt Einwanderern, dass die Demokratie<br />

kein Klub der Urdeutschen ist. Aber<br />

ihre Sprache ist anders geworden. Sie kontrolliert<br />

sich: „Das unverfänglichste Zeug<br />

kann einem um die Ohren fliegen.“ Zum<br />

Doppelpass gab sie neulich ein Deutschlandfunk-Interview.<br />

„Wiedererlangung“,<br />

„Amtsermittlungsgrundsatz“, „Hinnahme<br />

der Mehrstaatlichkeit“. Sie klang blechern<br />

wie ein Politautomat, ein vollintegrierter.<br />

Lasotta kann zufrieden sein. Er bilanziert:<br />

„Sie findet nicht mehr statt.“<br />

Am 27. März um 21.47 Uhr war sie<br />

plötzlich wieder da. Sie twitterte: „Als<br />

ich nach BaWü kam, war ich 40, sah aber<br />

aus wie 28. Jetzt bin ich 43 und sehe aus<br />

wie 43. Politik kann Falten, fett u. langweilig<br />

machen, trotzdem happy.“<br />

Ilhami, der schwule Friseur, hat mal<br />

zu ihr gesagt: „Bilkay, du bist Ministerin,<br />

da gibt’s Konkurrenz wie bei uns.“<br />

Wie bei den Friseuren. Aber dort ist<br />

ein eigener Stil alles, in der Politik nicht.<br />

GEORG LÖWISCH bemüht sich als<br />

<strong>Cicero</strong>‐Textchef, langweilige<br />

Politikersprache aufzubrechen<br />

Foto: Bernd Hartung/Agentur Focus<br />

42<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

DAS SCHLÜSSELKIND<br />

Sein erstes Sicherheitssystem knackte Jacob Appelbaum mit acht <strong>Jahre</strong>n im Kinderheim.<br />

22 <strong>Jahre</strong> später entdeckte er in Snowdens Daten die Handynummer von Angela Merkel<br />

Von PETRA SORGE<br />

Am liebsten hätte der Hacker Jacob<br />

Appelbaum es Angela Merkel<br />

persönlich erzählt. Oder ihren<br />

Vertrauten, für den Fall, dass das<br />

Kanzleramt den Mann mit dem Piercing<br />

in der rechten Ohrmuschel und dem Tattoo<br />

auf dem linken Arm nicht vorgelassen<br />

hätte. Appelbaum schätzt Merkel, er<br />

hält sie für links. Als er in Snowdens Datensatz<br />

den Akteneintrag entdeckte, dass<br />

der US-Geheimdienst NSA das Handy<br />

der Kanzlerin abgehört, dass er sie belauscht,<br />

bespitzelt und abgeschöpft hat,<br />

war das sein Impuls: „Ich wollte ihren<br />

Blick sehen, und ihr stellvertretend für<br />

viele Amerikaner sagen, dass ich mich<br />

für unseren außer Kontrolle geratenen<br />

Überwachungsstaat schäme.“<br />

Doch Appelbaum ist nicht nur Hacker,<br />

sondern auch freier Mitarbeiter<br />

beim Spiegel. Der wollte die Geschichte<br />

gewichtiger machen, indem er der Bundesregierung<br />

die Gelegenheit gab, Washington<br />

zur Rede zu stellen. Aus Appelbaums<br />

Entdeckung wurde so eine<br />

Weltnachricht, der Skandal, der seitdem<br />

Handygate genannt wird und seit Anfang<br />

April im NSA-Untersuchungsausschuss<br />

des Bundestags bearbeitet wird.<br />

Appelbaum, 31, schwarze Hose,<br />

schwarzer Rollkragenpulli, sitzt in einem<br />

indischen Vegan-Imbiss in Berlin-Mitte.<br />

Das Logo des Lokals ist ein auf den Kopf<br />

gedrehtes McDonald’s-M auf schwarzem<br />

Untergrund. Er sagt, er würde Merkel immer<br />

noch gerne sprechen. Er warte auf<br />

eine Einladung. „Denn ja: Ich habe noch<br />

mehr schlechte Nachrichten für Merkel.<br />

Sie braucht nur Bescheid zu sagen.“<br />

Jacob Appelbaum kämpft für Meinungsfreiheit<br />

und Privatsphäre im Internet<br />

– und gegen die NSA. Für die USA<br />

ist er ein Sicherheitsrisiko. Würde er in<br />

sein Heimatland reisen, würden Beamte<br />

ihn am Flughafen festsetzen. Er kennt<br />

das. Manchmal hat er deshalb Spielzeugschlangen<br />

oder Dildos in seinen Koffer<br />

gelegt. So konnte er bei der Durchsuchung<br />

wenigstens über die Gesichter der<br />

Beamten lachen.<br />

Das erste Mal griffen sie 20<strong>10</strong> in<br />

Newark zu. Sie beschlagnahmten seinen<br />

Laptop, sein Handy, verhörten ihn<br />

stundenlang zu Wikileaks. Wenn ihm<br />

das jetzt passieren würde, dürfte es länger<br />

dauern. Deshalb bleibt er in Berlin.<br />

Appelbaum, ein Kind der digitalen<br />

Zeit, hat keine Mobiltelefone mehr. Kreditkarten<br />

vermeidet er. Im Netz wechselt<br />

er die Identitäten. Er versteckt, verschleiert<br />

und verschlüsselt sie. Er hat Angst.<br />

VOR ÜBERWACHUNG im Internet hatte<br />

Appelbaum bereits 2012 in dem Buch<br />

„Cypherpunks“ gewarnt. Gegen diese<br />

„autoritären Kontrollstrukturen“ empfahl<br />

er technische Mittel der Geheimhaltung,<br />

die Kryptografie. Damals erklärte<br />

man ihn für paranoid. Ein Jahr später<br />

enthüllte er, dass eine Hackereinheit der<br />

NSA namens Tailored Access Operations<br />

die schwierigsten Codes knacken kann.<br />

Der Herausgeber von „Cypherpunks“<br />

war Julian Assange, Gründer von<br />

Wikileaks. 20<strong>10</strong> vertrat Appelbaum Assange<br />

auf einer Hackerkonferenz in New<br />

York. Wenn andere festsitzen, übernimmt<br />

Appelbaum die Rolle ihres Fürsprechers.<br />

Im August nahm er für Edward Snowden<br />

einen Whistleblower-Preis entgegen. Unermüdlich<br />

fordert er einen sicheren Aufenthalt<br />

für den Ex-NSA-Mitarbeiter in<br />

Deutschland. Das Nein der Bundesregierung<br />

hat ihn enttäuscht, auch seine Sicht<br />

auf Merkel ist etwas getrübt. „Deutschland<br />

ist von den USA kolonisiert.“<br />

Den Satz sagt er im Soho House,<br />

einem Club von Promis und Kreativen<br />

in Berlin-Mitte. Sie haben sich an<br />

einem Sonntagnachmittag zu einem<br />

Gesprächskreis namens D. Day versammelt.<br />

Tea Time. Die Teppiche sind flauschig,<br />

die Sofas handbestickt, die Gäste<br />

trinken Darjeeling oder Hugo, einen<br />

Longdrink mit Prosecco, frischer Minze<br />

und Holunderblütensirup. Appelbaums<br />

Botschaften wirken da etwas drastisch.<br />

„Unachtsames Surfen ist wie ungeschützter<br />

Sex.“ Kichern im Publikum.<br />

„Es kann so tödlich sein wie Aids.“<br />

Volle Aufmerksamkeit.<br />

„Julian wird wohl in der Botschaft<br />

sterben und Snowden im russischen<br />

Asyl.“ Stille.<br />

Tatsächlich stecken Assange und<br />

Snowden in der Klemme: Der eine ist in<br />

der Londoner Vertretung Ecuadors gefangen,<br />

der andere in der Krimkrise zu<br />

Putins Faustpfand geworden.<br />

Appelbaum könnte die Lücke füllen.<br />

In Berlin hat er zumindest einen<br />

Bewegungsradius. Die Pressefreiheit ist<br />

hier ein hohes Gut. Seit dem <strong>Cicero</strong>-Urteil<br />

von 2007 zögern deutsche Behörden,<br />

gegen Journalisten oder ihre Informanten<br />

vorzugehen. Die Beihilfe zum<br />

Geheimnisverrat, entschied damals das<br />

Bundesverfassungsgericht, rechtfertige<br />

keine Razzien gegen Vertreter der Presse.<br />

Durchsuchungen wie beim Guardian in<br />

London wären in Berlin nicht drin.<br />

Dass jemand wie er sich in Deutschland<br />

sicherer fühlt als in den USA, wäre<br />

vor 70 <strong>Jahre</strong>n undenkbar gewesen, sagt<br />

er gerne vor Publikum: Appelbaums Urgroßmutter<br />

war Jüdin, seine Vorfahren<br />

stammen unter anderem aus Deutschland.<br />

Das Internet, sagte Appelbaum einmal<br />

dem Magazin Rolling Stone, sei der<br />

einzige Grund, warum er lebe. Er sei in<br />

eine Familie von „völlig Verrückten“ geboren;<br />

die Eltern stritten sich ums Sorgerecht.<br />

Die ersten fünf <strong>Jahre</strong> wuchs Jacob<br />

bei der Mutter in Kalifornien auf, die unter<br />

paranoider Schizophrenie leidet. Mit<br />

Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong> (Seiten 45 bis 46)<br />

44<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

„Unachtsames Surfen ist wie ungeschützter Sex.“<br />

Der Hacker Jacob Appelbaum bewegt sich nur mit<br />

falscher Identität durchs Netz. Das Handy? Abgeschafft!<br />

sechs kam er in ein Kinderheim, dessen<br />

elektronisches Türschloss er mit acht<br />

<strong>Jahre</strong>n überlistete – es war das erste Sicherheitssystem,<br />

das er hackte. Später<br />

kam er in eine Pflegefamilie, mit neun<br />

zu seinem Vater. Der spritzte sich Heroin.<br />

„Fast 30 <strong>Jahre</strong>, bis zu seinem Tod“,<br />

sagt Appelbaum. Einmal hinterließ der<br />

Vater Jacob einen Abschiedsbrief; der<br />

Junge konnte ihn an jenem Tag gerade<br />

noch von einer Überdosis retten.<br />

Das Programmieren brachte sich Appelbaum<br />

selbst bei. Als er feststellte, dass<br />

er mehr wusste als seine Lehrer, brach<br />

er die Schule ab. Später wurde er an<br />

der University of Washington in Seattle<br />

wissenschaftlicher Mitarbeiter – ohne<br />

Hochschulabschluss.<br />

Bei seiner Arbeit unter Hackern,<br />

für die Rainforest Alliance und Greenpeace<br />

bemerkte er, was allen Aktivisten<br />

fehlte: eine Software zur sicheren<br />

Kommunikation. An einer solchen tüftelten<br />

Forscher bereits seit 2001 – das anonyme<br />

Netzwerk „Tor“. Appelbaum heuerte<br />

als Programmierer an. Mittlerweile<br />

nutzen täglich mehr als eine halbe Million<br />

Menschen Tor. Auch Edward Snowden<br />

greift auf jene Software zurück.<br />

Talentscouts im Silicon Valley wurden<br />

früh auf Appelbaum aufmerksam.<br />

Facebook bot ihm einen Job an, der kanadische<br />

Geheimdienst CSEC lockte mit<br />

einer Spitzenposition. Für das Heimkind<br />

hätte der amerikanische Traum wahr<br />

werden können. Doch es kam anders.<br />

IM APRIL 20<strong>10</strong> ENTHÜLLTE Wikileaks Details<br />

über Verbrechen von US-Soldaten<br />

im Irak, darunter das Video „Collateral<br />

Murder“. Das Committee to Protect<br />

Journalists, ein Netzwerk, das Reporter<br />

beschützen will, verfasste einen Blogeintrag<br />

über Wikileaks – und befragte dazu<br />

Appelbaum. In dem Blogeintrag wurde<br />

der Tor-Entwickler nicht als Experte<br />

zitiert, sondern als „Freiwilliger von<br />

Wikileaks“. Appelbaum fügte sich in sein<br />

Schicksal: Er entschied, das Projekt zu<br />

unterstützen.<br />

So wurde Appelbaum zum Staatsfeind.<br />

Beamte vernahmen ihn, drohten<br />

mit Gefängnis. Die US-Regierung zwang<br />

durch ein Auskunftsersuchen Twitter,<br />

Google und einen kalifornischen Internetprovider,<br />

Daten über ihn preiszugeben.<br />

Dabei wurde Appelbaum nie einer<br />

Straftat bezichtigt.<br />

In Boston verhörte das FBI einen<br />

Freund. Vor der Wohnung seiner Verlobten<br />

tauchten eines Nachts Männer auf.<br />

Sie beobachteten die Frau mit Nachtsichtgeräten<br />

durchs Schlafzimmerfenster. Als<br />

sie sich bei der Polizei beschwerte, erklärte<br />

man sie dort für hysterisch.<br />

Im März haben Appelbaum und<br />

seine frühere Verlobte den Vorfall im<br />

Schauspiel Köln nachgespielt. Dort, auf<br />

der Bühne, traf sich das einstige Paar<br />

wieder. Als wollten sie das Trauma der<br />

Überwachung verarbeiten. In einer der<br />

Theaterszenen spricht Appelbaum an einem<br />

Rednerpult über die Snowden-Enthüllungen.<br />

Da kommen die Sicherheitsleute,<br />

werfen ihn zu Boden, schlagen ihm<br />

die Brille aus dem Gesicht, reißen seine<br />

Kleider vom Leib. Sie schleifen ihn nackt<br />

von der Bühne, seine Füße bluten.<br />

Nicht mal seine kranke Mutter habe<br />

man in Ruhe gelassen, sagt er. Sie hatte<br />

sich im verwirrten Zustand an der Tasche<br />

eines Nachbarn vergriffen. Weil sie ein<br />

Stück Holz in der Hand hielt, galt das als<br />

bewaffneter Raubüberfall. Obwohl das<br />

Gericht sie für verhandlungsunfähig erklärte,<br />

fragten die Polizisten sie über die<br />

Verbindungen des Sohnes zu Wikileaks<br />

aus. Man habe ihr Handschellen angelegt<br />

und Verletzungen zugefügt, sagt Appelbaum.<br />

18 Monate sei sie inhaftiert gewesen,<br />

ohne Gerichtsurteil. Das letzte Mal<br />

sah er seine Mutter Anfang 2013.<br />

Im Mai meldete sich die amerikanische<br />

Dokumentarfilmerin Laura Poitras<br />

bei ihm. Sie erzählte, ein Mann, der<br />

sich als Geheimdienstler ausgab, habe sie<br />

kontaktiert. Poitras wollte, dass Appelbaum<br />

mit seiner technischen Brillanz ihr<br />

hilft, das Interview vorzubereiten. Aus<br />

dem Interview wurde einer der größten<br />

Geheimdienstskandale der Geschichte.<br />

46<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

„Wir erfuhren Details darüber, wie<br />

die NSA und Israel das Stuxnet-Virus<br />

zusammen geschrieben haben.“ Der<br />

Computerwurm war in iranische Atomanlagen<br />

gekrochen und hatte sie lahmgelegt.<br />

Im Dezember stellte Appelbaum<br />

die Technik auf dem Chaos Communication<br />

Congress in Hamburg vor, ein weiterer<br />

Termin, auf dem deutlich wurde,<br />

wie sehr Deutschland zum Schutzraum<br />

für Hacker, Aktivisten und Enthüllungsjournalisten<br />

geworden ist. Immer häufiger<br />

verschwimmen diese drei Rollen –<br />

wie bei Jacob Appelbaum.<br />

In Hamburg hat Appelbaum das<br />

erste Treffen der Wikileaks-Größen nach<br />

den Snowden-Enthüllungen organisiert.<br />

Julian Assange sprach per Videoschalte.<br />

Als Überraschungsgast trat Sarah Harrison<br />

auf, die Snowden von Hongkong<br />

nach Moskau geleitet hatte. Harrison lebt<br />

wie Laura Poitras in Berlin, dem neuen<br />

Zentrum dieser digitalen Bürgerrechtsbewegung.<br />

Zu deren Gesicht ist Appelbaum<br />

geworden.<br />

Als sich das Europaparlament im<br />

September erstmals mit der Massenüberwachung<br />

von EU-Bürgern befasste, war<br />

er als Zeuge geladen. Für die Bewegung<br />

ist er zum Helden geworden – beinahe<br />

wie Assange und Snowden.<br />

„Ich sehe mich nicht in dieser Liga“,<br />

sagt Appelbaum am Tisch im Vegan-Imbiss.<br />

Er will wieder etwas Ruhe in sein Leben<br />

bekommen, zumindest mehr Stabilität.<br />

Noch im vergangenen Herbst hätten<br />

Unbekannte immer wieder versucht,<br />

in seine Berliner Wohnung einzudringen.<br />

Einmal seien die Alarmanlage geknackt<br />

und sein Computer durchsucht worden.<br />

Anfang April ist er innerhalb von Berlin<br />

umgezogen. Er sagt, dass er nur kurze<br />

Zeit unbehelligt bleiben werde. „Der einzige<br />

Ort, an dem du ganz sicher bist, ist<br />

dein Kopf.“<br />

Als er auf dem Hamburger Hackerkongress<br />

gefragt wird, ob er sich je das<br />

Leben nehmen würde, antwortet er:<br />

„Niemals. Und wenn mir doch etwas zustoßen<br />

sollte, wissen Sie, dass es kein<br />

Selbstmord war.“<br />

PETRA SORGE ist Redakteurin bei <strong>Cicero</strong><br />

Online. Ihre Mails verschlüsselt sie jetzt<br />

mit dem Programm Pretty Good Privacy.<br />

Allmählich kommt sie damit klar<br />

FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… ob Individualisten in Gruppen reisen sollten<br />

Meine bislang einzige Gruppenreise war unsere Klassenfahrt<br />

in der Zehnten. Danach habe ich alle Reisen selbst organisiert,<br />

und meine größte Konzession an den Kollektivzwang<br />

war, dass ich pünktlich zum Abflug am Gate eintraf. Vor kurzem nun<br />

habe ich mich zu einer Gruppen-Kulturreise in den Süden überreden<br />

lassen. Alles war perfekt organisiert, jeden Abend erhielten wir einen<br />

Ablaufplan für den nächsten Tag, im Bus wurden Lunchpakete und<br />

isotonische Getränke verteilt, in der Toilette hing ein Schild „Bitte<br />

Hände waschen“, die Tickets für die Museen waren bereits gelöst, die<br />

Hotelzimmer gebucht. Ich stellte das Denken ein, trabte nur noch in<br />

der Herde mit und ertappte mich dabei, es großartig zu finden. Betreutes<br />

Reisen, der Tourismus für den erschöpften Individualisten.<br />

Für nichts verantwortlich und an nichts schuld zu sein, alle Sehenswürdigkeiten<br />

einfach serviert und von der Reiseleitung erklärt zu bekommen<br />

– ich fühlte mich wie auf Klassenfahrt. Einer der Mitreisenden<br />

gestand mir, er habe neulich den Koffer im Hotel vergessen, weil<br />

er so daran gewöhnt sei, dass ihm alles abgenommen wird.<br />

Eine hohe Betreuungsquote erhöht aber die Mäkelbereitschaft:<br />

Ein Teilnehmer monierte, die Sitze auf einer Seite des Busses hätten<br />

keinen Schatten. Ein anderer beschwerte sich, auf der Reise habe es<br />

zwei Schlechtwettertage mehr gegeben, als die Wetterstatistik vorsehe<br />

– bei diesem Veranstalter werde er nicht mehr buchen.<br />

Eine Dame erzählte von anderen Reisen, die sie unternommen<br />

habe. Sie sei kürzlich in Barbados gewesen, das zwar landschaftlich<br />

schön sei, aber ein ernsthaftes Rassenproblem habe: „Da leben ja nur<br />

Schwarze!“ Auch Thailand finde sie schwierig, die Armut sei abstoßend.<br />

Grundsätzlich bevorzuge sie das Reisen in Diktaturen. Wenn<br />

Dieben die Hand abgehackt würde und auf andere Vergehen Rohrstockhiebe<br />

oder gar die Todesstrafe stünden, könne man sich als Tourist<br />

so wunderbar sicher fühlen. Wohlgemerkt, wir befinden uns auf<br />

einer Kulturreise des bildungsinteressierten Bürgertums.<br />

Man soll ja Vorurteile regelmäßig überprüfen. Ich habe erkannt:<br />

Gruppenreisen sind mein Ding. Vorausgesetzt, die Gruppe ist nicht<br />

größer als zwei Personen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub!<br />

AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin.<br />

Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />

sonst noch an Fragen aufwirft<br />

47<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

IN PUTINS BURG<br />

Im Garten steht noch Lenins Büste.<br />

Drinnen hängen die Wappen aller<br />

früheren Sowjetrepubliken.<br />

Und am Abend kommen deutsche<br />

Wirtschaftsvertreter zum Konzert –<br />

Putinkrise hin oder her. Zu Besuch<br />

in der russischen Botschaft in Berlin<br />

Von WERNER SONNE<br />

Sergey Belyaev zeigt hoch hinauf zur Spitze des<br />

gewaltigen Kuppelsaals der russischen Botschaft<br />

in Berlin. „Höher als das Brandenburger Tor“,<br />

sagt er, und: „Stalin hat das entschieden.“ Im Gebäude<br />

hängen noch Wandlampen aus Hitlers Reichskanzlei.<br />

Die goldfarbenen Halterungen gleichen Flügeln, deren<br />

Spitzen man nach unten gedreht hat, als Zeichen<br />

des Sieges über die Nazis. „Alles ist symbolisch“, sagt<br />

Belyaev. Die Freitreppe hinauf zu den Prachträumen<br />

ist aus dem Marmor, aus dem Hitler nach dem Endsieg<br />

in Moskau ein Denkmal errichten wollte.<br />

Belyaev, 58, kennt Berlin aus DDR-Zeiten, damals<br />

war er Korrespondent für Radio Moskau. Nun ist er als<br />

Pressesekretär zurück in der Botschaft, die Unter den<br />

Linden schon wegen der schieren Größe die umliegenden<br />

Gebäude dominiert. Ornamente an den Außentüren<br />

sind mit Gold verziert, drinnen stehen Marmorsäulen.<br />

Im Wappensaal hängen noch die Wappen aller<br />

Sowjetrepubliken, an der Stirnseite prangen Hammer<br />

und Sichel. Stalin persönlich mischte sich in die Planungen<br />

ein. 1952 wurde die Botschaft eröffnet, das<br />

eigentliche Machtzentrum der DDR.<br />

Den Eingang zum Kuppelsaal flankieren zwei<br />

hohe Vasen aus Meißner Porzellan – unauffälliger Ersatz<br />

für die Büsten von Stalin und Lenin. Stalin musste<br />

noch zu Sowjetzeiten weichen, Lenin nach Auflösung<br />

der UdSSR. Eine zweite, größere Lenin-Büste stand vor<br />

dem Haupteingang. Die russischen Diplomaten durften<br />

demokratisch abstimmen: Lenin auf den Müll oder<br />

Lenin in den Sommergarten im Botschaftsinnern. Er<br />

steht jetzt im Garten.<br />

48<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Foto: Sebastian Hänel für <strong>Cicero</strong><br />

Annektierung des Buffets. Beim Empfang im<br />

Spiegelsaal der russischen Botschaft in Berlin sichern<br />

sich die Gäste Lachs, Pelmeni und andere Leckereien<br />

Ein Rundgang mutet wie ein Museumsbesuch an,<br />

alles prunkt pompös und wirkt doch etwas angestaubt.<br />

Das Leben findet in den schlichten Häuserblocks hinter<br />

der glänzenden Fassade statt, Büros, Wohnungen für<br />

500 Menschen – Diplomaten, Techniker, Mitarbeiter<br />

der Handelsvertretung mit ihren Familien haben eine<br />

Schule, Kindergarten und Sportstätten. Kleinrussland<br />

unter den Linden. Der Botschafter bewohnt eine Villa<br />

im vornehmen Stadtteil Dahlem.<br />

Einst war die Botschaft eine Partyhochburg. Eine<br />

wilde Zeit, 2004 bis 20<strong>10</strong>, die <strong>Jahre</strong> der Kotenevs. Das<br />

Botschafterpaar brachte das Gebäude zum Schwingen.<br />

Hinter ihren Einladungen verblassten die Empfänge<br />

anderer Botschaften, auch das Hamburger- und Hotdog-Ritual<br />

der Amerikaner zum 4. Juli, dem US-Nationalfeiertag.<br />

Ein Kolumnist der Zeitschrift GQ notierte:<br />

„Die Bälle, die sie gaben, schäumten vor Prunk und<br />

Ausgelassenheit. Sie erzählten die wunderbarsten Märchen,<br />

aber vor allem jenes, dass dieses neue Russland<br />

ein modernes, irgendwie magisches Zarenreich sein<br />

muss.“ Für den Tagesspiegel waren die Kotenevs „ein<br />

Versprechen darauf, was aus Russland werden könnte“.<br />

Und jetzt das, Putins Sündenfall, die Krimannektierung,<br />

Sanktionen, Krisenstimmung. „Der Botschafter<br />

ist um diese Situation nicht zu beneiden“, stellt<br />

Ernst-Jörg von Studnitz an einem Aprilabend in der<br />

Botschafter Grinin sitzt in<br />

seiner Ledergarnitur. Er sagt:<br />

„So viel Beleidigung habe ich<br />

noch nie gesehen, nicht mal<br />

im Kalten Krieg“<br />

Botschaft fest. Er erinnert sich an sein eigenes Dilemma,<br />

als er als deutscher Botschafter in Moskau<br />

Berlins Rolle im Kosovokonflikt verteidigen musste.<br />

Am Morgen haben die Zeitungen von Warnungen<br />

der Nato vor der Gefahr russischer Truppen an der<br />

Grenze zur Ukraine berichtet. Für den Abend hat Botschafter<br />

Wladimir M. Grinin, Nachfolger Kotenevs, zu<br />

einem Konzert mit jungen Solisten des Bolschoi-Theaters<br />

eingeladen. Grinin begrüßt die Gäste im Ballsaal<br />

und verspricht ein „Musikfest“. Kein Wort zur Politik.<br />

Der 400 Gäste fassende Saal ist gut gefüllt, aber:<br />

„Haben Sie Politiker gesehen?“, fragt Michael Glos,<br />

der ehemalige Bundeswirtschaftsminister. Zu sehen<br />

ist keiner, jedenfalls keiner, der aktuell im Amt ist,<br />

auch die sonst üblichen Bundeswehruniformen höherer<br />

deutscher Offiziere fehlen. „Eigentlich schade“, sagt<br />

Glos und stellt sich in seiner neuen Funktion als politischer<br />

Beirat des Verbands russischer Unternehmer<br />

in Deutschland vor. „Ich bin sehr optimistisch, dass<br />

sich das wieder normalisiert“, sagt er über die Beziehungen<br />

zwischen Berlin und Moskau. Glos gibt wieder,<br />

was offenbar alle Gäste glauben wollen, die überwiegend<br />

aus der Wirtschaft kommen. Andrea von Knoop,<br />

Ehrenpräsidentin der deutsch-russischen Außenhandelskammer<br />

in Moskau und seit rund 40 <strong>Jahre</strong>n Kennerin<br />

der Szene, verweist auf die 6200 deutschen Firmen<br />

im Russlandgeschäft: „Die werden Russland alle<br />

treu bleiben.“ Auch in Krisen seien sie immer geblieben.<br />

„Und so wird das auch jetzt sein.“<br />

Die Wirtschaft sponsert den Konzertabend. Tobias<br />

Lüpke von der Beratungsfirma Ernst & Young mit<br />

4000 Leuten in Russland empfiehlt: „Der Gesprächsfaden<br />

darf nicht abreißen.“ Es gehe nicht nur um Menschenrechte,<br />

sagt er unverblümt. „Achtet auf die Arbeitsplätze,<br />

die durch Russland gesichert werden.“<br />

Nach dem Konzert der Empfang, im Spiegelsaal,<br />

das Buffet ist üppig. Pelmeni, also Teigtaschen mit<br />

Fleisch und Sauerrahm, Lachs und Salate. Ein Gericht<br />

heißt „Hering unterm Pelzmantel“. Es gibt Wodka,<br />

aber die meisten Gäste halten sich lieber an den Wein.<br />

Die Grüne Antje Vollmer, wie Glos nicht mehr<br />

im Amt, ärgert sich darüber, dass ihre Partei sich auf<br />

die Seite der Putin-Kritiker geschlagen hat. Deeskalieren<br />

und nicht eskalieren, Feindbilder abbauen, darum<br />

müsse es gehen. „Da habe ich gedacht, da gehst<br />

du hin. Da ich gegen jede Form von Phobie bin, bin ich<br />

auch gegen Russenphobie“, sagt sie. Mit diesen Gästen<br />

kann Grinin zufrieden sein.<br />

Am nächsten Morgen sitzen wir auf der dunkelbraunen<br />

Ledergarnitur, auf der schon Putin Merkel<br />

die Welt erklärt hat. Anders als der quirlige Kotenev<br />

ist Grinin ein eher unscheinbarer Mann. Aber er empört<br />

sich über die deutsche Presse, auch über Berichte<br />

rund um die Olympischen Winterspiele. „So viel Beleidigung<br />

habe ich noch nie gesehen, nicht einmal während<br />

des Kalten Krieges.“ Er spricht von einer „absichtlichen<br />

Dämonisierung“ seines Landes. „Das schürt<br />

Russlandhass“. Das Bild in den Medien stehe im Gegensatz<br />

zu seinen Erlebnissen in Deutschland. „Ich<br />

finde, dass in der deutschen Bevölkerung ein Verständnis<br />

vorhanden ist, die Beziehungen nicht zu ruinieren.“<br />

Beim Konzert am Vorabend haben übrigens auch<br />

die Kotenevs vorbeigeschaut. Sie leben weiter in Berlin.<br />

Beide schütteln Hände, viele der Gäste erinnern sich<br />

an die alten Zeiten. Maria Koteneva will sich auf Vergleiche<br />

zu früher nicht einlassen. Sie lobt die Qualität<br />

der Pelmeni.<br />

WERNER SONNE ist viel in Botschaften rumgekommen.<br />

Er war lange ARD-Korrespondent in Osteuropa und den USA<br />

49<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


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Molotov: Felix Gephart; Hund: Jens Bonnke


BERLINER REPUBLIK<br />

Kommentar<br />

SMOG<br />

RAUBT DIE<br />

SICHT<br />

Tahrir, Gezi, Maidan – das<br />

Weltgeschehen leuchtet auf<br />

dem iPhone, man wischt<br />

darüber, man berührt es. Aber<br />

was versteht man dadurch?<br />

Gedanken über Funktion und<br />

Faszination der Zeitung<br />

Von<br />

FRANK A. MEYER<br />

Tahrir, Gezi, Maidan: drei Schauplätze von Revolten,<br />

ja Revolutionen. Ihre Namen haben sich ins<br />

Bewusstsein der Bürger eingeprägt. Über Monate<br />

beherrschten sie die Schlagzeilen.<br />

Sie lieferten die Bilder des Tages. Sie bestimmten<br />

die Ästhetik der Nachrichten. Sie zeigten demonstrierende<br />

Menschen, militante Kämpfer, Geschlagene<br />

und Geschundene, Polizisten in monströsen Monturen.<br />

Und das alles in Farbe: Blut, rot wie Ketchup. Kleidung,<br />

bunt wie Blumen. Flammen in leuchtendem Orange.<br />

Jedes Foto am Bildschirm akkurat bearbeitet, damit<br />

bloß nichts unklar bleibt.<br />

Die Wirklichkeit! Wirklich?<br />

Medienwirklichkeit auf jeden Fall. Wie sie das<br />

Netz garantiert: rund um den Globus, rund um die<br />

Uhr. Man muss sie nur checken, auf dem Laptop, auf<br />

dem iPad, auf dem iPhone. Sie ist immer da, leuchtet<br />

auf, wenn man sie berührt, über sie wischt, sie<br />

streichelt.<br />

Genau: Man kann die Welt zu jeder Zeit streicheln<br />

– und sie erstrahlt. Sie ist fassbar, weil handlich,<br />

weil abzulesen im Gehen wie im Stehen wie im Fahren.<br />

Ist das denn alles noch zu fassen?<br />

Die Welt ist mit uns eins geworden, kinderleicht<br />

einzufangen mit einem Netz, das jeder schon in frühester<br />

Jugend auszuwerfen lernt. Zugleich löst die Welt<br />

sich auf, in einzelne Partikel, nach denen wir hektisch<br />

klicken. Die Partikel werden zu Feinstaub, verdichten<br />

sich zu Smog, rauben uns die Sicht. Alles wissen,<br />

nichts verstehen, dieser Formel folgen die Netz-News.<br />

Genau so funktioniert das: Wer checkt, hakt ab,<br />

begreift aber nichts im Wortsinn von „be-greifen“, also<br />

greifen, also in den Griff bekommen.<br />

Nicht allein die Geschwindigkeit, mit der Ereignisse,<br />

Aktualitäten, Dramen, Komödien, Skandale,<br />

Verbrechen gemeldet werden, hindert die Konsumenten<br />

der Welt daran, die Wirklichkeit zu begreifen.<br />

Auch die Kleinteiligkeit der Darbietung verstellt den<br />

Überblick, den Blick aufs Ganze.<br />

Der Bildschirm ist klein, sehr klein; der Text rollt<br />

ab, Zeile um Zeile; das Bild lässt sich zwar aufblähen,<br />

bleibt aber beschränkt; alles wird in seine Einzelteile<br />

zerlegt: Geschichten, Gestalten, Gesichter, Gedanken –<br />

als wolle man da Vincis Abendmahl unter der Lupe<br />

erfassen. Lupenreine Wirklichkeit?<br />

Wegklicken und weiterklicken und „gefällt mir/gefällt<br />

mir nicht mehr“: Das Netz synthetisiert aus der<br />

wirklichen Wirklichkeit seine eigene digitale Wirklichkeit<br />

– durch Dekonstruktion.<br />

Wer aber setzt die dekonstruierte Welt zusammen?<br />

Wer fügt die Partikel zu einem Bild, das sich greifen<br />

lässt? Wer macht begreifbar, was als nie abreißende<br />

Newsflut auf uns niederstürzt?<br />

Wer sind die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz<br />

in Kairo, im Istanbuler Gezi-Park, auf Kiews Maidan?<br />

Welche Strömungen spiegeln sie wider? Welche<br />

Absichten verfolgen sie? Welche Geschichte erzählen<br />

sie?<br />

Die Ereignisse in ihrer gesellschaftlichen Breite<br />

und geschichtlichen Tiefe erfassen, hieße: die Gegenwart<br />

zu historisieren. Es wäre die wohl edelste Aufgabe<br />

der Journalisten. Doch wo sind sie zu finden, jene<br />

Begreifbarmacher? Sie arbeiten bei Zeitungen und<br />

Zeitschriften. Also in den Redaktionen. Sie gestalten<br />

die Welt nach ihren Prioritäten, nach ihren Einsichten,<br />

nach ihren Interessen, nach ihrem Wissen, nach<br />

ihrem Vergnügen.<br />

Sie sind der Club, dessen Weltsicht der Leser sich<br />

anvertraut. Je nach eigener Weltsicht, dem jeweils ganz<br />

eigenen Club: konservativ oder liberal oder links oder<br />

bunt und laut oder grau und gedämpft – der Neuen<br />

Zürcher Zeitung oder dem Blick oder der Frankfurter<br />

Allgemeinen Zeitung oder der Süddeutschen Zeitung<br />

oder dem Spiegel oder der Zeit oder <strong>Cicero</strong>.<br />

Solche Blätter bieten Papierwelten der Welterklärung,<br />

ausladend und einladend – und vor allem:<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

52<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Anzeige<br />

gestaltet. Das Große groß, das Kleine klein, das Unerwartete<br />

spektakulär.<br />

Zeitunglesen ist eine Entdeckungsreise: Welche<br />

Themen, nach denen ich im Netz nie und nimmer gesucht<br />

hätte, bietet mir mein Club? Was offeriert er mir<br />

an Einsichten und Zusammenhängen, auf die ich beim<br />

Klicken und Scrollen nie und nimmer gestoßen wäre?<br />

Und wie gelangt mein Club dorthin? Durch Debatten<br />

der Redakteure über die Tageswirklichkeit, über<br />

deren Abgründe und Hintergründe, über Menschen,<br />

die Politik, Wirtschaft und Kultur bewegen.<br />

Der Club ist nämlich auch ein Salon, in welchem<br />

Meinung und Gegenmeinung lustvoll das Resultat bestimmen:<br />

das Gedruckte.<br />

Die Redaktion, ein Club, ein Salon – ein Ort der<br />

Aufklärung. Zugegeben, das ist eine alte Sache, uralt<br />

im Vergleich zum Netz, bevölkert von vergleichsweise<br />

uralten Menschen, in denen das Feuer der Aufklärung<br />

noch nicht erloschen ist: irgendwie 18. Jahrhundert,<br />

kurz vor der Französischen Revolution, als sich im<br />

Salon des Baron d’Holbach die besten Köpfe Europas<br />

trafen zu Diskussion und Causerie: Denis Diderot,<br />

David Hume, Laurence Sterne, Jean-Jacques Rousseau.<br />

Was wir heute für so selbstverständlich halten,<br />

dass wir es kaum noch zu genießen verstehen, geschweige<br />

denn hegen und pflegen – es begann dort<br />

und damals: die offene Gesellschaft. Der demokratische<br />

Rechtsstaat entsprang dem Denken jener Aufklärer.<br />

Der Salon wurde zur Zeitung – Eintritt: drei<br />

Franken. Es lässt sich gut verweilen in diesem Salon.<br />

Man hat Zeit. Man denkt plötzlich, was man nie<br />

gedacht hätte, weil man liest, was man nie gelesen<br />

hätte.<br />

Zeitunglesen ist Lust an sich selbst: Der Zeitungsleser<br />

bremst die Hektik der Welt, verlangsamt sie zur<br />

Lesezeit, macht sie erfahrbar, erkennbar, begreifbar.<br />

Der Zeitungsleser verschafft sich Ungestörtheit und<br />

Überblick im Salon seiner Redaktion, seines Clubs. Er<br />

ruht im Auge des Shitstorms – und beharrt auf geistiger<br />

Selbstbestimmung. Nichts drängt ihn weiter und<br />

weiter durch glitzernde Ereignis-Partikel, die, kaum<br />

berührt, gleich wieder verglühen.<br />

Keine Netznervosität nervt ihn, kein Blitzen von<br />

Buzzfeed, kein Freundschafts-Geflimmer auf Facebook.<br />

Zeitunglesen ist angehaltene Zeit. Ich-Zeit.<br />

Und das soll jetzt vorbei sein? Oder, wenn nicht<br />

jetzt, dann spätestens in Bälde, wie doch so viele prophezeien,<br />

wie doch fast alle sagen, wie es doch Milliarden<br />

Netzmenschen zu belegen scheinen, die ihre<br />

Touchscreen-Virtuosität für das Beherrschen des Weltwissens<br />

halten.<br />

Von Albert Einstein ist der Satz überliefert: „Die<br />

Fische werden das Wasser wohl als Letzte entdecken.“<br />

Wer war gleich noch mal Albert Einstein?<br />

Dresden<br />

Festetage des Residenzschlosses<br />

26. April bis 27. Juli 2014<br />

www.skd.museum<br />

Franco Vimercati 1<br />

& George Kubler 2<br />

eine Ausstellung<br />

von WOLFGANG SCHEPPE<br />

FRANK A. MEYER ist Journalist und Gastgeber der<br />

politischen Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat


BERLINER REPUBLIK<br />

Debatte<br />

SALZ, SONNE<br />

UND MEER<br />

Von FRANZISKA BRANTNER und ROBERT HABECK<br />

Seit der Wahlpleite predigen die Grünen Liberalismus.<br />

„Klingt nach FDP-Erbschleichertum“, kritisieren zwei Grüne<br />

aus der Post-Trittin-Generation. Und schlagen der Partei ein<br />

ganz neues Freiheitskonzept vor<br />

54<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Illustration: Marco Wagner; Fotos: Brantner, Johannes Arlt/laif<br />

Freiheit ist bei den Grünen eine<br />

ambivalente Sache: Einerseits<br />

streiten wir dafür, dass jede<br />

und jeder so sein, leben und<br />

lieben kann, wie sie oder er<br />

es will. Andererseits wollen wir munter<br />

jede Menge Regeln einführen, die nicht<br />

nur wildes Wirtschaften regulieren, sondern<br />

auch in das Privatleben eingreifen:<br />

Werbeverbote, Tempolimits, Alkoholverbote,<br />

Düngevorschriften. Im Bundestagswahlkampf<br />

setzte sich – sicher auch unter<br />

der Missverstehens-Beihilfe unserer<br />

geschätzten politischen Mitbewerber –<br />

die Erzählung der grünen Bevormundung<br />

durch.<br />

Jetzt soll es wieder um grüne Freiheit<br />

gehen. Der Bundesvorstand plant<br />

einen Freiheitskongress. Und der Bundesparteitag<br />

beschloss direkt nach der<br />

vergeigten Wahl: „Wir wollen zeigen,<br />

dass der Deutsche Bundestag mit der FDP<br />

nur eine neoliberale Partei verloren hat,<br />

nicht aber eine Kraft für einen verantwortungsvollen<br />

Liberalismus. Selbstbestimmung<br />

und Liberalität sind bei uns<br />

Grünen zu Hause.“<br />

Die Grünen als Partei der Liberalität<br />

– die Behauptung schmeckt etwas<br />

schal. Sie klingt nach FDP-Erbschleichertum,<br />

nach Veggie-Day-Traumatherapie.<br />

Vielleicht ist der Liberalismus ja tatsächlich<br />

bei „uns“ zu Hause. Aber wir müssen<br />

einsehen, dass ein liberaler Zungenschlag<br />

kein Beweis ist und noch lange<br />

keine Strategie. Die Grünen haben bisher<br />

die Frage nicht beantwortet, ob sich bei<br />

ihnen etwas ändern soll und wenn ja, was.<br />

Dabei birgt der Freiheitsdiskurs tatsächlich<br />

eine große Chance für die Partei,<br />

und ein bisschen auch für die Bundesrepublik,<br />

sich nochmals neu zu erfinden.<br />

Damit könnten wir der Gesellschaft im<br />

Merkel-müden Deutschland einen Impuls<br />

geben, die Republik wacher, kreativer,<br />

freier zu machen. Dazu müssen sich die<br />

Grünen die Freiheit nehmen, Freiheit neu<br />

zu denken. Erstmal muss die Partei ein<br />

Sensorium gegen obligatorische Ismen<br />

und gegen Bevormundung entwickeln.<br />

So eine Haltung finden wir in ausgeprägt<br />

politischer Form im Werk von Albert<br />

Camus. Vielleicht ist es Zufall, dass<br />

der <strong>10</strong>0. Geburtstag des energischen Freiheitsdenkers<br />

mit der Suche der Grünen<br />

nach Orientierung zusammentraf. Aber<br />

Zufall ist der Zwilling der Freiheit, und<br />

er kann Camus zum Paten des grünen<br />

Freiheitsprojekts machen. Camus hat<br />

genau das, was die Grünen jetzt brauchen:<br />

Aus einem tief gegründeten Humanismus<br />

speisen sich seine Lebensbejahung<br />

und Bevormundungsverneinung:<br />

Camus badete und sonnte sich für sein<br />

Leben gern nackt, Salz, Sonne, Haut,<br />

Meer – das hatte existenzielle, „befreiende“<br />

Bedeutung, aber den „Nudismus“<br />

als Freiheit vorschreibende Zwangsjacke<br />

hielt er für einen „verqueren Protestantismus<br />

des Körpers“. Wertgeleitete Haltung<br />

ohne Ideologieklappe, das wäre die<br />

grüne Freiheit. Jeanyves Guérin nannte<br />

diese Camus’sche Haltung „programmlose<br />

Schärfe“ und Joseph Hanimann „radikales<br />

Augenmaß“. Genau so sollten die<br />

Grünen sein.<br />

IN SEINEM LETZTEN, erst posthum veröffentlichten<br />

und großartigen Buch „La<br />

postérité du soleil“ schreibt Camus:<br />

„Hier lebt ein freier Mensch. Niemand<br />

schuldet ihm etwas.“ Mit dieser Umkehrung<br />

der alltäglichen Besitzlogik bringt<br />

er seine Freiheitsphilosophie auf den<br />

Punkt. Das für die Freiheit relevante<br />

Die Autoren<br />

Auf einer Zugfahrt kamen die<br />

Grünen Franziska Brantner und<br />

Robert Habeck ins Gespräch.<br />

Sie entwickelten die Idee zu diesem<br />

Text. Habeck, 44 und Doktor<br />

der Philosophie, ist in Schleswig-<br />

Holstein Vize-Ministerpräsident<br />

sowie Umwelt- und Energieminister.<br />

Brantner, 34 und Doktorin<br />

der Politologie, wechselte im<br />

Herbst vom EU-Parlament in den<br />

Bundestag. Sie lebt in Heidelberg<br />

Kriterium ist nicht, dass ein Subjekt autonom<br />

und unabhängig ist, sondern dass<br />

es andere nicht in ein Schuldverhältnis<br />

gebracht hat. Selbstbestimmung, Unabhängigkeit,<br />

Freiheitsrechte für Worte, Taten<br />

und Gedanken – die liberale Philosophie<br />

der Moderne wird hier auf den<br />

Kopf gestellt.<br />

Die Freiheitsfrage ist traditionell in<br />

der Philosophie in ihrer radikalen Zuspitzung<br />

immer die Frage nach der Selbstbestimmung<br />

bis zum Ende, die Frage der<br />

Verfügung auch über den eigenen Tod<br />

durch Suizid. Das war auch für Camus<br />

die philosophische Schlüsselfrage unter<br />

dem Zeichen der Freiheit. An ihr ist eine<br />

grundsätzliche Umkehrung des Freiheitsbegriffs<br />

– und seines Gegenpols, die Unfreiheit<br />

durch Schuld – herauszuarbeiten,<br />

die den Grünen weiterhelfen kann. Camus<br />

würde nicht fragen: Ist man es jemandem<br />

schuldig weiterzuleben? Sondern:<br />

Schuldet mir jemand mein Leben?<br />

Das unterscheidet sich kategorial von<br />

einem oberflächlichen Liberalismus, der<br />

jedem nur die freie Entfaltung garantieren<br />

will.<br />

Das libertäre Denken der Freiheit<br />

macht die Urthemen der Grünen wie Naturschutz,<br />

Klimaschutz oder Atomausstieg<br />

nachgerade zur Übersetzung dieser<br />

Freiheit: Dass unsere Art, zu wirtschaften<br />

und zu verbrauchen, den Handlungsspielraum<br />

kommender Generationen begrenzt<br />

und diesen Freiheiten nimmt, ist<br />

ein Gemeinplatz. Von Soja-Importen aus<br />

Südamerika bis zu Deutschlands Außenhandelsüberschuss<br />

exportieren wir Freiheitsverluste.<br />

Ihnen gegenüber steht der<br />

Freiheitsanspruch der Selbstverwirklichung:<br />

Wirtschaftswachstum, Konsumgesellschaft,<br />

Fahren und Reisen, so viel<br />

und so weit man will, der Anspruch auf<br />

Plastiktüten und Einwegdosen inklusive.<br />

Grundrechte, Bewegungsfreiheit,<br />

Freiheit, die Berufe auszuüben, die wir<br />

wollen, Freiheit zu denken und zu forschen,<br />

daran macht sich jedoch ein voller<br />

Begriff von Freiheit fest. Ein zu enger<br />

Begriff von Freiheit nimmt sie uns<br />

gerade. Die vermeintliche Freiheit führt<br />

uns dann – Camus weitergedacht – selbst<br />

in Schuldverhältnisse und damit de facto<br />

in Unfreiheit.<br />

Camus’ Denken kann der programmatisch-philosophische<br />

Kern für ein<br />

grünes Freiheitsdenken sein, das darauf<br />

55<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Debatte<br />

verzichtet, politische Weltanschauungen<br />

zu errichten, sondern dicht bei den Problemen<br />

der Gegenwart bleiben soll, Camus<br />

hätte wohl gesagt, der Erde.<br />

Grüne Freiheit, das wäre nicht nur<br />

eine formale oder in die Zukunft versprochene,<br />

sondern eine, die sich an der<br />

realen und reellen Freiheit für möglichst<br />

viele Menschen misst. Sie schließt die Abwehr<br />

von sozialer Not und Bedrängnis<br />

ein – Freiheit und Gerechtigkeit sind für<br />

Camus nur zusammen zu erreichen –,<br />

geht aber darüber hinaus. Freiheit heißt,<br />

sich in Solidarität verwirklichen zu können.<br />

Sie ist eine Offenheit, eine Möglichkeit.<br />

„Weiß man, zu was der Mensch alles<br />

fähig ist, im Guten wie im Schlechten,<br />

weiß man auch, dass es nicht allein der<br />

Mensch ist, der beschützt werden muss,<br />

sondern die Möglichkeiten, die ihm innewohnen<br />

– seine Freiheit.“<br />

Kern grüner Freiheit wäre das Offenhalten<br />

eines existenziellen Raumes,<br />

durch den der Zugang zur Selbstverwirklichung<br />

gewahrt bleibt. Ein neuer grüner<br />

Liberalismus heißt, möglichst vielen<br />

Menschen in Gegenwart und Zukunft die<br />

Ressourcen und Voraussetzungen zu garantieren,<br />

sich so zu entfalten, wie es ein<br />

selbstbestimmtes, weltoffenes, gerechtes<br />

Leben erfordert. In letzter Konsequenz<br />

kann dies bedeuten, dass nicht unsere<br />

Freiheit als Leitbild das Leben der anderen<br />

definiert, sondern das Leben der anderen<br />

auf unsere Freiheit wirkt.<br />

Dieser Ansatz ist für die Positionierung<br />

einer um ihre Eigenständigkeit ringenden<br />

Partei eine gute Nachricht: Sind<br />

wir links? Oder bewahrend konservativ?<br />

Oder liberal? Aus einer eigenständigen<br />

Freiheitsperspektive gesprochen, lautet<br />

die Antwort: Wir wollen uns gar nicht<br />

in eine politische Weltenlehre einpassen.<br />

Wenn die CDU Wohlstand und Sicherheit<br />

für die bewahren will, die beides<br />

haben, und die SPD dafür eintritt,<br />

dass Wohlstand und Sicherheit für die erreichbar<br />

sein sollen, die beides noch nicht<br />

haben, dann sollten die Grünen für das<br />

eintreten, was über Wohlstand und Sicherheit<br />

hinausweist. Das Recht auf eigene<br />

Zeit gehört genauso dazu wie die<br />

Möglichkeit, über Zeit autonom zu bestimmen.<br />

Oder die Aussicht, Zeiten für<br />

Fürsorge und Arbeit miteinander vereinbaren<br />

zu können. Zeit ist Freiheit. Zu diesem<br />

Ansatz passt ein freies Denken, das<br />

Bubble Tea zu<br />

verbieten, aber<br />

Haschisch zu<br />

erlauben,<br />

bekommt Otto<br />

Normalbürger<br />

zu Recht nicht<br />

logisch<br />

übereinander<br />

über kurzfristige Bedürfnisse hinausgeht.<br />

Die Höhe der EEG-Umlage kann<br />

nicht zur Richtschnur dafür werden, ob<br />

Atomkraftwerke länger laufen oder nicht.<br />

Der Preis für Rindfleisch an der Discountertheke<br />

kann nicht darüber entscheiden,<br />

zu welchen Bedingungen wir Tiere halten<br />

und töten.<br />

DIE GRÜNE PARTEI steht für das Versprechen,<br />

dass das Leben anders sein kann.<br />

Wir leben aber eine Politik, die sich nicht<br />

mehr traut, große Veränderungen zu adressieren.<br />

Statt uns im Kleinen zu verlieren,<br />

müssten wir uns auf die großen<br />

Themen konzentrieren. Dafür sollten<br />

wir keineswegs auf die Mittel des Ordnungsrechts<br />

verzichten. Man kann die<br />

Welt nicht nur mit Flyern oder Aufklebern<br />

verändern. Aber wir sollten uns weniger<br />

in Debatten um Heizpilze, Werbeverbote,<br />

Helmpflichten auf Fahrrädern<br />

oder Radfahren im Wald einlassen, auf<br />

Limonaden- oder Motorroller-Verbote.<br />

Wir sollten lieber die nächste ökologische<br />

Steuerreform vorbereiten, eine<br />

Energiewende nach dem EEG entwerfen,<br />

eine Landwirtschaft ohne Subventionen<br />

aufzeigen, eine Wirtschaftspolitik<br />

ohne den Export von Unfreiheit entwickeln,<br />

Arbeits-, Steuer- und Sozialrecht<br />

so verändern, dass das Recht auf Zeit<br />

garantiert wird, und eine Außenpolitik,<br />

die das Primat der Freiheit anderen Ländern<br />

zugesteht.<br />

Ein grünes Verbotskleinklein darf<br />

nicht zur Ersatzhandlung für tatsächliche<br />

Veränderung werden. Mit Waffen<br />

spielen die meisten Kinder, seit es Pfeil<br />

und Bogen gibt. Heute sind es Paintball<br />

oder Internet-Shooterspiele. Kulturelles<br />

Erschaudern über technischen Fortschritt<br />

muss nicht in Verboten enden. Direkte<br />

militärische Forschung sollte nicht<br />

Aufgabe unserer Universitäten sein, aber<br />

etwa die Erforschung besserer Spracherkennungstechnik<br />

schon, auch auf die<br />

Gefahr hin, dass sie militärisch genutzt<br />

werden kann. Bubble Tea wegen zu hohen<br />

Zuckeranteils zu verbieten, Haschisch<br />

aber zu erlauben, kriegt Otto<br />

Normalbürger zu Recht nicht logisch<br />

übereinander.<br />

Die Grünen könnten auch mal ein<br />

paar Verbote abschaffen: Im schleswigholsteinischen<br />

Naturschutzgesetz gibt es<br />

ein Betretungsverbot für alle landwirtschaftlichen<br />

Flächen. Aber warum soll<br />

man Land nicht betreten dürfen, wenn es<br />

keinen wirtschaftlichen Schaden auslöst<br />

oder Tiere verschreckt? Und Übernachten<br />

in Naturschutzgebieten, am Strand,<br />

im Wald: Solange man nichts zerstört,<br />

was zu schützen ist, spricht nichts dagegen.<br />

Natur soll erlebbar sein. Nicht nur<br />

um ihrer selbst willen schützen wir Natur,<br />

sondern auch um unserer selbst willen.<br />

Aber Freiheit bedeutet eben auch<br />

die Verpflichtung, Rücksicht zu nehmen,<br />

sich – mit Camus gesagt – „im Zaum zu<br />

halten“, im Jargon der Landwirtschaftspolitik:<br />

sich auch an „gute fachliche Praxis“<br />

zu halten, oder als Banker: sich vom<br />

gierigen Schielen auf die letzte Zinskommastelle<br />

zu befreien. Die Frage stellt sich<br />

stets: Haben wir Zutrauen in die Gesellschaft,<br />

dass sie das hinkriegt? Jede Regel<br />

ist ein Beweis unseres Misstrauens.<br />

Von Albert Camus kann man lernen,<br />

wo die Scheidelinie verläuft: Es ist<br />

noch immer richtig, ja notwendig, die<br />

Welt besser zu machen, aber dazu muss<br />

man nicht der bessere Mensch sein oder<br />

bessere Menschen benötigen. Mit Camus<br />

sollten die Grünen wieder gegen<br />

die „Stehkragen-Jakobiner“ aufbegehren<br />

und alles dafür tun, selbst keine zu<br />

werden. Sie sollten mit einer politischen<br />

Haltung agieren, die „weder Belehrung<br />

noch die bittere Wahrheit der Größe<br />

sucht. Stattdessen Sonne, Küsse und erregende<br />

Düfte.“<br />

56<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELTBÜHNE<br />

„ Boah, nä! Watt will<br />

die denn??? Leute! Ich<br />

muss jetzt! Und zwar<br />

alleine! Das durfte<br />

selbst der Kaiser von<br />

China, und dat mach<br />

ich jetzt auch! “<br />

Martin Schulz, sozialdemokratischer Präsident des Europaparlaments, reagiert auf den Hinweis<br />

seines Vorzimmers, dass ihn eine Dame in wichtiger Angelegenheit erwarte, Porträt ab Seite 62<br />

57<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

DER UNHEIMLICHE HERR MODI<br />

Narendra Modi will Indiens neuer Regierungschef werden. Seine dunkle Vergangenheit<br />

könnte ihm am Ende aber doch noch zum Verhängnis werden<br />

Von BRITTA PETERSEN<br />

Foto: Sumit Dayal/Prospekt Photographers Agency<br />

Wer über Narendra Modi<br />

schreibt, gerät fast unweigerlich<br />

in die Falle falscher Gegensätze.<br />

„Albtraum oder Retter?“, „Indiens<br />

meistgeliebter und meistgehasster<br />

Politiker“, so lauten nur einige der Überschriften.<br />

Dabei ist die Rede vom Superschurken<br />

oder vom Superhelden – vor allem<br />

ist es Arbeit am Mythos Modi. Das<br />

kann dem Wahlkämpfer nur recht sein.<br />

Im April und Mai wählt Indien.<br />

Die Aufbruchstimmung der vergangenen<br />

Dekade ist längst einem realistischeren<br />

Bild des Landes gewichen. Nicht<br />

nur das Wirtschaftswachstum ist 2013<br />

auf vergleichsweise magere 5 Prozent<br />

gesunken. Korruptionsskandale und<br />

Massenvergewaltigungen haben Indiens<br />

aufstrebender Mittelklasse einen<br />

Spiegel vorgehalten, in den sie nicht<br />

gern blickt.<br />

Zu sehen ist ein Land, das die hohen<br />

Erwartungen an sich selbst nicht einlösen<br />

kann. „Implosion – Indiens Rendezvous<br />

mit der Wirklichkeit“, so hat der britische<br />

Journalist John Elliott sein neues<br />

Buch genannt, das dieses Phänomen analysiert.<br />

Elliott sieht Schlendrian und eine<br />

Laisser-faire-Mentalität im Zentrum der<br />

indischen Misere.<br />

Das könnte Narendra Modi ebenso<br />

sehen. Dabei ist der Mann, der gute<br />

Aussichten hat, Indiens nächster Premier<br />

zu werden, das Gegenbild von jener<br />

„Jugaad“-Haltung, der Tendenz zur<br />

Improvisation und zum Durchwursteln.<br />

Modi, 63, ist diszipliniert, asketisch und<br />

ein Kontrollfreak. Der Vegetarier raucht<br />

nicht, trinkt nicht, und es gibt keine Frau<br />

an seiner Seite. Der Mann ist mit der Politik<br />

verheiratet.<br />

Modis Aufstieg ist die klassische Geschichte<br />

eines Underdogs. Als Jugendlicher<br />

schon schloss er sich dem Rashtriya<br />

Swayamsevak Sangh (RSS) an, einer<br />

hindu-nationalistischen Kaderorganisation,<br />

deren Mitglieder sich in den frühen<br />

Morgenstunden einem militaristischen<br />

Drill unterziehen. Hier lernte der<br />

Sohn eines Teeverkäufers aus einer der<br />

untersten Kasten der indischen Gesellschaftshierarchie<br />

jene Disziplin, die seinen<br />

späteren Erfolg begründete.<br />

ERST RELATIV SPÄT in seiner politischen<br />

Karriere, 1987, wurde Modi Mitglied der<br />

Bharatiya Janata Party, für die er nun als<br />

Spitzenkandidat ins Rennen geht. Nach<br />

nur einem Jahr wurde er dank seines<br />

Rufes als effizientes Organisationstalent<br />

Generalsekretär der Partei in Gujarat.<br />

Seit 2001 ist er dort Ministerpräsident<br />

und machte den Bundesstaat zu einem<br />

der wirtschaftlich erfolgreichsten Indiens.<br />

Sein Ruf als nicht korrupter, wirtschaftsfreundlicher<br />

Macher hat ihn zum<br />

Liebling der führenden Wirtschaftsbosse<br />

gemacht.<br />

Sollte Modi im Mai genügend Stimmen<br />

erhalten, um an der Spitze der<br />

nächsten Koalitionsregierung in Neu-<br />

Delhi zu stehen, wäre er der erste Premier<br />

in der Geschichte Indiens, der nicht<br />

aus einer der drei Oberkasten stammt.<br />

Eine gesellschaftliche Revolution. Bis<br />

heute verhöhnen politische Gegner Modi<br />

daher gern als „Ghanchi“, der Name seiner<br />

niederen Kaste.<br />

„Die Wahlen 2014 könnten den Beginn<br />

des 21. Jahrhunderts in der indischen<br />

Politik markieren“, sagt Manoj<br />

Joshi vom indischen Thinktank Observer<br />

Research Foundation. Modis Aufstieg<br />

mit dem Versprechen, Indien wirtschaftlich<br />

wieder auf den Wachstumspfad zu<br />

führen, aber auch der Erfolg der neu gegründeten<br />

Aam Aadmi Party, die mit<br />

einer Antikorruptionsagenda kürzlich<br />

die Wahlen in Delhi gewinnen konnte,<br />

zeige, dass die alten Ideologien und die<br />

kastenbasierte Politik bei den Wählern<br />

nicht mehr verfangen. Entwicklung und<br />

gute Regierungsführung seien die Themen<br />

der Stunde.<br />

Klar ist, dass die Mehrheit der Wähler<br />

Modi nicht aufgrund seiner hindu-nationalistischen<br />

Ideologie ihre Stimme geben<br />

wird. Damit könnte die Politik der<br />

gezielten Hatz gegen Minderheiten, mit<br />

der in der indischen Politik immer gern<br />

gespielt wurde, zu einem Ende kommen.<br />

Modis Name aber wird auf immer<br />

mit dem antimuslimischen Massaker von<br />

Gujarat verbunden bleiben, bei dem 2002<br />

mehr als <strong>10</strong>00 Menschen getötet wurden.<br />

Es besteht kein Zweifel daran, dass an<br />

den bestialischen Morden auch Modis<br />

politische Mutterorganisation, der RSS,<br />

beteiligt war. Modi wird vorgeworfen,<br />

dass er als Ministerpräsident ein härteres<br />

Durchgreifen der Polizei gegen den<br />

mordenden Mob verhindert habe. Er bestreitet<br />

dies, eine direkte Schuld konnte<br />

ihm nie nachgewiesen werden.<br />

Unter den indischen Muslimen, aber<br />

auch im Nachbarland Pakistan wird<br />

Modis Aufstieg dennoch mit Sorge beobachtet.<br />

Ob er sich als Premier zum<br />

Staatsmann entwickelt oder eine neue<br />

südasiatische Eiszeit einläutet, wird<br />

nach Meinung seines Biografen Nilanjan<br />

Mukhopadhyay auch davon abhängen,<br />

wie stark sein Mandat ausfällt. Als<br />

schwacher Führer einer Koalition könnte<br />

er versuchen, sich als antipakistanischer<br />

Scharfmacher zu profilieren. Auf seiner<br />

Website hingegen präsentiert er sich als<br />

dichtender Schöngeist und „pragmatischer<br />

Träumer“. Narendra Modi ist ein<br />

Mann mit vielen Gesichtern.<br />

BRITTA PETERSEN lebt seit elf <strong>Jahre</strong>n in<br />

Südasien. Über Narendra Modis Gujarat<br />

schreibt sie in ihrem Buch „Wo die Götter<br />

leben. Alltag und Religion in Indien“<br />

59<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

„ICH WOLLTE DEN POSTEN NICHT“<br />

Hala Shukrallah engagierte sich lieber im Hintergrund. Damit ist es nun vorbei.<br />

Die Soziologin ist die erste Frau und Christin, die in Ägypten einer Partei vorsteht<br />

Von JULIA GERLACH<br />

Foto: David Degner für <strong>Cicero</strong> [M]<br />

Betritt sie den Raum, beherrscht sie<br />

ihn nicht. Ergreift sie das Wort,<br />

reißt sie ihre Zuhörer nicht mit.<br />

Hala Shukrallah ist anders als die normale<br />

Politikerpersönlichkeit in Ägypten. Eine<br />

bescheidene, nachdenkliche Frau. Dennoch<br />

wurde sie im März zur Vorsitzenden<br />

der Dustur-Partei gewählt, die Medien ihres<br />

Landes feiern sie als Lichtgestalt, und<br />

die zierliche Frau, 59, im braunen Jeanskostüm,<br />

lacht über den ganzen Rummel.<br />

Erklären lässt sich der Hype leicht.<br />

Ihre Wahl ist die erste gute Nachricht in<br />

einer Zeit voller Hiobsbotschaften. Sonst<br />

geht es um Verhaftungen von Mursi-Anhängern<br />

und deren massenhafter Verurteilung<br />

zum Tode, die andauernde<br />

Wirtschaftskrise und darum, dass mit<br />

Feldmarschall Abdel Fattah al Sisi ein<br />

Mann zum Präsidenten gewählt wird,<br />

der für die Rückkehr zur alten autoritären,<br />

militärgeprägten Ordnung steht.<br />

Geradezu dankbar stürzen sich die Medien<br />

daher auf Shukrallah: Zum ersten<br />

Mal in der Geschichte Ägyptens wurde<br />

eine Frau und noch dazu eine Christin<br />

zur Vorsitzenden einer Partei gewählt.<br />

Überhaupt hatte man die Dustur-Partei<br />

schon fast abgeschrieben, so lange war<br />

immer nur von Austritten und Streit unter<br />

den Mitgliedern die Rede gewesen.<br />

Der Parteizentrale ist der Niedergang<br />

anzusehen. Moderne Büromöbel, die eigentlich<br />

gerade erst angeschafft wurden,<br />

verstauben ungenutzt in viel zu großen<br />

Räumen. Plakate an den Wänden zeugen<br />

von vergangenen Aktionen. Eine Ecke<br />

wurde hergerichtet. Dort posiert Shukrallah<br />

für einen ausländischen Fotografen.<br />

Es fällt ihr schwer, still zu sitzen, und<br />

noch schwerer, nicht zu reden. „Wissen<br />

Sie, ich wollte den Posten doch gar nicht.<br />

Ich organisiere lieber im Hintergrund und<br />

lese gerne Bücher“, sagt sie und wirft dem<br />

Fotografen einen entschuldigenden Blick<br />

zu. „Aber meine Parteifreunde haben<br />

mich bekniet, und vielleicht braucht die<br />

Partei jetzt tatsächlich eine Frau wie mich.<br />

Zumindest ist es wirklich allerhöchste<br />

Zeit, dass wir etwas unternehmen“, sagt<br />

sie. Die demokratische Bewegung habe<br />

2011 wichtige Entwicklungen angestoßen,<br />

„aber wir haben uns bisher immer damit<br />

herausgeredet, dass wir nicht gut genug<br />

organisiert sind, um selbst Macht zu übernehmen<br />

oder auch nur mit den anderen<br />

Mächtigen zu verhandeln“.<br />

Gegründet wurde die Partei – übersetzt<br />

bedeutet ihr Name „Verfassungspartei“<br />

– 2012 von Friedensnobelpreisträger<br />

Mohammed el Baradei. Sie wurde<br />

zum Sammelbecken für die Aktivisten<br />

der Revolution. Seitdem ist viel passiert.<br />

Im Sommer 2012 kam der Muslimbruder<br />

Mohammed Mursi an die Macht und<br />

wurde nach nur zwölf Monaten wieder<br />

abgesetzt. Viele der Dustur-Mitglieder<br />

beteiligten sich an dieser „zweiten Revolution“,<br />

el Baradei übernahm in der<br />

vom Militär eingesetzten Übergangsregierung<br />

den Posten des Vizepräsidenten.<br />

DIE HOFFNUNG AUF DEMOKRATIE und<br />

Freiheit wurde schnell enttäuscht. Brutal<br />

ging das Militär gegen Mursi-Anhänger<br />

vor, und el Baradei trat im August 2013<br />

von seinem Amt zurück. Nach der Räumung<br />

der Protestlager der Mursi-Anhänger<br />

wollte er mit seinem guten Ruf die<br />

Regierung nicht länger stützen. Viele<br />

Mitglieder verließen daraufhin die Partei.<br />

Sie fühlten sich von el Baradei verraten.<br />

Seit das Militär Mursi abgesetzt hat,<br />

verhärten sich die Fronten. Große Teile<br />

der säkularen Mittelschicht überschlugen<br />

sich in Hasstiraden gegen die Muslimbruderschaft.<br />

Angesehene Intellektuelle<br />

wie Sonallah Ibrahim, der selber im Gefängnis<br />

gefoltert wurde, forderten eben<br />

diese Behandlung für Mursi-Anhänger.<br />

Der Politikprofessor Saad Eddin Ibrahim<br />

schlug sogar vor, für Muslimbrüder<br />

Konzentrationslager einzurichten.<br />

Jetzt, da auch immer mehr säkulare<br />

Aktivisten der Revolution von 2011 verhaftet<br />

worden sind, stellen die Säkularen<br />

entsetzt fest, dass von den Idealen der<br />

Revolution kaum noch etwas übrig ist.<br />

Auch deswegen wird Shukrallahs<br />

Wahl so begeistert aufgenommen – sie<br />

zeigt, dass nicht alles vergebens war. Nicht<br />

nur, weil es möglich ist, dass eine Frau<br />

und Christin eine solche Position bekleidet.<br />

Shukrallah gehört zu einer Gruppe<br />

von linken und liberalen Aktivisten, die<br />

seit Jahrzehnten versucht haben, dem<br />

Mubarak-Regime etwas entgegenzusetzen.<br />

Die Soziologin, die ihren Master an<br />

der University of Sussex machte, kommt<br />

aus der Studentenbewegung der siebziger<br />

<strong>Jahre</strong>, gründete mit anderen die ägyptische<br />

Menschenrechtsorganisation und<br />

eine Frauenrechtsorganisation. Zuletzt<br />

leitete sie eine Initiative, die Menschen in<br />

Armenvierteln zur Gründung von Nachbarschaftsinitiativen<br />

ermunterte.<br />

„Sie sehen, diese Rolle als Medienstar<br />

passt gar nicht zu mir, aber ich mache mit.<br />

Die Aufbruchstimmung ist wichtig: Wir<br />

haben schon viele Mitglieder zurückgewonnen<br />

und neue dazu“, sagt sie. „Wir<br />

haben nicht mehr viel Spielraum und vor<br />

allem keine Zeit zu verlieren. Die Türen<br />

sind dabei, wieder ins Schloss zu fallen.<br />

Wir müssen jetzt schnell noch einen Fuß<br />

in den Spalt bekommen.“<br />

Aus vielen <strong>Jahre</strong>n der Opposition unter<br />

Mubarak weiß sie, wie man in den<br />

Nischen eines autoritären Systems etwas<br />

erreichen kann. Dieses Wissen ist<br />

in Ägypten wieder gefragt.<br />

JULIA GERLACH berichtet seit 2008<br />

aus Kairo. Sie hat vier Regierungen und<br />

mehrere Revolutionen erlebt<br />

61<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

DER DOPPELTE SCHULZ<br />

Der Sozialdemokrat Martin Schulz ist ein Polterer. Nun will er Chef der EU-Kommission<br />

werden. Wäre das ein Risiko für Europa? Was kann dieser Mann noch?<br />

Von CONSTANTIN MAGNIS<br />

Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz<br />

Martin Schulz muss aufs Klo. Aber<br />

er darf nicht. Es fängt an, als er<br />

gerade für einen TV-Auftritt geschminkt<br />

wird. Es ist der Beginn einer<br />

Straßburger Sitzungswoche. Ob er noch<br />

mal schnell …? Sein Assistent tippt auf<br />

die Uhr und schüttelt mitleidig den Kopf.<br />

Da muss er, der Präsident des Europaparlaments,<br />

sitzen bleiben, mit der Papierserviette<br />

um den Hals, die sein Hemd vor<br />

Make-up schützen soll, und kann nur nervös<br />

auf dem viel zu hohen Schminkstuhl<br />

mit den Beinen wackeln. Nach der Sendung<br />

will Schulz davoneilen, aber dann<br />

ist da dieser griechische Reporter, der<br />

unbedingt ein Interview braucht und so<br />

lange fleht, bis er es bekommt.<br />

Nun ist Schulz wirklich angespannt,<br />

es ist jetzt dringend. Er marschiert entschlossen<br />

durch die Hallen des Straßburger<br />

Parlaments auf sein Ziel zu, aber dauernd<br />

ruft jemand „Monsieur le Président“<br />

und will ihn begrüßen. Schließlich meldet<br />

sein Vorzimmer, dass im Büro bereits<br />

eine Dame mit einem sehr wichtigen Anliegen<br />

warte, er müsse schnell kommen.<br />

„Boah, nä! Watt will die denn???“, platzt<br />

es entnervt aus ihm heraus. „Leute! Ich<br />

muss jetzt! Und zwar alleine! Das durfte<br />

selbst der Kaiser von China, und dat<br />

mach ich jetzt auch!“<br />

DER THRON, den der Sozialdemokrat<br />

Martin Schulz, 58, eigentlich besteigen<br />

will, befindet sich nicht in der Herrentoilette<br />

des EU-Parlaments. Schulz will<br />

nach der Europawahl Präsident der Brüsseler<br />

Kommission werden. Er will das<br />

höchste Amt, das die Europäische Union<br />

zu vergeben hat.<br />

Selbst wenn Schulz die Wahlen im<br />

Mai für sich entscheiden sollte, ist es<br />

längst nicht ausgemacht, dass er auch<br />

auf dem Thron Platz nehmen darf. Der<br />

Lissabon-Vertrag sieht vor, dass der<br />

Kommissionspräsident vom Rat der<br />

Staats- und Regierungschefs der EU dem<br />

Europaparlament vorgeschlagen und von<br />

diesem gewählt wird. Dabei sollen die<br />

Staats- und Regierungschefs das Ergebnis<br />

der Europawahl „berücksichtigen“. Sie<br />

müssen aber nicht. Einen Automatismus,<br />

den Wahlsieger zu küren, gibt es nicht.<br />

Erschwert wird die Sache für Schulz<br />

durch ein Dilemma: Er hat den Ruf eines<br />

Polterers und Regelbrechers, eines<br />

Mannes, der den präsidialen Habitus<br />

nicht nur zugunsten menschlicher Bedürfnisse<br />

bereitwillig fallen lässt. Er ist<br />

ein Präsident zum Anfassen, ein visionärer<br />

Rhetoriker mit Pathos und ungebremster<br />

Leidenschaft: Alles Stärken in<br />

seinem jetzigen Amt, sie machen ihn zum<br />

Gegenentwurf des ungeliebten, technokratischen<br />

EU-Apparatschiks.<br />

Aber die Frage ist, wie hilfreich diese<br />

Eigenschaften für den Chefbürokraten<br />

an der Spitze des EU-Verwaltungsapparats<br />

noch wären. Kann Schulz führen?<br />

Eignet sich ein Mann, der gewohnheitsmäßig<br />

vom Protokoll abweicht, und damit<br />

beispielsweise Abgeordnete des<br />

israelischen Parlaments durch eine unbedachte<br />

Äußerung über die Wasserverteilung<br />

in der Region verärgert hat, für ein<br />

exekutives Amt, in dem ein falscher Satz<br />

die New Yorker Börse in Panik versetzen<br />

kann? Für einen Job, den der jetzige Inhaber<br />

José Manuel Barroso einmal mit<br />

dem eines Fluglotsen verglich, der ständig<br />

Crashs vermeiden muss? Wäre Europa<br />

bereit für Kommissionschef Schulz?<br />

Der Fluglotse des Martin Schulz<br />

heißt Armin Machmer. Er ist sein Pressesprecher<br />

und Spindoctor, er soll den<br />

kommunikativen Flug des Präsidenten<br />

planen, korrigieren, sicher zur Landung<br />

bringen. An einem Montag im März wird<br />

in Straßburg ein Interview der Neuen<br />

Zürcher Zeitung mit Schulz auf Video<br />

aufgezeichnet, Machmer verfolgt Schulz’<br />

Performance auf einem Bildschirm.<br />

„Unser heutiger Gast will hoch hinaus“,<br />

liest der Moderator vom Teleprompter<br />

ab, „und wenn er es schafft, wird er<br />

bald schon einer der mächtigsten Männer<br />

Europas sein, noch mächtiger, als er<br />

heute schon ist.“ Schulz wird ausgiebig<br />

zur Krimkrise befragt, Machmer nickt<br />

den Antworten seines Chefs zufrieden<br />

hinterher. „Macht er gut“, murmelt er.<br />

THEMENWECHSEL. Der Moderator fragt<br />

jetzt nach dem Schweizer Referendum<br />

gegen die Freizügigkeit. Ob es wirklich<br />

schlau war, dass die EU so rasch auf das<br />

Votum reagiert habe und unter anderem<br />

den Erasmus-Austausch für Schweizer<br />

Studenten gestoppt habe? Armin Machmer<br />

ist elektrisiert. Zu dieser heiklen<br />

Frage hat er Schulz noch im Aufzug gebrieft.<br />

Er soll einfach erklären, der Stopp<br />

von Erasmus sei ein Automatismus. „Das<br />

habe ich ihm vorher gesagt“, ruft Machmer<br />

erwartungsvoll.<br />

Aber Schulz spult das einstudierte<br />

Argument nicht ab. Er sagt etwas völlig<br />

anderes: „Überhaupt kein Verständnis“<br />

habe er für die Suspendierung junger<br />

Schweizer am Erasmus-Programm.<br />

Machmer hält den Atem an und wirkt<br />

kurz fassungslos. „Ausgerechnet die<br />

Menschen, die am glühendsten für die<br />

Integration der EU werben, sollen jetzt<br />

den Preis zahlen für eine Politik, die die<br />

SVP angeschoben hat“, schimpft Schulz.<br />

„Das finde ich falsch.“<br />

Machmer atmet aus. Der Lotse hat<br />

den Funkkontakt verloren, Schulz ist<br />

eine völlig andere Route entlanggerauscht.<br />

Aber immerhin, er ist sicher<br />

gelandet. „Okay“, sagt Machmer resigniert.<br />

„Auch gut. Gut gemacht.“ Schulz<br />

mag schwer zu steuern sein, er hat sich<br />

aber offenbar selbst ganz gut im Griff.<br />

63<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

Obwohl ihm der Ruf eines schwer<br />

kontrollierbaren Raufbolds anhaftet,<br />

liegt ein Geheimnis des Martin Schulz<br />

in seiner Selbstkontrolle. Die musste er<br />

auf die harte Weise lernen. Er wächst als<br />

jüngstes von fünf Kindern in der Polizeistation<br />

von Hehlrath auf. Sein Vater leitet<br />

als Beamter die Wache des kleinen Dorfes<br />

bei Aachen. Martin Schulz ist keine<br />

Leuchte in der Schule, er verlässt sie nach<br />

der Mittleren Reife und fühlt sich deshalb<br />

seinen älteren, akademisch erfolgreichen<br />

Geschwistern noch jahrelang unterlegen.<br />

DIE HOFFNUNG, sich als Fußballspieler<br />

profilieren zu können, stirbt mit einer<br />

Knieverletzung. Stattdessen macht<br />

er eine Ausbildung zum Buchhändler.<br />

Als er mit 24 <strong>Jahre</strong>n plötzlich arbeitslos<br />

wird, beginnt er zu trinken. Er verliert<br />

Freunde, die Wohnung, seine Geliebte.<br />

Landet, wie er später sagen wird, „in der<br />

Gosse“. Es ist ein Vollabsturz, den Martin<br />

Schulz heute bei jeder sich bietenden Gelegenheit<br />

zum mythischen Wendepunkt<br />

seiner Biografie erklärt. Doch anders<br />

als ein Horst Seehofer, der Erweckungserlebnisse<br />

wie seine lebensgefährliche<br />

Herzmuskelentzündung ebenfalls zelebriert,<br />

ändert Schulz sein Leben wirklich.<br />

Martin Schulz reißt sich zusammen.<br />

Statt sich damals, wie er es kurz erwogen<br />

hat, das Leben zu nehmen, geht er für<br />

vier Monate in die Entzugsklinik. Seitdem<br />

ist er trocken, obgleich ihm heute als<br />

Spitzenpolitiker ständig Bierhumpen und<br />

Weingläser in die Hand gedrückt werden.<br />

Damals macht er sich als Buchhändler<br />

selbstständig, engagiert sich in der SPD,<br />

heiratet. Erst mit diesem Schritt, sagt er<br />

heute, emanzipiert er sich endgültig von<br />

seinen älteren Geschwistern.<br />

Vor allem aber entwickelt Schulz<br />

nach seinem Absturz Strategien zur inneren<br />

Ordnung und Stabilisierung, an denen<br />

er – nach eigener Aussage – bis heute<br />

eisern festhält: Jeden Abend schreibt er<br />

Tagebuch, 33 Bände aus 33 <strong>Jahre</strong>n hat er<br />

inzwischen im Regal. Nie geht er ins Bett,<br />

ohne ein Buch gelesen zu haben. Manchmal<br />

nur eine halbe Seite, manchmal ein<br />

ganzes Kapitel, über die Jahrzehnte spart<br />

Schulz sich so ein intellektuelles Kapital<br />

an, das man ihm nicht ansieht, im<br />

Gegenteil.<br />

Sein Gesicht, mit den wilden Augen<br />

und dem wüsten Bart, ist das eines<br />

Den Jähzorn,<br />

den viele für einen<br />

nicht zu bändigenden<br />

Teil des<br />

Schulz’schen<br />

Charakters<br />

hielten, legt er<br />

mit seiner neuen<br />

Rolle ab wie einen<br />

alten Mantel<br />

Kriegers. Im kleinen Kreis verfällt er oft<br />

in die unfreiwillig komische Pose eines<br />

liebenswerten Aufschneiders. „Boah,<br />

ich war heute auf einer Veranstaltung,<br />

3000 Leute, da war eine Stimmung, du,<br />

ich sach dir!“, ruft er dann, hebt die<br />

Augenbrauen in Andeutung einer unaussprechlich<br />

erschöpfenden Sensation,<br />

winkt ab und lacht ein dreckiges<br />

Erzähl-mir-nix-Lachen. Oder er ächzt:<br />

„Nä, noch was essen, ich platze, du, ich<br />

bin vorhin so vollgestopft worden“, und<br />

formt mit den Händen einen Schwabbelbauch.<br />

Mit seiner karikaturhaft wichtigtuerischen<br />

und zugleich proletigen Art<br />

erinnert er dann an jemanden, der Gebrauchtwagen<br />

handelt.<br />

Schulz aber hat mit Literatur gehandelt<br />

und handelt heute mit großen Ideen.<br />

Er ist ein Intellektueller und das Gegenteil<br />

der Figur, die er gelegentlich zu verkörpern<br />

scheint. Gleichzeitig kann er eitel<br />

sein. Man sieht ihm an, wenn ihm die<br />

eigenen Worte gefallen. Er lächelt dann<br />

versonnen und folgt mit kaum merklichen<br />

Kopfbewegungen dem Rhythmus<br />

der eigenen Sätze, als lausche er einer<br />

bewegenden Sinfonie. Doch wenn er im<br />

Gespräch den dänischen Philosophen<br />

Kierkegaard zitiert, auf Goethes „Faust“<br />

verweist oder die Zusammenhänge zwischen<br />

dem Verdun, dem Kriegschronisten<br />

Ernst Jünger und dem faschistischen<br />

Soldatenideal aufzeigt, schaut er einfach<br />

nur wie einer, der konzentriert in seinem<br />

Werkzeugkasten kramt.<br />

Paradoxerweise wurde sein Aufstieg<br />

vom Provinzbuchhändler zum bekanntesten<br />

Gesicht der EU weder durch<br />

polternde Kumpelhaftigkeit noch durch<br />

intellektuelle Wortgewalt vorangetrieben.<br />

Als Schulz 1987 mit 31 <strong>Jahre</strong>n Bürgermeister<br />

der 30 000-Einwohner-Stadt<br />

Würselen wird, gilt er als taktischer und<br />

umsichtiger Vermittler zwischen den Interessengruppen.<br />

Er kommt 1994 ins EU-<br />

Parlament, büffelt nächtelang Englisch,<br />

Französisch, später auch Spanisch und<br />

Italienisch, und fällt im Gegensatz zu vielen<br />

seiner Kollegen durch disziplinierte<br />

Detailarbeit auf. Auch damit verdient er<br />

sich den Vorsitz der deutschen SPD-Abgeordneten<br />

und 2004 schließlich den aller<br />

Sozialdemokraten im Parlament.<br />

Das Bild des tobenden Teutonen, das<br />

heute viele von Schulz haben, entsteht in<br />

seiner Zeit als Chef der deutschen SPD-<br />

Abgeordneten, während der ihm 2003<br />

der damalige italienische Regierungschef<br />

Silvio Berlusconi den Gefallen tut, ihn<br />

mit einem Nazikapo zu vergleichen. Damit<br />

ist Martin Schulz auf einen Schlag europaweit<br />

bekannt. Im EU-Parlament bekommt<br />

Schulz regelmäßig Wutausbrüche<br />

in Debatten mit dem rechten Lager. Dann<br />

kriegt er einen roten Kopf und brüllt, bis<br />

der Parlamentspräsident ihn rüffelt.<br />

DERSELBE SCHULZ vereint die nationalen<br />

Lager durch Beharrlichkeit und geschicktes<br />

Netzwerken zu einer geschlossenen,<br />

sozialdemokratischen Kraft, die er so resolut<br />

und straff führt, dass viele erleichtert<br />

aufatmen, als er 2012 Parlamentspräsident<br />

wird. Den Jähzorn, den viele<br />

für einen nicht zu bändigenden Teil des<br />

Schulz’schen Charakters hielten, legt er<br />

mit seiner neuen Rolle ab wie einen alten<br />

Mantel.<br />

Nun erntet er fraktionsübergreifenden<br />

Respekt dafür, wie er dem Amt des<br />

Parlamentspräsidenten neue Relevanz<br />

verleiht. Wie er sich gegenüber EU-Rat<br />

64<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


und EU-Kommission behauptet. Wie<br />

er verhandelt und gestaltet, außenpolitisch,<br />

finanz- und wirtschaftspolitisch,<br />

wo seine Vorgänger nur gegrüßt und gegrinst<br />

haben.<br />

Es ist, als gäbe es Schulz – und<br />

Schulz. „Das ist bei ihm, als würden<br />

mehrere Softwareprogramme nebeneinander<br />

laufen“, sagt ein Wegbegleiter.<br />

Als hätte Schulz verschiedene Gänge,<br />

zwischen denen er mühelos hin und her<br />

schalten kann. Wer beobachtet, wie er<br />

vom Deutschen ins Französische wechselt,<br />

kann sich das ungefähr vorstellen.<br />

Es wirkt dann, als würde Schulz mit der<br />

Sprache auch seine Persönlichkeit justieren.<br />

Mit einem Mal überzieht ein betrübtes<br />

Amüsement sein Gesicht, in der<br />

Stimme schwingt ein genießerisches Timbre,<br />

als hätte Schulz einen Hebel umgelegt,<br />

von Deutscher auf Franzose.<br />

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DEN EUROPÄISCHEN VISIONÄR und den<br />

rheinischen Proll, den brüllenden Berserker<br />

und den strategischen Denker, den<br />

ehemaligen Alkoholabhängigen und den<br />

harten Chef, den wilden Redner und den<br />

methodischen Verhandler – Schulz hält<br />

alle diese Typen offenbar mit schierer<br />

Willensstärke beisammen und unter Kontrolle.<br />

Vieles spricht dafür, dass er sich<br />

diese Kraft in jahrzehntelanger, täglicher<br />

Selbstdisziplinierung abgetrotzt hat.<br />

Von Angela Merkel hört man, dass<br />

sie sich im Notfall gut mit einem Kommissionschef<br />

Schulz arrangieren könnte.<br />

Vielleicht liegt das nicht nur daran, dass<br />

Schulz Deutscher ist und die Kanzlerin<br />

ohnehin mit der SPD regiert. Möglicherweise<br />

hat Merkel in Schulz auch Qualitäten<br />

erkannt, die ihr selbst und der Spitze<br />

der EU fehlen.<br />

Angela Merkel pflegt mit ihren Händen<br />

eine perfekt symmetrische, reglose<br />

Raute zu formen. Wenn Martin Schulz<br />

herumsteht, legt er alle zehn Finger zusammen,<br />

wie zu einem Brustkorb, und<br />

lässt sie dann wild pumpen, wie einen<br />

schlagenden Herzmuskel.<br />

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CONSTANTIN MAGNIS ist Ressortleiter<br />

Reportagen bei <strong>Cicero</strong> und hat Schulz im<br />

In- und Ausland begleitet. In Frankreich<br />

kam er sich manchmal recht bescheuert<br />

vor: Er hat Schulz auf lauter Terminen<br />

begleitet und nichts verstanden, weil er<br />

kein Französisch spricht<br />

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WELTBÜHNE<br />

Analyse<br />

Syrien ist ein Leichenhaus.<br />

Mehr als 140 000 Menschen<br />

sind in dem grausamen Bürgerkrieg<br />

getötet worden. Das<br />

Massensterben ist so furchtbar,<br />

dass die Vereinten Nationen es aufgegeben<br />

haben, die Toten zu zählen.<br />

Im Irak ist der Krieg zwischen<br />

Sunniten und Schiiten neu entflammt.<br />

2013 starben mehr als 8000 Iraker, die<br />

höchste Opferzahl seit 2008. Mehr als<br />

140 000 Menschen sind seit vergangenem<br />

Dezember vor religiös motivierter<br />

Gewalt aus der Provinz Anbar geflohen.<br />

Im Januar verließen in nur einer Woche<br />

65 000 Iraker Falludscha und Ramadi –<br />

Städte, die wieder in die Hände von Al<br />

Qaida gefallen sind.<br />

Die Straßen Beiruts werden von Autobomben<br />

und Anschlägen erschüttert,<br />

weil die Kämpfe in Syrien auf den Libanon<br />

übergreifen. Auch Kairo ist zu einem<br />

Schauplatz von Bombenexplosionen und<br />

Tötungen geworden, zeitgleich kommt es<br />

zu dschihadistischen Angriffen im Sinai.<br />

Andere, scheinbar stabile arabische Staaten<br />

könnten bald auch in Gefahr sein.<br />

Die maskierten Al-Qaida-Kämpfer<br />

erleben einen neuen Aufwind. Sie scheinen<br />

die einzigen Sieger in all dem Chaos<br />

im Nahen Osten zu sein. Ihren Rekruten<br />

und fanatischen Anhängern ist es<br />

gelungen, sowohl den Volksaufstand in<br />

Syrien als auch die schwelenden Ressentiments<br />

im Irak in einen religiösen<br />

Krieg zwischen Sunniten und Schiiten<br />

zu verwandeln. Unter dem Label „Islamischer<br />

Staat im Irak und in der Levante“<br />

hat Al Qaida sich kein geringes<br />

Ziel gesteckt: die Grenzen zwischen Syrien<br />

und Irak von der Landkarte tilgen<br />

und einen eigenen transnationalen Terrorstaat<br />

ausrufen.<br />

Die Kämpfer sind disziplinierter,<br />

besser bewaffnet und erfahrener denn<br />

je. Die Schlachtfelder Syriens haben<br />

der Terrororganisation als Sammelort<br />

und Übungsplatz gedient. Inzwischen<br />

überqueren ihre kampfgestählten Infanteristen<br />

ungehindert die syrisch-irakische<br />

Grenze. Der amerikanische Botschafter<br />

im Irak schätzt, dass sich mehr<br />

als 2000 Al-Qaida-Kämpfer im Land<br />

aufhalten.<br />

Der Nahe Osten versinkt nicht einfach<br />

im Chaos. Er nimmt eine neue, ungleich<br />

tödlichere Gestalt an. Die vor<br />

TÖTEN FÜR DEN<br />

TERRORSTAAT<br />

Attentate und Massaker reihen sich schier<br />

endlos aneinander – Al Qaida mordet, als habe<br />

es nie einen „Krieg gegen den Terror“ gegeben.<br />

Ihr Ziel: Syrien und Irak von der Karte tilgen<br />

Von WILLIAM J. DOBSON<br />

66<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Illustration: Simon Prades<br />

<strong>10</strong>0 <strong>Jahre</strong>n hastig gezogenen und vom<br />

Westen aufgezwungenen Grenzen sollen<br />

durch eine neue religiöse Spaltung<br />

ersetzt werden. Die Region ist zum<br />

Schachbrett der beiden größten Rivalen<br />

geworden: Iran und Saudi-Arabien. Diese<br />

Regime beanspruchen für sich, den schiitischen<br />

beziehungsweise sunnitischen Islam<br />

zu repräsentieren. Mit Waffen, Geld<br />

und Kämpfern heizen sie einen existenziellen<br />

Konflikt an, in dem Verhandlungen<br />

nicht vorgesehen sind. Al Qaida ist<br />

die hässliche Konsequenz eines Krieges<br />

innerhalb des Islam, der von Teheran und<br />

Riad gefördert wird.<br />

Dieses Mal ist etwas anders: Die<br />

USA sind nicht beteiligt. Amerika, das<br />

Soldaten nach Afghanistan, in den Irak<br />

und anderswo geschickt hat, ist nicht<br />

mehr da. Dieses Vakuum – entstanden<br />

durch die Abwesenheit der amerikanischen<br />

Supermacht und durch die Schwächung<br />

der vielen arabischen Regime, die<br />

jahrzehntelang von den USA gestützt<br />

wurden – erlaubt es Iran und Saudi-Arabien,<br />

sich gegenseitig zu belagern. Die<br />

Hilferufe der Opfer oder auch nur ihre<br />

Bitte um eine begrenzte Intervention veranlassen<br />

Washington nicht zum Handeln.<br />

Als etwa im Januar sunnitische Rebellen<br />

die westirakische Stadt Falludscha<br />

eroberten, sagte Außenminister John<br />

Kerry, er sei besorgt um die Iraker. Allerdings<br />

sei dies „ihre Schlacht“.<br />

Amerika ist der Kriege müde und<br />

hat kein Interesse an Auslandseinsätzen.<br />

Hinzu kommt: Je näher die USA ihrer<br />

Energieunabhängigkeit kommen, desto<br />

weniger Gründe gibt es für sie, sich auf<br />

ein neues Nahost-Abenteuer einzulassen.<br />

So eskaliert die Gewalt ungehindert,<br />

und die Auswirkungen der amerikanischen<br />

Militärinterventionen des vergangenen<br />

Jahrzehnts werden offensichtlich:<br />

Der Nahe Osten steht in Flammen, und<br />

Al Qaida – das ursprüngliche Ziel von<br />

Amerikas „Krieg gegen den Terror“ – ist<br />

schlagkräftiger denn je.<br />

In gewisser Weise waren die modernen<br />

Staaten des Nahen Ostens von Anfang<br />

an zum Scheitern verurteilt. Die<br />

Siegermächte des Ersten Weltkriegs<br />

zwangen den Überresten des Osmanischen<br />

Reiches künstliche Staatsgrenzen<br />

auf, ohne Rücksicht auf die Menschen in<br />

der Region. Es wurden grundverschiedene<br />

Gruppen gewaltsam vereint und<br />

ungeachtet ihres Glaubens, ihrer Geschichte<br />

oder ihrer Stammeszugehörigkeit<br />

einheitlich regiert. Minderheiten<br />

wie die Sunniten im Irak oder die Alewiten<br />

in Syrien wurden zu Herrschern<br />

über die Mehrheitsbevölkerung gemacht,<br />

die meist einer anderen Konfession angehörte.<br />

Aus Sicht der Kolonialmächte eine<br />

geniale Strategie, die zweierlei gewährleistete:<br />

die Abhängigkeit der arabischen<br />

Regime von externen Mächten und geringen<br />

politischen Wandel.<br />

Der Kalte Krieg hat diese Region nur<br />

scheinbar stabilisiert. Tatsächlich geriet<br />

der Nahe Osten in einen ungesunden<br />

67<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELTBÜHNE<br />

Analyse<br />

Zustand der politischen, sozialen und<br />

wirtschaftlichen Starre. Verfall, Armut<br />

und Korruption dieser immer autoritäreren<br />

Regime brachten nichts Langlebigeres<br />

als den Aufstieg des islamischen<br />

Fundamentalismus hervor.<br />

Die Region glich immer schon einem<br />

Pulverfass – die Verantwortung für die<br />

Explosion aber hat stets derjenige, der<br />

die Lunte zündet. In diesem Fall die Regierung<br />

von George W. Bush. Zu Recht<br />

wird ihr vorgeworfen, die Dämonen und<br />

die aufgestaute Wut in der Region entfesselt<br />

zu haben. Der Irakkrieg ist ein Katalysator<br />

für fast alles gewesen, was danach<br />

geschah. So tragisch dieser Krieg auch<br />

war, der Friede wirkte fast genauso destabilisierend.<br />

Indem die USA die Schiiten<br />

im Irak stärkten und die Sunniten von<br />

der Macht ausschlossen, sorgten sie unbeabsichtigt<br />

dafür, dass diese alte Feindschaft<br />

Bestandteil der Zukunft des Landes<br />

bleiben wird. Inzwischen sind mehr<br />

als zwei Millionen Iraker – überwiegend<br />

Sunniten und Christen – wegen der Unterdrückung<br />

durch die Schiiten und aus<br />

Angst vor der immer autoritäreren Regierung<br />

von Premierminister Nouri al Maliki<br />

aus dem Land geflohen.<br />

Nach der Rücksichtslosigkeit der<br />

Bush-Regierung waren die Amerikaner,<br />

und nicht nur die, erleichtert über<br />

die wohlüberlegte Umsicht von Barack<br />

Obama. Zwar war Bushs Nachfolger nicht<br />

gerade zimperlich, was den Einsatz von<br />

Gewalt angeht – man denke nur an den<br />

enormen Anstieg der Drohnenangriffe<br />

oder an das waghalsige Kommando zur<br />

Tötung Osama bin Ladens in seinem pakistanischen<br />

Versteck. Aber wenn es um<br />

die Entsendung amerikanischer Soldaten<br />

geht, hat Obama die Grenzen jedes Einsatzes<br />

so eng wie möglich gesteckt. Der<br />

Präsident zeigt die Umsicht eines Juristen,<br />

er betreibt eine wohlkalkulierte Außenpolitik.<br />

Die Kosten politischer Entscheidungen<br />

wägt er vorsichtig ab gegen<br />

die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs.<br />

Das mag auf den ersten Blick vernünftig<br />

klingen. Wenn wir aber den Preis<br />

von Obamas Vorsicht ignorieren, erliegen<br />

wir einer fatalen Selbsttäuschung.<br />

Seine Regierung hat beschlossen, die Geschehnisse<br />

in Syrien als einen humanitären<br />

Albtraum zu betrachten – und nicht<br />

als einen entscheidenden strategischen<br />

Wendepunkt für den Nahen Osten. Die<br />

Berater des Präsidenten haben die Wahrscheinlichkeit<br />

heruntergespielt, dass sich<br />

die Gewalt über die syrischen Landesgrenzen<br />

hinaus ausbreiten könnte. Hat<br />

man aber das Morden und das Chaos erst<br />

einmal als humanitäre Katastrophe definiert,<br />

ist es für einen realistischen Präsidenten<br />

viel leichter, eine Intervention<br />

zu vermeiden.<br />

DAS WEISSE HAUS hält die Geschehnisse<br />

zwar für schrecklich und bedauernswert,<br />

sieht aber kein strategisches Interesse an<br />

einem Eingreifen. Bis auf einen Moment,<br />

als Obama aufgrund Baschar al Assads<br />

Einsatz von Chemiewaffen über einen<br />

militärischen Vergeltungsschlag nachdachte,<br />

hat der US-Präsident zu keiner<br />

Zeit vorgehabt, den syrischen Staatschef<br />

zu stürzen oder auch nur irgendetwas zu<br />

unternehmen, um das Abschlachten zu<br />

beenden.<br />

Die Obama-Regierung hat den Preis<br />

des Nichteingreifens wissentlich ignoriert.<br />

Das Argument, das Massensterben<br />

in Syrien werde keine gravierenden strategischen<br />

Folgen haben, war von Anfang<br />

an unsinnig. Unabhängig davon, ob Assad<br />

stürzt oder nicht, befeuert das syrische<br />

Chaos Konflikte und Instabilität im<br />

gesamten Nahen Osten.<br />

Syrien ist zu einem Ort geworden,<br />

an dem Terroristen und Dschihadisten<br />

sich neu sammeln; sie rekrutieren, bilden<br />

aus und planen künftige Anschläge.<br />

Wegen seiner geografischen Lage, der politischen<br />

Allianzen und konfessionellen<br />

Zersplitterung war Syrien schon immer<br />

ein Dreh- und Angelpunkt des Nahen Ostens.<br />

Wir erleben gerade, was es heißt,<br />

diesen Schlüsselstaat zu verlieren.<br />

Die Aussichten für den Nahen Osten<br />

waren lange nicht mehr so düster. Es gibt<br />

keinerlei Anzeichen für eine Entspannung<br />

der katastrophalen Lage in Syrien.<br />

Mit der Aussicht auf einen langen und<br />

blutigen Stellungskrieg steigt die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass auch andere Länder<br />

zum Kriegsschauplatz werden. Die radikalen<br />

Aufständischen, die auf Syriens<br />

68<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


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Illustration: Simon Prades; Foto: Travis Daub<br />

Schlachtfeldern aufwachsen – ob sunnitische<br />

Extremisten aus dem Al-Qaida-Lager<br />

oder schiitische Kämpfer der Hisbollah<br />

– werden sich weiter in der Region<br />

ausbreiten und religiösen Hass entfesseln.<br />

Von allen denkbaren Entwicklungen<br />

ist eine am wahrscheinlichsten: Der iranisch-saudische<br />

Stellvertreterkrieg wird<br />

sich ausweiten. Es war immer klar, dass<br />

Iran seine Freunde in Damaskus unterstützen<br />

würde. Wenn sich die religiösen<br />

Spannungen nun verstärken, wird Teheran<br />

versuchen, seine Interessen auch in<br />

Irak und Bahrain durchzusetzen – beides<br />

Länder mit schiitischer Mehrheit – sowie<br />

in Kuwait, Libanon und Jemen, wo größere<br />

schiitische Minderheiten leben. Riad<br />

wird Teheran dies zurückzahlen.<br />

Im besten Fall können die USA begrenzt<br />

beeinflussen, was auf syrischem<br />

Boden geschieht. Sie werden aber sicherlich<br />

alles unternehmen, um einen dritten<br />

Kriegseinsatz im 21. Jahrhundert zu verhindern.<br />

Indem sie aber nicht einmal das<br />

geringste Interesse zeigen, etwas zu unternehmen,<br />

wird Washington nur eines<br />

erreichen: Riad und Teheran ermutigen,<br />

das Machtvakuum zu füllen.<br />

DIE BEDROHLICHSTE AUSSICHT ist, dass<br />

sich der religiöse Konflikt zwischen den<br />

beiden regionalen Großmächten zu einem<br />

neuen nuklearen Rüstungswettlauf<br />

entwickelt. Im Vorfeld der Atomverhandlungen<br />

mit dem Iran in Genf warnten die<br />

Saudis bereits, sie müssten ihre eigene<br />

Form nuklearer Abschreckung schaffen.<br />

Was heißen könnte, dass sie die entsprechende<br />

Technologie von Pakistan kaufen.<br />

Das mag auf den ersten Blick weit hergeholt<br />

klingen. Doch es gibt wenige religiöse<br />

und politische Fehden, die so tief reichen<br />

wie die Spaltung, die Teheran und<br />

Riad entzweit.<br />

Auch werden sich Unruhen, Kämpfe<br />

und Leid nicht auf den Nahen Osten beschränken.<br />

US-Geheimdiensten zufolge<br />

sind mehr als 7000 ausländische Kämpfer<br />

aus nicht weniger als 50 Ländern nach<br />

Syrien gereist, um sich dem Kampf anzuschließen.<br />

Von diesen Kämpfern stammen<br />

mehr als 2000 Rekruten aus Westeuropa<br />

– Tendenz steigend. Tatsächlich<br />

ist die Zahl der Ausländer, die sich den<br />

Kämpfen angeschlossen haben, weitaus<br />

größer als in Afghanistan und Irak, auch<br />

weil es viel einfacher ist, die syrische<br />

Front zu erreichen. Die meisten fliegen<br />

in die Türkei und reisen dann auf dem<br />

Landweg in den Krieg. Extremistische,<br />

mit Al Qaida vernetzte Gruppen nehmen<br />

einen Großteil dieser neuen Fußsoldaten<br />

auf.<br />

Was aber geschieht, wenn diese abgehärteten<br />

Kämpfer und religiösen Fundamentalisten<br />

wieder heimkehren? Nach<br />

Angaben britischer Behörden sind bereits<br />

mehr als 50 solcher Kämpfer nach<br />

Großbritannien zurückgekehrt. Der Leiter<br />

von Scotland Yard glaubt, es sei „fast<br />

unvermeidbar“, dass einer dieser aus Syrien<br />

zurückgekehrten Kriegsveteranen<br />

einen Terroranschlag verüben wird.<br />

Im Irak haben die Regierungstruppen<br />

derweil Falludscha eingekesselt, sie<br />

bereiten einen möglichen Einmarsch in<br />

die Stadt vor. Vor etwas mehr als neun<br />

<strong>Jahre</strong>n haben amerikanische Soldaten in<br />

einer der blutigsten Schlachten seit Vietnam<br />

darum gekämpft, die selbe, von<br />

den gleichen Aufständischen gehaltene<br />

Stadt zu erobern. Diesmal werden irakische<br />

Soldaten gegen die neueste Inkarnation<br />

von Al Qaida antreten, ein<br />

Kampf, bei dem sich Schiiten und Sunniten<br />

gegenüberstehen.<br />

Die USA werden nicht ganz abwesend<br />

sein. Das Pentagon hat angekündigt,<br />

500 Luft-Boden-Abwehrraketen an den<br />

Irak zu verkaufen. Irak war das große<br />

Experiment der Amerikaner: Sie wollten<br />

die Demokratie in den Nahen Osten exportieren.<br />

Heute ist der Irak ihr Kunde.<br />

Seit mehr als einem Jahrhundert<br />

ist der Nahe Osten eine Unruheregion.<br />

Doch es ist ein Unterschied, ob das Gebiet<br />

von Aufständen, Korruption und<br />

Verfall geplagt wird – oder ob es einem<br />

ausgewachsenen Flächenbrand zum Opfer<br />

fällt.<br />

Fast elf <strong>Jahre</strong> nach ihrem Einmarsch<br />

in den Irak sind die USA nicht nur mit<br />

dem Versuch gescheitert, die Region zu<br />

demokratisieren. Sie haben auch noch<br />

dazu beigetragen, sie in Flammen zu setzen.<br />

Dann haben sie dem Nahen Osten<br />

den Rücken gekehrt.<br />

Übersetzung: Luisa Seeling<br />

WILLIAM J. DOBSON ist<br />

Redakteur bei Slate und Autor<br />

von „The Dictator’s Learning<br />

Curve: Inside the Global Battle<br />

for Democracy“<br />

G e f ö r d e r t d u r c h d i e<br />

Medienpartner<br />

69<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELTBÜHNE<br />

Analyse<br />

PUTIN = HITLER ?<br />

Der deutsche Einmarsch im Sudetenland ist wie<br />

die russische Annektierung der Krim. Stimmt das?<br />

Und ist der Vergleich sinnvoll?<br />

Von PHILIPP BLOM<br />

Hermann Wilberg stand da und tat, was<br />

man ihm aufgetragen hatte. Er rannte<br />

auf und ab, fuchtelte mit den Armen und<br />

sah verzweifelt aus. Er musste um jeden<br />

Preis gerettet werden. Glücklicherweise<br />

war das Kanonenboot SMS Panther der deutschen<br />

kaiserlichen Marine in der Nähe. In Agadir. Das<br />

aber war kein Zufall. Kaiser Wilhelm II. suchte nach<br />

einem Vorwand, um seinen Machtanspruch auf Teile<br />

Marokkos zu unterstreichen und hatte das ältliche Kanonenboot<br />

vorsorglich vor die marokkanische Küste<br />

bei Agadir geschickt.<br />

Um aber einen gefährdeten Untertanen retten zu<br />

können, musste der erst mal in Agadir sein. So wurde<br />

der glücklose Ingenieur Wilberg von seinem Posten im<br />

260 Kilometer entfernten Mogador auf einen Gewaltmarsch<br />

durch die Malariasümpfe beordert, um sich<br />

an der Küste retten zu lassen. Die kaiserliche Marine<br />

brachte ihn unbeschadet nach Hause.<br />

Im Kielwasser der Panther aber entstand ein gewaltiger<br />

diplomatischer Sturm um koloniale Macht – ein mindestens<br />

so solider Kriegsgrund wie die Ermordung eines<br />

Habsburger Erzherzogs in Sarajevo drei <strong>Jahre</strong> später.<br />

Der Panthersprung 1911 war der vielleicht jämmerlichste<br />

Versuch der diplomatischen Geschichte, sich als<br />

Schutzmacht aufzuspielen und dabei Territorialpolitik<br />

zu betreiben. Kaiser Wilhelm scheiterte damit – Großbritannien<br />

und Frankreich rückten enger zusammen.<br />

Die Strategie aber ist geblieben. Auch Adolf Hitler<br />

hat sie 1938 in der Tschechoslowakei angewendet,<br />

als er sich von dem Sudetendeutschen Konrad Henlein<br />

als Retter rufen ließ und das Sudetenland annektierte.<br />

Wolfgang Schäuble, der Bundesfinanzminister,<br />

hat nun für Empörung gesorgt, als er Putin mit Hitler<br />

verglich oder besser gesagt Putins Strategie der<br />

Krim annektierung mit Hitlers Invasion im Sudetenland.<br />

Auch die ehemalige US-Außenministerin Hillary<br />

Clinton hat diesen Vergleich benutzt.<br />

Natürlich gibt es Parallelen zwischen dem Sudetenland<br />

1938 und der Krim 2014. In beiden Fällen bekam<br />

eine Großmacht, die ein Auge auf eine angrenzende<br />

Region geworfen hatte, einen sorgfältig orchestrierten<br />

„Hilferuf“ einer dort lebenden nationalen Minderheit<br />

und marschierte ein, um das eigene Volk zu schützen.<br />

„Heim ins Reich“ ist eine Devise, die im jahrhundertelang<br />

von Migration, religiösen Verfolgungen und<br />

ethnischen Säuberungen gezeichneten Europa noch<br />

nie etwas anderes war als ein Vorwand für expansionistische<br />

Politik. Deshalb stellt sich die Frage: Wie<br />

sinnvoll ist so ein Vergleich, und was kann er aussagen?<br />

Schäuble hat recht: Putin und Hitler haben die<br />

gleiche Strategie angewendet. Allerdings lässt das außer<br />

Acht, dass sie damit keinesfalls alleine sind. Die<br />

„Glorious Revolution“, die 1688 Wilhelm von Oranien<br />

auf den englischen Thron brachte, war nichts anderes<br />

als eine niederländische Invasion Englands nach<br />

einem fingierten Hilferuf der dortigen Protestanten;<br />

der erste Kreuzzug <strong>10</strong>99 begann als Reaktion auf das<br />

Ansuchen des in Konstantinopel residierenden oströmischen<br />

Kaisers Alexios I. Komnenos; die römische<br />

Invasion der britischen Inseln 43 n. Chr. sollte offiziell<br />

dem verbündeten König Verica zu Hilfe eilen. Die<br />

europäische Geschichte – und nicht nur die – ist voll<br />

von solchen Beispielen.<br />

Der Panthersprung<br />

1911 war der vielleicht<br />

jämmerlichste<br />

Versuch der<br />

diplomatischen<br />

Geschichte, sich als<br />

Schutzmacht<br />

aufzuspielen<br />

70<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Aber Wladimir Putin hat sich nach so weit entfernten<br />

Beispielen wohl nicht umsehen müssen: 1545<br />

fiel schon Iwan der Schreckliche in die Krim ein, um<br />

dem tatarischen Khan Cangäli zu helfen, der sich in<br />

einer chaotischen Situation gegen Rivalen durchzusetzen<br />

versuchte. So gesehen hat Putins Handeln zaristische<br />

Tradition.<br />

Warum also wurde Putin nicht mit Wilhelm von<br />

Oranien oder mit Kaiser Claudius verglichen? Die Antwort<br />

liegt auf der Hand: Es geht um das Beleidigungspotenzial.<br />

Da können römische Cäsaren und englische<br />

Könige mit Hitler nicht mithalten. Iwan der Schreckliche<br />

wäre schon geeigneter.<br />

Der Verweis auf Hitler, auf das Böse schlechthin<br />

in der Geschichte, ist eindimensional, weil er nichts<br />

weiter ist als ein reflexhaftes Zucken der Rhetorik im<br />

Nachkriegseuropa, das längst jedes reflektierenden<br />

und analytischen Inhalts entleert und zur Anrufung<br />

des Beelzebubs in der Politik verkommen ist. Wenn gar<br />

nichts mehr geht, dann gehen die Nazis immer noch.<br />

Hier wird aus einem hinkenden Vergleich ein gefährlicher.<br />

Wer Putins Strategie mit der Hitlers vergleicht,<br />

der denkt auch die darauffolgenden Ereignisse<br />

mit und will das signalisieren: Damals war das Appeasement<br />

des britischen Premiers Neville Chamberlain<br />

ein schwerer Fehler, der die größeren Schrecken<br />

eines Weltkriegs nach sich zog. Für die Briten war die<br />

Annektierung der Tschechoslowakei in Chamberlains<br />

unsterblichen Worten „ein Disput in einem weit entfernten<br />

Land, zwischen zwei Völkern, von denen wir<br />

nichts wissen“. Ein heutiger Aggressor, so die Implikation,<br />

kann mit Appeasement nicht rechnen.<br />

Für Putin kann das nur eine besonders bittere<br />

Ironie sein. Vom Völkerrecht einmal abgesehen, ist<br />

und bleibt Hitler besonders in Russland eine Art Antichrist,<br />

der Diktator, gegen dessen Blutdurst, Habgier<br />

und Grausamkeit Russland die letzte Bastion war, welches<br />

ihn unter immensen Opfern überwand. Nach einer<br />

ambivalenten Revolution, einem blutigen Bürgerkrieg,<br />

nach Gulags, Schauprozessen und Massenerschießungen<br />

war gerade der tatsächlich heroische Kampf gegen<br />

die Nazis ein Gründungsmythos für die späte UdSSR.<br />

Sie hatte die Welt von einem Tyrannen befreit, litt aber<br />

wirtschaftlich noch immer, während Staaten, die sie<br />

befreit hatte, in ungekanntem Reichtum lebten.<br />

Jetzt von denen, die Russland befreite, mit Hitler<br />

verglichen zu werden, ist eine abenteuerliche Wende,<br />

zumal Putins Entourage überzeugt ist, der Westen<br />

habe Russland seine damaligen Opfer nicht gedankt,<br />

und nur die Sowjetunion sei stark genug gewesen, den<br />

mit militärischen oder kapitalistischen Mitteln vorangetriebenen<br />

expansionistischen Begehrlichkeiten des<br />

Westens die Stirn zu bieten.<br />

Vielleicht schickt es die richtigen Signale an die eigenen<br />

Wähler in Deutschland und den USA, Putin in<br />

die Nähe Hitlers zu rücken, gleichzeitig aber verstellt<br />

Putin nutzt auch<br />

jetzt in der<br />

Ostukraine eine<br />

Strategie, die wir seit<br />

der Antike kennen<br />

und die auch in<br />

Russland Anwendung<br />

gefunden hat<br />

es den Blick auf ein besseres Verständnis der Situation.<br />

Putin handelt aus einer extremen Lesart der russischen<br />

Erinnerung heraus, für die die Krim ohnehin<br />

zu Russland gehört und auch strategisch um keinen<br />

Preis aufgegeben werden kann und die der Welt noch<br />

immer beweisen will, dass Russland nicht herumgeschubst<br />

werden kann, dass ihre Größe und ihre historischen<br />

Opfer die Russen berechtigen, ihre eigenen<br />

Regeln zu machen.<br />

Das sieht der Westen anders. Aber auch unsere<br />

Erinnerung ist eine andere. Auch unser Hitler ist als<br />

das schlechthin Böse zur Chiffre geworden. In Moskau<br />

aber ist er auch eine Chiffre für die Expansion des<br />

Westens und die Demütigung Russlands. Wir sprechen<br />

nicht über dieselbe Vergangenheit, nicht die gleiche Erinnerung<br />

daran. Da hilft es wenig, das eigene Schema<br />

rhetorisch noch stärker festzuzurren.<br />

Putin ist ein Autokrat, der auf unverfroren transparente<br />

Weise die Demokratie benutzt, um eine reaktionäre<br />

und scheinbar von reinen Machtinteressen<br />

diktierte Agenda durchzusetzen. Scheinbar, denn<br />

gleichzeitig geht es ihm wohl darum, das russische<br />

Reich wiederauferstehen zu lassen.<br />

Wir verstehen Putin und unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten<br />

nicht besser, wenn wir historische<br />

Vergleiche bemühen, die mit enormem historischen<br />

Gepäck kommen, die eine gewisse Antwort implizieren<br />

und doch nicht passen wollen. Putin nutzt auch<br />

jetzt in der Ostukraine eine Strategie, die wir seit der<br />

Antike kennen und die auch in Russland Anwendung<br />

gefunden hat: die moralische Rechtfertigung des Aggressors,<br />

der sich als loyaler Beschützer gibt. Wer so<br />

etwas tut, dem geht es um Macht, aber auch um Prestige.<br />

Nur der konsequente Verlust von beidem kann<br />

diesen Appetit zügeln.<br />

PHILIPP BLOM ist Historiker. Er stammt aus Hamburg<br />

und wurde in Oxford promoviert. Seine Bücher,<br />

etwa „Der taumelnde Kontinent“, sind preisgekrönt<br />

71<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELTBÜHNE<br />

Hintergrund<br />

DIE PRÄSIDENTENMACHER<br />

Das Duell zwischen<br />

dem Milliardär<br />

Pjotr Poroschenko<br />

und der früheren<br />

Premierministerin<br />

Julia Timoschenko<br />

in der Ukraine:<br />

Hinter den beiden<br />

stehen gewiefte<br />

Strategen und<br />

Coaches<br />

Von MORITZ GATHMANN<br />

Julia Timoschenko, 53, geht mit<br />

neuer Frisur in den Kampf ums<br />

Amt des ukrainischen Präsidenten.<br />

Ihre glatten blonden Haare<br />

sind nun etwas dunkler gefärbt<br />

und fließen am Hinterkopf zu einem lockeren<br />

Knoten zusammen. Über ein<br />

Jahrzehnt war Timoschenkos Markenzeichen<br />

ihr volkstümlicher Haarkranz,<br />

einem Heiligenschein gleich aus güldenem<br />

Haar um ihren Kopf geflochten.<br />

Doch der stand gleichzeitig für Timoschenkos<br />

größtes Problem: ihre mangelnde<br />

Glaubwürdigkeit. Die Ukrainer<br />

sahen den Haarkranz, als Timoschenko<br />

auf der Welle der orangefarbenen Revolution<br />

an die Macht geschwemmt wurde,<br />

sie sahen ihn, als Timoschenko sich in<br />

der Rolle der Premierministerin endlose<br />

Schlachten mit ihrem einstigen Mitstreiter<br />

Präsident Wiktor Juschtschenko lieferte,<br />

und sie sahen ihn, als Timoschenko<br />

20<strong>10</strong> die Präsidentschaftswahlen gegen<br />

Wiktor Janukowitsch verlor.<br />

Ohne Zopf, aber voller Angriffslust<br />

macht sich die erst im Februar aus dem<br />

Gefängnis Entlassene daran, ihren lange<br />

gehegten Traum zu verwirklichen: Präsidentin<br />

der Ukraine zu werden.<br />

Folgte man allerdings in den vergangenen<br />

Monaten westlichen Medien,<br />

insbesondere den deutschen, schien es<br />

nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis<br />

der nächste Präsident der Ukraine Vitali<br />

Klitschko, 42, heißen würde. Auch Umfragen<br />

in der Ukraine zeigten ihn lange<br />

als aussichtsreichsten Herausforderer<br />

des damals noch amtierenden Präsidenten<br />

Wiktor Janukowitsch. Inzwischen ist<br />

der Geschichte, genauso wie Klitschkos<br />

Kandidatur. Er verzichtete zugunsten des<br />

Milliardärs Pjotr Poroschenko, 48, und<br />

will – zum dritten Mal – für das Amt des<br />

Kiewer Bürgermeisters kandidieren.<br />

Klitschkos Partei Udar (Schlag)<br />

wird – neben Timoschenkos Allukrainischer<br />

Vereinigung Vaterland – seit<br />

ihrer Gründung von der CDU-nahen<br />

72<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Illustration: Jens Bonnke<br />

Konrad-Adenauer-Stiftung beim Aufbau<br />

von Parteistrukturen unterstützt.<br />

Ein wichtiger Fürsprecher Klitschkos auf<br />

europäischer Ebene ist der CDU-Politiker<br />

Elmar Brok, der in seiner Funktion<br />

als Chef des Auswärtigen Ausschusses<br />

des EU-Parlaments während der Maidan-<br />

Revolution mehrfach nach Kiew reiste.<br />

Anfang Februar, Janukowitsch war noch<br />

im Amt, erklärte Brok in einem Interview<br />

Vitali Klitschko zum „geeigneten<br />

Staatspräsidenten“.<br />

AUCH DER EHEMALIGE georgische Staatspräsident<br />

Michail Saakaschwili stieg in<br />

Kiew mehrfach in den Ring für Klitschko.<br />

Und auch Saakaschwilis Berater und<br />

Freund Raphaël Glucksmann war immer<br />

wieder an Klitschkos Seite. „Wir haben<br />

mit ihm seine weitere Strategie diskutiert“,<br />

sagt Glucksmann. Seine wichtigste<br />

Mission sah der Sohn des französischen<br />

Philosophen André Glucksmann darin,<br />

die Maidan-Revolution gegen die russische<br />

Propaganda zu verteidigen. „Zum<br />

ersten Mal in der Geschichte Europas<br />

sind Menschen mit der europäischen<br />

Flagge in der Hand gestorben. Diese Revolution<br />

ist ein historisches Ereignis für<br />

uns“, sagt Glucksmann. Nach dem Sieg<br />

der Maidan-Revolution hat er ein Center<br />

for Democracy gegründet. „Experten aus<br />

Georgien und Estland sollen der neuen<br />

Regierung beim Kampf gegen die Korruption<br />

helfen.“<br />

Die Rolle des Westens in der ukrainischen<br />

Innenpolitik hat eine längere<br />

Vorgeschichte als der Maidan. In den<br />

vergangenen <strong>Jahre</strong>n investierte die politische<br />

Elite der Ukraine Millionen in<br />

PR-Kampagnen in den USA und Europa.<br />

Auslöser war Wiktor Janukowitschs Rachefeldzug<br />

gegen seine Gegner nach seinem<br />

Wahlsieg 20<strong>10</strong>. Nach der Verhaftung<br />

Julia Timoschenkos Ende 2011 wurde das<br />

westliche Ausland mit aller Macht in die<br />

ukrainische Politik gezogen: Von 2011 bis<br />

2013 zahlte Timoschenkos Ehemann Alexander,<br />

der in den Neunzigern mit seiner<br />

Frau mit Gasgeschäften ein Vermögen<br />

machte, 920 000 US-Dollar an den ehemaligen<br />

demokratischen US-Kongressabgeordneten<br />

und heutigen Lobbyisten<br />

James Slattery. Dieser nutzte seine Kontakte,<br />

um eine Resolution des US-Senats<br />

für die Entlassung Timoschenkos aus der<br />

Haft zu erwirken. Mit Erfolg. Der Senat<br />

verabschiedete die Resolution einstimmig.<br />

In Europa beauftragte Timoschenkos<br />

Partei die britische PR-Agentur<br />

Ridge Consulting damit, in den USA und<br />

in der EU eine breite Berichterstattung<br />

über den Prozess gegen sie zu bewirken<br />

und für politische Rückendeckung zu sorgen.<br />

Timoschenkos enger Berater Grigorij<br />

Nemyrja warb in den europäischen<br />

Hauptstädten unermüdlich dafür, die Befreiung<br />

Timoschenkos zur Bedingung für<br />

die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens<br />

zwischen der Ukraine und der<br />

Europäischen Union zu machen.<br />

Aber auch die Gegenseite war aktiv.<br />

Das Janukowitsch nahe stehende European<br />

Centre for a Modern Ukraine beauftragte<br />

2012 und 2013 für 1,4 Millionen<br />

Dollar mehrere Lobbyfirmen in den USA,<br />

um die von Timoschenko angestrebte Resolution<br />

des Senats zu verhindern.<br />

Das 2011 von der Deutschen Ina<br />

Kirsch und führenden Mitgliedern von<br />

Janukowitschs Partei der Regionen gegründete<br />

European Centre for a Modern<br />

Ukraine vertrat die Interessen der<br />

Regierungspartei. Im Auftrag des Zentrums<br />

lud die PR-Firma Fleishman-Hillard<br />

zu kostenlosen Journalistenreisen<br />

in die Ukraine und zu Treffen mit<br />

73<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELTBÜHNE<br />

Hintergrund<br />

Timoschenkos<br />

Wille zur Macht<br />

ist groß, vielleicht<br />

ist er durch die<br />

drei <strong>Jahre</strong> im<br />

Gefängnis sogar<br />

noch größer<br />

geworden<br />

Januko witsch-treuen Abgeordneten und<br />

Politologen ein – die letzte Einladung<br />

stammt vom 20. Februar, einen Tag, bevor<br />

Janukowitsch die Flucht ergriff.<br />

Kirsch ist seit <strong>Jahre</strong>n als Beraterin<br />

für Außenpolitik im Europäischen Parlament<br />

tätig. In dieser Funktion veröffentlichte<br />

sie im August 2011 eine Studie<br />

für die Friedrich-Ebert-Stiftung über die<br />

Vor- und Nachteile des Freihandelsabkommens<br />

mit der EU. Kirschs Ehemann<br />

Robert van de Water, ein ehemaliges Mitglied<br />

der Sozialdemokratischen Fraktion<br />

im EU-Parlament, war seit 2012 außenpolitischer<br />

Berater der ukrainischen Regierung.<br />

Auf Anfragen antwortet Kirsch<br />

inzwischen nicht mehr.<br />

Bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen<br />

zeichnet sich ein Zweikampf<br />

zwischen Poroschenko und Timoschenko<br />

ab. Aller Wahrscheinlichkeit<br />

nach werden sie sich im zweiten Wahlgang<br />

gegenüberstehen. Die Liste der<br />

Kandidaten ist weitaus länger.<br />

Unter den 23 Bewerbern sind auch<br />

mehrere Nationalisten, etwa Oleh<br />

Tjahnybok, Chef der nationalistischen<br />

Swoboda-Partei. Er gehörte zum Triumvirat<br />

um Vitali Klitschko und den heute<br />

amtierenden Premier Arsenij Jazenjuk,<br />

die während der Maidan-Proteste die<br />

Verhandlungen mit Janukowitsch führten.<br />

So wie Klitschko haben auch Tjahnybok<br />

die „Handshakes mit dem Diktator“<br />

geschadet. In Umfragen kommt er<br />

nicht über 3 Prozent. 1 bis 2 Prozent<br />

der Ukrainer würden einen Kandidaten<br />

wählen, der noch weiter rechts steht als<br />

Tjahnybok: Dmitri Jarosch, Anführer des<br />

Rechten Sektors. Sein Imagewechsel war<br />

am radikalsten: Der Nationalistenführer,<br />

bis dahin für radikale Auftritte und nationalistische<br />

Rhetorik bekannt, trat plötzlich<br />

mit Anzug und Krawatte vor die verblüfften<br />

Journalisten und erklärte, seine<br />

Bewegung trete gegen Fremdenfeindlichkeit<br />

und Antisemitismus und für das Assoziierungsabkommen<br />

mit der EU ein.<br />

Viele der Präsidentschaftsanwärter<br />

gelten allerdings als sogenannte technische<br />

Kandidaten. „Die haben selber<br />

keine Chance auf einen Wahlsieg – sie<br />

werden von den Favoriten dazu eingesetzt,<br />

um den politischen Gegner direkt<br />

zu attackieren“, erklärt Juri Romanenko,<br />

Politikberater und Besitzer der populären<br />

Onlinezeitung Hwylya. Der völlig<br />

chancenlose Sorjan Schkirjak etwa,<br />

ein enger Verbündeter Timoschenkos,<br />

werde bei diesen Wahlen die Rolle eines<br />

„Spoiler“-Kandidaten gegen Poroschenko<br />

spielen, prognostiziert Romanenko.<br />

„UNSERE STRATEGIE HEISST: das Land<br />

einen“, sagt Igor Gryniw, 53. Der Berater<br />

von Pjotr Poroschenko empfängt in<br />

seinem Büro an der Institutska-Straße<br />

in Kiew. Auf dem Bild hinter ihm spiegelt<br />

sich ein junger Mann in einer Pfütze,<br />

der eine orangene Flagge trägt. „Meine<br />

Wahlstrategie für Juschtschenko 2004<br />

wurde von der amerikanischen Vereinigung<br />

der Politikberater zur besten Strategie<br />

des <strong>Jahre</strong>s gewählt“, erzählt Gryniw<br />

stolz. Seit 1990 ist er in der ukrainischen<br />

Politik, manchmal als Abgeordneter, immer<br />

als Berater, 2006 für Klitschko, 20<strong>10</strong><br />

für Timoschenko.<br />

Diesmal hat Gryniw versucht, Timoschenko<br />

von der Kandidatur abzubringen<br />

– erfolglos. Nun feilt er an der<br />

Strategie für Poroschenko. Der Schokoladenfabrikant,<br />

dessen Vermögen<br />

das amerikanische Wirtschaftsmagazin<br />

Forbes auf 1,3 Milliarden Dollar schätzt,<br />

hat bereits eine lange politische Karriere<br />

hinter sich. Zuletzt war er 2012 Minister<br />

unter Janukowitsch. Dennoch weckt<br />

er weit weniger schlechte Erinnerungen<br />

bei den Ukrainern als seine Konkurrentin<br />

Timoschenko, die als unglaubwürdig<br />

und streitsüchtig gilt. Durch seine<br />

Allianz mit Klitschko hat Poroschenko<br />

seinen größten Nachteil kompensiert –<br />

seine Partei Solidarnost war bislang lediglich<br />

ein Papiertiger. Jetzt kann er auf<br />

Klitschkos funktionierende Parteistruktur<br />

in den Regionen zurückgreifen. Erste<br />

Erfolge gibt es bereits. Gryniw zeigt eine<br />

Grafik der Umfragewerte: Alle Institute<br />

sehen Poroschenko im ersten Wahlgang<br />

deutlich über 20 Prozent, Timoschenko<br />

bei unter <strong>10</strong> Prozent.<br />

Doch Timoschenkos Wille zur Macht<br />

ist groß, vielleicht ist er durch die drei<br />

<strong>Jahre</strong> im Gefängnis sogar noch größer<br />

geworden. Ihr bleibt nur die Attacke. An<br />

ihrer Kampagne ist eine große Zahl ukrainischer<br />

PR-Berater beteiligt, darunter<br />

Taras Beresowjez mit seiner Agentur<br />

Berta Communications. Er ist einer der<br />

erfahrensten Politikberater des Landes.<br />

Ukrainischen Medien zufolge ist auch der<br />

russische Wahlkampfexperte Alexej Sitnikow<br />

an Timoschenkos Strategie beteiligt<br />

– er war es, der ihr im Jahr 2004 den<br />

markanten Haarkranz verpasste und sie<br />

auch bei der Präsidentschaftswahl 20<strong>10</strong><br />

beriet. Bestätigen wollte das Sitnikow<br />

bislang nicht.<br />

Seit ihrer Freilassung ist Timoschenko<br />

in fast jeder Folge von „Schuster<br />

Live“ zu sehen gewesen. Es ist die<br />

wichtigste Talkshow des Landes, jeden<br />

Freitag, vier Stunden, eine Million Zuschauer.<br />

Eine Mischung aus Arabella und<br />

Maybrit Illner, in der sich die führenden<br />

Politiker des Landes seit nunmehr neun<br />

<strong>Jahre</strong>n „Hundekämpfe“ liefern, wie Politikberater<br />

Gryniw sagt. Timoschenko<br />

redet ihre Gegner hier in Grund und Boden,<br />

schimpft auf die „russischen Aggressoren“,<br />

kündigt einen „Kampf gegen die<br />

Oligarchen“ an.<br />

Zu den typisch ukrainischen Tricks<br />

gehört, dass in den Sendungen Timoschenkos<br />

Leute wie ihr Berater Beresowjez<br />

unter den Fragestellern sitzen –<br />

ohne dass er als solcher ausgewiesen<br />

wird. Ähnliche Register zieht aber auch<br />

Poroschenko: In Odessa saß er im April<br />

im Studio eines Regionalsenders und ließ<br />

sich befragen. Der Interviewer war sein<br />

regionaler Wahlkampfleiter in Odessa.<br />

MORITZ GATHMANN berichtet<br />

aus den Ländern der ehemaligen<br />

Sowjetunion. 20<strong>10</strong> verfolgte er<br />

Janukowitschs Wahlkampf, 2014<br />

erlebte er dessen Sturz<br />

Foto: Privat<br />

74<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


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76<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WELTBÜHNE<br />

Fotoessay<br />

MÖRDERISCHE<br />

MAUER<br />

3144 Kilometer trennen Mexiko und die USA. An manchen<br />

Stellen ist der Grenzzaun dreimal so hoch wie einst die<br />

Berliner Mauer. Jahr für Jahr sterben hier 400 Menschen,<br />

die versuchen, illegal in die USA zu gelangen. Sie werden<br />

von Patrouillen erschossen oder verdursten. Aber in den<br />

Städten an dieser mörderischen Grenze lebt die Kultur noch.<br />

Künstler auf beiden Seiten der Grenze setzen Zeichen<br />

Fotos STEFAN FALKE<br />

Unüberwindbar scheint die Tausende Kilometer lange Grenze zwischen Mexiko und den USA<br />

77<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Leobardo Sarabia ist Essayist und Kulturveranstalter. Außerdem leitet er das jährlich<br />

stattfindende Kunstfestival „Tijuana Interzona“. Er lebt in Colonia Federal


Juan Amparano ist Maler, Architekt und Direktor des Museo De Arte, dessen Renovierung er<br />

selber geleitet hat. In Nogales fördert er Künstler, die an der Grenze leben, mit Ausstellungen<br />

Der Fotograf Aldo Guerra hat sich auch einen Namen als Video- und Performancekünstler<br />

gemacht. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er lebt in Tijuana<br />

79<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Der Fotograf Josue Castro zählt zu den Künstlern, die das Stadtzentrum von Tijuana mit<br />

ihren Arbeiten wiederbelebt haben. Ihm gehört dort die Galerie „La Tentación“


Der Performancekünstler Artierra Entonada lebt in Nuevo Laredo. Sein Porträt, das an den „Joker“<br />

aus dem Film Batman erinnert, hat sein Freund Felipe Flores Montemayor gemalt<br />

Der Fotograf Tochiro Gallegos versteht sich als „Straßenarbeiter“. Sein Selbstverständnis<br />

lautet: „Der Kern des Lebens ist vorwärtszugehen, egal was sich einem in den Weg stellt“<br />

82<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Siki Carpio, Frontfrau und Gründerin der Band „Cristina Crème“, versteht sich wahlweise<br />

als Magierin oder als singende Kulissenmalerin. Sie lebt in ihrer Geburtsstadt Tijuana


Der mexikanische Maler Manuel Miranda will „Kunst an der Grenze<br />

schaffen, fördern und weiterentwickeln“. Er lebt in McAllen<br />

Am Día de los Muertos, einem der wichtigsten mexikanischen<br />

Feiertage, besucht Stefan Falke den Schrein von<br />

„Juan Soldado“, dem Schutzheiligen der Grenzgänger. Er<br />

steht in Tijuana, die Stadt am Pazifik mit 1,5 Millionen Einwohnern<br />

liegt an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Es ist das<br />

Jahr 2008. Unter der Kuppel der kleinen Kapelle auf dem ältesten<br />

Friedhof der einstigen Touristenstadt fühlt sich der Fotograf<br />

aus New York wie unter einer Glocke aus Angst – bis zum Ende<br />

des <strong>Jahre</strong>s werden 843 Menschen bei Gefechten lokaler Drogenkartelle<br />

sterben. Falkes Besuch bei dem Schutzheiligen wird zum<br />

Beginn einer mehrjährigen Entdeckungsreise entlang der Grenze<br />

zwischen Mexiko und den USA.<br />

Während seiner Reisen südlich des meistfrequentierten Grenzübergangs<br />

der Welt lernt Falke Künstler, Galeristen und die Vizedirektorin<br />

des Museums für zeitgenössische Kunst kennen. „Die<br />

Diskrepanz zwischen der Realität und den Behauptungen der Medien<br />

über Mexiko war erstaunlich“, sagt der Fotograf. Er versteht,<br />

dass die Bewohner Tijuanas ihre Stadt nicht nur als Krisenschauplatz,<br />

sondern auch als Laboratorium für einen rapiden demografischen<br />

Wandel und transkulturellen Austausch begreifen.<br />

Die Mauer, gegen die sich die kosmopolitische Metropole Tijuana<br />

presst, ist zum Symbol der Grenzstadtidentität geworden:<br />

Vor den meterhohen Stahllatten feiern Familien die Quintaneras,<br />

den Übergang vom Kind zur Frau der 15-Jährigen, hier lassen sich<br />

Hochzeitspaare fotografieren. Der Ort ist Teil eines Staates, der<br />

La Frontera heißt und als schmaler Streifen vom Pazifik bis zum<br />

Atlantik reicht. Am Atlantik liegt die Stadt Matamoros, sie ist eines<br />

der Zentren des Drogenterrors. Hier trifft Falke auf Patricia<br />

Ruiz-Bayon. Sie hat das Massaker an 72 Migranten durch die Zeta-<br />

Gang im Jahr 20<strong>10</strong> in einer rituellen Performance aufgearbeitet.<br />

In Ciudad Juárez, wo in manchen <strong>Jahre</strong>n bis zu 3000 Menschen<br />

umgebracht wurden, wagte sich Mayra Martell an das<br />

Tabuthema unauffindbarer junger Mädchen und<br />

Frauen und fotografierte die von den Eltern unangetasteten<br />

Zimmer der Verschollenen. Für ihre<br />

Arbeit riskiert Martell ihr Leben. „Künstler genießen<br />

nur so lange Immunität, wie ihre Arbeit unpolitisch<br />

ist“, sagt Falke.<br />

Nicht weniger beeindruckend sind die prächtigen,<br />

über die ganze Stadt ausgebreiteten Wandmalereien<br />

des Jellyfish-Kollektivs. Wie jeder in Ciudad<br />

Juárez wurden auch diese jungen Künstler mit<br />

furchtbaren Verbrechen konfrontiert – sie wehren<br />

sich mit Farbe gegen die Gewalt. Das gilt auch für<br />

das Taller-Yonke-Team, das seine Fresken als postapokalyptisches<br />

Erbe in Nogales hinterlässt.<br />

Was bleibt, wenn irgendwann einmal das<br />

<strong>10</strong>0-Millionen-Dollar-Geschwader der Helikopter<br />

und Überwachungsdrohnen den Himmel über der<br />

Stadt verlassen hat, wenn die gepanzerten Polizeistreifen<br />

abgezogen und alle Bewohner ausgezogen<br />

sind – letzte Lebenszeichen einer Zivilisation, wie<br />

die Wandmalereien von Pompeji.<br />

CLAUDIA STEINBERG<br />

Jellyfish ist ein Künstlerkollektiv in Ciudad Juárez.<br />

Grenzgänger – im wörtlichen wie übertragenen Sinn<br />

Fotos: Stefan Falke/Laif (Seiten 76 bis 84)<br />

84<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


KAPITAL<br />

„ Lebten wir in<br />

einer idealen Welt<br />

mit vernünftigen<br />

Unternehmern,<br />

bräuchten wir<br />

überhaupt keine<br />

Gewerkschaften.<br />

Das ist aber leider<br />

nicht so “<br />

Wolfgang Grupp, Inhaber des Textilherstellers Trigema, kritisiert den<br />

Umgang seiner Unternehmerkollegen mit ihren Mitarbeitern, Seite 94<br />

85<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

DIE WEGSEHERIN<br />

Die CSU-Politikerin Dagmar Wöhrl kleidet sich gerne als Helferin der Armen.<br />

Gleichzeitig arbeitet sie für eine Schweizer Bank, mit der Reiche den Staat schröpfen<br />

Von TIL KNIPPER<br />

Foto: Johannes Arlt/Laif<br />

Trrransparrrenz!“: Mit gerolltem<br />

R, vorgetragen in ihrem charmanten<br />

fränkischen Singsang, gehört<br />

das Wort zu den Lieblingsbegriffen von<br />

Dagmar Wöhrl. Die CSU-Bundestagsabgeordnete<br />

aus Nürnberg redet überhaupt<br />

gern von sich und ihrer Arbeit. Über ihre<br />

Homepage, Twitter und Facebook und ihren<br />

Blog namens „Wöhrl Wide Web“ versorgt<br />

sie ihre Wähler mit Kochrezepten,<br />

Literaturtipps, schreibt über ihre Liebe<br />

zum 1. FC Nürnberg und berichtet von<br />

ihrer Arbeit als Vorsitzende des Bundestagsausschusses<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung. Hier<br />

liege ihr seit <strong>Jahre</strong>n „die Unterstützung<br />

für die Ärmsten der Armen sehr am Herzen“,<br />

schreibt die ehemalige Staatssekretärin<br />

im Wirtschaftsministerium.<br />

Weniger auskunftsfreudig wird<br />

Wöhrl, 59, wenn es um ihre Nebentätigkeit<br />

im Verwaltungsrat der Schweizer<br />

Bank J. Safra Sarasin geht. Für diesen Job<br />

als Aufseherin hat sie vergangenes Jahr<br />

laut ihrer Bundestagshomepage Einkünfte<br />

in Höhe der Stufe 6 erhalten: einen Betrag<br />

zwischen 50 000 Euro und 75 000 Euro.<br />

Vielleicht redet Wöhrl nicht so gern<br />

über ihr Engagement bei der Sarasin-<br />

Bank, weil dem Schweizer Geldinstitut<br />

wohl eher die Unterstützung für die<br />

Reichsten der Reichen am Herzen liegt.<br />

Seit einem Bericht des Stern von Ende<br />

März steht das Baseler Geldinstitut wegen<br />

Aktiengeschäften zulasten des deutschen<br />

Steuerzahlers in der öffentlichen Kritik.<br />

Es geht dabei um sogenannte Cum-<br />

Ex-Deals. Diese Geschäfte fanden im<br />

zeitlichen Umfeld jenes Tages statt, an<br />

dem für Aktien die Dividende ausgeschüttet<br />

wird. Rund um diesen Stichtag<br />

wurden mehrfach in riesigen Stückzahlen<br />

Aktien hin- und herverkauft, erst mit Dividende<br />

(cum) und anschließend – nach<br />

der Auszahlung der Dividenden – ohne<br />

(ex). Ziel der beteiligten Anleger und<br />

Banken war es, sich die nur einmal für<br />

die Dividende entrichtete Kapitalertragssteuer<br />

hinterher mehrfach erstatten zu<br />

lassen. Sie nutzten dazu eine Gesetzeslücke<br />

im deutschen Steuerrecht. Weil bei<br />

diesen Deals auch sogenannte Leerverkäufe<br />

abgewickelt wurden, bei denen<br />

zunächst nur geliehene Aktien verkauft<br />

wurden, war für die Finanzbehörden<br />

nicht ersichtlich, wer zum Zeitpunkt<br />

der Dividendenausschüttung der rechtmäßige<br />

Inhaber der Aktien war. Im Ergebnis<br />

zahlte der Staat mehr Steuern zurück<br />

als er vorher eingenommen hatte.<br />

Erst 2012 wurde die Gesetzeslücke<br />

geschlossen, von Finanzminister Wolfgang<br />

Schäuble, dem Fraktions- und Regierungskollegen<br />

von Dagmar Wöhrl.<br />

Finanzbehörden und Staatsanwaltschaften<br />

ermitteln derzeit bundesweit<br />

in mehr als 50 Cum-Ex-Fällen, bei denen<br />

der Fiskus um mehr als 1,5 Milliarden<br />

Euro betrogen worden sein soll. Die<br />

Dunkelziffer liegt wahrscheinlich höher.<br />

DIE SARASIN-BANK wird mehrfach mit<br />

Cum-Ex-Deals in Verbindung gebracht.<br />

Zu ihren deutschen Kunden gehören<br />

der Drogerieunternehmer Erwin Müller,<br />

der Gründer des Finanzvertriebs AWD,<br />

Carsten Maschmeyer, und Schalke-Boss<br />

Clemens Tönnies, die Millionen in entsprechende<br />

Fonds investiert haben sollen.<br />

Maschmeyer sammelte zusätzlich noch<br />

Geld bei seiner Exfrau Bettina, seiner<br />

Verlobten Veronica Ferres und seinem<br />

Freund, dem HSV-Trainer Mirko Slomka,<br />

für das Investment ein.<br />

Seit diese Spezialität der Bank enthüllt<br />

ist, steht deren Verwaltungsrätin<br />

ziemlich entblößt da. Ihr Engagement für<br />

die Schwächeren in aller Welt wirkt wie<br />

Verkleidung. „Frau Wöhrl trägt eine Mitverantwortung<br />

für die Geschäfte zulasten<br />

der deutschen Steuerzahler“, sagt Gerhard<br />

Schick, finanzpolitischer Sprecher<br />

der Grünen. Jan van Aken von der Linkspartei<br />

fordert Wöhrl auf, sich zu entscheiden,<br />

„ob sie eine Volksvertreterin oder<br />

Steuerflüchtlingshelferin sein will“.<br />

Wöhrl antwortet auf die Frage, ob<br />

sie nach den gegen die Bank erhobenen<br />

Vorwürfen nicht ihr Verwaltungsratsmandat<br />

niederlegen müsse: „Ein Bericht<br />

in einem Magazin ist für mich kein Handlungsgrund.“<br />

Ihre Reaktion auf die Cum-<br />

Ex-Deals erscheint zumindest moralisch<br />

widersprüchlich. Einerseits begrüßt sie<br />

es, dass Finanzminister Schäuble die Gesetzeslücke<br />

geschlossen habe, weil man<br />

diese Deals nicht gutheißen könne.<br />

Andererseits beharrt die Rechtsanwältin<br />

auf einem juristischen Standpunkt:<br />

Sie wolle die Entscheidung des<br />

Bundesfinanzhofs abwarten, ob es sich<br />

bei den Cum-Ex-Deals im Zeitraum vor<br />

2012 um zulässige Steuergestaltung oder<br />

rechtswidrige Steuerhinterziehung gehandelt<br />

habe. Das Urteil wird im Mai<br />

erwartet. Ob es Konsequenzen für ihren<br />

Verbleib im Verwaltungsrat haben<br />

könnte, will sie jetzt nicht entscheiden.<br />

Das passt zum Verständnis ihrer Tätigkeit<br />

als Aufseherin der Bank, die auf<br />

ihrer Homepage nachzulesen ist: Danach<br />

versteht sie es als ihre Pflicht, kritische<br />

Anmerkungen zu machen, die sich<br />

von den Vorstellungen des Vorstands<br />

unterscheiden.<br />

Sie versucht die Schweizer Bank<br />

von innen heraus zu verändern. Für sie<br />

hat das noch einen Vorteil: Dass sie zwei<br />

Mal Geld bekommt, vom Bundestag und<br />

der Bank.<br />

TIL KNIPPER leitet das Ressort Kapital<br />

bei <strong>Cicero</strong>. Die destruktive Kreativität<br />

der Finanzbranche überrascht ihn immer<br />

wieder aufs Neue<br />

87<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

ADIDAS, PUMA, NIKE UND WIR<br />

Den Schwarzwäldern Jochen und Mathias Mieg gehört der kleinste Spielzeughersteller<br />

Deutschlands. Tipp-Kick, ihr einziges Produkt, droht gerade aus der Mode zu geraten<br />

Von BENNO STIEBER<br />

Der Star der Saison trägt ein rotes<br />

Trikot und ist immer schussbereit.<br />

Seine Technik ist nicht besser<br />

als die der anderen Figuren im Set.<br />

Den Unterschied machen seine dunkle<br />

Hautfarbe und die Wischmob-Frisur. Unverkennbar<br />

Dante, der Innenverteidiger<br />

des FC Bayern.<br />

Mathias Mieg stellt die Tipp-Kick-<br />

Figur mit dem Plastik-Afro vor sich auf<br />

den Tisch und strahlt. Dass der Brasilianer<br />

im WM-Jahr nicht nur beim deutschen<br />

Meister aus München unter Vertrag<br />

steht, sondern auch bei Deutschlands<br />

kleinstem Spielzeughersteller, der Edwin<br />

Mieg OHG, ist für den Firmenchef<br />

wie der Gewinn der Champions League.<br />

Das Familienunternehmen aus<br />

Schwenningen im Schwarzwald führt er<br />

seit Ende der neunziger <strong>Jahre</strong> zusammen<br />

mit seinem jüngeren Cousin Jochen.<br />

Bei Dante habe alles gepasst, erklärt<br />

Jochen Mieg. Die WM in der Heimat des<br />

Brasilianers, das sympathische Image des<br />

Spielers und die Chance, mit dessen charakteristischer<br />

Frisur eine unverwechselbare<br />

Figur für die Tipp-Kick-Kollektion<br />

zu schaffen. Marketing ist bei den Miegs<br />

Chefsache, denn es ist längst zum Kerngeschäft<br />

des Unternehmens geworden. Die<br />

Produktion haben sie ausgelagert. Die<br />

Figuren werden in einem Betrieb im benachbarten<br />

Villingen gegossen und anschließend<br />

in Tunesien per Hand lackiert.<br />

Mathias Mieg, ein bulliger Mann mit<br />

Glatze und hörbarem Schwarzwälder Dialekt,<br />

musste schon als Kind für Tipp-<br />

Kicks Werbekampagnen posieren. Sein<br />

jüngerer Cousin Jochen stieg später ein,<br />

reklamiert aber für sich, im ewigen Duell<br />

der beiden Chefs mit ein paar Siegen<br />

vorne zu liegen.<br />

Ein Klick auf den roten Knopf, das<br />

rechte Bein des Spielers schwingt nach<br />

vorne und kickt den zwölfeckigen Ball in<br />

Richtung Tor. Dort pariert ein Torwart,<br />

der mittels Drahtsteuerung nach links<br />

und rechts hechtet. Generationen von<br />

Kindern haben mit den Zinkfiguren und<br />

dem weiß-schwarzen Ball ganze Weltmeisterschaften<br />

nachgespielt.<br />

1924 HATTE DER UHRMACHER Edwin<br />

Mieg einem Möbelhersteller das Patent<br />

abgekauft. Der Großvater der heutigen<br />

Chefs verbesserte die Mechanik und<br />

brachte das Spiel unter dem Namen Tipp-<br />

Kick heraus. Das Wunder von Bern 1954<br />

war nicht nur für Nachkriegsdeutschland<br />

eine große Sache, es bescherte auch Edwin<br />

Mieg Rekordumsätze. Das Abschneiden<br />

der deutschen Nationalmannschaft<br />

bei Welt- und Europameisterschaften<br />

lässt sich bis heute an den Bilanzen des<br />

Familienunternehmens ablesen. „Es gibt<br />

vier Firmen, deren Umsatz direkt von<br />

Fußballergebnissen abhängig ist“, sagt<br />

Mathias Mieg halb scherzhaft, halb im<br />

Ernst: „Adidas, Puma, Nike und wir.“<br />

Kleine Unterschiede gibt es aber<br />

trotzdem zwischen den drei Weltkonzernen<br />

und den Miegs mit ihren zehn<br />

Mitarbeitern. Das Innovationstempo im<br />

Schwarzwald ist eher gemächlich. Die<br />

letzte bahnbrechende Änderung war die<br />

Torwartfigur „Toni“. Pate stand Toni Turek,<br />

einer der Helden von Bern, Markteinführung<br />

1954. Auf Tradition legen<br />

sie im Schwarzwald viel Wert. Auf dem<br />

Platz verändern die Miegs nichts, experimentieren<br />

allenfalls mit einer Anzeigetafel,<br />

die Torjubel und Hymnen abspielt.<br />

Die Generation Playstation können<br />

sie mit dieser behäbigen Strategie aber<br />

kaum noch begeistern. Auch der Vertrieb<br />

wird durch das Verschwinden der Spielzeugfachgeschäfte<br />

schwieriger. Immer<br />

wichtiger werden daher Kooperationen<br />

und Werbepartnerschaften, die bereits<br />

30 Prozent des Umsatzes ausmachen.<br />

Der größte Auftrag dieser Art kam zur<br />

WM 2006 in Deutschland. Damals bestellte<br />

Ramazzotti eine Million Spielfiguren.<br />

In einer Schachtel gab es zum<br />

Kräuterschnaps den Kicker, einen Ball<br />

und eine Torwand. Produziert wurden<br />

die Ramazzotti-Kicker ausnahmsweise in<br />

China, weil die Villinger Gießerei diesen<br />

Auftrag nicht bewältigen konnte.<br />

Ansonsten hat die Globalisierung<br />

bisher einen großen Bogen um die Marke<br />

Tipp-Kick gemacht. Die Eroberung des<br />

französischen Marktes zur EM 2012<br />

scheiterte kläglich. Schuld war wohl das<br />

schwache Abschneiden der Équipe Tricolore.<br />

Auf eine Offensive in Brasilien haben<br />

die Miegs verzichtet.<br />

Stattdessen freuen sich die Schwenninger<br />

schon auf die WM in Katar. Weniger<br />

weil sie bei den Scheichs einen großen<br />

Markt vermuten, sondern weil das Turnier<br />

wegen der Hitze im Winter stattfinden<br />

soll. „WM und Weihnachtsgeschäft<br />

in einem, das wäre natürlich super“, sagt<br />

Mathias Mieg. Wenn Deutschland dann<br />

noch den Titel holt, muss er wohl wieder<br />

die Gießerei in China anrufen.<br />

BENNO STIEBER saß als Junge selbst<br />

beim Tipp-Kick meist auf der Ersatzbank.<br />

Jetzt, im Duell mit seinem siebenjährigen<br />

Sohn, bekommt er eine neue Chance<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht haben?<br />

Den Mittelstand!<br />

<strong>Cicero</strong> stellt in jeder Ausgabe<br />

einen mittelständischen<br />

Unternehmer vor.<br />

Die bisherigen Porträts<br />

finden Sie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

Foto: Andy Ridder für <strong>Cicero</strong><br />

88<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


KAPITAL<br />

Umfrage<br />

DANKE,<br />

LIEBE<br />

ARBEITERSCHAFT!<br />

Die Wirtschaft wächst, noch nie hatten<br />

so viele Menschen in Deutschland<br />

einen Job. Das ist auch das Verdienst<br />

der Arbeitnehmer. Allerhöchste Zeit<br />

für eine Würdigung durch die Chefs –<br />

pünktlich zum 1. Mai<br />

Vor elf <strong>Jahre</strong>n gab es mal einen BDI-Präsidenten,<br />

der am liebsten alle Tarifverträge<br />

verbrennen lassen wollte und das Betriebsverfassungsgesetz<br />

gleich mit. Nicht nur deswegen<br />

ist der Gewerkschaftsgegner Michael<br />

Rogowski in Vergessenheit geraten. Die Arbeitnehmervertreter<br />

wurden sogar in der Öffentlichkeit gern als<br />

„Bremser“ und „Betonköpfe“ wahrgenommen.<br />

In der Krise haben die Gewerkschaften nun ein<br />

beachtliches Comeback gefeiert. Studien zeigen, dass<br />

Betriebsräte und Gewerkschaften mit moderaten Tarifabschlüssen,<br />

der Zustimmung zu Kurzarbeit und flexiblen<br />

Arbeitszeitmodellen einen gewichtigen Anteil daran<br />

hatten, dass Deutschland trotz der Finanzkrise so<br />

gut dasteht.<br />

Das Ausland guckt nicht nur neidisch auf unsere<br />

niedrigen Arbeitslosenzahlen, sondern zeigt auch wachsendes<br />

Interesse am Modell der „betrieblichen Mitbestimmung“,<br />

das zu einem Standortvorteil geworden ist.<br />

Die deutsche Wirtschaft steht nämlich gerade dort,<br />

wo die Gewerkschaften stark sind, besonders gut da.<br />

Maschinenbau, Chemie und die Autohersteller strotzen<br />

vor Wettbewerbsfähigkeit. Starke Gewerkschaften<br />

und hochprofitable Unternehmen müssen kein Gegensatz<br />

sein.<br />

Trotz unterschiedlicher Interessen outen sich daher<br />

in unserer <strong>Cicero</strong>-Umfrage Führungskräfte der deutschen<br />

Wirtschaft als Anhänger der Mitbestimmung. Auf<br />

die Idee, Tarifverträge zu verbrennen, käme heute keiner<br />

von ihnen. til<br />

Fotos: BASF, Stefan Simonsen/DDP Images<br />

90<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


MARGRET SUCKALE<br />

Personalvorstand BASF<br />

und Präsidentin des<br />

Arbeitgeberverbands Chemie<br />

Es müssen nicht Megafone und Trillerpfeifen<br />

sein. Ganz im Gegenteil. Die Verständigung<br />

zwischen Arbeitgebern und<br />

Gewerkschaften funktioniert besser,<br />

wenn leisere Töne angeschlagen werden.<br />

Wenn die Sache im Mittelpunkt steht und<br />

nicht die öffentliche Wirkung. Wenn wir<br />

gemeinsam Lösungen finden, die innovativ<br />

sind und sowohl den Mitarbeitern als<br />

auch den Unternehmen Vorteile bringen.<br />

„Vertrauensvolle Zusammenarbeit“ –<br />

diese zwei Worte stehen dafür, wie Arbeitgeber<br />

und Gewerkschaft in der chemischen<br />

Industrie miteinander umgehen.<br />

Dass diese besondere Sozialpartnerschaft<br />

funktioniert, zeigt die Tatsache, dass der<br />

letzte Streik über 40 <strong>Jahre</strong> zurückliegt.<br />

Denn wir haben dasselbe Ziel: die Wettbewerbsfähigkeit<br />

der Branche zu erhalten<br />

und so Arbeitsplätze langfristig zu<br />

sichern.<br />

Mit diesem wichtigen Ziel im Blick<br />

arbeiten wir gemeinsam an Themen wie<br />

dem demografischen Wandel, der Nachwuchssicherung<br />

oder Gesundheit und<br />

Nachhaltigkeit. Eine solche Sozialpartnerschaft<br />

ist ein echter Standortvorteil.<br />

Den Gewerkschaften kommt eine<br />

wichtige Rolle in unserer Gesellschaft zu.<br />

Sie werden ihrer Verantwortung gerecht,<br />

wenn sie sich als Gestalter verstehen und<br />

nicht als Gegenspieler. Die Zersplitterung<br />

der Gewerkschaften durch Einzelgewerkschaften<br />

gefährdet unser gesamtes Tarifvertragssystem,<br />

unsere Sozialpartnerschaft<br />

und letztlich auch den Standort<br />

Deutschland. Daher brauchen<br />

wir eine gesetzlich verankerte<br />

Tarifeinheit, die<br />

den Frieden und die Solidarität<br />

im Betrieb stärkt.<br />

Auch hier gilt: Megafon<br />

und Trillerpfeife müssen<br />

nicht sein.<br />

„ Die Polemik herausnehmen<br />

und gemeinsam nach<br />

Lösungen suchen “<br />

DIRK ROSSMANN<br />

Inhaber der Drogeriekette Rossmann<br />

Als Unternehmer habe ich im Alltag mit Gewerkschaften wenig zu tun,<br />

weil Rossmann nicht tarifgebunden ist. Wir orientieren uns aber immer<br />

an den Tarifverträgen der Branche und zahlen häufig sogar mehr<br />

an unsere Mitarbeiter. Außerdem stehe ich in einem regen Austausch<br />

mit unserem Betriebsrat. Ich bin inzwischen ein großer Anhänger der<br />

Mitbestimmung bei uns in Deutschland, weil es das Verständnis für die<br />

Interessen der jeweils anderen Seite geschärft hat. Ich bin manchmal<br />

überrascht, wie unternehmerisch unsere Betriebsräte denken. Wichtig<br />

ist, dass beide Seiten, ich als Arbeitgeber und die Vertreter<br />

der Arbeitnehmer, immer das Beste für das Unternehmen<br />

herausholen wollen. Wenn es Probleme<br />

gibt, suchen wir gemeinsam nach Lösungen. Aggression,<br />

Polemik und Konfrontation zwischen<br />

Arbeitgebern und ihren Mitarbeitern helfen niemandem.<br />

In Deutschland hat sich auch im Zuge<br />

der Agenda 20<strong>10</strong> die Erkenntnis durchgesetzt: Ein<br />

finanziell gesundes Unternehmen ist wichtiger für<br />

die Mitarbeiter als die Durchsetzung von Maximalforderungen.<br />

Bei einer Insolvenz gibt es<br />

am Ende nur Verlierer.<br />

Wie groß der Anteil der Arbeitnehmer<br />

an Deutschlands Comeback<br />

als Wirtschaftsnation ist, zeigt vielleicht<br />

am besten das Beispiel Volkswagen:<br />

Dort haben sie in der Krise<br />

die 28-Stunden-Woche eingeführt<br />

und niemanden entlassen.<br />

Das war ethisch und kaufmännisch<br />

die beste Entscheidung.<br />

Denn als es wieder aufwärtsging,<br />

waren noch alle Fachkräfte<br />

an Bord. Für solche sozialen<br />

Revolutionen kann ich<br />

mich begeistern.<br />

Das wünsche ich mir auch<br />

von den Gewerkschaften und<br />

den Arbeitgeberverbänden:<br />

Die Polemik herausnehmen<br />

und gemeinsam Lösungen<br />

finden.<br />

91<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


KAPITAL<br />

Umfrage<br />

„ In Deutschland müssen<br />

eher die Veränderer<br />

als die Beharrer den Kurs<br />

bestimmen “<br />

NICOLA LEIBINGER-KAMMÜLLER<br />

Inhaberin des Maschinenbauers Trumpf<br />

Organisationen sind immer nur dann gut,<br />

wenn sie sich die Kraft zur Veränderung erhalten.<br />

Das gilt auch für Gewerkschaften. Soweit<br />

ich dies beurteilen kann, gibt es in der<br />

deutschen Gewerkschaftslandschaft sowohl<br />

die „Betonfraktion“ – Hardliner, die immer<br />

noch in den Ritualen des (vor-)letzten Jahrhunderts<br />

verhaftet sind –, aber eben auch<br />

die Modernisierer, die wissen, dass kluges<br />

Handeln mit dem Betrachten der Realität<br />

und damit auch des gesellschaftlichen Wandels<br />

beginnt.<br />

Für uns als mittelständisches Hochtechnologieunternehmen<br />

in Baden-Württemberg<br />

war es ein Glücksfall, dass unsere „Counterparts“<br />

aus einem sehr innovativen und veränderungsbereiten<br />

Umfeld der IG Metall stammen.<br />

Dass wir bei Trumpf unser bundesweit<br />

beachtetes neues Arbeitszeitmodell einführen<br />

konnten, war nur möglich, weil wir mutige<br />

Partner in Betriebsrat und Gewerkschaft hatten.<br />

Partner, die über die <strong>Jahre</strong> hinweg das Vertrauen<br />

aufgebaut haben, dass auf der anderen Seite nicht<br />

der leibhaftige Gottseibeiuns sitzt.<br />

In unserem Fall hat das Miteinander von Unternehmensleitung,<br />

Betriebsrat und Gewerkschaften<br />

dazu geführt, dass unsere Mitarbeiter<br />

Veränderungen und Neuerungen durchaus<br />

offen gegenüberstehen. Angesichts neuer, dynamischer<br />

Wettbewerber weltweit brauchen<br />

wir diese Kultur – sowohl im Unternehmen<br />

wie in Deutschland insgesamt. Für den Standort<br />

Deutschland wäre es daher wünschenswert,<br />

wenn in allen Gewerkschaften eher die Veränderer<br />

als die Beharrer den Kurs bestimmten.<br />

Fotos: Thomas Bernhardt/VISUM, Carsten Dammann, Mathias Krohn/Ullstein Bild [M]


BURKHARD SCHWENKER<br />

CEO von Roland Berger<br />

„In Deutschland gehen mehr Arbeitsstunden durch Grußworte verloren<br />

als durch Streiks.“ Dieses Bonmot des früheren Hamburger Kultursenators<br />

Ingo von Münch spiegelt sicher die gelegentliche Verzweiflung<br />

angesichts repräsentativer Verpflichtungen (oder dem Schreiben<br />

von Gastbeiträgen) wider. Richtig ist aber auch: In Deutschland gibt<br />

es wenig Streiks.<br />

Doch es ist mehr als das. Was uns stark macht, ist unsere ausgeprägte<br />

industrielle Kompetenz, unsere Handwerkskultur, die Verbindung<br />

aus Industrie und Dienstleistungen, die einzigartige Kombination<br />

aus großen Konzernen und mittelständischen Unternehmen, um<br />

die uns viele Volkswirtschaften beneiden. Und vor allem ist es unsere<br />

Stakeholder-Orientierung, die auf Einbezug setzt und auf gemeinsames<br />

Schaffen von Wert, statt eindimensional dem amerikanischen Paradigma<br />

vom Shareholder-Value zu folgen.<br />

Unsere Gewerkschaften, unser System der Tarifautonomie, die<br />

Mitbestimmung in unseren Unternehmen haben daran großen Anteil.<br />

Denn die Tarifautonomie geht einher mit der Chance, dezentral<br />

zu einem fairen und für Branchen oder Regionen vernünftigen Interessenausgleich<br />

zu kommen. Und die Mitbestimmung führt dazu, dass<br />

wir in unseren Unternehmen Bodenhaftung behalten, dass es um betriebliche<br />

Interessen geht, dass um die beste Lösung gerungen wird –<br />

und manchmal auch um die bessere Idee.<br />

Besonders in schwierigen Zeiten haben unsere<br />

Gewerkschaften bewiesen, dass man auf sie<br />

zählen kann. Dass sie in den Betrieben verwurzelt<br />

sind, dass es um gemeinsame Interessen<br />

geht. Und dass Konsens mehr Erfolg<br />

bringt als sture Blockade, wie sie andernorts<br />

üblich ist – auf beiden Seiten!<br />

65 <strong>Jahre</strong> nach Gründung des DGB und<br />

der Verabschiedung des ersten Tarifvertragsgesetzes<br />

geht es Deutschland heute<br />

besser als vielen anderen Ländern.<br />

War es vor einigen <strong>Jahre</strong>n kaum<br />

möglich, internationalen Investoren<br />

unser System zu erklären<br />

– für den Begriff „betriebliche<br />

Mitbestimmung“ gibt es<br />

bis heute kein englisches Pendant<br />

–, spricht nun sogar der<br />

Economist davon, dass unsere<br />

Gewerkschaften ein<br />

Standortvorteil sind. Deswegen<br />

danke an beide<br />

Seiten, Arbeitnehmer<br />

und Arbeitgeber – sie<br />

machen Deutschlands<br />

Wirtschaft stark!<br />

ANTON F. BÖRNER<br />

Präsident des Bundesverbands<br />

Groß- und Außenhandel<br />

Anders als etwa in Italien, Spanien oder<br />

Frankreich sehen sich die Gewerkschaften<br />

hierzulande nicht in einem fortdauernden<br />

Klassenkampf, sondern in einem<br />

sozialpartnerschaftlichen Ringen um die<br />

beste Lösung. Auch wenn dieses Ringen<br />

für Arbeitgeberverbände nicht immer ein<br />

Honigschlecken ist, führt es doch meist zu<br />

vernünftigen Ergebnissen. Durch die Mitbestimmung<br />

kennen die Arbeitnehmer<br />

die kurz-, mittel- und langfristige Investitionsplanung<br />

ihres Unternehmens. So<br />

kann vieles rechtzeitig geklärt und sozialverträglich<br />

geregelt werden – aus Mitbestimmung<br />

wird Mitverantwortung.<br />

So ist es uns in der vergangenen<br />

Dekade gelungen, fast drei Millionen<br />

neue Arbeitsplätze zu schaffen und die<br />

Beschäftigung auf einen historischen<br />

Höchststand zu bringen. Dass uns das<br />

Ausland um die geringe Arbeitslosigkeit<br />

beneidet, gerade auch bei Jugendlichen,<br />

ist das Ergebnis partnerschaftlichen Zusammenwirkens<br />

der Tarifparteien.<br />

Das Erfolgsmodell ist jedoch gefährdet<br />

durch die wachsende Anzahl von<br />

Spartengewerkschaften. Sie führt zu einer<br />

Entsolidarisierung der Arbeitnehmer.<br />

Ich halte es für missbräuchlich, wenn<br />

kleine, zum Teil hochprivilegierte Grüppchen<br />

ihre überzogenen Eigeninteressen<br />

auf Kosten des Allgemeinwohls durchsetzen<br />

wollen. Dieses Problem muss die neue<br />

DGB-Spitze gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden<br />

schnellstmöglich lösen.<br />

93<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


KAPITAL<br />

Umfrage<br />

MATTHIAS WISSMANN<br />

Präsident des Verbands der Automobilindustrie<br />

Das freie Aushandeln von Löhnen und Gehältern zwischen Gewerkschaften<br />

und Arbeitgebern funktioniert in Deutschland deswegen so<br />

gut, weil das Verständnis für die Situation des jeweils anderen hier besonders<br />

ausgeprägt ist: In vielen Aufsichtsräten stellen Gewerkschaften<br />

den stellvertretenden Vorsitzenden, zahlreiche Betriebsräte vertreten<br />

dort die Interessen der Belegschaft.<br />

Im Ergebnis wurden so in den vergangenen <strong>Jahre</strong>n oftmals Lohnabschlüsse<br />

erzielt, die „Maß und Mitte“ hatten. Beiden Seiten ging es<br />

dabei immer auch um die Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland.<br />

Natürlich gab und gibt es unterschiedliche Positionen, auch Konflikte.<br />

Doch unterm Strich ist die Bilanz positiv: Insbesondere die IG Metall<br />

hat mehr als einmal gezeigt, dass sie die Herausforderungen, die die<br />

Automobilindustrie im weltweiten harten Wettbewerb meistern muss,<br />

versteht. Das Verständnis für industriepolitische Fragen, die Bedeutung<br />

wettbewerbsfähiger Energiekosten, den Ausbau und Erhalt<br />

der Infrastruktur als Voraussetzung für künftiges<br />

Wachstum am Standort Deutschland ist bei ihren Vertretern<br />

besonders ausgeprägt. Sie wissen auch, welch<br />

strategisch wichtige Bedeutung das Premiumsegment<br />

für die Beschäftigten in dieser Industrie hat:<br />

60 Prozent der inländischen Arbeitsplätze allein<br />

bei Pkw-Herstellern hängen vom Premiumsegment<br />

ab. Auf diesen Zusammenhang hat die Gewerkschaft<br />

auch bei der Diskussion um die CO 2<br />

-<br />

Regulierung öffentlich hingewiesen.<br />

Auf einen wichtigen Standortfaktor werden unsere<br />

Unternehmen auch künftig nicht verzichten<br />

können: Sie brauchen die notwendige<br />

Flexibilität, um auf Marktschwankungen<br />

rasch reagieren zu können. Beide<br />

Seiten sollten sich hier aufgeschlossen<br />

zeigen. Der gemeinsame Erfolg<br />

wird uns auch in Zukunft nicht in<br />

den Schoß fallen. Neue Wettbewerber<br />

aus Asien, notwendig<br />

wachsende Produktion im Ausland<br />

und zunehmender weltweiter<br />

Protektionismus heißen wichtige<br />

Herausforderungen, die wir<br />

gemeinsam bewältigen müssen.<br />

Fazit heute: Wir schätzen<br />

die IG Metall als verlässlichen<br />

Partner, der – neben seinen legitimen<br />

Interessen – stets auch<br />

die gesamtwirtschaftliche Verantwortung<br />

im Blick hat. Und<br />

wir hoffen, dass der erfolgreiche<br />

Weg der vergangenen <strong>Jahre</strong><br />

weiter verfolgt wird.<br />

WOLFGANG GRUPP<br />

Inhaber des Textilunternehmens<br />

Trigema<br />

Lebten wir in einer idealen Welt mit vernünftigen<br />

Unternehmern, bräuchten wir<br />

überhaupt keine Gewerkschaften. Das<br />

ist aber leider nicht so, weil sich auch in<br />

Deutschland immer mehr Unternehmer<br />

unanständig verhalten und ihre Mitarbeiter<br />

heuern und feuern, wie es ihnen gerade<br />

passt. Das geht natürlich nicht. Ich<br />

habe in 46 <strong>Jahre</strong>n nicht einen Mitarbeiter<br />

wegen schlechter Auftragslage entlassen,<br />

nie kurzarbeiten lassen und beschäftige<br />

keine Leiharbeiter, weil meine Mitarbeiter<br />

doch mein wichtigstes Kapital sind.<br />

Den Gewerkschaften gebührt ein<br />

Lob dafür, dass sie in den vergangenen<br />

<strong>Jahre</strong>n moderaten Lohnabschlüssen zugestimmt<br />

haben. Und sie haben die Agenda<br />

20<strong>10</strong> am Ende mitgetragen, die Deutschland<br />

wieder wettbewerbsfähig gemacht<br />

hat. Wo wir ohne Schröders Reformen<br />

heute stehen würden, möchte ich gar<br />

nicht wissen.<br />

Deswegen ist auch die aktuelle Diskussion<br />

um den Mindestlohn ein Armutszeugnis<br />

für die Unternehmer hierzulande.<br />

Ich muss doch den Anspruch<br />

haben, meine Mitarbeiter so zu bezahlen,<br />

dass sie davon in Deutschland leben<br />

können. Aber wir leben eben nicht in einer<br />

idealen Welt.<br />

Fotos: Britta Pedersen/Picture Alliance/DPA, Action Press<br />

94<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


STIL<br />

„ Wir sind kritische<br />

Beobachter des<br />

Schönheitskults, aber<br />

auch Protagonisten<br />

im gleichen System.<br />

Der Druck steigt.<br />

Auch auf Männer “<br />

Steen T. Kittl spricht im Interview über den Schönheitswahn im Allgemeinen<br />

und die Bedeutung von Haaren im Speziellen, ab Seite <strong>10</strong>6<br />

95<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


STIL<br />

Porträt<br />

SIE MACHT ES STIMMIG<br />

Luise Helm ist die Synchronstimme von Scarlett Johansson. Die spielt in „Her“ die<br />

Hauptrolle, ist aber nie zu sehen. Wie es ist, wenn Aussehen nichts und Stimme alles ist<br />

Von LENA BERGMANN<br />

Foto: Joachim Gern<br />

Niemals schließt Luise Helm beim<br />

Synchronisieren die Augen. Sie<br />

darf keine Geste verpassen,<br />

muss jede Sekunde an der Schauspielerin<br />

dran sein. Sie muss Bewegungen studieren,<br />

Gestus und Lippen im Blick haben.<br />

Nur so kann sie die Emotionen verstehen,<br />

die Anspannung spüren. Und natürlich<br />

muss sie immer wieder die Stimme hören,<br />

der sie ein Leben im Deutschen verleihen<br />

wird. „Ich krieche in diese Körper<br />

hinein“, sagt Luise Helm.<br />

Die gebürtige Ostberlinerin, 31<br />

<strong>Jahre</strong> alt, ist Schauspielerin. „Das Synchronisieren“,<br />

sagt sie, „ist nur eine Facette<br />

des Berufs, genau wie das Hörbuch-<br />

Sprechen.“ Wenn Luise Helm im Studio<br />

vor dem Mikrofon steht „in einem unheimlich<br />

abstrakten Raum mit geringem<br />

Bewegungsradius“, überträgt sie das, was<br />

die Darstellerin auf der Leinwand erlebt,<br />

präzise in die deutsche Sprache: Einatmer<br />

auf Einatmer, Ausatmer auf Ausatmer,<br />

Lacher auf Lacher.<br />

Seit Woody Allens „Matchpoint“ aus<br />

dem Jahr 2005 ist sie die deutsche Synchronstimme<br />

von Scarlett Johansson.<br />

Johanssons Stimme ist nicht irgendeine<br />

Stimme. Aus ihr klingt die fröhliche,<br />

opulente Sexyness der amerikanischen<br />

Blondine, wie man sie seit Marylin Monroe<br />

auf der Leinwand nicht mehr gesehen<br />

hat. Johanssons Stimme ist ein tiefes<br />

Hauchen, frivol und doch herzlich und<br />

mädchenhaft. „Auch Scarlett klingt nicht<br />

immer gleich“, sagt Helm, die wie deren<br />

zensierte, jüngere Version aussieht. Sie<br />

könnte eine deutsche Cousine sein.<br />

Ob die Person rennt, schwimmt oder<br />

Sex hat: All das muss Luise Helm in ihre<br />

Stimme legen. Wenn die Darstellerin<br />

liegt, spricht auch Helm ihren Text liegend,<br />

wenn sie sitzt, spielt Luise Helm<br />

im Sitzen. Und wenn die Filmfigur außer<br />

Atem ist, rennt sie auf der Stelle, „weil<br />

die Stimme dann ganz anders aus dem<br />

Körper kommt.“ Doch was ist, wenn die<br />

Hauptfigur, wie in „Her“, nicht zu sehen<br />

ist? Wenn ihr das Körperliche fehlt, in<br />

das man hineinkriechen kann? Wenn die<br />

Rolle nur aus Stimme besteht?<br />

Einen ganzen Film von einer Stimme<br />

tragen zu lassen, war die kühne Idee von<br />

Regisseur Spike Jonze, der für „Her“ mit<br />

dem Oskar für das beste Originaldrehbuch<br />

prämiert wurde. Sein in der frühen<br />

Zukunft verorteter Protagonist Theodore<br />

Twombly, gespielt von Joaquin<br />

Phoenix, ist ein von der Liebe desillusionierter<br />

und von der Scheidung gebeutelter<br />

Texter für Liebesbriefe. Einsam und<br />

emotional unterstimuliert verliebt er sich<br />

in „Samantha“, das neue Betriebssystem<br />

seines Rechners. Dies klingt gruselig, erscheint<br />

in diesem Film jedoch verstörend<br />

natürlich. Samantha hat eine komplexe<br />

Persönlichkeit, ist neugierig und intuitiv,<br />

hat Humor und erotische Fantasien. Im<br />

Smartphone in der Brusttasche begleitet<br />

sie Twombly durch den Tag, abends säuselt<br />

sie ihm vom Nachttisch aus Sanftheiten<br />

ins Ohr.<br />

DIE STIMME SPIEGELT die Persönlichkeit,<br />

das akustische Erscheinungsbild<br />

ist ähnlich bedeutend wie das optische.<br />

Die Menschen kleiden, schminken und<br />

parfümieren sich, die ganze Schönheitsindustrie<br />

basiert darauf. Aber wenn die<br />

Stimme als unangenehm wahrgenommen<br />

wird, nutzt das wenig. Umgekehrt kann<br />

die Stimme eine ganze Persönlichkeit<br />

transportieren – das lehrt dieser Film.<br />

Wie schwierig es war, eine Schauspielerin<br />

zu finden, deren Stimme Samantha<br />

diese Präsenz verleihen konnte,<br />

zeigt die Tatsache, dass der Regisseur<br />

seine ursprüngliche Besetzung nach<br />

dem Dreh des Filmes durch Johansson<br />

ersetzte. Die Produktionsfirma Warner<br />

Brothers wollte auch bei der deutschen<br />

Synchronisation sichergehen. Obwohl<br />

Helm die deutsche Stimme von Johansson<br />

ist, musste sie sich für „Her“ gegen<br />

andere Vorsprecherinnen durchsetzen.<br />

In Mikrofone hat Helm gesprochen,<br />

bevor sie lesen konnte. Als sie fünf <strong>Jahre</strong><br />

alt war, nahm sie der Vater, ebenfalls Synchronsprecher,<br />

mit ins Studio. „Wenn<br />

eine Kinderstimme gesucht wurde, war<br />

ich dran.“ Seit sie zehn ist, steht sie auch<br />

vor der Kamera, obwohl sie keine Ausbildung<br />

absolvierte. Als Schauspielerin wird<br />

sie noch heute oft als junges Mädchen gecastet.<br />

Großen Respekt hat sie sich als<br />

Sprecherin erarbeitet. Bescheiden erklärt<br />

sie dies mit über 25 <strong>Jahre</strong>n Erfahrung.<br />

„Es geht um Rhythmus und Melodie – da<br />

bin ich ganz gut drin“, sagt sie. Die Synchronisierung<br />

von „Her“ hat sie sitzend<br />

gespielt. „Es besteht permanent Nähe und<br />

Intimität zwischen den beiden“, sagt sie.<br />

So stand das Mikrofon auch näher an ihrem<br />

Mund als sonst. „Weil es kein Gesicht<br />

gab, das ich hätte lesen können, war ich<br />

mehr bei mir selbst“, so erklärt es Helm.<br />

Ein Satz aus „Her“ ist ihr extrem<br />

wichtig. Nachdem Theodore bekennt: „I<br />

wish I could touch you“, fragt Samantha<br />

zurück: „How would you touch me?“<br />

Das sei der Moment, in dem die Maschine<br />

erstmals ein Bedürfnis artikuliere und<br />

menschlich werde. „Wie würdest du mich<br />

berühren? Wie würdest du mich berühren?<br />

Wie würdest du mich berühren?“ Im<br />

Interview spricht Luise Helm den Satz<br />

dreimal. Je nach Betonung klingt er mal<br />

verführerisch, mal distanziert, mal unsicher,<br />

mal überwiegt die Neugierde,<br />

mal der Schalk. Jetzt hat sie die Augen<br />

geschlossen.<br />

LENA BERGMANN, Ressortleiterin Stil,<br />

prognostiziert, dass „Her“ ein Klassiker<br />

wird, der Film zur digitalen Gesellschaft<br />

97<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


BASMA KAHIE, London


STIL<br />

Reportage<br />

SIE SPIELEN MIT<br />

KONFLIKTSTOFF<br />

Von KATHARINA PFANNKUCH<br />

Fotos LANGSTON HUES<br />

Darf Verhüllung<br />

modisch sein? Von<br />

Bahrain bis Köln,<br />

von London bis<br />

Istanbul entstehen<br />

Trends, die mit dem<br />

Hijab, dem islamischen<br />

Schleier,<br />

spielen. Auch die<br />

Modeindustrie reagiert.<br />

Vorhang auf<br />

für die Hijabistas<br />

RUBAI ZAI, Rotterdam<br />

99<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


STIL<br />

Reportage<br />

Selma Elaimy rückt ein letztes Mal<br />

ihr Kopftuch zurecht, dann ist sie<br />

bereit: Inmitten der Gassen rund<br />

um den Galata-Turm in Istanbul, zwischen<br />

flanierenden Touristen und eilenden<br />

Passanten, konzentriert sich die<br />

21 <strong>Jahre</strong> alte Ägypterin auf die Anweisungen<br />

des Fotografen Langston Hues.<br />

Der dreht seine Baseballmütze mit dem<br />

Schirm nach hinten, prüft das Licht und<br />

beginnt, die posierende Selma Elaimy zu<br />

fotografieren. Die Tunesierin Aysha Marzouk<br />

und einige türkische Freundinnen<br />

schauen zu, lange haben sie alle auf diesen<br />

Tag gewartet.<br />

Vor der Kamera von Langston Hues<br />

zu stehen, gilt für viele Musliminnen<br />

als modischer Ritterschlag: Seit sechs<br />

Monaten reist der 26 <strong>Jahre</strong> alte Blogger<br />

aus New York nach Chicago, Dubai, Paris<br />

oder Kuala Lumpur, um für seinen Blog<br />

„Modest Street Fashion“ junge Frauen<br />

zu fotografieren, die islamische Mode<br />

neu interpretieren. „Viele Muslime fassen<br />

Glauben und Spiritualität als Lifestyle<br />

auf. Das äußert sich auch in ihrer<br />

Mode“, sagt Hues, der mit 19 zum Islam<br />

konvertierte. In sozialen Netzwerken<br />

entdeckte er den Trend, der mit der Verhüllung<br />

spielt, das Kopftuch immer wieder<br />

neu inszeniert und dabei westliche<br />

Trends aufnimmt.<br />

Das Kopftuch drückt nicht nur die<br />

Zugehörigkeit seiner Trägerin zum muslimischen<br />

Glauben aus, es soll sie laut<br />

Tradition auch vor den Blicken fremder<br />

Männer schützen. Wenn aus dem Kopftuch<br />

ein knallpinker Turban wird, zum<br />

Schleier hautenge Jeans, High Heels, auffällige<br />

Accessoires und Make-up getragen<br />

werden, entstehen jedoch schnell<br />

Outfits, die Blicke auf sich ziehen.<br />

Mit dem Bild von geduckt vorbeihuschenden<br />

Frauen in dunklen Verhüllungen<br />

haben die Hijab-Trägerinnen, die vor<br />

Langston Hues’ Kamera kokett posieren,<br />

nichts gemeinsam. Konservativen Kritikern<br />

geht das zu weit: Eine muslimische<br />

Frau habe sich zurückhaltend, bescheiden<br />

und vor allem nicht aufreizend zu kleiden<br />

– ein Kopftuch zu einem ansonsten<br />

engen oder auffälligen Outfit erfülle nicht<br />

mehr seinen eigentlichen, religiösen Sinn.<br />

Aysha Marzouk kümmert sich wenig<br />

um derartige Kritik: Sie setzt auf den<br />

Rocker-Look, trägt derbe Stiefel und Lederjacke.<br />

Ein schwarzer Turban umrandet<br />

das Gesicht der 20-Jährigen, in dem<br />

knallrot geschminkte Lippen und Piercings<br />

in Augenbraue und Unterlippe auffallen.<br />

Selma Elaimy trägt zu ihrem im<br />

Nacken gebundenen und in Rosatönen gemusterten<br />

Tuch pinkfarbenen Lippenstift.<br />

Die schmal geschnittene Hose, flache<br />

Herrenschuhe und ein heller Kurzmantel<br />

schaffen eine Sechziger-<strong>Jahre</strong>-Silhouette.<br />

„In der Mode sollte man nicht auf<br />

Trends achten“, sagt Selma Elaimy. „Die<br />

einzige Regel, der ich folge, ist eine religiöse:<br />

Ich bedecke mich.“ Tatsächlich ist<br />

außer ihrem Gesicht und Händen ihr gesamter<br />

Körper bedeckt.<br />

FEDA EID, New York<br />

„HIJAB“ IST ARABISCH und bedeutet<br />

Verhüllung. Im Koran heißt es in Sure<br />

24, dass Frauen ihre Reize mit – je nach<br />

Übersetzung – einem Tuch oder Schleier<br />

bedecken sollen und sie nur vor ihrem<br />

Ehemann und Verwandten entblößen<br />

dürfen. Vom Kopftuch ist jedoch nicht<br />

explizit die Rede. Lediglich die Frauen<br />

des Propheten Muhammad werden in<br />

Sure 33 aufgefordert, auch den Kopf zu<br />

verhüllen, um nicht belästigt zu werden.<br />

Bis heute debattieren Muslime darüber,<br />

ob das Kopftuch eine religiöse Pflicht und<br />

noch zeitgemäß sei. Eine der prominentesten<br />

Stimmen in Deutschland ist die Islamwissenschaftlerin<br />

Lamya Kaddor, die<br />

die Schutzfunktion des Tuches im modernen<br />

Rechtsstaat für obsolet hält.<br />

Dennoch ist es allgegenwärtig: Von<br />

Kairo bis Köln, von Istanbul bis London,<br />

<strong>10</strong>0<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


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„Viele Muslime<br />

fassen Glauben<br />

und Spiritualität<br />

als Lifestyle auf.<br />

Das äußert sich<br />

in ihrer Mode“<br />

Langston Hues, Modeblogger<br />

von modeststreetfashion.com<br />

schlicht in Schwarz oder in leuchtenden<br />

Farben kunstvoll drapiert. Die vagen<br />

Formulierungen des Koran lassen<br />

viel Raum für Interpretationen. Diese<br />

reichen vom iranischen Tschador, der<br />

Kopf und den gesamten Körper verhüllt,<br />

über die afghanische Burka, die der Trägerin<br />

nur den Blick durch ein Stoffgitter<br />

vor den Augen ermöglicht, bis hin zu<br />

vielen Varianten des Kopftuchs, das mit<br />

moderner Kleidung kombiniert wird: In<br />

der Türkei ist der Amira-Stil beliebt, bei<br />

dem das Tuch über einem breiten Haarband<br />

getragen wird, in Nordafrika bevorzugen<br />

Frauen den locker gebundenen<br />

Shayla-Stil und drapieren das Tuch<br />

mit Stecknadeln um Kopf und Schultern.<br />

Kaum ein Kleidungsstück weckt so kontroverse<br />

Assoziationen wie das Kopftuch.<br />

Zeichen der Unterdrückung und Abgrenzung<br />

oder religiöses Symbol und Identitätsmerkmal<br />

– für jeden verbirgt sich etwas<br />

anderes unter dem Stoff, aus dem die<br />

Diskussionen sind.<br />

Selma Elaimy und Aysha Marzouk<br />

kennen diese Debatten. Im Alltag beschäftigt<br />

sie jedoch eine andere Frage:<br />

Wie modisch darf Verhüllung sein? Im Internet<br />

bietet ein Universum fantasievoller<br />

Blogs Antworten. Junge Musliminnen<br />

präsentieren hier ihre eigenen Versionen<br />

von Hijab-Mode. Da wird das Tuch zum<br />

Turban oder im klassischen Stil gebunden,<br />

mit Jeans und Sneakers oder zu Haremshose<br />

und Blazer kombiniert. Nicht<br />

zu eng, nicht zu kurz, nicht zu offenherzig<br />

– das sind die Regeln der Hijabistas,<br />

der muslimischen Variante der Fashionistas.<br />

So werden Frauen, die sich für Mode<br />

interessieren und für Fotografen posieren,<br />

in der Welt der Streetblogs genannt.<br />

„Das Internet beschleunigt den<br />

Trend, islamische Mode mit westlichen<br />

Einflüssen zu vermischen“, sagt Reina<br />

Lewis, Professorin am London College of<br />

Fashion. Das Phänomen könne man seit<br />

etwa zehn <strong>Jahre</strong>n vor allem in London,<br />

Amsterdam oder New York beobachten:<br />

„Töchter muslimischer Einwanderer<br />

wachsen in der hiesigen Konsumkultur<br />

auf. An dieser wollen sie teilhaben<br />

und gleichzeitig ihre kulturellen Hintergründe<br />

bewahren.“ Dies falle Frauen<br />

der zweiten und dritten Einwanderergeneration<br />

leichter als ihren Müttern und<br />

Großmüttern: „Sie sind gebildet, sprechen<br />

mehrere Sprachen, haben Zugang<br />

zu Medien und Konsum.“<br />

Reina Lewis ist von der politischen<br />

Bedeutung des Trends überzeugt. „Es<br />

mag zunächst trivial klingen, weil es um<br />

Mode geht. Doch genau diese Mode kann<br />

sich positiv auf Integrationsprozesse auswirken.“<br />

Die jungen Frauen sind ein aktiver,<br />

sichtbarer Teil der Gesellschaften,<br />

in denen sie leben. Durch den Mix islamischer<br />

Mode mit globalen Trends und<br />

Elementen verliert das Kopftuch seine<br />

abgrenzende Funktion. Über religiöse<br />

und kulturelle Grenzen hinweg entsteht<br />

ein Austausch auf Basis der Mode. Beim<br />

Fachsimpeln über Kleidung und Accessoires<br />

spielt das Kopftuch keine Rolle.<br />

Ablehnung und Argwohn weichen der<br />

Neugier.<br />

DAS GLAUBT AUCH die Bloggerin Tasnim<br />

Baghdadi aus Köln. Vor anderthalb <strong>Jahre</strong>n<br />

entdeckte die 25 <strong>Jahre</strong> alte Muslimin<br />

den Turban für sich und erlebte positive<br />

Reaktionen: „Der Turban weckt andere<br />

Assoziationen als das klassische Kopftuch.“<br />

Statt an eine unterdrückte Frau<br />

denke man an Stilikonen wie Grace Kelly,<br />

die in den sechziger <strong>Jahre</strong>n Turban trug.<br />

Auch die Silhouette, die Hals und Schultern<br />

erkennen lässt, sei dem westlichen<br />

Auge vertrauter als versteckte Konturen.<br />

„Der Turban-Look rückt das Prinzip<br />

der Bedeckung plötzlich in ein positives<br />

Licht“, sagt Baghdadi.<br />

Seit sie 14 ist, bedeckt sie ihr Haar –<br />

zunächst aus religiösen Gründen und<br />

weil es in ihrer marokkanischen Familie<br />

so üblich war. Später kamen andere<br />

Motive hinzu: „Das Kopftuch hat auch<br />

eine feministische Dimension. Es bedeckt<br />

die Reize und zwingt den Betrachter, die<br />

Persönlichkeit jenseits der Optik wahrzunehmen.“<br />

Baghdadi experimentiert gern:<br />

Ihr Monopol<br />

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Gerhard<br />

Richter<br />

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<strong>10</strong>1<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


ALAA ELHAREZI, Chicago


Foto: privat (Autorin)<br />

„Genau diese<br />

Mode kann sich<br />

positiv auf<br />

Integrationsprozesse<br />

auswirken“<br />

Reina Lewis, Professorin am London<br />

College of Arts und Veranstalterin<br />

des Seminars „Faith and Fashion“<br />

Mal bindet sie ihr Tuch tief im Nacken,<br />

manchmal trägt sie auch Hut. Der Turban<br />

aber ist ihr Favorit.<br />

Auch Sonia Kefi liebt Turban. Darunter<br />

trägt die Kölnerin mit tunesischen<br />

Wurzeln ein „Ninja“: Die eng anliegende<br />

Kappe bedeckt Haare, Hals und<br />

Dekolleté. Kefi, Gründerin von „My Hijab“,<br />

einem der ersten deutschen Labels<br />

für moderne islamische Mode, hält sich<br />

an religiöse Bekleidungsregeln, interpretiert<br />

diese aber neu. Eine ihrer Kreationen<br />

ist das Kijab, eine Mischung aus Hijab<br />

und Kragen. Inspiriert vom Bubikragen,<br />

der im vergangenen Sommer ein Comeback<br />

erlebte, bedeckt Kefis Variante Hals,<br />

Schultern und Brustansatz, kann zu Kleidern<br />

oder Mänteln kombiniert werden.<br />

Ihre Entwürfe seien tragbar für Frauen<br />

mit und ohne Hijab, sagt die 25-Jährige:<br />

„Meine Mode spiegelt den Austausch zwischen<br />

verschiedenen Kulturen und Mentalitäten<br />

wider.“ Doch gerade weil der<br />

Turban oft auf den ersten Blick nicht als<br />

islamisch wahrgenommen wird, kritisieren<br />

ihn konservative Muslime.<br />

IN DUBAI, Abu Dhabi oder Riyad dominiert<br />

zum Beispiel ein einheitlicher Look.<br />

Zur schwarzen Abaya trägt frau schwarzes<br />

Kopftuch, nur die Formen variieren.<br />

Accessoires sind in den Shopping-Tempeln<br />

am Golf umso wichtiger: Unter den<br />

Abayas blitzen Designerschuhe mit abenteuerlich<br />

hohen Absätzen hervor, Handtaschen<br />

und Sonnenbrillen großer Labels<br />

lassen erahnen, was für Outfits sich erst<br />

unter den Gewändern verbergen.<br />

Viele Unternehmen wissen schon<br />

lange um dieses Potenzial: Gucci, seit<br />

1990 in der Region, ist allein in den<br />

Emiraten mit sechs Filialen vertreten,<br />

STIL<br />

Reportage<br />

die Türen der ersten Hermès-Filiale in<br />

Abu Dhabi öffneten sich 2012. Im Februar<br />

lud Hermès Kundinnen zu einer Modenschau<br />

in Dubai und begeisterte mit<br />

langen, weiten Schnitten aus fließenden<br />

Stoffen. Chanel zeigt seine diesjährige<br />

„Cruise Collection“ ebenfalls in Dubai.<br />

Die britische Designerin Hana Tajima,<br />

deren avantgardistische Hijab-Mode in<br />

Magazinen wie Elle zu sehen ist, überrascht<br />

die Emotionalität konservativer<br />

Kritiker ebenso wenig wie das große Interesse<br />

der Medien am Phänomen der Hijabista:<br />

„Alles, was Normen infrage stellt,<br />

fasziniert Menschen“, sagt die 26-jährige<br />

Tochter eines Japaners und einer Britin,<br />

die mit 17 zum Islam konvertierte. Viele<br />

Muslime müssten sich erst an das neue<br />

Bild der selbstbewussten Muslimin mit individuellem<br />

Stil gewöhnen – genau wie<br />

westliche Gesellschaften, die Musliminnen<br />

oft nur als fremdartige, homogene<br />

und unterdrückte Masse wahrnehmen.<br />

Hinter dem Hijabista-Phänomen verbirgt<br />

sich neben Liebe zur Mode auch die Auseinandersetzung<br />

junger Musliminnen mit<br />

Tradition und gesellschaftlichen Erwartungen.<br />

Reina Lewis spricht von einer offenen<br />

Subkultur, die sich nicht nur über<br />

Mode ausdrückt: Pop-Superstar Yuna aus<br />

Malaysia tourte gerade mit Turban durch<br />

Europa. Shelina Janmohamed aus London<br />

schrieb mit „Love in a Headscarf“ das<br />

Buch zur Bewegung, die Berlinerin Soufeina<br />

Hamed wird in den Medien für ihre<br />

Comics über den Alltag mit Kopftuch gefeiert.<br />

Mayam Mahmoud ist als Ägyptens<br />

erste Rapperin mit Hijab gleichermaßen<br />

erfolgreich und umstritten.<br />

In Istanbul sind die Fotos von Selma<br />

Elaimy mittlerweile im Kasten, das<br />

nächste Model ist Aysha Marzouk. Die<br />

skeptischen Blicke der Passanten sind<br />

nicht zu übersehen, dennoch strahlt sie<br />

in die Kamera, ihre Piercings blitzen im<br />

Sonnenlicht. Sie sei ein gutes Beispiel für<br />

die Frauen, die er weltweit fotografiert,<br />

sagt Langston Hues: „Sie allein entscheiden,<br />

was sie tragen.“<br />

Sie werden weiterhin den Diskussions-Stoff<br />

Kopftuch neu inszenieren.<br />

KATHARINA PFANNKUCH,<br />

freie Autorin, lernte bei dieser<br />

Recherche, dass religiöse<br />

Grenzen keine Rolle spielen,<br />

wenn Frauen Mode diskutieren<br />

<strong>10</strong>3<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014<br />

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Otto<br />

Dix<br />

Der Krieg<br />

Das Dresdner<br />

Triptychon<br />

www.skd.museum<br />

Albertinum<br />

5. April – 13. Juli<br />

2014<br />

Otto Dix, Der Krieg (Triptychon), rechte Tafel, Detail, 1929 - 1932, Öl auf Holz, Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, © VG Bild-Kunst Bonn und Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 2014


STIL<br />

Wolfgang Joop<br />

ECHT WOW!<br />

Von ANKE SCHIPP<br />

Es kommt durchaus vor, dass Wolfgang Joop donnerstagsabends<br />

auf ProSieben etwas Kluges sagt. Wenn er<br />

zum Beispiel Thomas Hayo auf eine Tautologie aufmerksam<br />

macht. Oder wenn er mit sicherem Strich die Kandidatinnen<br />

auf einem Block skizziert und treffend ihre Charaktere<br />

analysiert. Heidi, Thomas und die Mädchen machen<br />

dann „Aah“ und „Ooh“. Nur mutet das Ganze irgendwie an,<br />

als wäre Joachim Gauck zu Besuch<br />

in einer Brennpunktschule, und die<br />

Schüler würden denken, ja, schon<br />

krass, was der Alte so macht – um<br />

sich dann wieder schnell ihrem Alltag<br />

zu widmen, also mit dem Smartphone<br />

spielen, Kumpels verkloppen,<br />

die Samantha aus der 8b mobben.<br />

Vermutlich hat Joop die Diskrepanz<br />

zwischen sich, den Mädchen,<br />

Happy-Heidi und dem nicht gerade<br />

um Reflexion bemühten Thomas<br />

Hayo erkannt, als er im Februar als<br />

Juror bei „Germany’s next Topmodel“<br />

einstieg. Hilflos haspelte er sich<br />

durch die ersten Sendungen, dann<br />

aber passte er sich an und wechselte<br />

rhetorisch in das Mode-Gebrabbel,<br />

das er nach Jahrzehnten<br />

im Modezirkus perfekt beherrscht:<br />

Wow! So sweet! Oh my God! Ein toller<br />

Look! Echt wow! Heidi nennt er<br />

längst „Darling“, die Mädchen sind<br />

jetzt „seine“ Mädchen, und wenn eine rausfliegt, heult Wolfi<br />

mit, weil er selbst zwei Töchter hat und ihm das so wahnsinnig<br />

zu Herzen geht. Neulich hatte ein Mädchen Geburtstag,<br />

und Wolfi schlug mit einem Geburtstagskuchen in der Modelvilla<br />

auf, half beim Kerze-Auspusten und sang krächzend<br />

„Happy Birthday“. Der Mann ist angekommen im Format.<br />

Aber das hat seinen Preis.<br />

Nehmen wir Karl Lagerfeld, der andere große deutsche<br />

Designer – noch größer als Joop, aber mit vergleichbarer Intelligenz.<br />

Der sagte unlängst, dass er Facebook und Twitter<br />

stupide finde, obwohl er sich für alles Neue interessiere.<br />

Nur: „Ich bin der Professor, der das Insekt betrachtet, nicht<br />

das Insekt selbst.“<br />

Genau darin liegt Joops Problem. Plötzlich ist er, der Eloquente,<br />

der Belesene, der Bissige, Teil einer dubiosen Welt,<br />

die er vor zwei <strong>Jahre</strong>n noch kritisiert hat. Modedesigner<br />

bringen Quote, das hat vermutlich auch ProSieben erkannt,<br />

seit Guido Maria Kretschmer als netter Schwuler auf RTL2<br />

älteren Damen Modetipps gibt, und Harald Glööckler als<br />

eine Mischung aus schwulem Wrestler und Botox-Reinkarnation<br />

König Ludwigs II. Reality-Fernsehen macht. Mehrmals<br />

schon hatte ProSieben deshalb bei Joop angefragt. Vor<br />

zwei <strong>Jahre</strong>n kommentierte er noch kühl: „Dieser Exhibitionismus<br />

und dieses Vorführen junger<br />

Mädchen ist nicht mein Stil.“ Warum<br />

also jetzt? Braucht er das Honorar?<br />

Geht es um Geltungsdrang? Oder um<br />

Product-Placement für seine schwächelnde<br />

Marke „Wunderkind“? Seine<br />

Begründung ist so banal wie blöd: Er<br />

habe dem kalten Winter entfliehen<br />

und ein paar Monate in L. A. verbringen<br />

wollen, wo der Großteil der<br />

Dreharbeiten stattfindet.<br />

Den Rest redet er sich schön:<br />

Er bewundere die Professionalität<br />

von Heidi, er liebe es, den Mädchen<br />

die Welt der Mode zu erklären.<br />

Die Mädchen, die seine Enkelinnen<br />

sein könnten und in der Sendung<br />

vermutlich zum ersten Mal seinen<br />

Namen gehört haben, seien ihm ans<br />

Herz gewachsen. Dafür knutschen<br />

sie ihn so lange ab, bis sein ganzes<br />

Gesicht von Kussmündern übersät<br />

ist und Gouvernanten-Heidi tadelt:<br />

„Wie siehst denn du aus? Hat mal einer nen Waschlappen?“<br />

Dass er mehr drauf hat als sie, ahnt vermutlich auch<br />

die plappernde Barbiepuppe. In den Medien wird er schon<br />

als der heimliche Star der Sendung gefeiert. Nur muss man<br />

sich vor Augen führen, was das für ein Erfolg ist, den er mit<br />

69 <strong>Jahre</strong>n errungen hat: Er ist der Lichtblick in der neunten<br />

Staffel einer Castingshow, die vorgibt ein Topmodel zu suchen,<br />

in Wahrheit aber nur über drei Monate hinweg einen<br />

Zickenkrieg inszeniert, der Quote bringen soll. Schon in der<br />

ersten Sekunde nach dem Finale wird die komplette Staffel<br />

vergessen sein. Und Joop hat nicht mehr als jene Aufmerksamkeit<br />

bekommen, die jedes Fernsehsternchen bekommt,<br />

bevor es verglüht.<br />

ANKE SCHIPP ist Redakteurin mit Schwerpunkt Mode bei der<br />

Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung<br />

Plötzlich ist der eloquente, belesene, bissige Joop Teil<br />

einer dubiosen Welt, die er vor zwei <strong>Jahre</strong>n noch kritisiert hat<br />

Foto: Hannelore Förster/Getty Images<br />

<strong>10</strong>4<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


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Özlem Topçu, Istanbul<br />

Ich schreibe für<br />

DIE ZEIT<br />

Özlem Topçu ist Politikredakteurin. Wir begegnen ihr in Istanbul – auch das noch, jetzt haben wir alle Klischees beisammen: Eine<br />

Türkin schreibt über Türken, Treffpunkt Bosporus. Ist das jetzt ein Schritt nach vorne oder einer zurück, wenn ausgerechnet jemandem<br />

wie ihr die Aufgabe zufällt, uns die Türkei zu erklären? Niemand werde gern auf nur eine Identität reduziert, sagt die Journalistin.<br />

Wie sie mit solchen Schubladen umgeht, wie ihr Fazit aussieht, schildert sie im Film.<br />

Autoren der ZEIT im Filmporträt<br />

www.fuer-die-zeit.de


STIL<br />

Interview<br />

„MERKEL<br />

FRISIERT<br />

SICH<br />

EINE<br />

KRONE“<br />

Haare sind<br />

Schmuck – allerdings<br />

nur, wenn<br />

sie richtig sitzen.<br />

Der Autor Steen<br />

T. Kittl untersucht<br />

die Beziehung<br />

zwischen Mensch<br />

und Frisur<br />

Steen T. Kittl<br />

ist 44 <strong>Jahre</strong> alt, lebt als freier<br />

Autor in Berlin und arbeitet<br />

außerdem als Kreativberater in<br />

der Werbung. „Du hast die Haare<br />

schön“ ist bei Dumont<br />

erschienen und setzt sich mit<br />

dem zeitgenössischen Schönheitswahn<br />

auseinander<br />

Herr Kittl, für Ihr neues Buch „Du hast<br />

die Haare schön“ sind Sie und Ihr Koautor<br />

Christian Saehrendt auf Recherchereise<br />

gegangen. Sie haben sich<br />

in deutschen Salons frisieren lassen,<br />

meist inkognito. Ein ganzes Buch über<br />

Haare – ist das nicht an den Haaren<br />

herbeigezogen?<br />

Steen T. Kittl: Die Idee zu dem Buch<br />

kam uns, als die Show „Germany’s next<br />

Topmodel“ erstmals ausgestrahlt wurde.<br />

Alle aus unserem Freundeskreis schauten<br />

sich die Show damals an, aber lästerten<br />

trotzdem fürchterlich. Und auf<br />

einmal debattierten alle über Schönheit,<br />

Selbstoptimierung, Oberflächendesign –<br />

und Haare gehören dazu. Wir vergleichen<br />

uns mit unwahrscheinlich schönen<br />

Menschen, die uns die Medien präsentieren.<br />

Wir sind kritische Beobachter dieses<br />

Schönheitskults, aber auch Protagonisten<br />

im gleichen System. Der Druck steigt.<br />

Auch auf Männer?<br />

Man bemerkt die forcierten Schönheitsbemühungen<br />

der Männer jedenfalls<br />

auch im Friseursalon. Männlichen Kunden<br />

wird inzwischen oft angeboten, sich<br />

die Augenbrauen korrigieren zu lassen.<br />

Es stößt zwar kein Mann die Salontüre<br />

auf und ruft: „Ich will meine Haare färben“,<br />

aber er setzt sich hin und sagt etwas<br />

wie: „Meine Güte, sehe ich alt aus.“<br />

Dann weiß der Friseur, dass er ein Angebot<br />

machen kann, das Gesicht durch<br />

Farbe frischer wirken zu lassen. Bei Männern<br />

läuft das diskret. Man wird ja auch<br />

heute nicht mehr zwangsläufig mit einem<br />

Turm aus Alufolie auf dem Kopf gefärbt,<br />

es gibt dezente Techniken, etwa<br />

Tönungen, die beim Waschen aufgetragen<br />

werden.<br />

Warum stehen Männer nicht einfach<br />

dazu?<br />

Feminin codierte Praktiken gelten<br />

beim Durchschnitt immer noch als fragwürdig.<br />

Gerhard Schröder hat damals<br />

sogar eine einstweilige Verfügung erwirkt,<br />

um zu verhindern, dass Medien<br />

behaupten, er habe sich die Haare gefärbt.<br />

Wenn man sich die männliche Bevölkerung<br />

in seinem Alter anschaut, haben<br />

viele gefärbte Haare. Berlusconi ist<br />

mit seiner Rundumerneuerung offensiv<br />

umgegangen. Er hat das als disziplinarische<br />

Maßnahme an sich selbst vor den<br />

Medien zelebriert. Dies hat auch Frau<br />

Merkel unter Druck gesetzt, ihr Äußeres<br />

zu verändern.<br />

Inzwischen trägt sie eine Art Helm, der<br />

ihre weichen Gesichtszüge in einem<br />

kantigen Rahmen inszeniert.<br />

Psychologen würden wahrscheinlich<br />

von einer symbolischen Krone sprechen,<br />

die für sie entwickelt wurde: Die Kanzlerin<br />

hat sich krönen lassen. Die Frisur<br />

verleiht ihr etwas Erhabenes. Es war ein<br />

Prozess über Monate, bis sie dort ankam.<br />

Ich würde mich nicht wundern, wenn sie<br />

jeden Tag geföhnt wird. Nun hat sie keine<br />

Frisur mehr, mit der man morgens aufwacht,<br />

sondern eine Frisur, die täglich<br />

hergestellt werden muss.<br />

Wie gefällt Ihnen eigentlich die neue Frisur<br />

der Verteidigungsministerin?<br />

Bei Frau von der Leyen war die Inspiration<br />

„Frische Brise“ oder die eingefrorene<br />

Cabriofrisur. Das soll wohl dynamisch<br />

wirken. Doch wenn sie sich bewegt,<br />

wirkt es steif, man erkennt, dass etwas<br />

fixiert ist, mit Haarspray. Die Bewegung<br />

des Körpers wird missachtet. Ihre alte<br />

Steckfrisur hat mir besser gefallen, sie<br />

war nicht unbedingt ästhetisch ansprechender,<br />

funktionierte aber als Alleinstellungsmerkmal<br />

für eine Politikerin.<br />

Die einzige andere Frau mit der gleichen<br />

Frisur war Elfriede Jelinek. Jetzt<br />

ist die Frisur der Verteidigungsministerin<br />

austauschbar.<br />

Die Frisur von Hillary Clinton wurde bereits<br />

während ihrer Zeit als First Lady<br />

kommentiert: zu kurz, zu lang, zu bieder,<br />

zu jugendlich, zu toupiert. Dann<br />

erteilten ihr die Medien sogar ein<br />

Pferdeschwanz-Verbot.<br />

Sie band den Pferdeschwanz mit<br />

dem falschen Haargummi, ein sogenanntes<br />

Scrunchie, wie es in den Neunzigern<br />

beliebt war. Die Medien machten<br />

daraus ein Scrunchie-Gate. Dass Clinton<br />

als Außenministerin durch verschiedene<br />

Klimazonen flog, deswegen zwangsläufig<br />

verknittert im Flugzeug saß und sich vor<br />

der Kamera mit einem Pferdeschwanz<br />

behalf, wurde ihr übel genommen. Da<br />

geht es auch um Disziplin.<br />

Wir Deutschen lassen unseren Politikern<br />

aber mehr durchgehen!<br />

Fotos: Privat (Autor), DDP Images, Kay Nietfeld/Picture Alliance/DPA, Jochen Lübke/DDP Images/DAPD, Picture Alliance/DPA/Photoshot<br />

<strong>10</strong>6<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Nicht unbedingt. Joschka Fischer<br />

ist dafür das historische Beispiel. Es gab<br />

2005 Schlagzeilen wie: „Ist Joschka Fischer<br />

zu dick für den Wahlkampf?“ Mit<br />

schlecht sitzenden Anzügen wird auch<br />

immer gerne eine Reportage eröffnet.<br />

Trittins Schnurrbart war Thema, Thierses<br />

Fusselbart. Und wenn man sich Katrin<br />

Göring-Eckardts Verwandlung anschaut,<br />

ihren Weg vom Bürstenschnitt zum langen<br />

Powerhaar, der weiblichen starken<br />

Mähne, mit dem Erklimmen der grünen<br />

Spitze, lässt das vermuten, dass auch unsere<br />

Politiker das Oberflächendesign inzwischen<br />

sehr ernst nehmen. Glauben Sie<br />

mir, wenn Frau Merkel zu ihrer alten Frisur<br />

zurückkehren würde, gäbe es viele<br />

Fragezeichen in den Gazetten.<br />

Anton Hofreiter.<br />

Ich bin gespannt, was sich da noch<br />

tun wird, ob er das bis zur nächsten Wahl<br />

durchziehen wird. Männer und lange<br />

Haare – da tickt sowieso die Uhr. Nicht<br />

jeder Mann kann bis ins Alter würdevoll<br />

lange Haare oder Pferdeschwanz tragen<br />

wie Karl Lagerfeld.<br />

die offensichtlich stundenlang in der<br />

Maske drapiert und mit Kunsthaar getunt<br />

wurden.<br />

So wie die New Yorker Wohnungen<br />

in Romantikkomödien immer unglaublich<br />

riesig sind, sind auch die Haare der<br />

Damen immer dicht, lang und glänzend.<br />

Das sind Genregesetze. Wenn wohlhabende<br />

Amerikaner Herzschmerz haben,<br />

will das Millionenpublikum träumen und<br />

keine beengten Wohnungen sehen. Oder<br />

lichtes Frauenhaar.<br />

Sie sagen, jeder hat ein besonderes Verhältnis<br />

zu seinen Haaren. Selbst wenn<br />

er keine mehr hat.<br />

Bei den Männern herrscht die große<br />

Angst vor der Glatze. Dabei sieht eine<br />

Glatze mit der richtigen Kopfform toll<br />

aus. Oder man macht dann auf Typ.<br />

Selbst mit einer Kopfform wie Bert kann<br />

das markant aussehen, wenn das Drumherum<br />

stimmt und man das Ganze mit<br />

Würde trägt. Frauen haben ab 40 diffusen<br />

Haarausfall, dann müssen die Haare<br />

schick arrangiert oder andere Ablenkungsmaßnahmen<br />

ergriffen werden.<br />

Wir sollten auch über Bärte sprechen.<br />

In dem Moment, in dem ein Trend<br />

in der Werbung allpräsent ist, ist er auch<br />

schon wieder vorbei. Das war mit den<br />

Wuschelfrisuren und Kreativschals bei<br />

Männern so und jetzt wird es so mit den<br />

Bärten sein. Schade, dass sich vor <strong>Jahre</strong>n<br />

dieser Trend zu ornamentalen Bartmustern<br />

nicht durchgesetzt hat; die Evolution<br />

dieses Styles hätte mich interessiert.<br />

Aber auf viele wirkt Neues gleich manieriert.<br />

Dem Gusto der privilegierten Milieus<br />

entspricht das nicht. Da muss alles<br />

natürlich aussehen.<br />

Ihre Recherchen haben Sie auch nach<br />

Miami geführt. Was haben Sie da<br />

beobachtet?<br />

Zum Beispiel, dass Kurzhaarfrisuren<br />

bei Frauen in Amerika und gerade in Miami<br />

immer noch ein Statement sind. Damit<br />

wird eine Frau schon fast als alternativ<br />

wahrgenommen. Die „normale Frau“<br />

in den USA trägt ihr langes Haar blondiert<br />

und natürlich hohe Absätze.<br />

Fast wie die Darstellerinnen der Romantikkomödien.<br />

Ich moniere mangelnden<br />

Realismus, wenn man nur Mähnen sieht,<br />

„Powermähnen bei Frauen lassen<br />

vermuten, dass Politiker das<br />

Oberflächendesign inzwischen<br />

sehr ernst nehmen.“ Fallbeispiele<br />

von oben: Runderneuerter<br />

Berlusconi, gekrönte Merkel, von<br />

der Leyen noch mit Steckfrisur<br />

sowie Clinton mit Pferdeschwanz,<br />

der ihr schwer verübelt wurde<br />

Friseure schneiden ja heute nicht mehr<br />

nur Haare, sie kreieren Frisuren und<br />

nennen sich auch Art-Direktoren und<br />

Top-Stylisten.<br />

Und es gibt Blow Dry Bars in den<br />

Großstädten, wo man sich auf einen Espresso<br />

zwischendurch föhnen lassen<br />

kann. Um die Ecke Wax and the City<br />

zur Haarentfernung mit Heißwachs und<br />

daneben Botox to go. Oberflächendesign<br />

gehört zum Alltag.<br />

Hatten Sie auf dem Friseurstuhl auch<br />

deprimierende Erlebnisse?<br />

Ich war in Berlin-Lichtenberg im<br />

Dong Xuan Center, ein asiatisch geprägtes<br />

Einkaufsparadies. Europäisches Haar<br />

ist aus der Sicht von Asiaten schwaches<br />

Haar. Ich habe dem Friseur nur gesagt,<br />

„etwas kürzer, bitte“. Dann kam ich mit<br />

einem raspelkurzen GI-Schnitt aus dem<br />

Salon. Der Friseur betrachtete mich mitleidig,<br />

nach dem Motto: „Aus den Haaren<br />

kann man einfach nicht mehr rausholen<br />

als den Militärlook.“ Danach habe<br />

ich bunte Schals getragen, um das zu<br />

konterkarieren.<br />

Das Gespräch führte LENA BERGMANN<br />

<strong>10</strong>7<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


WARUM<br />

ich trage,<br />

WAS<br />

ich trage<br />

KATRIN BAUERFEIND<br />

STIL<br />

Kleiderordnung<br />

Foto: Tibor Bozi<br />

Ehrlich gesagt, manchmal erkenne<br />

ich mich selbst nicht wieder. In diesem<br />

roten Kleid zum Beispiel. Die<br />

Betonung liegt zu sehr auf „Frau“. Wenn<br />

man dazu noch raucht, macht man den<br />

Vamp und ein Versprechen, das man vielleicht<br />

gar nicht halten will. Im Kapuzenpulli<br />

mache ich keine Versprechen.<br />

Ich betrachte die Welt gerne aus der<br />

Kapuzenpulli-Perspektive. In Turnschuhen.<br />

Ich mag es lieber klassisch als klamaukig,<br />

lieber schlicht als schrill und<br />

sehr viel lieber langweilig als laut. Doch<br />

so kann man sich nicht auf einem Buchcover<br />

zeigen oder moderieren.<br />

Und ja, ich stehe dazu, dass ich mir<br />

das Rauchen noch nicht abgewöhnt habe,<br />

sondern schön gescheitert bin. Um das<br />

Scheitern geht es auch in meinem Buch.<br />

Ich finde, wir sollten uns nicht dem Optimierungswahn<br />

unterwerfen. Man sollte<br />

auch mal wieder unperfekt sein dürfen.<br />

Was meine Klamotten aussagen, darüber<br />

mache ich mir privat keine Gedanken.<br />

Wenn ich ein T-Shirt trage, trage ich<br />

ein T-Shirt. Es gibt ja Leute, die einem<br />

durchaus etwas sagen wollen, mit einem<br />

T-Shirt: Wer sie sind und wo sie stehen.<br />

Sie tragen ihre Klamotten aus Überzeugung.<br />

Ich trage meine Klamotten, weil<br />

man nicht nackt aus dem Haus geht.<br />

Wenn überhaupt, finde ich es spannend,<br />

Zwölf-Zentimeter-Absätze zu tragen<br />

und wie eine Tussi auszusehen. Ein<br />

Kontrast, der mir gefällt. Wenn dann jemand<br />

am Ende eines Abends sagt: „Ach,<br />

du bist gar keine Tussi!“, empfinde ich<br />

das als Kompliment.<br />

Es gibt ja Frauen, die immer toll angezogen<br />

sind, die einen kreativen Mix<br />

beherrschen, der funktioniert. Mir fällt<br />

zu einer Bluse im Laden nichts ein. Jedenfalls<br />

nicht: Die passt wunderbar zu<br />

Katrin Bauerfeind, 31, moderiert<br />

auf 3sat „Bauerfeind assistiert“.<br />

Ihr Buch „Mir fehlt ein Tag<br />

zwischen Sonntag und Montag“<br />

erschien soeben im Fischer-Verlag<br />

meiner lila Hose! Da habe ich kein Talent.<br />

So was ist angeboren. Wofür ich ein Talent<br />

habe, ist bei minus drei Grad barfuß<br />

Ballerinas zu tragen, mich bei 30 Grad<br />

schwarz zu kleiden und vorsichtshalber<br />

noch eine Jacke einzupacken.<br />

Von großen fetten Schriftzügen habe<br />

ich mich inzwischen emanzipiert. In<br />

meiner Kleinstadt war es in meiner Jugend<br />

extrem wichtig, wer was trägt. Es<br />

ist ja schlimm, was den Kindern in den<br />

Neunzigern angetan wurde, musikalisch<br />

und modisch. Es mussten Bomberjacke,<br />

Schlaghose, Boots von Buffalo sein. Bloß<br />

nicht in den Deichmann-Tretern ankommen!<br />

Markenklamotten waren eine sichere<br />

Bank. Es gibt ja so ein paar Sachen<br />

im Leben, da weiß man einfach, man positioniert<br />

sich gerade richtig. Zum Beispiel<br />

darf man ja momentan über Uli Hoeneß<br />

nicht sagen: „Er hat doch auch viel Gutes<br />

getan.“ Damit man nicht aneckt, muss<br />

man sagen: „Also, man muss schon seine<br />

Steuern zahlen!“ So war das auch mit den<br />

Klamotten in meiner Jugend – mit den<br />

richtigen Marken habe ich mir die Zustimmung<br />

der breiten Masse gesichert.<br />

Aufgezeichnet von LENA BERGMANN<br />

<strong>10</strong>8<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


SALON<br />

„ Der Erste Weltkrieg<br />

war ein Weltkrieg,<br />

weil es um den Besitz<br />

der Welt ging “<br />

Der Historiker Jörg Friedrich über die globale Dimension und die<br />

Spätfolgen des Krieges von 1914 bis 1918, Interview ab Seite 114<br />

<strong>10</strong>9<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

IHRE EPEN SIRREN KRAFTVOLL<br />

Die amerikanische Schriftstellerin Donna Tartt inszeniert sich als unnahbare Sphinx.<br />

Alle zehn <strong>Jahre</strong> veröffentlicht sie einen umfangreichen Roman. Nun ist es wieder so weit<br />

Von PETER HENNING<br />

Foto: Beowulf Sheehan/Corbis<br />

Nein, da widerspricht sie energisch<br />

und schüttelt den akkurat frisierten<br />

Pagenkopf: „Nein, ich würde<br />

mich nicht als Eremitin bezeichnen. Eher<br />

als Einzelgängerin, oder, wenn Sie so<br />

wollen, als Mönch.“ Was sie suche, seien<br />

Einkehr und das Zwiegespräch mit sich<br />

selbst, nicht Ablenkung und Zerstreuung.<br />

Folgerichtig pflegt Donna Tartt nur wenige<br />

enge Freundschaften und verlässt<br />

ihr New Yorker Apartment nur, wenn es<br />

unumgänglich ist. „Am liebsten nachts“,<br />

wie sie mit einem knappen Lächeln verrät.<br />

„Dann kann ich mich ungestört bewegen,<br />

ohne Angst haben zu müssen, erkannt<br />

zu werden.“<br />

Kaum etwas zu ihrer Biografie ist bekannt.<br />

Verlässlich dokumentiert scheinen<br />

über ihr Geburtsdatum, den 23. Dezember<br />

1963, und den Geburtsort Greenwood,<br />

Mississippi, hinaus lediglich ihre<br />

Studienaufenthalte an der Mississippi<br />

University und am Bennington College<br />

in Vermont sowie ihre Liaison mit dem<br />

Schriftstellerkollegen Bret Easton Ellis.<br />

Er war es auch, der ihr erstes Manuskript<br />

an die einflussreiche Literaturagentin<br />

Armanda Urban empfahl – und Donna<br />

Tartt damit den entscheidenden Schubs<br />

in Richtung Erfolg verpasste.<br />

Der Rest ruht im Dunkel geschickt<br />

gepflegter Geheimniskrämerei. „Was ich<br />

zu sagen habe, steht in meinen Büchern“,<br />

sagt sie, nippt an ihrer Tasse Tee und bewegt<br />

die rechte Hand wie einen Taktstock.<br />

„Wenn ich Lust auf ein Gespräch<br />

habe, greife ich zu einem guten Buch.<br />

Was ist ein Buch anderes als ein langer<br />

Dialog zwischen Autor und Leser?“<br />

Donna Tartt spricht halblaut und<br />

klar. Jede ihrer Bewegungen wirkt seltsam<br />

kontrolliert, beinahe einstudiert.<br />

Diese Frau will nichts dem Zufall überlassen.<br />

Alles an ihr wirkt ingenieurhaft austariert,<br />

bis hin zur exquisiten Kleidung,<br />

einem schwarzen, über Brust und Bauch<br />

von diversen Silberspangen gehaltenen<br />

Lederkostüm, in dem sie steckt wie ein<br />

General in seiner Uniform.<br />

So wirkt die Verfasserin von drei fast<br />

ziegelsteindicken, hochgelobten Bestsellern<br />

wie eine Besucherin aus einer anderen<br />

Welt. Eine Feldherrin im Wörterkrieg,<br />

der kein Gefecht zu lange währt. Zehn<br />

<strong>Jahre</strong> dauern ihre Schreibschlachten in<br />

der Regel; kräftezehrende und, wie sie<br />

sagt, nicht enden wollende Kontroversen<br />

um das passende Wort, das richtige Bild,<br />

den treffenden Ausdruck. Kämpfe, aus<br />

denen sie ausgezehrt und um jeweils eine<br />

Dekade gealtert hervorgeht – am Ende<br />

aber auch als Siegerin, welche die Einsamkeit<br />

der Langstreckenläuferin besser<br />

als jede andere kennt.<br />

IHR 1992 ERSCHIENENER ROMAN „Eine<br />

geheime Geschichte“, für den sie die<br />

gigantische Vorschusssumme von<br />

450 000 Dollar kassierte, schlug in der<br />

US-Literaturszene ein wie eine Serie<br />

Monsterblitze. Die rasant erzählte Geschichte<br />

neuenglischer Internatsstudenten,<br />

die für krude Ideale einen Mord<br />

begehen, machte den sogenannten Unterhaltungsroman<br />

feuilletonfähig.<br />

„Meine Bücher wurzeln in den Untiefen<br />

meines Bewusstseins“, sagt Donna<br />

Tartt, ohne dass eine Regung in ihrem<br />

makellosen Porzellangesicht erkennbar<br />

wäre. „Ich bin oft selbst überrascht, in<br />

welche Richtungen es mich führt.“ Das<br />

klingt, als flüsterten ihr finstere Geister<br />

die Stoffe ein. Das Resultat sind kraftvoll<br />

sirrende Epen wie ihr zweiter Bestseller<br />

„Der kleine Freund“ von 2003, in welchem<br />

sie das von düsteren Verwerfungen<br />

gezeichnete Leben der jungen Südstaatlerin<br />

Harriet Cleve zum Schauplatz ihres<br />

literarischen Exorzismus macht. Nun,<br />

abermals zehn <strong>Jahre</strong> später, folgt Tartts<br />

dritter, <strong>10</strong>22 Seiten starker Streich „Der<br />

Distelfink“: ein Buch, in dem sie Entwicklungsroman,<br />

Adoleszenzgeschichte<br />

und Kriminalroman zu einem Cocktail<br />

mischt, der nach wenigen Seiten Lektüre<br />

für einen Zustand aus Betäubung und<br />

gleichzeitiger Erleuchtung sorgt.<br />

Denn Tartt, die in ihrem Buch die<br />

wechselvolle Geschichte des 13-jährigen<br />

Theo Decker erzählt, macht es wie<br />

ihr erklärter Säulenheiliger Charles Dickens:<br />

Sie vermischt kritische Sozialstudie<br />

mit prallem Erzählen. Sie schickt ihren<br />

früh traumatisierten Protagonisten<br />

in eine wohlhabende weiße Familie, aus<br />

deren scheinheiliger Welt ihn sein tablettensüchtiger<br />

Vater kurzerhand entführt<br />

und ins Spielerparadies Las Vegas<br />

verschleppt. Dort lernt Theo die finsteren<br />

Abgründe Amerikas kennen. Carel<br />

Fabritius’ titelgebendes Gemälde „Der<br />

Distelfink“ führt schließlich ins Zentrum<br />

krimineller Interessen. Man muss<br />

das nicht mögen, vielleicht ist es nicht<br />

einmal große Literatur. Hat man sich allerdings<br />

eingelassen auf Tartts soghaftes<br />

Erzählen, gibt es kein Zurück mehr.<br />

So wird diese seltsam zerbrechlich<br />

wirkende literarische Unruhestifterin<br />

stoisch weiterschreiben in dem ihr eigenen<br />

Zehnjahresrhythmus. Wird Satz<br />

für Satz auf die Goldwaage legen. Kühl<br />

wie ein Ingenieur und mit einem großen<br />

Arsenal Fragen im Kopf. „Nur was mich<br />

interessiert und überrascht“, erklärt sie<br />

beim Abschied, „wird auch den Leser interessieren<br />

und überraschen. Ich schreibe<br />

nicht, weil ich etwas weiß, sondern um<br />

etwas zu erfahren.“ Und sie lacht. Auf<br />

ihre kalkulierte, eisig-schöne Art.<br />

PETER HENNING ist Schriftsteller.<br />

Obwohl er Donna Tartt schätzt, sind seine<br />

eigenen Romane (zuletzt „Ein deutscher<br />

Sommer“) nie umfänglicher als 600 Seiten<br />

111<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

HEY, WIDERSPRICH MIR DOCH<br />

Ein kleiner, gern in Weiß und Rosa gekleideter Mann mit näselnder Stimme weist der<br />

Rockmusik neue Wege. Jan Delay ignoriert seine Grenzen, weil er sie kennt<br />

Von THOMAS WINKLER<br />

Der Anzug: leuchtend weiß. Ebenso<br />

das Hütchen und der Rahmen der<br />

Sonnenbrille. Hemd, Krawatte,<br />

Einstecktuch, die Schuhe: alles in aufeinander<br />

abgestimmten Rosatönen. Man<br />

sollte bei Youtube gesehen haben, wie<br />

sich der so ausstaffierte Jan Delay auf<br />

den Weg nach Wacken machte, um einen<br />

Kulturschock auszulösen. Dort, im<br />

nördlichen Schleswig-Holstein, wo sich<br />

alljährlich im August 70 000 Menschen<br />

mit zotteligen Haaren, Jeans und schwarzen<br />

T-Shirts zum größten Metal-Festival<br />

der Welt zusammenrotten, traf der Mann<br />

im weißen Zwirn auf seine habituelle Antithese<br />

– und amüsierte sich prächtig.<br />

Ein gutes halbes Jahr später ist Jan<br />

Delay in Berlin, um sein Album „Hammer<br />

& Michel“ zu bewerben. Er trägt einen<br />

schlichten schwarzen Kapuzenpulli,<br />

fläzt sich auf dem Hotelzimmersofa und<br />

antwortet auf die Frage, ob ihm vor seinem<br />

Ausflug als bunter Paradiesvogel ins<br />

Reich der Satansjünger mit der schwarzen<br />

Kleiderordnung nicht der gut angezogene<br />

Arsch auf Grundeis gegangen sei:<br />

„No risk, no fun.“<br />

Jan Delay, geboren 1976 als Jan<br />

Phillip Eißfeldt. Weitere Pseudonyme:<br />

Boba Ffett, Eizi Eiz. Beruf: Popstar<br />

ohne Stimme. Status: Stilikone in einem<br />

Land, das unter der Stildiktatur<br />

von Heidi Klum ächzt. „Ich bin der wandelnde<br />

Widerspruch“, sagt Delay, „das<br />

ist mein Job.“<br />

Gemeint ist ein Widerspruch im doppelten<br />

Sinne. Die inneren Widersprüche,<br />

die es miteinander zu versöhnen gilt.<br />

Und der äußere gegen die herrschenden<br />

Verhältnisse. Niemandem hierzulande<br />

gelingt dieser Spagat – musikalisch, inhaltlich<br />

und in Modefragen – so überzeugend<br />

wie Jan Delay. Ausgerechnet dem<br />

Mann, der singt, als bräuchte er dringend<br />

eine Polypen-OP.<br />

Bestes Beispiel: „Hammer & Michel“.<br />

Auf dem neuen Album legt Delay nach<br />

ersten Erfolgen als Rapper, nach souveränen<br />

Solo-Erkundungen von Reggae und<br />

Funk die bislang unerwartetste musikalische<br />

Kehrtwende hin: Diesmal widmet<br />

er sich dem, wie er sagt, „classic rock“<br />

mit tiefer gelegten Gitarrenriffs, schwerblütigen<br />

Rhythmen und männlich konnotierten<br />

Ritualen. Doch Delay wäre nicht<br />

der Großmeister des Widerspruchs, gelänge<br />

es ihm nicht, der Rockmusik eine<br />

federnde Sexyness abzugewinnen.<br />

„HAMMER & MICHEL“ sei „ein geiles Wortspiel“.<br />

Man sollte nicht erwarten, dass<br />

in den zwölf Songs aktuelle Entwicklungen<br />

hinter dem ehemaligen eisernen Vorhang<br />

verhandelt werden. Stattdessen näselt<br />

Delay von Liebe und Vitaminen, von<br />

Günther Jauch, Uli Hoeneß und Pippi<br />

Langstrumpf, reimt „Volvic“ auf „Vollfick“.<br />

Das ist oft sinnfrei, durchsetzt von<br />

Insiderscherzen, spricht aber – hier wartet<br />

die nächste Kontradiktion – eine derart<br />

breite Masse an, dass Delay die größten<br />

Mehrzweckhallen der Republik füllt.<br />

Auf deren Bühnen wird er im Sommer<br />

wieder stehen, natürlich im schicken<br />

Anzug, und singend fragen: „Wohin mit<br />

all dem Hass?“ Er wird womöglich wieder<br />

kontroverse Äußerungen loslassen,<br />

wie früher, als er Widersprüchliches<br />

zur RAF mitteilte. Diesmal singt er<br />

über „Dicke Kinder“, und man könnte<br />

Reime wie „Und dass gutes Essen teuer<br />

ist, das ist eine Lüge / Für jede Tüte<br />

Chips kriegst du zwei Kilo Gemüse“ interpretieren<br />

als neoliberale Kritik an<br />

Hartz-IV-Empfängern.<br />

Er singt auch: „Mein altes Weltbild,<br />

ja, das liegt in Trümmern“, denn: „Baden-Württemberg<br />

ist grün, CSU ist Kernkraftgegner,<br />

während die Nazis für Palästina<br />

protestieren.“<br />

Die Welt hat sich verändert, aber die<br />

Musik kann helfen, sich zurechtzufinden.<br />

Er sei „dankbar, dass es früher, als ich<br />

aufgewachsen bin, einfacher war, eine<br />

Haltung zu entwickeln“. Deshalb, sagt er,<br />

„nervt mich das immer noch“, wenn Polizisten<br />

um ein Autogramm bitten. Nicht,<br />

weil er etwas gegen den Menschen hat,<br />

sondern weil er nicht verstehen kann,<br />

wie jemand, der seine Musik mag, sich<br />

entscheiden konnte, Polizist zu werden.<br />

Das ist ein Widerspruch, der sogar Delay<br />

irritiert. Mit dem er sich aber versöhnt.<br />

„Mittelfinger raus und zur Revolte aufrufen“,<br />

sagt er, während er die turnschuhbewehrten<br />

Füße auf den Tisch streckt, „aber<br />

eben auch locker machen, tanzen.“<br />

Dass es dem kleinen Mann mit dem<br />

großen Stilbewusstsein gelingt, diese Widersprüche<br />

auszuhalten, darin besteht<br />

sein Talent. Das Kunststück gelingt dank<br />

seiner schäbigen Stimme. „Stimme? Die<br />

ist doch egal“, sagt Jan Delay und hat<br />

nicht recht. Gerade weil sie nicht stark<br />

oder schön ist, sondern zerbrechlich, eine<br />

Allerweltsstimme, signalisiert sie eine<br />

Authentizität, die es möglich macht, sich<br />

als glamouröser Entertainer neu zu erfinden,<br />

ohne die als Rapper erworbene Authentizität<br />

einzubüßen.<br />

Es ist eine Stimme in der Tradition<br />

von Delays Vorbildern Rio Reiser und<br />

Udo Lindenberg, mit denen er nicht nur<br />

einen gewöhnungsbedürftigen Gesangsstil<br />

gemeinsam hat, sondern auch die seltene<br />

Fähigkeit, die deutsche Sprache poptauglich<br />

zu machen. So ist Jan Delays<br />

Stimme eine Stimme, die, gerade weil<br />

sie so schmuddelig klingt, leuchtet wie<br />

edler, sehr weißer Zwirn.<br />

THOMAS WINKLER ist Popkritiker, nennt<br />

aber keinen weißen Anzug sein Eigen.<br />

Mit Jan Delay hat er sich dennoch ganz<br />

prächtig unterhalten<br />

Foto: Dominik Butzmann/Laif [M]<br />

112<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


SALON<br />

Gespräch<br />

„EIN ZIVILISATIONSBRUCH“<br />

Was machte den Ersten Weltkrieg zum Weltkrieg? Ein Gespräch mit<br />

dem Publizisten und Historiker Jörg Friedrich, dessen Darstellung<br />

„14/18: Der Weg nach Versailles“ Anfang Mai erscheint<br />

114<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Fotos: AKG Images, Hans Scherhaufer (Autor)<br />

Machen wir es kurz, Herr Friedrich: Wer<br />

war schuld am Ersten Weltkrieg?<br />

Jörg Friedrich: Das deutsche Publikum<br />

ist schuldverliebt. Aber schuld ist<br />

jemand an einem Verkehrsunfall, nicht<br />

an dem gegenseitigen Abschlachten von<br />

Abermillionen Leuten.<br />

War der Erste Weltkrieg nicht der<br />

größte anzunehmende Verkehrsunfall<br />

der Geschichte?<br />

Stellen Sie sich vor: Alle Autos in<br />

Europa fahren mit Karacho aufeinander<br />

los. Sieht einer ein Auto, gibt er Vollgas<br />

und hält darauf zu. Die Autos sind bald<br />

Schrott, es werden neue gebaut – eigentlich<br />

nur noch Autos für Zusammenstöße,<br />

der Rest ist zweitrangig. Die nächsten<br />

Jahrgänge bekommen den Führerschein.<br />

Das läuft zwei, drei <strong>Jahre</strong> mit wachsender<br />

Wut. Fragen Sie danach, wer 1914 als<br />

Erster falsch geblinkt hat? Man will doch<br />

wissen, warum diese Menschen nicht aufhören.<br />

Wovon sind sie besessen? Um dieser<br />

Frage auszuweichen, sagt man, ein<br />

Schuldiger habe damit angefangen.<br />

Schuld ist keine historische Kategorie?<br />

Nein. Niemand fragt, wer schuld gewesen<br />

sein soll an der Reformation oder<br />

der Völkerwanderung. Das ist Quatsch.<br />

Im Krieg aber war die Frage von Belang.<br />

Die Schuldfrage gehört zur Propagandafront.<br />

Jede Regierung muss ihren<br />

Soldaten sagen, warum sie sie ins Sterben<br />

schickt. Krieg meint Töten und Sterben.<br />

Seine Materie sind das Herz und das<br />

Fleisch der Soldaten. Ist die Armee nicht<br />

mehr zum Sterben bereit, ist der Krieg<br />

beendet. Den Männern wird in Verdun<br />

gesagt, ihr seid hier, an einem militärisch<br />

letztlich unbedeutenden Platz, um<br />

zu sterben. Ihr verblutet nicht, weil die<br />

Regierung politisch friedensunfähig ist,<br />

sondern weil der Feind keine Wahl lässt.<br />

Am Ende hat man zehn Millionen Tote,<br />

und die Welt ist schlechter als vorher.<br />

Historiker nehmen Schuldzuweisungen<br />

vor. Sean McMeekin hat soeben in seinem<br />

Buch „Juli 1914“ das Zarenreich für<br />

den Ersten Weltkrieg verantwortlich<br />

gemacht. Deutsche Historiker wie Gerd<br />

Krumeich oder Volker Berghahn sehen<br />

die Hauptverantwortung bei Wilhelm II.<br />

oder „vor allem in Berlin und Wien und<br />

Jörg Friedrich<br />

„Der Brand. Deutschland<br />

im Bombenkrieg 1940–1945“<br />

wurde 2002 zum internationalen<br />

Erfolg und löste eine Historikerdebatte<br />

aus. Zuvor hatte<br />

der in Essen gebo rene Jörg<br />

Friedrich über „Das deutsche<br />

Heer in Russland 1941 bis 1945“<br />

und über den bundesrepublikanischen<br />

„Freispruch für die<br />

Nazi-Justiz. Die Urteile gegen<br />

NS-Richter seit 1948“ geforscht<br />

Indische Hilfstruppen unterstützten<br />

englische Soldaten.<br />

Eine Postkarte zeigt sie 1914<br />

weitaus weniger in London, Paris oder<br />

St. Petersburg“.<br />

An Torheiten Kaiser Wilhelms und<br />

an Brutalitäten des deutschen Oberkommandos<br />

mangelte es nicht. Ich muss meinen<br />

Kollegen insofern zustimmen, als es<br />

Wilhelm möglich gewesen wäre, seine<br />

Solidarität mit Österreich-Ungarn aufzukündigen.<br />

Aber eines hat er richtig<br />

gesehen. Österreich-Ungarn wollte mit<br />

den serbischen Nationalisten abrechnen,<br />

weil sie diesen ganz sympathischen<br />

Vielvölkerstaat abwracken wollten. Die<br />

schlauen Serben ließen sich aber auf eine<br />

politische Lösung ein, und Wilhelm sah<br />

darin am 28. Juli 1914 morgens einen<br />

glänzenden diplomatischen Sieg. Krieg<br />

sei nun überflüssig. Er wollte nicht nach<br />

Osten marschieren, gegen seinen Vetter,<br />

Zar Nicolai, nicht nach Westen, gegen die<br />

französische Republik, geschweige denn<br />

nach Norden, gegen die eigene Familie<br />

in England.<br />

Es kam anders.<br />

Deutschland hatte 1914 keine Ziele<br />

bei den Nachbarn. Es musste aber seinen<br />

Beistandsvertrag mit Österreich erfüllen.<br />

Sofern Russland sich in den österreichisch-serbischen<br />

Konflikt einmischte,<br />

bestand für Wilhelm sonnenklar Bündnispflicht.<br />

Diese hörte auf, als Serbien zu<br />

99 Prozent eingelenkt hatte. Da machten<br />

die Russen jedoch schon seit zwei Tagen<br />

mobil. Alle Parteien hätten am 29.<br />

und 30. Juli bequem aussteigen können,<br />

aber jeder machte Ernst, aus der Angst,<br />

sonst zu verlieren. Das war das Hauptmotiv<br />

Wilhelms.<br />

Wie erklären Sie sich bei so viel Friedensliebe<br />

in Berlin die berühmte Aussage des<br />

Generalstabschefs Moltke vom Mai 1914,<br />

es bleibe „nichts anderes übrig, als einen<br />

Präventivkrieg zu führen“, ehe „die<br />

militärische Übermacht unserer Feinde“<br />

zu groß geworden sei?<br />

Präventivkrieger gibt es überall, damals<br />

wie heute. Die Militärs haben einen,<br />

wie sie meinen, genialen Plan in der<br />

Schublade und wollen losschlagen, solange<br />

die Chancen gut stehen. Nur wollten<br />

Kaiser Wilhelm und sein Kanzler<br />

Bethmann Hollweg Ende Juli eben nicht<br />

marschieren, solange sie sich sicher sein<br />

konnten, dass die andern nicht marschieren.<br />

Dann kam Moltke, wusste, dass die<br />

Russen schon unterwegs waren, und fand<br />

die Gelegenheit günstig.<br />

In der deutschen Schublade lag der untaugliche<br />

Schlieffen-Plan. Man wollte<br />

Frankreich binnen sechs Wochen niederwerfen<br />

und sich dann nach Russland<br />

wenden.<br />

Alle Kriegspläne waren untauglich,<br />

der französisch-russische „Plan XVII“<br />

noch viel mehr. Der Schlieffen-Plan fußte<br />

auf der Annahme, dass die Deutschen<br />

115<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


SALON<br />

Gespräch<br />

sich nicht gleichzeitig an zwei Fronten<br />

halten konnten. Sie standen aber dann<br />

vier <strong>Jahre</strong> an vier Fronten, in Russland,<br />

in Frankreich, auf dem Balkan und unter<br />

der See gegen England. Im Osten und<br />

Südosten haben sie schließlich gewonnen<br />

und im Westen verloren. Dieses geteilte<br />

Resultat wird gern übersehen, aber ohne<br />

das versteht man rein gar nichts.<br />

Der „Zivilisationsbruch“, schreiben Sie,<br />

ereignete sich trotz geringerer Opferzahlen<br />

an der Westfront: „Zum ersten<br />

Mal behauptete das weltbeherrschende<br />

Europa, dass es allenfalls ein geografischer<br />

Begriff sei, aber kein Zivilisationshort.<br />

Wer die Kathedrale von Reims<br />

mit Krupp-Kanonen beschießt, gehört<br />

offensichtlich nicht dazu, und wer mit<br />

Seeblockaden das Aushungern von<br />

Kindern und Kranken bezweckt, auch<br />

nicht.“<br />

Die Blockade der Nordsee von Ende<br />

1914 an ist für rund 800 000 Ausgehungerte<br />

in Deutschland verantwortlich. Die<br />

Engländer riegelten die maritimen Zufahrtswege<br />

ab, auch jene, die über die<br />

neutralen Häfen führten, also norwegische,<br />

dänische, holländische Häfen.<br />

Deshalb fehlten den Deutschen Medikamente,<br />

Fette und Früchte. Das ist eben totaler<br />

Krieg, ohne Rechtsschranken. Ein<br />

massives Sterben der Schwächsten in der<br />

Gesellschaft war die Folge. Mit europäischer<br />

Zivilisation hatte das nichts zu tun.<br />

Ebenso wenig wie die deutschen Gräuel<br />

beim Durchmarsch durch Belgien. Diese<br />

aber hätten sich „im Rahmen des bei<br />

Belgiern und Briten, Franzosen und Amerikanern<br />

Üblichen“ bewegt. Heute, lese<br />

ich bei Ihnen, falle ein „Kleinkrieg in Irak<br />

oder Libanon weitaus gräulicher aus“.<br />

Nach scharfer Berechnung durch<br />

zwei britische Kollegen sind den deutschen<br />

Gräueltaten, die es natürlich gab<br />

und die schrecklich waren, rund 3000 Zivilisten<br />

zum Opfer gefallen. Der Anti-<br />

Partisanenkrieg ist aus sich heraus<br />

rechtlos und blutig. Wenige <strong>Jahre</strong> zuvor<br />

starben im Burenkrieg der Engländer in<br />

An der Ostfront gab es die<br />

meisten Kriegstoten zu<br />

beklagen: Die russische<br />

Garde‐Infanterie im Einsatz<br />

Südafrika 40 000 Zivilisten in den concentration<br />

camps. Das entnehme ich dem<br />

„Oxford Military Dictionary“.<br />

Durchgesetzt hat sich das Bild vom<br />

hässlichen Deutschen, nicht Engländer.<br />

Seltsam, oder? Krieg ist nie eine Bewährungsstätte<br />

der höheren Moral. Mit<br />

welchem Recht blockierte man Holland?<br />

Damit die Holländer nichts weiterverkaufen<br />

an die Deutschen. Wenn wir die<br />

österreichisch-ungarischen zu den deutschen<br />

Hungeropfern hinzuzählen, kommen<br />

wir auf über eine Million getöteter<br />

Zivilisten, darunter die Ärmsten der Armen,<br />

die Ältesten, Kränksten und Jüngsten.<br />

Das ist die Härte des Krieges. Die<br />

Deutschen haben keinen Grund, sich darüber<br />

zu empören. Sie haben ihrerseits<br />

über die Ostsee versucht, Russland zu<br />

blockieren. Es gab in diesem Krieg nicht<br />

die Rechtstreuen und die Rechtsuntreuen,<br />

sondern nur die moralische Pflicht, den<br />

Krieg zu gewinnen. In der Wahl der<br />

Mittel sehe ich überhaupt keinen Unterschied<br />

zwischen der deutschen und der<br />

alliierten Seite. Nur dass Letztere zigmal<br />

mehr Ziviltote verursacht hat. Aber<br />

es waren deutsche Kriegsschuldige, die<br />

keine Rücksicht verdienten.<br />

Die alliierte Seite hätte ohne den Eintritt<br />

der USA nicht gewonnen.<br />

Der militärische Beitrag der Amerikaner<br />

war minimal. Aber die USA haben<br />

bereits vor Kriegseintritt 40 Prozent<br />

des alliierten Materials geliefert. Die Bezieher<br />

haben sich dabei ruiniert, und die<br />

Lieferanten wurden steinreich.<br />

Der Kriegsschuldartikel im Versailler<br />

Friedensvertrag befand sich im Abschnitt<br />

über Reparationszahlungen.<br />

Wurden die Deutschen Opfer einerseits<br />

der Gräuel, andererseits der Gräuelpropaganda,<br />

mit der der Krieg begonnen<br />

hatte?<br />

Die Propagandafront ist eine Front<br />

wie der Schützengraben. Es wird geschossen<br />

mit Granaten, Kugeln, Gas und<br />

mit Verleumdung, Propaganda, Desinformation.<br />

Man muss den Feind dämonisieren.<br />

Gegen einen Feind, den man schätzt,<br />

zieht der Soldat nicht ins Feld. In britischen<br />

Feldpostbriefen steht: Wir befinden<br />

uns auf einem Kreuzzug gegen den<br />

Auswurf des Menschengeschlechts. Es sei<br />

Foto: Scherl/SZ Photo<br />

116<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


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ein Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei.<br />

Der Kreuzzug ist von 1915 an der<br />

beherrschende Kriegsgrund der Entente.<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

Wurde die entscheidende Schlacht an<br />

der Propagandafront verloren?<br />

Eindeutig. Die Gräuel beim Durchmarsch<br />

durch Belgien drangen bis in die<br />

USA und sorgten für Abscheu, die Folgen<br />

durch die Hungerblockade blieben<br />

versteckt. Bis heute befassen die Historiker<br />

sich kaum mit den Aberhunderttausenden<br />

deutschen Toten. Man müsste<br />

systematisch die Akten der Krankenhäuser<br />

sichten.<br />

Das bringt uns nicht der Antwort auf<br />

die Frage näher, warum das „Weltfest<br />

des Todes“ (Thomas Mann) bis zum bitteren<br />

Ende ausgefochten wurde.<br />

In der Tat. Der Zivilisationsbruch<br />

besteht nicht darin, dass Krieg geführt<br />

wurde. Nein, hier wurde ein Krieg geführt,<br />

bei dem das militärische Instrumentarium<br />

nicht den leisesten Erfolg<br />

zeitigte. Krieg soll eine gewaltsame Lösung<br />

von Streitfragen sein, die sich politisch<br />

nicht lösen ließen. Hier war es anders.<br />

An der Westfront standen sich vier<br />

<strong>Jahre</strong> lang zwei gleich starke Heere gegenüber<br />

und trugen Schicht für Schicht<br />

vom Leben ihrer jungen Männer ab. Die<br />

europäische Zivilisation mit ihren zentralen<br />

Begriffen Staatskunst, Humanität,<br />

Mitmenschlichkeit und Bruderschaft in<br />

Christo hatte ausgespielt. Europäer, die<br />

seit der Neuzeit die Heiligkeit des Lebens<br />

und die Kostbarkeit des Individuums<br />

hochgehalten hatten, steckten nun<br />

wie Ratten in den Löchern, lebten mit<br />

den Leichen, infizierten sich – und kriegten<br />

es nicht fertig, sich in Stockholm oder<br />

Bern von Staatsmann zu Staatsmann diskret<br />

zu unterhalten.<br />

Der Krieg als eine riesige Dialog- und<br />

Kommunikationskatastrophe?<br />

Er war eine Tragödie. Ein Krieg, der<br />

begonnen wurde, um die Völker der Monarchie<br />

beieinanderzuhalten, hinterließ<br />

eine instabilere, verstörtere, ärmere, verzweifeltere,<br />

unglücklichere Welt als jene<br />

von 1914. Dass Deutschland Republik<br />

wurde und alle zwei <strong>Jahre</strong> einen neuen<br />

Kanzler bekam, wiegt die Toten nicht auf,<br />

die Krüppel. Weiten wir den Blick: Auf<br />

dem Boden der Donaumonarchie kamen<br />

© Foto Barenboim: Peter Adamik © Foto Schäuble: Ilja C. Hendel/BMF<br />

© Foto Gabriel: Dominik Butzmann<br />

Wolfgang Schäuble<br />

Sigmar Gabriel<br />

27. APRIL<br />

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autoritär oder laissez-faire? <strong>Cicero</strong>-<br />

Chefredakteur Christoph Schwennicke<br />

und <strong>Cicero</strong>-Kolumnist Frank A. Meyer<br />

im Gespräch mit Daniel Barenboim<br />

und Wolfgang Schäuble.<br />

Sonntag, 27. April 2014, 11 Uhr<br />

Daniel Barenboim<br />

Welchen Wandel braucht Europa,<br />

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<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur Christoph<br />

Schwennicke und <strong>Cicero</strong>-Kolumnist<br />

Frank A. Meyer im Gespräch mit<br />

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Ensemble


SALON<br />

Gespräch<br />

und diese nach vier <strong>Jahre</strong>n noch 40 Kilometer<br />

vor Paris steht, dann ist er nicht<br />

gleichgewichtsverträglich. Keiner aus der<br />

Siegerkoalition konnte einzeln mit dem<br />

Reich konkurrieren. Versailles sollte eine<br />

gesündere Neugründung werden.<br />

Foto: Keystone<br />

Was bedeutet 1919 der Versailler Friede?<br />

Er bedeutet genauso einen Irrsinn<br />

wie der Krieg. Russland fehlte in Versailles,<br />

weil ihm der Verrat an der Anti-<br />

Deutschlandkoalition verübelt wurde,<br />

Deutschland war gewissermaßen in<br />

Ketten vorgeladen zur Unterschrift. So<br />

lehnten die zwei größten Mächte auf<br />

dem Kontinent den Frieden ab. Wenn<br />

sich die zwei Verlierer zusammentaten,<br />

waren sie weit stärker als die Sieger, wie<br />

sich 1939/40 gezeigt hat.<br />

keine Grenzen zustande, in denen es die<br />

Bewohner miteinander aushielten. Auch<br />

die Angehörigen des Osmanischen Reiches,<br />

Türken, Araber, Kurden, Armenier,<br />

Iraker, Ägypter, haben in den Formen<br />

seiner Zerlegung bis heute keinen<br />

Frieden gefunden.<br />

War der Erste Weltkrieg überhaupt ein<br />

Weltkrieg?<br />

Er war ein Weltkrieg, weil es um<br />

den Besitz der Welt ging. Das Osmanische<br />

Reich etwa reichte von Ägypten bis<br />

zu den Dardanellen. Bereits in den ersten<br />

Kriegswochen machte sich England<br />

Ägypten untertan – ein Gebiet, dreimal<br />

so groß wie England und 33-mal so groß<br />

wie Belgien. Bis Mitte der fünfziger <strong>Jahre</strong><br />

blieb es Teil des British Empire.<br />

Wo waren noch Weltfragen berührt?<br />

Russland ist ein eurasischer Kontinent<br />

für sich, zwischen Pazifischem<br />

Ozean und Elbe. Österreich-Ungarn<br />

hatte eine enorme Ausdehnung, und<br />

dann waren da die riesigen Kolonialgebiete<br />

in Afrika. In diesem Krieg wurde<br />

die ganze Welt zusammengerafft. Es<br />

war nicht nur ein Krieg, an dem die<br />

Welt beteiligt war, Kanadier, Australier,<br />

Neuseeländer, Inder, Japaner. Es<br />

war ein Krieg um die Welt. Auch die<br />

Wie in Berlin 1917 litt die deutsche<br />

Bevölkerung auch unter der<br />

britischen Seeblockade. Fast eine<br />

Million Menschen starben<br />

Frage, wem die Ukraine gehört, spielte<br />

eine große Rolle.<br />

Warum zogen immer mehr Staaten gegen<br />

das Deutsche Reich zu Felde?<br />

Italiener und Rumänen wurden mit<br />

satten Zugewinnen geködert. Die Amerikaner<br />

kamen hinzu, als sie ihre Schuldner<br />

zu verlieren drohten und die deutschen<br />

U-Boote die Rüstungsexporte<br />

kaputt machten.<br />

Ihr Buch begreift den Weltkrieg als Weg<br />

nach Versailles.<br />

Der Gegenseite der Deutschen ging<br />

es um den Rückbau der Reichsgründung<br />

von 1871. Das haben sie untereinander<br />

deutlich gesagt. Wenn eine Weltkoalition<br />

nötig ist, um einen Einzigen zu stoppen,<br />

Also war Versailles kein „Schandfriede“?<br />

Es war ein gefühlter Schandfriede.<br />

Am meisten haben sich die Deutschen<br />

über den dummen Kriegsschuldartikel<br />

aufgeregt. Aber der diente nur dazu,<br />

den Deutschen die Kriegskosten aufzuhalsen.<br />

Am Ende haben sie jedoch außer<br />

ihren eigenen Kosten nicht viel davon<br />

gezahlt. Der Vorteil für Deutschland<br />

war das geostrategische Resultat. Weil<br />

Russland nun antiwestlich war, fiel die<br />

Klammer fort, die bis 1914 das Deutsche<br />

Reich von rechts und links in Schach gehalten<br />

hatte, durch ein russisch-französisches<br />

Bündnis und die Engländer als<br />

Zünglein an der Waage. 1941 kam die<br />

Klammer wieder zustande. Damit ging<br />

der Zweite Weltkrieg verloren. Die Zwischenkriegszeit<br />

war ein Kartenhaus. Es<br />

brauchte nur der böse Geist hineinfahren,<br />

dann musste es umkippen.<br />

Nach Versailles ging der Weg also weiter<br />

nach Stalingrad, Dresden, Hiroshima?<br />

Nicht zwangsläufig. Aber Versailles<br />

öffnete beiden Verlierern eine fatale<br />

Chance. Sie konnten sich als Schurkenstaaten<br />

konstituieren und mit dieser<br />

Kraft Europa wieder in ein Meer von<br />

Blut und Trümmern stürzen. Und das<br />

haben sie verschuldet, ja. Versailles war<br />

die Dummheit, die den Verbrechern die<br />

Realisierung ihrer Chance geliefert hat.<br />

Die zwei Weltkriege waren völlig überflüssig.<br />

Das ist das Traurige.<br />

Das Gespräch führte ALEXANDER KISSLER<br />

118<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Laufen, um zu überleben:<br />

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SALON<br />

Debatte<br />

AM ANFANG<br />

WAR DER RAUB<br />

Die Fälle Gurlitt und<br />

Welfenschatz richten ein grelles<br />

Licht auf die Zukunft<br />

der Museen: Droht eine<br />

Privatisierung aller Kunst?<br />

Von BEAT WYSS<br />

Der Kunsthändlersohn Cornelius Gurlitt hat Anfang<br />

April eine „Verfahrensvereinbarung“ mit der Bundesrepublik<br />

Deutschland und dem Freistaat Bayern<br />

unterzeichnet. Ein internationales Expertenteam<br />

wird nun alle 1280 Bilder seiner Sammlung<br />

untersuchen. Raubkunst soll ermittelt und an die Geschädigten<br />

zurückgegeben werden. Dazu war Gurlitt rechtlich nicht<br />

gezwungen, allfällige Straftatbestände sind verjährt.<br />

Auch die Washingtoner Erklärung trifft auf Gurlitt als Privatperson<br />

nicht zu. Das Abkommen vom Dezember 1998 über<br />

geraubte Vermögenswerte aus der Zeit zwischen 1933 und 1945<br />

wurde von 45 Staaten und zwölf nichtstaatlichen Organisationen<br />

getroffen. Darin kommen die Unterzeichner überein, beschlagnahmte<br />

Kunstwerke aus jener Zeit zu identifizieren und<br />

in einem zentralen Register offenzulegen. Die formulierten<br />

Grundsätze beschränken sich auf eine moralische Verpflichtung<br />

zwischen den unterzeichnenden Staaten und Organisationen.<br />

Deren Forderung nach „fairen und gerechten Lösungen“<br />

lässt großen Verhandlungsspielraum offen.<br />

Auch in den Debatten um Raub- und Beutekunst gilt: Wer<br />

die Zukunft entwerfen will, kommt an einer Analyse der Vergangenheit<br />

nicht vorbei. Die Museen Europas entstanden vor<br />

dem Hintergrund revolutionärer Umwälzungen und der kriegerischen<br />

Neuordnung Europas in napoleonischer Zeit. Erst die<br />

Gewalt gegen überlieferte Bindungen konnte jene Objekte freisetzen,<br />

die über einen grauen Markt in den Museen landeten.<br />

Zuerst und am radikalsten geschah dies in Paris, wo der<br />

Louvre, die ehemalige Stadtresidenz des Königs, am 23. Juli<br />

1793, sechs Monate nach der Hinrichtung von Ludwig XVI.,<br />

per Dekret zum „Musée central des arts“ erklärt wurde. Das<br />

übrige Europa des 19. Jahrhunderts blieb monarchisch regiert<br />

und begnügte sich damit, die fürstlichen Sammlungen in eine<br />

öffentliche Institution der Volksbildung umzuwidmen.<br />

Während eines kurzen Jahrhunderts also festigte sich die<br />

Institution Museum als Schatzhaus des Nationalstaats. Über<br />

die oft ungeklärten Herkünfte seines Bestands wuchs der Efeu.<br />

Das Museum war die Kathedrale der Bürgerlichkeit, für die sich<br />

Mäzene verdient machen wollten. In Berlin taten sich jüdische<br />

Mitbürger durch großzügige Schenkungen und Leihgaben hervor:<br />

James Simon, Mitbegründer der Deutschen Orient-Gesellschaft<br />

und Stifter der Porträtbüste von Nofretete; Eduard Arnhold,<br />

Stifter der Villa Massimo in Rom; Oscar Huldschinsky,<br />

Gründungsmitglied des Kaiser-Friedrich-Museumsvereins. Die<br />

Juden waren das Rückgrat des Bildungsbürgertums.<br />

Naziideologie ist ein Frontalangriff auf bürgerliche Werte.<br />

Das erklärt die besonders zynische Konsequenz, mit der das<br />

jüdische Eigentum durch das Regime geplündert wurde: über<br />

Zwangssteuern, erzwungene Veräußerungen, entschädigungslose<br />

Beschlagnahmung bis zur physischen Ausmerzung der Eigentümer.<br />

Ebenso konsequent sind die Nationalsozialisten die<br />

Totengräber des Museums, dessen universalistisches Konzept sie<br />

mit Rassenpropaganda bekämpften. In Razzien wurden öffentliche<br />

Sammlungen auf klassische Moderne hin durchforstet und<br />

deren Beschlagnahmung durch das „Gesetz über die Einziehung<br />

von Erzeugnissen entarteter Kunst“ vom 31. Mai 1938 abgesichert.<br />

Insgesamt betraf die Maßnahme rund 20 000 Werke aus<br />

<strong>10</strong>1 Museen. Vier Kunsthändler wurden mit dem Verkauf zwecks<br />

Devisenbeschaffung beauftragt: Karl Buchholz, Ferdinand Möller,<br />

Bernhard A. Böhmer und Hildebrand Gurlitt. Die von den<br />

„Kunstwäschern“ für unverwertbar erklärten Werke wurden am<br />

20. März 1939 im Hof der Berliner Hauptfeuerwache verbrannt.<br />

An der konfiszierten Kunst bediente sich die Führungsriege,<br />

zuvorderst Adolf Hitler. Mit einem monumentalen Führermuseum<br />

in Linz gedachte er, sich in der Stadt seiner Jugend<br />

monumental zu verewigen. Hermann Göring wollte mit „Carinhall“<br />

in der brandenburgischen Schorfheide seiner verstorbenen<br />

ersten Frau ein museales Denkmal setzen. So wird das<br />

Ende einer Institution im Geist bürgerlicher Bildung eingeläutet.<br />

Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor wurde 1806<br />

von Napoleon geraubt. Sie kehrte 1814 zurück<br />

Foto: Gerd Schütz/AKG Images<br />

120<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


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Das Museum als Mausoleum autokratischer Eitelkeiten: die Nazis<br />

lieferten die grobschlächtige Blaupause künftiger „Privatmuseen“.<br />

Mit der Politik systematischer Beschlagnahmungen<br />

wurde die Idee vom Museum als einem soliden Schatzhaus bürgerlicher<br />

Erinnerungskultur zersetzt. Die aktuellen Restitutionsforderungen<br />

sind Nachbeben auf jene willkürlichen Eingriffe,<br />

welche die Institution in den Grundfesten erschüttert.<br />

Zwei zentrifugale Kräfte befördern die Zerstreuung öffentlicher<br />

Sammlungen in Privatbesitz. Die eine Fliehkraft entspringt<br />

dem Kunstmarkt, dessen Hochpreisigkeit alle Wertvorstellungen<br />

aus der Gründungszeit der Museen übersteigt. Gab<br />

deren Erwerbungspolitik damals den Takt an, so liegen die<br />

erzielten Auktionspreise heute jenseits der Anschaffungsbudgets<br />

öffentlicher Sammlungen. Diese Asymmetrie greift auf<br />

das Denken und Handeln jener Museumsleute über, die sich<br />

als neuliberale Eventmanager verstehen. Sie spekulieren mit<br />

dem Tafelsilber und müssen sich den Vorwurf gefallen lassen,<br />

in der Tradition der dreißiger <strong>Jahre</strong> zu stehen, als Teile des<br />

Sammlungsbestands zur Geldbeschaffung verwertet wurden.<br />

Die zweite Fliehkraft entsteht durch die Restitutionsforderungen,<br />

angeregt von Anwälten, die mit Erfolgshonorar arbeiten.<br />

Ihr Verfahren wird wiederum dadurch befeuert, dass<br />

der Wert der Kunstwerke der Klassischen Moderne seit der<br />

Nachkriegszeit enorm gestiegen ist. Die Aussicht, einen Gewinn<br />

abzuschöpfen, motiviert den Aufwand an Provenienzforschung<br />

und Gerichtskosten. An der Causa Welfenschatz,<br />

dem Umgang mit dem weiterhin im Berliner Kunstgewerbemuseum<br />

zu bewundernden Kirchenschatz, der 1935 von jüdischen<br />

Zwischenhändlern an den preußischen Staat verkauft<br />

worden war, lässt sich diese juristische Fracking-Methode studieren.<br />

Gepresst wird mit moralischem Druck auf ziemlich unklaren<br />

Raubkunstverdacht hin.<br />

Ist es die Rache der Geschichte an den Grauzonen der Legitimität,<br />

in deren Zwielicht die musealen Sammlungen einst<br />

zusammengetragen wurden? Die Peristaltik des Sammelwesens<br />

kehrt sich um. Vom Zusammenfluss im öffentlichen Raum sickern<br />

die wertvollsten Stücke mehr und mehr in den Privatbesitz.<br />

Wem das egal ist, sei die Mahnung von Hermann Parzinger,<br />

dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz,<br />

entgegengehalten: „Kulturgeschichte lässt sich nur dann schreiben,<br />

wenn wir fundierte Kenntnisse zur Provenienz und zum<br />

historischen Kontext der Objekte haben. (…) Kunstwerke und<br />

Kulturgüter, die der Öffentlichkeit entzogen sind, nehmen nicht<br />

mehr teil an der Ausformung des kulturellen Gedächtnisses der<br />

Menschheit: Sie werden Individualbesitz Einzelner, die sie nur<br />

mehr als Spekulationsobjekt benutzen.“<br />

Das Museum ist Treuhänder des öffentlichen Gedächtnisses.<br />

Die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte währende Bewahrung, Erforschung<br />

und Vermittlung seiner Gegenstände hat den Wert<br />

der versammelten Werke erhöht. Und der museale Mehrwert<br />

gespeicherten Wissens soll jetzt als Warenfetisch sozialer Distinktion<br />

privat abgeschöpft werden?<br />

Unbenannt-1 1 11.03.14 20:55<br />

Am 12. Mai<br />

ist Muttertag!<br />

tag!<br />

BEAT WYSS ist einer der bekanntesten Kunsthistoriker des<br />

Landes. Er lehrt Kunstwissenschaft und Medienphilosophie<br />

an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe<br />

und schreibt jeden Monat in <strong>Cicero</strong>


SALON<br />

Reportage<br />

DAS LEBEN IST<br />

Erst wurde die Giraffe<br />

filetiert, dann starben<br />

die Löwen. Was ist<br />

bloß los im Zoo von<br />

Kopenhagen? Ein<br />

Spaziergang zwischen<br />

Fleischfressern<br />

Von MARIE AMRHEIN<br />

In der Sonne liegt der Kopf eines Ponys.<br />

Die buschige Mähne fällt locker<br />

über die weiße Blesse, der Hals ist<br />

unsauber abgetrennt worden. Die<br />

Augen fehlen, vermutlich haben<br />

sich an ihnen die zwei Möwen gütlich<br />

getan, die auf dem Felsen herumhüpfen,<br />

auf dem der Schädel liegt. Die Möwen<br />

hacken eilig ihre Schnäbel ins Fleisch,<br />

als sorgten sie sich, dass einer der Eisbären<br />

auftaucht, für die das Fleisch bestimmt<br />

ist.<br />

Willkommen im Zoo von Kopenhagen,<br />

jenem Ort, der unter den Begriffen<br />

„Schlachthof“, „Killerzoo“ oder „Zoo<br />

pervers“ bekannt geworden ist. Denn<br />

dort wurde eine einjährige gesunde Giraffe<br />

namens Marius mit Kopfschuss<br />

getötet, um sie danach öffentlich zu<br />

sezieren und den Löwen zum Fraß vorzuwerfen.<br />

Ein Kind, das unter den Zuschauern<br />

war, fiel in Ohnmacht. Die internationale<br />

Aufregung steigerte sich noch um<br />

einige Grade, als wenige Wochen später<br />

einer Löwenfamilie der Garaus gemacht<br />

wurde. Tierschützer gaben Alarm, Kamerateams<br />

rückten an, Mütter regten sich<br />

auf. Petitionen mit 150 000 Unterstützern<br />

forderten die Schließung des Zoos.<br />

An diesem Donnerstagvormittag<br />

ist davon nichts zu spüren. Der Himmel<br />

über Kopenhagen ist blau, die Stimmung<br />

Illustration: Felix Gephart<br />

122<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


EIN PONYKOPF<br />

friedlich. Am Eingang drängeln sich<br />

Schüler aus dem Bus, sie stromern zum<br />

Affendschungel, sehen sich das Elefantenhaus<br />

von Sir Norman Foster an oder<br />

schlecken Eis auf der Terrasse neben den<br />

Kamelen. Oder sie rennen zu den Eisbären,<br />

die sich allerdings verkrochen haben,<br />

und stoßen: auf den Ponykopf.<br />

Gerade kommt eine Gruppe Erstklässler<br />

vorbei. Die Kinder schauen interessiert<br />

zu dem augenlosen Schädel hinüber.<br />

Aber keines kreischt, keines fällt<br />

in Ohnmacht. Die Erstklässler schlendern<br />

weiter. Was ist da bloß los? „Die<br />

Kleinen verstehen, dass die Tiere etwas<br />

zum Fressen brauchen“, sagt eine der<br />

drei Lehrerinnen. „Und je größer sie werden,<br />

desto genauer erklären wir ihnen<br />

alles. Dazu gehört dann auch, dass ein<br />

Tier aus Gründen der Zucht eben getötet<br />

werden muss.“<br />

Der Zoodirektor wäre wohl froh,<br />

wenn er das hörte. Bengt Holst hatte es in<br />

der jüngsten Zeit etwas schwer, sich verständlich<br />

zu machen. Als ihn der Moderator<br />

einer britischen Nachrichtensendung<br />

zur öffentlichen Sektion der Giraffe befragte,<br />

erklärte Holst, es sei doch interessant<br />

zu sehen, wie groß ein Giraffenherz<br />

sein muss, damit es Blut in das zwei Meter<br />

entfernte Gehirn pumpen kann. Der<br />

bewusstlose Junge habe während der<br />

Vorstellung einfach zu wenig getrunken.<br />

Die Kritiker tobten.<br />

Der Kopenhagener Zoo handelt<br />

nach einem schlichten Prinzip: Zum<br />

gesunden Zoo gehört ein einwandfreier<br />

Genpool, eine frische Mischung von Erbfaktoren.<br />

Wer damit nicht dienen kann,<br />

ist raus. So erging es Marius. Die Giraffe<br />

hätte sich im Zoo nicht weitervermehren<br />

dürfen, es bestand Inzuchtgefahr.<br />

Ein britischer Zoo, der anbot, die Giraffe<br />

aufzunehmen, bekam eine Absage.<br />

Auch hier sei das Genmaterial im Zoo zu<br />

ähnlich. Der Kopenhagener Zoo kooperiert<br />

nur mit anderen Zoos, die wie er<br />

nach den Richtlinien der Europäischen<br />

123<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


SALON<br />

Reportage<br />

Der Zoo<br />

zeigt im<br />

Grunde nur<br />

Banales:<br />

Raubtiere<br />

fressen Tiere<br />

Zoo- und Aquarienvereinigung handeln<br />

und züchten. So hatte auch ein Privatmann<br />

keine Chance, der das Tier für<br />

270 000 Euro erstehen wollte, um es<br />

vor dem Tod zu retten.<br />

Die Sache mit dem Zoo hat Dänemarks<br />

Image einen kleinen Kratzer<br />

verpasst. Die Einwohner Kopenhagens,<br />

Stadt der schönen Häuser und<br />

stilsicheren Menschen, in der sie eine<br />

Sprache sprechen, die immer ein bisschen<br />

klingt, als beuge man sich gerade<br />

zu einem Kind hinunter, sind nun nicht<br />

mehr bekannt für ihr hohes Budget an<br />

Entwicklungshilfe, sondern als Volk der<br />

Giraffenmörder.<br />

Gerade war die Aufregung um Marius<br />

abgeflaut, da wurde vier Löwen Gift<br />

injiziert. Es starben: das 16 <strong>Jahre</strong> alte<br />

Leittier, seine 14 <strong>Jahre</strong> alte Kumpanin<br />

und die zwei gemeinsamen Kinder. Übrig<br />

blieben zwei Löwinnen aus dem Wurf<br />

von 2012. Als potenzielle Mütter einer<br />

neuen Generation Kinder mit „guten Genen“<br />

durften sie leben. Für sie erwarb der<br />

Zoo ein Löwenmännchen aus einem Safaripark<br />

südlich von Aarhus als Partner.<br />

Im Löwengehege ist das neue Männchen<br />

heute nicht zu sehen. Es hat sich in<br />

einer Höhle verkrochen, die in einem Innenkäfig<br />

liegt. Dort, beim Neuankömmling,<br />

befindet sich auch das Futter. Die<br />

Zoostrategen legen es darauf an, dass die<br />

Löwinnen in den Innenkäfig zum Fressen<br />

gehen und sich dort mit dem neuen Gefährten<br />

bekannt machen – es wäre der<br />

erste Schritt zur Familiengründung.<br />

ABER DIE LÖWINNEN meiden den Innenkäfig.<br />

Sie liegen einfach rum. „Miaoo“<br />

schreit ein Mädchen mit pinker Pudelmütze<br />

den Raubkatzen zu. Die haben<br />

sich in den entferntesten Winkel zurückgezogen.<br />

Zwei Wochen lang haben<br />

sie nichts gefressen. Sie sind auf der Hut,<br />

starren auf die Tür zum Innengehege.<br />

Vermutlich können sie riechen, dass dort<br />

ihr Fressen liegt. Aber dort liegt auch er,<br />

der Neue.<br />

Es sei wichtig, dass der neue Löwe<br />

schnell ankomme, hatte der Zoo auf seiner<br />

Internetseite erklärt. Sonst laufe man<br />

Gefahr, dass die Weibchen sich zusammentun<br />

und den Neuen zerfleischen. Löwin<br />

frisst Löwe – es wäre eine neue spektakuläre<br />

Nachricht aus Kopenhagen, die<br />

Tierfreunde würden womöglich Wirtschaftssanktionen<br />

verlangen oder zumindest<br />

ein Eingreifen der Königin.<br />

Wenn die Tiere weiterhin nichts zu<br />

fressen bekommen, gibt es noch die Möglichkeit,<br />

sie zu betäuben und dann zu<br />

trennen. „Wir hoffen wirklich, dass es<br />

nicht so weit kommt“, seufzt eine Zoomitarbeiterin<br />

in grüner Arbeitsmontur.<br />

Ihr Name soll auf keinen Fall genannt<br />

werden. Denn der Zoo hat seine Kommunikationsstrategie<br />

geändert. Als die<br />

Proteste anhielten, verstummten Direktor<br />

Holst und seine Kollegen. „Wir haben<br />

nichts weiter hinzuzufügen“, lautet heute<br />

die Antwort auf Interviewanfragen.<br />

In einem bewaldeten Gehege rennen<br />

zwei Wölfe rammdösig im Kreis herum.<br />

Einige Hundert Meter weiter sehen die<br />

Besucher zwei Störchen dabei zu, wie sie<br />

klappernd und humpelnd mit gestutzten<br />

Flügeln ein Nest in Bodenhöhe bauen. Es<br />

sind Szenen, wie sie sich in jedem Zoo<br />

dieser Welt abspielen: Stolze Tiere werden<br />

in ihrem Bewegungsdrang beschnitten,<br />

sie verlieren ihr natürliches Wesen.<br />

Da liegt der Gedanke nicht fern, dass<br />

das Glück, Nachwuchs zu bekommen,<br />

noch eine Möglichkeit ist, diesen Tieren<br />

eine Art von Sinn im Leben zu geben.<br />

Vielleicht die einzige, die ein Zoo überhaupt<br />

hat.<br />

Weiter geht es. Im Kellergewölbe unter<br />

dem Eisbärengehege lässt sich in einer<br />

Eislochattrappe erleben, wie sich ein Seehund<br />

als Beute fühlt. Es ist wie ein winziges<br />

3-D-Kino für eine Person. Eine Erstklässlerin<br />

geht hinein. Es ist still, nichts<br />

um sie herum. Nur weiße Ferne. Plötzlich<br />

ein Schnaufen und Stampfen. Woher<br />

kommt es? Plötzlich ist da ein Eisbär.<br />

Ganz nah. In letzter Sekunde duckt<br />

sie sich. Wütendes Fauchen, das Mädchen<br />

kreischt. Dann hüpft es strahlend aus der<br />

Kinohöhle.<br />

Eine Ecke weiter dreht sich das Spiel<br />

um: Wer auf einem Bildschirm im richtigen<br />

Moment zuschlägt, erwischt den<br />

aus seinem Eisloch auftauchenden Seehund<br />

und wird mit einer blutigen Splatterszene<br />

belohnt. So vorbereitet, treffen<br />

die Schüler draußen auf den echten Eisbären.<br />

Es riecht nach vergammelndem<br />

Algenmatsch. Der Bär geifert, atmet ein,<br />

atmet aus. Dann brüllt er.<br />

In der für Besucher offenen Tropenküche<br />

sind in Plastikschälchen die<br />

schrumpeligen Kadaver nackter Babymäuse<br />

zur Fütterung abgefüllt. Im Gehege<br />

der scharfzahnigen Wüstenluchse<br />

quillt Hasengedärm aus dem Bauch des<br />

Opfers. In einem Wassergraben sitzt ein<br />

dicker Braunbär, die Füße schauen aus<br />

der Wanne, er spielt mit einem Knochen.<br />

Zooalltag.<br />

Was ist da bloß schiefgegangen mit<br />

dem Kopenhagener Zoo und der Welt?<br />

Vielleicht das: Eine Zoodirektion, die die<br />

Tiere besser kennt als die Menschen, hat<br />

diese zu einer Art Übersprungshandlung<br />

provoziert. An der Massentierhaltung<br />

ändert sich so schnell nicht viel, und die<br />

Currywurst schmeckt weiterhin, da wird<br />

eben der Zoo attackiert. Dabei zeigt der<br />

im Grunde nur Banales. Raubtiere fressen<br />

Tiere, der Tod des Ponys ist das Leben<br />

des Eisbären.<br />

Die Erstklässler laufen vom Ponykopf<br />

lachend zum Affenfelsen. Die gerade<br />

erstandenen Plüscheisbären pressen<br />

sie fest an die Brust.<br />

MARIE AMRHEIN, freie<br />

Autorin, lebt in Niedersachsen<br />

auf einem Hof. Sie staunte,<br />

wie kaltblütig sie der ersten<br />

Schafschlachtung beiwohnte<br />

Foto: Andrej Dallmann<br />

124<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


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BELIZE Auf den Spuren der königlichen Schokolade<br />

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SALON<br />

Literaturen<br />

Neue Bücher, Texte, Themen<br />

Literaturverfilmung<br />

Schönheit und Verbrechen<br />

Hossein Amini verfilmt Patricia Highsmiths Roman<br />

„Die zwei Gesichter des Januars“<br />

Ob Alfred Hitchcock, Wim Wenders<br />

oder Claude Chabrol –<br />

alle Verfilmungen von Patricia<br />

Highsmiths Kriminalromanen sind bislang<br />

mehr oder minder schiefgegangen.<br />

Immer fehlte die emotionale Komplexität<br />

der Vorlage: die untergründige Bedrohung,<br />

die von durchschnittlich und<br />

sympathisch erscheinenden Figuren ausgeht,<br />

der gefährliche doppelte Boden in<br />

jedem einzelnen. Wenn am 29. Mai Hossein<br />

Aminis Filmversion von Highsmiths<br />

„Die zwei Gesichter des Januars“ ins<br />

Kino kommt, wird das im Prinzip nicht<br />

anders sein. Und doch lohnt es sich, den<br />

Film anzuschauen.<br />

Viggo Mortensen und Kirsten Dunst<br />

spielen ein Ehepaar, das seinen eleganten<br />

Lebensstil mit Aktienbetrügereien finanziert.<br />

Sie sind vor den Gläubigern nach<br />

Athen geflohen, nun begegnen sie auf der<br />

Akropolis dem charmanten Yale-Absolventen<br />

Rydal Keener. Der verdient sich<br />

seinen Lebensunterhalt als Fremdenführer<br />

(und prellt zwischendurch Touristen<br />

um kleinere Geldbeträge). Ein Blick zwischen<br />

dem Betrüger Chester und Rydal<br />

genügt, und ein Drama um Liebe, Mord<br />

und Totschlag nimmt seinen Lauf. Es<br />

führt das Trio nach Kreta, auf dem Basar<br />

in Istanbul wird es enden; und nur einer<br />

von ihnen überlebt.<br />

Amini zeigt schöne Menschen in exquisiter<br />

Kleidung an malerischen Schauplätzen<br />

in einer Geschichte voll überraschender<br />

Wendungen. Mit dem Roman<br />

hat jedoch auch er nur oberflächlich zu<br />

tun: Alles verengt sich bald auf ein Eifersuchtsdrama.<br />

Und wir kehren zum Roman<br />

zurück: Die Nähe zum Ungeheuren<br />

gelingt eben nur Highsmith selbst.FMG<br />

Patricia Highsmith<br />

„Die zwei Gesichter des Januars“<br />

Aus dem Amerikanischen von Werner Richter.<br />

Diogenes, Zürich 2005. 425 S., <strong>10</strong>,90 €<br />

Foto: Studiocanal 2013<br />

126<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Forschung und Gesellschaft<br />

Wer oder was ist<br />

eigentlich eine Familie?<br />

Die glänzende Studie von Andreas Bernard zur<br />

Entwicklung nicht nur der Reproduktionsmedizin<br />

Am 25. Juli 1978, kurz vor Mitternacht,<br />

kam im britischen Oldham<br />

ein Kind per Kaiserschnitt zur<br />

Welt: der erste Mensch, der nicht beim<br />

Sex, sondern im Labor gezeugt worden<br />

war – Louise Brown, das Mädchen<br />

aus der Petrischale. Die Mutter, die aufgrund<br />

fehlender Eileiter nicht auf natürlichem<br />

Wege schwanger werden konnte,<br />

entstammte der Arbeiterschicht. Bereits<br />

Tage vor dem Geburtstermin herrschte<br />

Ausnahmezustand in der Klinik, unzählige<br />

Journalisten versuchten vergeblich,<br />

als Priester, Handwerker oder Pfleger<br />

verkleidet, bei der „Geburt des Jahrhunderts“<br />

dabei zu sein. Das Kreißsaal-Video<br />

kann man heute auf Youtube ansehen<br />

– es wurde vom Informationsdienst<br />

der britischen Regierung aufgezeichnet.<br />

Was damals eine Sensation war, ist<br />

heute flächendeckend praktizierte Fortpflanzungsroutine.<br />

Allein in Deutschland<br />

werden im Jahr 2014 wieder an<br />

die <strong>10</strong> 000 Kinder außerhalb des Mutterleibs<br />

gezeugt. Weltweit verdanken<br />

inzwischen fünf Millionen Menschen<br />

ihre Existenz den Techniken der „assistierten<br />

Empfängnis“ – so der unter<br />

Medizinern übliche Sammelbegriff für<br />

Samenspende, Leihmutterschaft und<br />

In-vitro-Fertilisation.<br />

In seinem Buch „Kinder machen“ nähert<br />

sich der Kulturwissenschaftler und<br />

Journalist Andreas Bernard dem Thema<br />

mit bemerkenswert ideologiefreiem<br />

Scharfsinn. Von der antiken Empfängnislehre<br />

des Aristoteles spannt er den<br />

Bogen zu den Regenbogenfamilien der<br />

Gegenwart, Reportagen werden mit diskursanalytischen<br />

und wissenschaftshistorischen<br />

Überlegungen enggeführt.<br />

Die Geburt von Louise Brown markiert<br />

in gleich mehrfacher Hinsicht einen<br />

dramaturgischen Höhepunkt dieser<br />

Bestandsaufnahme der Reproduktionsmedizin<br />

und ihrer gesellschaftlichen Begleitumstände.<br />

So konstatiert Bernard<br />

die wissenschaftshistorische Gesetzmäßigkeit,<br />

derzufolge das Wissen von<br />

der Zeugung alle 150 <strong>Jahre</strong> revolutioniert<br />

wird. Den Anfang machte der niederländische<br />

Naturforscher Antoni van<br />

Leeuwenhoek, als er im Jahr 1677 unter<br />

seinem selbst gebauten Mikroskop die<br />

beweglichen „Samentierchen“ im männlichen<br />

Ejakulat entdeckte. Dass die Frau<br />

einen gleichwertigen Beitrag zur Entstehung<br />

neuen Lebens beisteuert, fand anderthalb<br />

Jahrhunderte später Karl von<br />

Baer heraus. 1827 sah er seine Vermutung<br />

der Existenz weiblicher Eizellen bestätigt,<br />

als er eine läufige Hündin tötete<br />

und deren Eierstöcke sezierte. Ende des<br />

<strong>Jahre</strong>s 1977 schließlich, acht Monate bevor<br />

das erste „Retortenbaby“ das Licht<br />

der Welt erblickte, gelang es Robert Edwards,<br />

dem später mit dem Nobelpreis<br />

ausgezeichneten Gynäkologen von Louise<br />

Browns Mutter, das Wissen um Ei und<br />

Samentierchen außerhalb des menschlichen<br />

Körpers fruchtbar zu machen.<br />

Aus der Gegenwartsperspektive ist<br />

insbesondere Bernards Rekonstruktion<br />

der Debatten interessant, die unmittelbar<br />

nach 1978 an der Tagesordnung waren.<br />

Vor allem in Deutschland einte die<br />

Ablehnung der Reproduktionsmedizin<br />

bis in die neunziger <strong>Jahre</strong> hinein die ansonsten<br />

unversöhnlichen Lager von Feministinnen,<br />

Kirchenvertretern, Konservativen<br />

und Linken. Das Vokabular in<br />

Leitartikeln und Parlamentsreden glich<br />

dabei erstaunlicherweise der Wortwahl,<br />

derer sich unlängst die Schriftstellerin<br />

Sibylle Lewitscharoff bediente, als sie<br />

pauschal all jene Kinder, die nicht auf<br />

die gute alte Art entstanden sind, öffentlich<br />

als „Halbwesen“ diskreditierte. Die<br />

Welle der Empörung, die ihr entgegenschlug,<br />

bestätigt Bernards aufklärungsoptimistischen<br />

Befund: Das öffentliche<br />

Bewusstsein scheint allmählich zu akzeptieren,<br />

dass die Würde des Menschen<br />

unabhängig von den Bedingungen seiner<br />

Entstehung existiert.<br />

Allerdings gibt es auch Schattenseiten.<br />

In Osteuropa und Indien boomt die<br />

Leihmütterindustrie, und obgleich die<br />

Retortenbabys heute „Wunschkinder“<br />

heißen, geraten manche von ihnen in<br />

ernsthafte Identitätskrisen, wenn sie erst<br />

im Erwachsenenalter mit der Erkenntnis<br />

konfrontiert werden, dass ihr sozialer Vater<br />

nicht mit ihnen verwandt ist.<br />

Zu den großartigsten Passagen des<br />

Buches gehören jene, in denen die Geschichte<br />

der Reproduktionsmedizin mit<br />

der Geschichte der Familie in Zusammenhang<br />

gebracht wird. Die biologisch<br />

und sozial nobilitierte Dreifaltigkeit von<br />

Mutter-Vater-Kind macht Bernard auf<br />

ihre historische Bedingtheit hin durchsichtig:<br />

Erst im 18. Jahrhundert avancierte<br />

die bürgerliche Kleinfamilie zum<br />

normativen Modell. Tiefe Risse erhielt<br />

diese Idealvorstellung von der „Keimzelle<br />

der Gesellschaft“ allerdings infolge<br />

der Umwälzungen von 1968. Gerade als<br />

die Reproduktionsmedizin Durchbrüche<br />

wie die Geburt von Louise Brown<br />

feierte, erreichten Scheidungsraten einen<br />

bis dato ungekannten Höhepunkt;<br />

in der Frauen- wie der Studentenbewegung<br />

grassierte der Überdruss an tradierten<br />

Lebensentwürfen. Für Bernard<br />

allerdings schließen sich die Nestwärme<br />

der Kleinfamilie und die medizinischen<br />

Methoden der asexuellen Zeugung keineswegs<br />

aus. Statt das überkommene Familienmodell<br />

endgültig auszuhöhlen, so<br />

die originell-versöhnliche These, bietet<br />

gerade die Reproduktionsmedizin Möglichkeiten,<br />

den Begriff der Familie mit alternativen<br />

Inhalten zu füllen. In der Petrischale<br />

lassen sich offenbar nicht nur<br />

Eizelle und Samen vereinen, sondern<br />

auch restauratives und revolutionäres<br />

Potenzial.<br />

Marianna Lieder<br />

Andreas Bernard<br />

„Kinder machen“<br />

S. Fischer, Frankfurt a. M. 2014. 542 S., 24,99 €<br />

127<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


SALON<br />

Literaturen<br />

Roman<br />

Schattenboxen in<br />

der Komfortzone<br />

Im Roman „Schlafgänger“<br />

räsonieren Privilegierte entspannt<br />

über Ausgegrenzte<br />

Im 19. Jahrhundert zog es Schlafgänger<br />

in die großen Städte: Berlin, Frankfurt<br />

und Wien. Eine Wohnung konnten<br />

die jungen Neuankömmlinge sich nicht<br />

leisten; stattdessen mieteten sie stundenweise<br />

Betten und erkauften sich, von der<br />

Polizei misstrauisch beäugt, die Möglichkeit<br />

von Schlaf in fremden Wohnungen.<br />

In Dorothee Elmigers zweitem Roman<br />

werden die historischen Schlafgänger<br />

den Flüchtlingen der Gegenwart gegenübergestellt:<br />

Eine namenlos bleibende<br />

Schriftstellerin doziert dort in großer<br />

Runde über Schlaflosigkeit, die sowohl<br />

Schlafgänger als auch Flüchtlinge quäle.<br />

Die Diskutanten sind in einem nicht näher<br />

definierten Raum versammelt; Ort<br />

und Zeit bleiben, wie bereits in Elmigers<br />

Debüt „Einladung an die Waghalsigen“,<br />

nebulös. Betont wird lediglich, dass<br />

man sich in der Gegenwart befinde, als<br />

Außenwelt scheint sporadisch Los Angeles<br />

auf.<br />

Dorothee Elmigers Figuren-Ensemble,<br />

zu dem eine Übersetzerin, ein Student,<br />

eine Frau namens A. L. Erika und<br />

ein Journalist gehören, scheint wie aus<br />

dem Nichts auf eine Theaterbühne zu treten<br />

und dort mehr oder minder willkürlich<br />

Texte zu deklamieren. Darin geht es<br />

um das Verhältnis zwischen Mensch und<br />

Biene, um Tretbootfahrten oder Schleimhautentzündungen<br />

aufgrund von Zugluft<br />

in Orchestergräben. Ihren Gesprächspartnern<br />

begegnen die Figuren meist mit<br />

Spott oder Desinteresse – zu sehr sind sie<br />

von ihrer eigenen Innenwelt absorbiert.<br />

Einzig der Logistiker genießt ungeteilte<br />

Aufmerksamkeit: Der 27-Jährige ist<br />

von Schlaflosigkeit befallen und dient der<br />

Runde als Sensationslieferant. Aufgrund<br />

seiner hartnäckigen Insomnie sind ihm<br />

alle Selbstverständlichkeiten im Leben<br />

abhandengekommen: Er kann sich nicht<br />

mehr von Außeneindrücken distanzieren<br />

und fühlt sich in jede Fernseh- und<br />

Radioszenerie selbst mit hineingesogen.<br />

Mit fortschreitendem Schlafdefizit halluziniert<br />

er von Flüchtlingen, die ihm folgen,<br />

die gar seine Wohnung bevölkern,<br />

bis er zu einem radikalen Mittel greift.<br />

Es scheint, als wollten die übrigen<br />

Diskussionsteilnehmer dem Logistiker<br />

nacheifern: Der Journalist betont, dass<br />

er darüber nachgedacht habe, versuchsweise<br />

eine seiner Fingerkuppen am Verputz<br />

aufzurauen, weil die Flüchtlinge<br />

ihre Fingerkuppen abschleifen, um nicht<br />

identifizierbar zu sein. A. L. Erika wiederum<br />

fantasiert sich im Supermarkt eine<br />

Flüchtlingsvergangenheit für den mexikanischen<br />

Kassierer zurecht: „Ich hatte<br />

mir seinen Körper vorgestellt, wie er sich<br />

bei Mexicali über die Grenze bewegte,<br />

klandestin und gefährdet … Es hatte<br />

mich gereizt, auf diese Weise über seinen<br />

Körper zu verfügen.“<br />

Die Flüchtlingsthematik ist hier jedoch<br />

nur eine von vielen – bald füllt sich<br />

der Raum wieder mit Banalitäten. Die<br />

mal zwei Zeilen, dann wieder vier Seiten<br />

langen Monologe der Figuren sind<br />

unverbunden aneinandergereiht, eine<br />

Handlung oder einen roten Faden gibt es<br />

nicht. Die Struktur des Romans spiegelt<br />

die fehlgehende Kommunikation seiner<br />

Protagonisten wider, deren Unfähigkeit,<br />

der eigenen Selbstbespiegelungslust wenigstens<br />

temporär eine Absage zu erteilen.<br />

Elmigers Figuren sind Vollzeitschattenboxer,<br />

getrieben von einem diffusen<br />

Leiden an sich selbst. Die historischen<br />

Schlafgänger sind ihnen genauso fern<br />

wie die gegenwärtigen Flüchtlinge: Man<br />

spricht über sie, nicht mit ihnen. Die Erzählungen<br />

des Logistikers signalisieren<br />

da nur ein zeitweiliges Erregungsgefühl,<br />

keine Erschütterung. Dieser Diskurs<br />

findet im vertrauten Umfeld studierter<br />

Wohlstandsbürger statt, in einer Komfortzone,<br />

in der die Flüchtlinge gesichtslos<br />

werden. Wie seine Hauptfiguren tritt<br />

auch der Roman selbst gespensterhaft auf<br />

die Bühne, trägt seinen Text vor und verschwindet<br />

dann, ohne Spuren zu hinterlassen.<br />

Dana Buchzik<br />

Dorothee Elmiger<br />

„Schlafgänger“<br />

DuMont, Köln 2014. 142 S., 18 €<br />

Philosophie<br />

Du musst kein<br />

Schwein sein<br />

Aaron James findet eine<br />

leichtfüßige Theorie für den<br />

Rüpel und Widerling an sich<br />

Er ist zumeist männlich, hat ein großes<br />

Mundwerk und stellt eine weitverbreitete<br />

Gattung in der Geschichte<br />

der menschlichen Spezies dar:<br />

das – sagen wir es unverblümt – Arschloch.<br />

Es drängelt auf der Autobahn, klopft<br />

Machosprüche oder kassiert als skrupelloser<br />

Manager Millionen. Gut, dass angesichts<br />

dessen pöbelnder Allgegenwart<br />

nun eine systematische Untersuchung<br />

des respektlosen Scheusals vorliegt. In<br />

„Arschlöcher – eine Theorie“ fühlt der<br />

an der University of California in Irvine<br />

Politische Philosophie lehrende Aaron<br />

James all den Berlusconis, Putins und<br />

Bohlens – um nur einige seiner Vorzeigerüpel<br />

zu erwähnen – auf den Zahn.<br />

Wie es sich gehört, beginnt die Studie<br />

mit einer Definition ihres Gegenstands:<br />

„Ein Mensch gehört zur Gattung Arschloch,<br />

wenn (…) er sich in Beziehungen<br />

zu anderen Menschen systematisch Freiheiten<br />

herausnimmt, die einem tief verwurzelten<br />

Anspruchsdenken entspringen,<br />

das ihn für die Einwände anderer<br />

unempfänglich macht.“ So weit, so gut.<br />

Auf einen humoristischen Klassifikationsparcours<br />

zwischen Mario Barth,<br />

Darwin’scher Artenbestimmung und viel<br />

Klatsch und Tratsch folgt eine umfangreiche<br />

Typologie des marktschreierischen<br />

Widerlings: Da ist zum Beispiel Oliver<br />

Pocher, der Mariah Carey in einer Talkshow<br />

als „Presswurst“ betitelte. Als Musterexemplar<br />

eines arroganten Fieslings<br />

gilt James hingegen der Biologe Richard<br />

Dawkins – setzt er doch den Glauben<br />

pauschal mit kollektiver Idiotie gleich.<br />

Nicht besser halten es Präsidenten<br />

mit eingebautem Vorfahrtssignal. Man<br />

denke an den „Bunga-Bunga“-Politganoven<br />

Berlusconi oder an Mahmud Ahmadinedschad,<br />

die beide UN-Vollversammlungen<br />

nutzten, um ihr ideologisches<br />

Schießpulver auf die westlichen Wohlstandsgesellschaften<br />

abzufeuern.<br />

128<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Jeder bekommt sein Fett ab. Doch<br />

wozu ein solches Buch? Im zweiten Teil<br />

wird die grundsätzliche Dimension sichtbar.<br />

Wie Harry G. Frankfurts „On Bullshit“<br />

oder der filmische Kassenschlager<br />

„Fack ju Göhte“ von Bora Dagtekin verhandelt<br />

James im Mantel des Ordinären<br />

die Herausforderungen gesellschaftlicher<br />

Dekadenz. Um Philosophie einem großen<br />

Publikum mundgerecht zuzubereiten,<br />

werden Show und Geist leichtfüßig<br />

aufeinander bezogen. Jenseits der seichten<br />

Wortkaskaden erweist sich der Autor<br />

als souveräner Jongleur aktueller<br />

Diskurse. Die Fragen, wie die Arschloch-<br />

Mentalität entsteht, die im Grunde eine<br />

Chiffre für allgemeinen Sittenverfall sei,<br />

und wie der einzelne Pöbelknabe moralisch<br />

zu bewerten ist, dienten James dazu,<br />

gekonnt Seitenwege zu den wichtigen<br />

Debatten um Willensfreiheit, Biologismus<br />

und Schuldfähigkeit einzuschlagen.<br />

Vor allem das Kapitel zur systemischen<br />

Analyse gibt den Flapsigkeiten<br />

Substanz. James arbeitet konzentriert<br />

heraus, wie der gegenwärtige Kapitalismus<br />

durch ein falsches Anreiz- und Bonussystem<br />

massenhaften Egoismus und<br />

damit das erwähnte „Anspruchsdenken“<br />

generiert, und zeigt „Eindämmungsmechanismen“<br />

auf. Den Freiheitsgedanken<br />

dieser Wirtschaftsordnung vermag demnach<br />

nur ein Bekenntnis zu den Werten<br />

und deren Institutionen zu retten. Neben<br />

einem erneuerten religiösen Bewusstsein<br />

fordert James mehr Engagement für Familien.<br />

Sie vermittelten „soziale Tugenden“,<br />

Vertrauen und Respekt.<br />

Wie aber soll sich der Einzelne verhalten?<br />

Ihm sei eine stoische Akzeptanz<br />

des menschlichen Makels geraten. Weder<br />

Krieg noch Resignation helfen im Umgang<br />

mit den Radaubrüdern. Selbst wenn<br />

diese Lösungen ein wenig an Glückskeksweisheiten<br />

erinnern, skizziert das Buch<br />

plausibel und nonchalant, wie Mensch<br />

und Gemeinschaft zu dem wurden, was<br />

sie sind. Vielleicht mag das helfen, die<br />

„Arschloch-Nettoproduktion“ künftig ein<br />

wenig zu mindern. Björn Hayer<br />

Aaron James<br />

„Arschlöcher – eine Theorie“<br />

Riemann, München 2014. 288 S., 17,99 €<br />

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Jugendroman<br />

Jeden Tag ein<br />

neues Leben<br />

David Levithan erzählt von<br />

einer Liebesgeschichte im<br />

Ausnahmezustand<br />

Wer gerade 16 <strong>Jahre</strong> alt ist, hat<br />

es nicht leicht – die Zeit der<br />

Identitätsfindung ist für niemanden<br />

ein Zuckerschlecken. Und doch<br />

ist sie nichts im Vergleich zu dem, was<br />

A., die Hauptfigur aus David Levithans<br />

gerade auf Deutsch erschienenem Jugendroman<br />

„Letztendlich sind wir dem<br />

Universum egal“, jeden Tag erlebt. Er –<br />

oder sie? – hat bei der Geburt keinen eigenen<br />

Körper abbekommen, so die verblüffende<br />

Grundidee des preisgekrönten<br />

Autors. Zum 5994sten Mal wacht er zu<br />

Beginn des Buches deshalb in einem<br />

anderen Körper, einem anderen Leben<br />

auf. Schnell kommt er über „Abfragen“<br />

an wesentliche Informationen: Namen,<br />

Geschlecht, Hautfarbe, Ort, Allergien,<br />

Vorgeschichte. Doch dann muss er sich<br />

blitzschnell im konkreten Umfeld und<br />

jeweiligen Gefühlsleben zurechtfinden.<br />

Und das an jedem Tag seines Lebens.<br />

Als Kind wäre er manchmal gern geblieben,<br />

schrie, wenn die Eltern dieses<br />

Tages am Abend das Licht ausmachten.<br />

Denn im Schlaf, das wusste er, verließ er<br />

diese Familie wieder, wachte am nächsten<br />

Tag in einer anderen auf. Inzwischen<br />

hat er sich abgefunden mit seinem außergewöhnlichen<br />

Dasein und versucht, im<br />

Leben der anderen keinen Schaden anzurichten,<br />

auch wenn er sie, wie am ersten<br />

Morgen des Buches, nicht mag. Justin<br />

wird er heute heißen, im Körper eines<br />

ruppigen und egozentrischen Schülers<br />

stecken, in dessen Zimmer mehr Videospiele<br />

als Bücher herumliegen. Solche Typen<br />

kennt er zur Genüge, das wird wohl<br />

kein guter Tag. Doch hier irrt A.: Dieser<br />

Tag wird alles ändern. Denn er trifft<br />

Justins Freundin Rihannon und verliebt<br />

sich in sie.<br />

Hier beginnt eine der ungewöhnlichsten<br />

Liebesgeschichten der Jugendliteratur.<br />

Wie kann ich jemanden wiedersehen,<br />

wenn ich jeden Tag an einem<br />

130<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014<br />

anderen Ort aufwache? Wie kann ich<br />

eine Beziehung aufbauen, wenn ich selbst<br />

jeden Tag in einem anderen Körper lebe?<br />

Mal schwarz, mal weiß, mal Junge, mal<br />

Mädchen, mal superattraktiv, mal fettleibig?<br />

Für all dies findet der Autor verblüffende<br />

Antworten. Am überraschendsten<br />

dabei ist, dass A. jenseits aller ständig<br />

wechselnden Äußerlichkeiten als Persönlichkeit<br />

sichtbar und liebenswert wird,<br />

nicht nur für Rihannon, sondern auch für<br />

die Leser. So ist dies Buch ein spannender<br />

und unterhaltsamer Crashkurs in Sachen<br />

Empathie und Toleranz. A. ist es egal, ob<br />

er schwul oder hetero ist, männlich oder<br />

weiblich, arm oder reich. Da er das alles<br />

schon von innen erlebt hat, weiß er<br />

um das Verbindende allen Lebens – auch<br />

ohne eigene äußere Attribute ist er ganz<br />

er selbst. Oder sie.<br />

Dieses furiose Buch stellt all die<br />

sorgfältig gepflegten Unterschiede infrage,<br />

mit deren Hilfe wir uns definieren.<br />

A. kann nur deshalb sein Leben bewältigen,<br />

weil genau diese Unterschiede, so<br />

nimmt er es wahr, nicht mehr als 2 Prozent<br />

unseres Menschseins ausmachen.<br />

Das Verbindende verpflichtet uns dazu,<br />

uns umeinander zu kümmern, besonders,<br />

da wir dem Universum egal sind. Das alles<br />

klingt recht philosophisch, und das ist<br />

es auch. Doch motivieren sich die Überlegungen<br />

zwanglos aus dem Gang der Ereignisse<br />

und aus der Vielfalt der involvierten<br />

Personen.<br />

Ganz nebenbei ändert sich während<br />

der Lektüre aber auch der Blick auf<br />

das eigene Leben. Welcher Jugendliche<br />

möchte nicht irgendwann jemand anders<br />

sein, wünscht sich nicht hin und wieder<br />

andere Eltern? Welches Privileg es jedoch<br />

ist, eine Geschichte zu haben, einen<br />

Namen, Erinnerungen und die Möglichkeit,<br />

sich für den nächsten Tag zu verabreden,<br />

darüber bringt uns dieses Buch<br />

zum Nachdenken.<br />

Am Schluss, dies als Warnung, gibt<br />

es kein Happy End für das junge Liebespaar.<br />

Nur eine Hoffnung auf den zweiten<br />

Band.<br />

Britta Sebens<br />

David Levithan<br />

„Letztendlich sind wir dem<br />

Universum egal“<br />

Aus dem Amerikanischen von Martina Tichy.<br />

S. Fischer FJB, Frankfurt a. M. 2014. 394 S., 16,99 €


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SALON<br />

Bibliotheksporträt<br />

DENN DIESES ICH<br />

SIND SEHR VIELE<br />

Der Rezitator und Schriftsteller Gert Heidenreich lernte aus<br />

Büchern die Grammatik des Verlusts und der Liebe. In seinem<br />

Haus am Ammersee überwintern Träume<br />

Von EVA GESINE BAUR<br />

Wir haben eine Kanne Tee leer getrunken. Da sagt er mit seinem Gandhi-Lächeln<br />

in die Regale: „Ich war das unheimliche Kind einer unheimlichen<br />

Welt.“ Ein Kind, das während eines Bombenhagels in die Welt geholt<br />

wurde, „von einer mit Branntwein besoffenen Hebamme“. Das mit vier in<br />

der Flüchtlingsvilla im hessischen Großzimmern stand und sagte: „Ich will<br />

nach Afrika.“ Ein Kind, das mit elf seine ersten Theaterstücke schrieb, in<br />

Versen. Ein Kind, das alles Düstere mochte, sich schuld daran fühlte, dass<br />

den Eltern die Liebe abhandengekommen war, und sich zurückzog in Bücherwelten.<br />

Ein unheimisches Kind, ohne Heimat.<br />

Über dem Klappbett hatte er drei Fächer für Bücher. 50 <strong>Jahre</strong> nach seiner<br />

Geburt schrieb Gert Heidenreich „Das Buch ist die Heimat der Phantasie“.<br />

Und 69 <strong>Jahre</strong> nach seiner Geburt eine Erzählung über „Die andere<br />

Heimat“. Nicht seine, sondern die von Regisseur Edgar Reitz, mit dem er<br />

das Drehbuch des gleichnamigen Filmes über ein Dorf im Hunsrück schrieb.<br />

Beide erhielten den Bayerischen Filmpreis 2014.<br />

Die Bibliothek im zugewucherten Haus ist kühl. Seit 30 <strong>Jahre</strong>n lebt Heidenreich<br />

hier im Hinterland des Ammersees in Oberbayern. Vier Wochen<br />

war das Haus unbewohnt. In der Nacht ist er aus dem Urlaub zurückgekehrt,<br />

den er mit Frau und Sohn dort im eigenen Haus verbracht hat.<br />

Zuletzt hat er also am Drehbuch eines Spielfilms mitgearbeitet. „Es war<br />

ein neues und heftiges Erlebnis“, sagt er. Die einzige Erscheinungsform von<br />

Sprache, die er noch nicht ausprobiert hatte. Die anderen übte er so intensiv,<br />

dass jeder meint, er müsse jeweils nur darin zu Hause sein. „Die meisten<br />

halten mich für viele“, sagt er. Die meisten kriegen nicht zusammen, dass<br />

es da einen Journalisten und einen Dramatiker, einen Essayisten und einen<br />

Romancier, einen fabelhaften Sprecher, einen Lyriker und einen Krimiautor<br />

gibt, die alle Gert Heidenreich heißen, alle 1944 in Eberswalde geboren<br />

worden sind. Und zweieinhalb Meter im Bücherregal füllen.<br />

Fichtenholzregale bis unter den Giebel. Die Bücher lax geordnet. „Nur<br />

nach Anfangsbuchstaben. Horvath kann vor Hegel stehen. Aber ich finde alles.“<br />

Über dem Fenster hängen selbst gemalte Bilder. Auf dem Tisch liegen<br />

133<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


die neuen CDs mit Endes „Momo“, daneben das „Heimat“-Buch. Doch ihr<br />

Macher sagt: „Ich bin aus der Zeit geraten. Wie Jakob, der Träumer.“ Die<br />

Hauptfigur des Reitz-Filmes. Anders als dessen Bruder, der Tatendurstige,<br />

lebt Jakob nur in seiner Fantasie und seinen Büchern. „Ohne Träume“, sagt<br />

Heidenreich, „kann der Mensch nicht leben. Er muss wissen, wie Hoffnung<br />

geht.“<br />

Früh lernte das Flüchtlingskind, wohin es fliehen konnte. Er lernte es<br />

von seiner Lehrerin in der Volksschule, Fräulein Ott, „weißer Knoten, weißer<br />

Schnurrbart und glühend begeistert fürs Buch“. Und von seiner Mutter,<br />

einer Lehrerin für Deutsch, Biologie und Religion. „Die hat im Gymnasium<br />

den Urfaust inszeniert.“ Später die „Antigone“ des Sophokles. „Nur in der<br />

Literatur wird die Erfahrung der Menschheit bewahrt. Nur das Lesen bereitet<br />

vor auf Verlust und Liebe, auf Angst und Neid“, sagt Heidenreich.<br />

Gert, der Träumer, entführte schon als Gymnasiast in Darmstadt andere<br />

in seine Reiche. „Wenn ich Goethes ‚Prometheus‘ vorgetragen habe, haben<br />

die anderen gesagt: Der kann das so, dass du glaubst, er wäre Prometheus.“<br />

Mit der Wirklichkeit ist der Träumer oft kollidiert. Durch die Aufnahmeprüfung<br />

zur Sprecherausbildung fiel er durch. Dass er dennoch zu einem<br />

der begehrtesten Sprecher im Lande wurde, verdanke er Robert Michal<br />

beim Bayerischen Rundfunk. Beim ersten Lesen nach hartem Training unterbrach<br />

ihn Michal, bevor er ein Wort gesprochen hatte. „Aber ich habe<br />

doch noch gar nichts gesagt“, protestierte Gert Heidenreich. „Du hast falsch<br />

geatmet.“ Sprechen ist Kunst, die Schwerstarbeit erfordert, damit sie leicht<br />

daherkommt. Vier Wochen hat er sich vorbereitet, Ecos „Der Name der<br />

Rose“ einzulesen. Und dann in zehn Tagen eingespielt, in denen er lebte<br />

„wie ein Hochleistungssportler“.<br />

Später flog er beim BR hinaus, als ein williger Aufräumer entfernte,<br />

was Franz Josef Strauß „rote Giftspritzer“ nannte. Damals, Ende der Siebziger,<br />

hatte er sich längst daran gewöhnt, an keinem Ort heimisch zu sein.<br />

Auch wenn das Schicksal ihn dazu nötigen will. „Ich bin einen Tag nach<br />

dem Abitur aus Darmstadt abgehauen. Aber als PEN-Präsident musste ich<br />

ständig wieder dorthin. Da wurde es mir immer fremder.“ Im Jahr 2000 erschienen<br />

Erzählungen von ihm unter dem Titel: „Der Mann, der nicht ankommen<br />

konnte“. Dass der Mann dahinter es nimmermüde versucht, macht<br />

Gert Heidenreichs Bücher zu einer Weltreise für seine Leser.<br />

Er führt sie in die Nähe seines normannischen Hauses in „Die Steinesammlerin<br />

von Etretat“, führt sie durch sein Paris, sein München in „Abschied<br />

von Newton“, führt in seine innere Heimat, in der er schweigsam<br />

lebte nach dem Tod seines 17-jährigen Sohnes Johannes, mit den Gedichten<br />

„Im Augenlicht“. In seinem Wüstenroman „Belial oder die Stille“ landete<br />

er dort, wo er mit vier <strong>Jahre</strong>n hingewollt hatte, Afrika.<br />

Auf dem Tisch liegt sein Tablet, ohne das er nicht reist. „Der ganze Hölderlin<br />

drauf und der ganze Rilke.“ Heimat, tragbar.<br />

EVA GESINE BAUR hat soeben „Mozart. Genius und Eros“ ( Beck ) veröffentlicht<br />

134<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014<br />

Foto: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong>


SALON<br />

136<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


Foto: Jens Gyarmaty/VISUM [M]<br />

Die letzten 24 Stunden<br />

In der Pampa<br />

hoch zu Pferd,<br />

glückstrunken<br />

im Theater<br />

HORTENSIA<br />

VÖLCKERS<br />

Hortensia Völckers<br />

Die Kunsthistorikerin arbeitete<br />

als Kuratorin für Tanz und<br />

Bildende Kunst, war Intendantin<br />

der Wiener Festwochen und ist<br />

seit 2002 künstlerische Direktorin<br />

der Kulturstiftung des Bundes<br />

Man lebt nur einmal, heißt<br />

es, deshalb stirbt man<br />

auch nur einmal. Trotzdem<br />

kann ich mich nicht<br />

zwischen zwei Szenarien<br />

entscheiden, wie ich meine letzten<br />

24 Stunden vor mir sehe. Das hat gewiss<br />

etwas mit meiner gesamten Existenz zu<br />

tun, die sich zwischen zwei Kontinenten<br />

abspielt und in der sich die elementare<br />

Erfahrung der Natur ebenso nachdrücklich<br />

spiegelt wie die der Kultur.<br />

Ich wurde in Buenos Aires geboren.<br />

Als Kind habe ich die mehrmonatigen<br />

Sommerferien oft im Norden verbracht,<br />

rund vier Autostunden entfernt von der<br />

Hauptstadt. In der Pampa ist die Landschaft<br />

völlig flach, der Himmel meist blau<br />

und das Licht immer sehr besonders. Wie<br />

alle saß ich andauernd auf dem Pferd,<br />

und das würde ich vor meinem Tod wieder<br />

so machen, ohne Sattel, bloß mit einem<br />

Schafsfell als Unterlage.<br />

Der Tag wird nicht einsam, aber in<br />

Stille verlaufen, weil die Menschen, die<br />

dort leben, höchstens das Notwendigste<br />

reden. Ihre Pferde sind gutmütige Arbeitstiere<br />

und helfen dabei, die Kuhherden<br />

zusammenzuhalten oder anzutreiben.<br />

Man steht um vier Uhr morgens auf,<br />

wenig später geht es los bis gegen Mittag,<br />

wenn es mit 40 Grad Celsius unerträglich<br />

heiß wird. Dann setzen sich alle unter die<br />

Bäume. Man grillt Fleisch, trinkt Matetee,<br />

schweigt gemeinsam.<br />

Ist ein Fluss zu durchqueren,<br />

schwimmt man mit den Pferden an das<br />

andere Ufer, indem man absteigt und<br />

sich an ihrem Schwanz festhält. In der<br />

Hitze trocknen Mensch und Tier schnell<br />

und reiten weiter, Stunde um Stunde. Es<br />

ist eine ziemlich kontemplative Tätigkeit.<br />

Ich stelle mir vor, dass ich einfach<br />

nicht aufhöre zu reiten, bis mein Pferd<br />

und ich, die wir beide schon alt sind, vor<br />

Erschöpfung zusammenbrechen, einschlafen<br />

und sterben. Wir haben all unsere<br />

Kräfte aufgebraucht und sind ohne<br />

Aufhebens in den Weiten der Landschaft<br />

verschwunden.<br />

Meine Mutter lebt noch in Argentinien,<br />

auch deswegen sind meine Beziehungen<br />

zu diesem Land nach wie<br />

vor eng. Weihnachten habe ich nie anderswo<br />

gefeiert. Das überrascht mich<br />

selbst, denn ich bin, Arbeitsstationen in<br />

New York und Wien ausgenommen, seit<br />

über 30 <strong>Jahre</strong>n in Deutschland daheim.<br />

Als Reverenz an die unzähligen tollen<br />

Stunden, die ich hier mit Kunst und Kultur<br />

privat wie beruflich verbracht habe,<br />

möchte ich aber auch gern in einem Theatersaal<br />

sterben.<br />

Ich würde die Zeit zurückdrehen<br />

und mir Jürgen Goschs grandiose Düsseldorfer<br />

Inszenierung von „Macbeth“<br />

wünschen, die 2006 zum Berliner Theatertreffen<br />

eingeladen wurde. Sämtliche<br />

Rollen wurden, wie einst bei Shakespeare<br />

üblich, nur von Männern gespielt,<br />

was zur Folge hatte, dass etwa Devid<br />

Striesow eine ganz reizende Lady Macbeth<br />

mit Faltenröckchen und Langhaarperücke<br />

zeigte.<br />

Bald waren alle nackt und übergossen<br />

sich mit Flaschen voller Blut, die<br />

deutlich sichtbar am Bühnenrand standen,<br />

mit Unmengen von Mousse au chocolat<br />

und sonstigem Zeug. Das alles hätte<br />

ekelhaft wirken können, tat es jedoch<br />

nicht, weil die Mittel ohne Täuschungsmanöver<br />

offengelegt und formal großartig<br />

eingesetzt waren. Wenn alle Zuschauer<br />

längst gegangen sind, würde ich<br />

allein im leeren Raum weiterklatschen,<br />

und der Kunst, die mir zeitlebens so viel<br />

Freude und Glück geschenkt hat, mit einem<br />

letzten Applaus danken. Bis dass der<br />

Tod uns scheidet.<br />

Aufgezeichnet von IRENE BAZINGER<br />

137<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


POSTSCRIPTUM<br />

N°-5<br />

MEHR DENKEN WAGEN!<br />

Es floh einmal eine fleißige Generation<br />

Adenauer mit gestärkten Hemden und<br />

imprägnierten Seelen ins Morgen, weil das<br />

Gestern so braun und böse war. Dann forderte<br />

eine kritische Generation Brandt mit<br />

wehendem Schopf und suchendem Herzen<br />

das Heute, schon weil das ihre Väter ärgerte.<br />

Sie wich der Mauerfall-Generation<br />

Kohl mit weitem Blick und praktischem<br />

Verstand, die kuschelte sich ins Gestern als<br />

Gemütlichkeitsecke für verlorene Identitäten.<br />

Doch was ist heute? Wankt da eine<br />

Generation Merkel im Fließgewand der<br />

Bewusstlosigkeit, ohne Gestern, Heute und<br />

Morgen? Zumindest prägen die Weißräume<br />

des Großkoalitionären die politische Kultur<br />

so stark, dass sich unser Land anfühlt wie<br />

eine Lounge der konfliktfreien Willenlosigkeit.<br />

Wie die Kanzlerin sich selbst, so<br />

definiert sich die Republik nicht mehr durch<br />

das, was sie ist und will, sondern nur noch<br />

durch das, was sie nicht ist und nicht will.<br />

Die Große Koalition avanciert damit<br />

nicht bloß zur langatmigen Regierungsformation,<br />

sie wird zur Signatur unserer Zeit.<br />

Vom Elternabend über das Ikea-Wohnzimmer<br />

bis zum Parteitag wollen sich alle am<br />

liebsten auf einem Quadratmillimeter politisch<br />

korrekter Mitte treffen. Das öffentliche<br />

Streiten ist einem permanenten Koalitionsgespräch<br />

gewichen. Medien setzen<br />

dazu seltsame Prioritäten, die die kritische<br />

Intelligenz immer geringer schätzt, die affirmative<br />

höher und die inszenatorische am<br />

höchsten. Dereinst tobte sogar ein Kampf<br />

um Argumente, woraufhin Politiker, Journalisten,<br />

Staatsbürger über Inhalte Feinde<br />

werden konnten. Vorbei. Heute wollen wir<br />

einander nur lässig gefallen. Entspannung<br />

ist wichtiger als Entdeckung. Das ist nicht<br />

bloß Possierlichkeit der Postmoderne, es ist<br />

der Triumph des Opportunistischen über<br />

die Wahrheit. Wenn aber das Kleid des<br />

Großkoalitionären alles umschmeichelt,<br />

darf man sich dann wundern, dass Politik<br />

wie Medien eine Glaubwürdigkeitskrise<br />

durchleiden? Die Menschen durchschauen<br />

das schillernde Grokokleid als lichtes<br />

Nachthemd.<br />

Das war eine Motivation, als wir vor<br />

zehn <strong>Jahre</strong>n mit <strong>Cicero</strong> Opposition machten.<br />

Opposition nicht gegen Parteien und<br />

Regenten, sondern gegen die Uniformität<br />

des Denkens, gegen die Deformation des<br />

Politischen zum Treibholz der Geschichte.<br />

<strong>Cicero</strong> lud ein zum Wettbewerb der Ideen<br />

und Haltungen. Die Überzeugten und<br />

Überzeugenden haben uns interessiert.<br />

Umso schöner ist es, dass <strong>Cicero</strong> in diesen<br />

zehn <strong>Jahre</strong>n autonomes Denken riskiert<br />

hat und mit einer altmodischen Suche nach<br />

Wahrheit die Supernanny der geistigen<br />

Konformität immer mal wieder auf andere<br />

Gedanken gebracht hat.<br />

WOLFRAM WEIMER<br />

gründete <strong>Cicero</strong> und war von 2004<br />

bis 20<strong>10</strong> Chefredakteur. Heute ist er<br />

Verleger der Weimer Media Group.<br />

Anlässlich des Jubiläums schließt er<br />

diese Ausgabe ab<br />

DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 22. MAI<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

138<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014


hermès. ein neues zeitverständnis.<br />

arceau le temps suspendu<br />

einen augenblick lang die zeit vergessen, um sie ihrem tempo anzupassen:<br />

anhand eines drückers können sie auf wunsch die stunden und minuten verschwinden lassen,<br />

während der sekundenzeiger unermüdlich seinem rasanten lauf folgt. dank einer<br />

exklusiven hauseigenen komplikation, verbirgt die schöne illusion den unbehelligt fortgesetzten<br />

gang des uhrwerks. durch einen weiteren fingerdruck wird die zeit erneut angezeigt.<br />

Informationen unter: 089 55 21 53 0<br />

HERMES.COM

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