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Nº05<br />
MAI<br />
2014<br />
€ 8.50<br />
CHF 13<br />
Das Beste kommt noch<br />
Zehn gute Gründe,<br />
warum Europa<br />
eine goldene Zukunft hat<br />
Das Jubiläumsheft<br />
mit Beiträgen von Michael<br />
Ringier, Wolfram Weimer und<br />
Michael Naumann<br />
Ihr seid die Besten!<br />
Deutschlands Bosse<br />
danken ihren<br />
Arbeitnehmern<br />
Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €<br />
Spanien: 9.50 €, Finnland: 12.80 €<br />
05<br />
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ATTICUS<br />
N°-5<br />
DIE MEISTERLEISTUNG<br />
Illustration: Anja Stiehler/ Jutta Fricke Illustrators<br />
Am Anfang des modernen Europas<br />
stand ein Mord. Nachdem der serbische<br />
Nationalist Gavrilo Princip den österreichischen<br />
Thronfolger Herzog Franz<br />
Ferdinand und dessen Frau am 28. Juni<br />
1914 in Sarajevo erschossen hatte, entschlossen<br />
sich die Fürsten und Premiers<br />
des alten Kontinents zum Krieg aller gegen<br />
alle. Sie und ihre Bürger waren – in<br />
den Worten Thomas Manns – „friedenssatt“.<br />
Der folgende Weltkrieg endete nach<br />
<strong>Jahre</strong>n des diplomatischen, tribalistischen<br />
und ideologischen Wahnsinns im Grunde<br />
genommen erst mit der deutschen Niederlage<br />
im Mai 1945. Über <strong>10</strong>0 Millionen<br />
Tote und Invaliden fielen dem bewaffneten<br />
Nationalismus, dem imperialistischen,<br />
rassistischen und totalitären Größenwahn<br />
des Kontinents zum Opfer. Deutschlands<br />
historische Verantwortungslast ist in den<br />
Nachbarstaaten unvergessen. Seine Politiker,<br />
die in diesen Tagen nach einem europäischen<br />
„Narrativ“ fahnden, können<br />
jederzeit auf den Tausenden Soldatenfriedhöfen<br />
zwischen Moskau und Sizilien mit<br />
der Suche beginnen.<br />
Doch der Hinweis auf die politische<br />
Meisterleistung der Europäischen Union,<br />
über ein halbes Jahrhundert hinweg den<br />
europäischen Frieden in wachsendem<br />
Wohlstand bewahrt zu haben, verschlägt<br />
bei vielen deutschen Wählern nicht mehr.<br />
Die Verfassungsrichter in Karlsruhe fürchten<br />
um Kompetenzverluste zum Vorteil<br />
des Europäischen Gerichtshofs. Die Abgeordneten<br />
im Bundestag warnen vor einer<br />
Verletzung ihrer Budgethoheit. Die Bundesbank<br />
trauert ihrer verlorenen Machtstellung<br />
nach. Die populistischen Euroskeptiker<br />
mobilisieren die deutsche<br />
Inflationsangst. Dass das Europaparlament<br />
( Porträt seines Präsidenten Martin Schulz<br />
ab Seite 62 ) inzwischen mit dem Lissabon-<br />
Vertrag zahlreiche neue, demokratisch legitimierte<br />
Mitbestimmungsrechte behauptet,<br />
ist mehr oder weniger unbekannt. Die meisten<br />
Bürger sind „europasatt“.<br />
Die Staatsidee der Bundesrepublik<br />
setzt sich zusammen aus sozialer Wohlstandssicherung,<br />
Rechtsstaatlichkeit<br />
und Wachstumspolitik. Das reicht aber<br />
nicht. Die Europäische Union hat mehr<br />
anzu bieten: die Freiheit ihrer Bürger,<br />
die nicht mehr an Landesgrenzen endet<br />
( zehn Gründe, warum Europa eine goldene<br />
Zukunft hat ab Seite 22 ). Nur eines<br />
findet sich nicht in ihren bisweilen lästigen<br />
Vorschriftskatalogen – das Recht auf<br />
Vergesslichkeit, auf engstirnige Verdrängung<br />
ihrer eigenen Herkunft aus Mord<br />
und Totschlag. Das moderne Europa ist<br />
ein Glücksfall der Geschichte. Wer sie<br />
nicht kennt, wird im Pech landen.<br />
Mit besten Grüßen<br />
MICHAEL NAUMANN<br />
war von 20<strong>10</strong> bis 2012 Chefredakteur von<br />
<strong>Cicero</strong> und führt anlässlich des Jubiläums<br />
in diese Ausgabe ein. Der ehemalige<br />
Kulturstaatsminister ist heute Direktor der<br />
Barenboim-Said-Akademie<br />
3<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
INHALT<br />
TITELTHEMA<br />
14<br />
DAS JUBILÄUM<br />
Vor zehn <strong>Jahre</strong>n erschien<br />
<strong>Cicero</strong> zum ersten Mal. Mit dem<br />
Magazin für politische Kultur<br />
wurde ein neues Genre in<br />
Deutschland etabliert. Verleger<br />
Michael Ringier denkt auf<br />
den Jubiläumsseiten über die<br />
Zukunft des Journalismus nach.<br />
Atticus und Postscriptum<br />
schreiben die zwei ehemaligen<br />
Chefredakteure Michael<br />
Naumann und Wolfram Weimer<br />
03<br />
MICHAEL NAUMANN<br />
Europa hat mehr zu<br />
bieten als die Bundesrepublik:<br />
Nicht nur<br />
Frieden, sondern Freiheit<br />
über Grenzen hinweg<br />
Illustration: Martin Haake<br />
22<br />
ZEHN GRÜNDE, WARUM EUROPA<br />
EINE GOLDENE ZUKUNFT HAT<br />
Am 25. Mai ist Europawahl, und die EU-Skeptiker<br />
dürften an Zustimmung gewinnen. Eine gute<br />
Gelegenheit, um die Vorzüge und Errungenschaften<br />
unserer europäischen Gemeinschaft zu würdigen<br />
24 01. FRIEDEN – Von JANUSZ REITER<br />
26 02. LANDSCHAFTEN – Von WOLFGANG BÜSCHER<br />
27 03. WOHLSTAND – Von ALAIN MINC<br />
28 04. EINFALLSREICHTUM – Von BENOÎT BATTISTELLI<br />
30 05. DEMOKRATIE – Von KAREL HVÍŽĎALA<br />
32 06. KULTUR – Von CHRISTOPH STÖLZL<br />
33 07. KÜCHE – Von JUAN AMADOR<br />
34 08. RECHT UND ORDNUNG – Von RUPERT SCHOLZ<br />
36 09. BENUTZERFREUNDLICHKEIT – Von GÜNTER VERHEUGEN<br />
38 <strong>10</strong>. JUGEND – Von JANNE TELLER<br />
14<br />
MARKUS C. HUREK<br />
Von den ersten Ideen<br />
bis zum Bundes verfassungsgericht:<br />
Kleine<br />
Gründungs geschichte<br />
eines politischen Magazins<br />
20<br />
MICHAEL RINGIER<br />
Die digitale Euphorie hat<br />
viele Journalisten<br />
verunsichert. Grundlos,<br />
denn das gedruckte Wort<br />
hat seinen Wert<br />
138<br />
WOLFRAM WEIMER<br />
In einer Zeit, in der der<br />
Opportunismus<br />
triumphiert, lädt<br />
<strong>Cicero</strong> zum autonomen<br />
Denken ein<br />
5<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />
40 DIE GUMMISOHLEN DER MACHT<br />
Reinhard Kardinal Marx verfügt über<br />
ein effektives Instrumentarium<br />
Von SOPHIE DANNENBERG<br />
42 POLITIK MACHT LANGWEILIG<br />
Drei <strong>Jahre</strong> als Baden-Württembergs<br />
Integrationsministerin haben<br />
Bilkay Öney gezeichnet<br />
Von GEORG LÖWISCH<br />
44 DAS SCHLÜSSELKIND<br />
Jacob Appelbaum ist der Mann,<br />
der in Snowdens Daten Merkels<br />
Handynummer fand<br />
Von PETRA SORGE<br />
47 FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />
… ob Individualisten in<br />
Gruppen reisen sollten<br />
Von AMELIE FRIED<br />
48 IN PUTINS BURG<br />
Ukrainekrise? In der russischen<br />
Botschaft speist man „Hering<br />
unterm Pelzmantel“<br />
Von WERNER SONNE<br />
52 SMOG RAUBT DIE SICHT<br />
Alles wissen, nichts verstehen: Das<br />
ist die Formel der Netz-News<br />
Von FRANK A. MEYER<br />
54 SALZ, SONNE UND MEER<br />
Die Grünen brauchen ein<br />
Freiheitskonzept, das an<br />
Albert Camus anknüpft<br />
Von FRANZISKA BRANTNER und<br />
ROBERT HABECK<br />
44<br />
Jacob Appelbaum, Gesicht der<br />
digitalen Bürgerrechtsbewegung<br />
58 DER UNHEIMLICHE HERR MODI<br />
Narendra Modi will Indien<br />
regieren. Wenn da nur nicht seine<br />
dunkle Vergangenheit wäre<br />
Von BRITTA PETERSEN<br />
60 „ICH WOLLTE DEN<br />
POSTEN NICHT“<br />
Hala Shukrallah ist die erste Frau,<br />
die in Ägypten einer Partei vorsteht<br />
Von JULIA GERLACH<br />
62 DER DOPPELTE SCHULZ<br />
Martin Schulz will Chef der EU-<br />
Kommission werden. Ist der<br />
Polterer dafür geeignet?<br />
Von CONSTANTIN MAGNIS<br />
66 TÖTEN FÜR DEN TERRORSTAAT<br />
Attentate im Irak, Massaker in<br />
Syrien, Autobomben im Libanon –<br />
Ableger des Terrornetzwerks Al<br />
Qaida sind aktiver denn je<br />
Von WILLIAM J. DOBSON<br />
70 PUTIN = HITLER?<br />
Ist der deutsche Einmarsch im<br />
Sudetenland vergleichbar mit der<br />
russischen Annektierung der Krim?<br />
Von PHILIPP BLOM<br />
72 DIE PRÄSIDENTENMACHER<br />
Das Duell in der Ukraine: Neben<br />
den Kandidaten spielen deren<br />
Berater eine entscheidende Rolle<br />
Von MORITZ GATHMANN<br />
76 MÖRDERISCHE MAUER<br />
An der Grenze zwischen Mexiko und<br />
den USA sterben täglich Menschen.<br />
Gleichzeitig blüht die Kultur<br />
Von STEFAN FALKE<br />
72<br />
Wer die Ukraine regieren will,<br />
braucht erst mal gewiefte Berater<br />
86 DIE WEGSEHERIN<br />
CSU-Politikerin Dagmar Wöhrl feiert<br />
sich als Helferin der Armen. Dabei<br />
arbeitet sie für eine Schweizer Bank,<br />
mit der Reiche den Staat schröpften<br />
Von TIL KNIPPER<br />
88 ADIDAS, PUMA, NIKE UND WIR<br />
Jochen und Mathias Mieg sind<br />
die Hersteller des Kultspiels Tipp-<br />
Kick, das ausgerechnet im WM-<br />
Jahr aus der Mode zu geraten droht<br />
Von BENNO STIEBER<br />
90 DANKE, LIEBE ARBEITERSCHAFT!<br />
Die Wirtschaft wächst und wächst,<br />
auch dank der Arbeitnehmer.<br />
Allerhöchste Zeit für eine<br />
Würdigung durch die Chefs –<br />
pünktlich zum 1. Mai<br />
Von MARGRET SUCKALE, DIRK ROSSMANN,<br />
NICOLA LEIBINGER-KAMMÜLLER,<br />
BURKHARD SCHWENKER, ANTON<br />
F. BÖRNER, MATTHIAS WISSMANN und<br />
WOLFGANG GRUPP<br />
90<br />
Nicola Leibinger-Kammüller<br />
baut Maschinen für die Welt<br />
Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong>, Thomas Bernhardt/VISUM; Illustration: Jens Bonnke<br />
6<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
STIL<br />
SALON<br />
CICERO<br />
STANDARDS<br />
Fotos: Langston Hues, Beowulf Sheehan/Corbis, privat<br />
96 SIE MACHT ES STIMMIG<br />
Wie viel zählt die Stimme?<br />
Luise Helm, Synchronsprecherin<br />
im Film „Her“, weiß es<br />
Von LENA BERGMANN<br />
98 SIE SPIELEN <br />
MIT KONFLIKTSTOFF<br />
Eine modehungrige Generation<br />
verschleierter Musliminnen<br />
interpretiert das Kopftuch neu<br />
Von KATHARINA PFANNKUCH<br />
<strong>10</strong>4 ECHT WOW!<br />
Joop – vom bissigen, belesenen<br />
Modedesigner zur Fernsehnase<br />
in Heidi Klums Zickenkrieg<br />
Von ANKE SCHIPP<br />
<strong>10</strong>6 „MERKEL FRISIERT<br />
SICH EINE KRONE“<br />
Steen T. Kittl ist Experte für Haare.<br />
Ein Interview über Powermähnen,<br />
Kopfformen und färbende Männer<br />
Von LENA BERGMANN<br />
<strong>10</strong>8 WARUM ICH TRAGE,<br />
WAS ICH TRAGE<br />
Als rauchender Vamp macht<br />
man ein Versprechen<br />
Von KATRIN BAUERFEIND<br />
98<br />
Alaa Elharezi aus Chicago trägt<br />
Konfliktstoff<br />
1<strong>10</strong> IHRE EPEN SIRREN KRAFTVOLL<br />
An einem ihrer vielschichtigen Romane<br />
schreibt Donna Tartt ein Jahrzehnt lang<br />
Von PETER HENNING<br />
112 HEY, WIDERSPRICH MIR DOCH<br />
Der Sänger Jan Delay ist ein<br />
Großmeister der Gegensätze<br />
Von THOMAS WINKLER<br />
114 „EIN ZIVILISATIONSBRUCH“<br />
Der Historiker Jörg Friedrich<br />
im Gespräch über die globale<br />
Dimension des Ersten Weltkriegs<br />
Von ALEXANDER KISSLER<br />
120 AM ANFANG WAR DER RAUB<br />
Die Fälle Gurlitt und<br />
Welfenschatz beleuchten die<br />
Zukunft der Museen<br />
Von BEAT WYSS<br />
122 DAS LEBEN IST EIN PONYKOPF<br />
Was ist los im Zoo von<br />
Kopenhagen? Ein Spaziergang <br />
unter Fleischfressern<br />
Von MARIE AMRHEIN<br />
126 LITERATUREN<br />
Bücher von Patricia Highsmith,<br />
Andreas Bernard, Dorothee Elmiger,<br />
Aaron James und David Levithan<br />
132 BIBLIOTHEKSPORTRÄT<br />
Der Sprecher und Schriftsteller Gert<br />
Heidenreich lernte aus Büchern<br />
die Grammatik der Liebe<br />
Von EVA GESINE BAUR<br />
136 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />
In der Pampa hoch zu Pferd<br />
Von HORTENSIA VÖLCKERS<br />
1<strong>10</strong><br />
Donna Tartt schrieb zehn <strong>Jahre</strong><br />
an dem Roman „Der Distelfink“<br />
03 ATTICUS<br />
Von MICHAEL NAUMANN<br />
08 STADTGESPRÄCH<br />
<strong>10</strong> FORUM<br />
12 IMPRESSUM<br />
138 POSTSCRIPTUM<br />
Von WOLFRAM WEIMER<br />
Der Künstler<br />
Eigentlich ist es eine<br />
Aufgabe zum Scheitern.<br />
Für unser Titelthema<br />
Europa baten wir den<br />
Berliner Künstler Martin<br />
Haake um die Illustration<br />
von zehn Begriffen, die<br />
teils so sperrig klingen wie<br />
Rechtsstaatlichkeit oder<br />
Benutzerfreundlichkeit.<br />
All das noch in Verbindung<br />
mit der EU! Unzählige<br />
Brüsseler Protagonisten<br />
mühen sich doch vergeblich<br />
seit Jahrzehnten<br />
damit ab, Europa fassbar,<br />
fühlbar, erfahrbar zu<br />
machen. Umso glücklicher<br />
waren wir, als uns Martin<br />
Haake seine Illustrationen<br />
schickte. Spielerisch und<br />
detailreich. Realistisch<br />
und dann wieder abstrakt.<br />
Zum Geheimnis seiner<br />
Arbeit gehört, dass er ins<br />
Zentrum seiner Collagen<br />
Menschen stellt. Um sie<br />
herum platziert er Farben<br />
und Ideen. Die EU sollte<br />
ihn anwerben: Martin<br />
Haake, Kommissar für ein<br />
sinnliches Europa.<br />
7<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
CICERO<br />
Stadtgespräch<br />
Ein Ehepaar übt Rollentausch, Herr Lindner lässt sich umwerben, ein<br />
CSU‐Minister spricht Klartext und Frau Merkel verblüfft Gesprächspartner<br />
Wuttke und Broich:<br />
Die Familie ermittelt<br />
Ehrungen:<br />
Liberaler Grünkohl<br />
Bundestagskarossen:<br />
Mercedes ausgebremst<br />
Die Rolle des Leipziger „Tatort“-<br />
Kommissars Andreas Keppler<br />
muss Martin Wuttke zum Leidwesen<br />
seiner Fangemeinde aufgeben. Die Ermittlerrolle<br />
bleibt aber in der Familie,<br />
denn Margarita Broich, die zukünftige<br />
Frankfurter „Tatort“-Kommissarin,<br />
ist Wuttkes Ehefrau. Sie geriet in die<br />
Schlagzeilen, weil sie auf den Namen<br />
einer von den Nazis nach Theresienstadt<br />
deportierten Jüdin hören sollte,<br />
was zum Glück rechtzeitig revidiert<br />
wurde. Das Theatertier Wuttke weiß<br />
seinen neuen Freiraum schon zu nutzen.<br />
An der Berliner Volksbühne hat<br />
er einen Abend nach Honoré de Balzac<br />
gestaltet, in dem er selbst die Hauptrolle<br />
spielt: einen Sträfling und Parvenü<br />
mit vielen Identitäten. Bei Balzac<br />
heißt dieser Emporkömmling „Trompela-Mort“<br />
– „Täusche den Tod“. Wuttkes<br />
Stück, das in diesen Tagen Premiere<br />
hat, heißt „Trompe-l’amour“. Weil man<br />
den Tod nicht betrügen kann – aber die<br />
Liebe? kis<br />
FDP-Chef Christian Lindner sammelt<br />
eifrig Titel. Unlängst wurde er<br />
in Aachen mit dem „Orden wider den<br />
tierischen Ernst“ dekoriert. Jetzt kürte<br />
ihn der Wirtschaftspolitische Club<br />
Bonn zum „Grünkohlkönig 2014“ –<br />
eine Ehrung, die der neue FDP-Vorsitzende<br />
zu einem ironischen Seitenhieb<br />
gegen seine Vorgänger nutzte.<br />
Kohl, sagte er, sei bei falscher Zubereitung<br />
ungenießbar. Dies sei eine<br />
„Eigenschaft, die er mit dem Liberalismus<br />
teilt“. Im Düsseldorfer Landtag gehört<br />
Lindner zu den notorischen Kritikern<br />
der rot-grünen Regierung. Dabei<br />
würde er am liebsten selbst mit der<br />
SPD regieren. Der nordrhein-westfälische<br />
SPD-Wirtschaftsminister Garrelt<br />
Duin, der Lindners Ambitionen kennt,<br />
bot deshalb dem neuen Grünkohlkönig<br />
in seiner Laudatio einen „kleinen<br />
Deal“ an: „Wenn ihr aufhört, über uns<br />
die Unwahrheit zu sagen, hören wir auf,<br />
über euch die Wahrheit zu sagen.“ tz<br />
Unsere Volksvertreter dürfen sich<br />
künftig nicht mehr im E-Klasse-<br />
Mercedes zur Arbeit und zu Terminen<br />
fahren lassen. Sie müssen sich mit den<br />
gehobenen, umweltfreundlichen Mittelklasse-Limousinen<br />
vom Typ „VW Passat<br />
1,4 Ecofuel“ und Dieselfahrzeugen<br />
des Modells „Audi A6 2,0 TDI Ultra“<br />
begnügen. Grund: Sparzwänge. Unions-Fraktionsvize<br />
Thomas Strobl trägt<br />
es gelassen, obwohl er als Landesvorsitzender<br />
der baden-württembergischen<br />
CDU eigentlich für die Schwabenkarosse<br />
mit dem Stern kämpfen müsste.<br />
Wichtig sei doch, sagt er, dass deutsche<br />
Politiker in deutschen Autos fahren.<br />
Mit Audi ist er im Übrigen sehr einverstanden,<br />
„die bauen auch sehr schicke<br />
Autos“ – übrigens auch in seinem Wahlkreis<br />
Heilbronn. Und Porsche? Das<br />
gäbe nur Ärger, „wenn wir uns darin<br />
kutschieren ließen“. Strobl selbst ist in<br />
Berlin gern mit dem Fahrrad unterwegs.<br />
„Bei den vielen Staus käme man ja sonst<br />
immer zu spät.“ tz<br />
Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />
8<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Ende einer Parteifreundschaft:<br />
Ramsauers Rache<br />
Er hat sie sich nicht ausgesucht, seine<br />
neue Freiheit, aber jetzt lebt er sie<br />
aus. Zweimal schon hat Peter Ramsauer<br />
zugeschlagen, nachdem ihm CSU-Chef<br />
Horst Seehofer sein Dasein als Verkehrsminister<br />
jäh beendete. Mit einem<br />
Plädoyer für die Kernkraft brachte<br />
es der neue Vorsitzende des Bundestagsauschusses<br />
für Wirtschaft und<br />
Energie auf Antrag der Grünen zu einer<br />
Aktuellen Stunde, da legte er nach<br />
und forderte Fracking für Deutschland.<br />
Entfesselt, der Mann.<br />
Zu Ramsauers 60. Geburtstag hatte<br />
die CSU-Landesgruppe nun zu einem<br />
kleinen Empfang in die bayerische Landesvertretung<br />
geladen, also in den Berliner<br />
Amtssitz des bayerischen Ministerpräsidenten.<br />
Michael Glos, versiertes<br />
Schandmaul und schon länger von Fesseln<br />
und Rücksichtnahmen befreit,<br />
rühmte Ramsauers Erfolge als Wahlkreiskönig<br />
(„Fast wie Honecker!“), um<br />
dann anzumerken, dass jemand mal gesagt<br />
habe, wer solche Ergebnisse hole,<br />
der empfehle sich für alle hohen Ämter.<br />
Allerdings sei die Erinnerung mancher<br />
Leute an das von ihnen Gesagte<br />
manchmal sehr kurz. „Das von denen,<br />
die es trifft, aber sehr lang.“<br />
Auch Ramsauer sprach Klartext. Er<br />
habe, sagte der ausgemusterte Minister,<br />
extra nur engste Wegbegleiter zu<br />
diesem Abend einladen lassen und den<br />
Termin auf den 19. März gelegt. Damit<br />
all jene einen guten Grund hätten, nicht<br />
da zu sein, die er eh nicht dahaben<br />
wollte. An dem Abend war Derblecken<br />
auf dem Nockherberg in München. Für<br />
Seehofer ein Pflichttermin. swn<br />
Zoff mit Israel:<br />
Schiffe versenken<br />
Von wem stammt noch mal der Satz,<br />
dass Israels Sicherheit zur deutschen<br />
Staatsräson gehört? Richtig, von<br />
Angela Merkel, März 2008 vor der<br />
Knesset. Aber wenn es um die Umsetzung<br />
dieses hohen Anspruchs geht, hat<br />
die Kanzlerin ganz andere Maßstäbe<br />
als ihr Jerusalemer Gesprächspartner<br />
Benjamin Netanjahu. Klar, Deutschland<br />
liefert seit über einem halben Jahrhundert<br />
Waffen an Israel, darunter<br />
sechs U-Boote, die zur atomaren Abschreckung<br />
eingesetzt werden, zum erheblichen<br />
Teil finanziert mit deutschem<br />
Steuergeld. Aber schon bei der Genehmigung<br />
des sechsten Dolphin-U-Bootes<br />
ließ Merkel Netanjahu vier <strong>Jahre</strong> hängen,<br />
bis der ein paar wenige Konzessionen<br />
an die Palästinenser machte.<br />
Jetzt legt sie eine noch härtere<br />
Gangart ein. Wieder wollen die Israelis<br />
Kriegsschiffe, diesmal vier Korvetten<br />
von Thyssen Krupp Marine Systems<br />
zum Schutz ihrer neuen Mittelmeer-<br />
Gasfelder. Kosten: 400 Millionen. Und<br />
wie bei den U-Booten wollen sie hohe<br />
Subventionen von Berlin. Doch Merkel<br />
hat Netanjahu Ende Februar klargemacht:<br />
Lieferung gerne, finanzielle Unterstützung<br />
auch – aber nur, wenn die<br />
Friedensinitiative von US‐Außenminister<br />
John Kerry zum Erfolg kommt und<br />
die Siedlungsfrage gelöst wird. Ihre<br />
Linie: Kein deutsches Geld, das Netanjahu<br />
in den Siedlungsbau umleiten<br />
kann. Wenn die US-Friedensinitiative<br />
auseinanderfällt, wird es wohl nichts<br />
mit den Schiffen – es sei denn, die Israelis<br />
zahlen diesmal alles selber. ws<br />
Spargelkönig Sarkozy:<br />
„Mamie“ Merkel<br />
Wer glaubte, nur von deutschen Politikern<br />
werde die Bundeskanzlerin<br />
zuweilen als „Mutti“ apostrophiert,<br />
sieht sich getäuscht. Wie Bruno<br />
Le Maire, der während der Präsidentschaft<br />
Nicolas Sarkozys als Landwirtschaftsminister<br />
diente, zu berichten<br />
weiß, machte sich auch der französische<br />
Staatschef diesen Spitznamen für Angela<br />
Merkel zueigen. In seinem soeben<br />
auf Deutsch erschienenen Erinnerungsband<br />
„Zeiten der Macht“ beschreibt Le<br />
Maire folgende Szene: Jean-François<br />
Copé, Generalsekretär der damaligen<br />
Regierungspartei UMP, erkundigt sich<br />
im Regierungsflugzeug bei Sarkozy nach<br />
Merkel. Dessen Antwort: „Mamie, die<br />
tut sich schwer im Moment. Aber man<br />
muss sagen, sie arbeitet dran. Sie folgt.<br />
Sie sagt Nein, sie denkt nach, und dann<br />
folgt sie, auf ihre Art.“<br />
Offenbar war Nicolas Sarkozy zuvor<br />
tatsächlich zum Opfer von Angela<br />
Merkels mütterlicher Art geworden.<br />
Bruno Le Maire zitiert den Präsidenten<br />
mit diesen Worten aus kleiner Runde:<br />
„Ja, Angela – eines Tages habe ich ihr<br />
gesagt, ich liebte Spargel und Wiener<br />
Schnitzel. Was habe ich da nur gesagt!<br />
Jetzt bekomme ich jedes Mal, wenn ich<br />
sie sehe, Spargel und Wiener Schnitzel.<br />
Letztens sagte sie: ,Weißt du was, Nicolas,<br />
ich habe eine Überraschung für<br />
dich.‘ – ,Spargel und Wiener Schnitzel?‘<br />
– ,Wie hast du das denn erraten?‘ –<br />
,Ich weiß nicht, einfach so …‘“<br />
Ob der amtierende französische<br />
Präsident ebenfalls Spargel mag – womöglich<br />
sogar mit Sauce hollandaise, ist<br />
bisher nicht überliefert. mar<br />
9<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
CICERO<br />
Leserbriefe<br />
FORUM<br />
Es geht um Luthers Judenhass, Oettingers<br />
Einsichten, die Sperrklausel und um – Nudeln<br />
Zum Titelthema „Judenfeind Luther“ mit dem Beitrag „Die dunkle Seite des Reformators“<br />
von Christian Pfeiffer und dem <strong>Cicero</strong>-Gespräch mit Heinz Schilling, Margot Käßmann und<br />
Walter Kardinal Brandmüller, <strong>Cicero</strong> 4 / 2014<br />
Ultimative Rechtfertigung<br />
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Herr Pfeiffer ein Vertreter<br />
einer nach Aufträgen suchenden Aufarbeitungsindustrie ist. Die Kenntnis, dass<br />
Luther in Wort und Schrift antijudaistische Äußerungen und Positionen vertrat,<br />
ist ja nicht neu. Die Stellungnahme der Frau Käßmann, dass die lutherischen<br />
Auslassungen furchtbar seien und dass dafür in der heutigen evangelischen Kirche<br />
kein Platz mehr sei, macht den Luther’schen Antijudaismus zu einem historischen<br />
Ereignis und damit zum Gegenstand der akademischen Geschichtsforschung.<br />
Was ist nun der Zweck einer extraordinären Aufarbeitung? Ist ihr Ziel<br />
die ultimative Rechtfertigung für jede derartige Aufarbeitung, die darin besteht,<br />
eine gerade Linie vom Luther’schen Antijudaismus zum Antisemitismus nationalsozialistischer<br />
Prägung festzustellen oder zu konstruieren?<br />
Laurenz Kaspar, Düren<br />
Ein Kind seiner Zeit<br />
Seit die christliche Religion zur<br />
Staatsreligion erhoben wurde, war<br />
die christliche Kirche immer mehr<br />
oder weniger judenfeindlich. Wenn<br />
wir also mit einer Situation zu<br />
tun haben, die grundsätzlich über<br />
1500 <strong>Jahre</strong> mehr oder weniger judenfeindlich<br />
war, warum dann mit<br />
dem Finger auf Martin Luther zeigen?<br />
Seine kulturhistorische Leistung<br />
liegt woanders. Martin Luther<br />
und die Reformation sind der wichtigste<br />
kulturhistorische Beitrag aus<br />
Deutschland für die Neuzeit. Dass<br />
er auch ein Kind seiner Zeit und seiner<br />
Welt war, auch mit Schattenseiten,<br />
sollten wir nicht überbetonen.<br />
Es ist gut dokumentiert.<br />
Bernhard Kopp, Potsdam<br />
Vergrämter, alter Mann<br />
Was ist daran bitte neu? Schon zu<br />
Luthers Zeiten haben sich einige<br />
seiner treuesten Freunde für die<br />
antijüdischen Ausfälle des alternden<br />
Reformators geschämt. Als<br />
junger Mann hatte sich Luther in<br />
wunderbarer Weise über die Juden<br />
geäußert. Was er als vergrämter alter<br />
Mann über sie von sich gab, ist<br />
traurig. Aber Gott sei Dank hatte er<br />
viel wichtigere Erkenntnisse.<br />
Uwe Siemon-Netto, Laguna Woods, CA, USA<br />
Omerta der Schwurbler<br />
Die Omerta der Hosianna-Schwurbler<br />
bröckelt langsam, trotzdem wäre<br />
es angebracht, die Fakten zusammenzustellen,<br />
damit den christlichen<br />
Schönrednern die Argumente<br />
ausgehen: Martin Luthers Hass<br />
ge gen Frauen ist paranoid, seine<br />
Sprachkenntnis eher armselig,<br />
sein psychopathologischer Wahn<br />
men schenverachtend. Seine<br />
Hetze gegen Andersgläubige<br />
dient Jahrhunderte später als<br />
Vorlage zur Reichs kristallnacht.<br />
H. A. Goerke, Begur, Spanien<br />
Entlastung durch Luther<br />
Ein Christ ohne Schuldgefühl, dem<br />
fehlt etwas. Also muss jemand für<br />
ihn eine Schuld finden. Dafür ist der<br />
Christ dankbar. Wenn Luther schon<br />
judenfeindlich war, ist der evangelische<br />
Christ trotzdem etwas entlastet.<br />
Vergessen haben aber die Theologen,<br />
dass Luther auch Folgendes gesagt<br />
hat: „Die Christen sind schlimmer<br />
als die Juden, denn die Juden<br />
nehmen wenigstens keinen Zins von<br />
ihren eigenen Leuten.“ Aber dies<br />
überlesen die evangelischen Theologen<br />
gerne, denn auch sie leben von<br />
einem gut unterhaltenen und ernährten<br />
Schuldgefühl.<br />
Manfred Stricker, Straßburg<br />
Erinnerung überfällig<br />
Es wird Zeit, dass man sich der stetigen<br />
Judenfeindlichkeit der Kirche<br />
erinnert. Herrn Pfeiffer ist für diesen<br />
Artikel zu danken.<br />
Botho Krämer, Worms<br />
Latenter Antisemitismus<br />
Die protestantische Kirche wusste<br />
jahrhundertelang um Luthers Judenfeindlichkeit<br />
und hat diese mehr<br />
oder weniger akzeptiert – jetzt darf<br />
diese Seite an ihm nicht unter den<br />
Teppich gekehrt werden, da sich antisemitische<br />
und rassistische Rechte<br />
schon lange darüber die Hände reiben,<br />
und der Antisemitismus ist in<br />
Deutschland latent vorhanden!<br />
Lutz Grubmüller, Wangenheim<br />
Richtigstellung:<br />
In Christian Pfeiffers Text zu<br />
Luthers Judenhass hieß es,<br />
die Reichstagswahlen vom Juli<br />
1937 hätten die NSDAP mit<br />
37,2 Prozent zum ersten Mal zur<br />
stärksten Partei gemacht.<br />
Gemeint war die Wahl von 1932.<br />
Die Redaktion<br />
<strong>10</strong><br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
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TEXTCHEF Georg Löwisch<br />
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Sie <strong>Cicero</strong> bei Ihrem Pressehändler nicht<br />
erhalten sollten, bitten Sie ihn, <strong>Cicero</strong> bei seinem<br />
Großhändler nachzubestellen. <strong>Cicero</strong> ist dann in der<br />
Regel am Folgetag erhältlich.<br />
Zum Beitrag: „Man hört mein<br />
Schwäbisch. Und?“ Interview mit<br />
Günther Oettinger, <strong>Cicero</strong> 4/2014<br />
Fehlende Speicher<br />
Das ausführliche Gespräch mit<br />
Kommissar Oettinger ist sehr aufschlussreich.<br />
Nach anfänglicher<br />
Zustimmung zum EEG ist bei ihm<br />
Ernüchterung eingekehrt. Er hat<br />
erkannt, dass zum Gelingen der<br />
Energiewende nicht nur Netze und<br />
Leitungen fehlen, sondern vor allem<br />
Speichermöglichkeiten des<br />
„Flatterstroms“. Und die sind in der<br />
dafür notwendigen Größenordnung<br />
nicht erreichbar.<br />
Gerade mal 24 Minuten Versorgung<br />
mit Strom sind durch die vorhandenen<br />
Pumpspeicherwerke möglich<br />
– das ist die unbarmherzige<br />
Wirklichkeit. Schon deshalb ist eine<br />
sofortige Beendigung des teuren Experiments<br />
nötig.<br />
Es wird sich zeigen, ob die Regierung<br />
ihr Vorhaben verwirklicht,<br />
den weiteren ungebremsten Ausbau<br />
zu stoppen. Eine riesige Lobby versucht<br />
gerade dies mit allen Mitteln<br />
zu verhindern.<br />
Walter Faulenbach, Olpe<br />
Zum Beitrag: Frau Fried fragt sich,<br />
was an Gutmenschen schlecht sein soll,<br />
<strong>Cicero</strong> 4/2014<br />
„Löwe von Münster“<br />
Frau Fried vermutet, dass die Nazis<br />
den Begriff „Gutmenschen“ erfunden<br />
hätten, „um die Gegner der<br />
Euthanasie um Graf von Galen verächtlich<br />
zu machen“. Leider erklärt<br />
sie nicht, warum der Bischof (und<br />
spätere Kardinal) von Münster, Clemens<br />
August Graf von Galen, den<br />
Nazis so verhasst war. Wegen seiner<br />
mutigen Predigten hieß er im Volk<br />
„Löwe von Münster“, hohe Nazis erwogen,<br />
ihn aufhängen zu lassen. Joseph<br />
Goebbels aber wollte im Krieg<br />
keine katholischen Märtyrer schaffen<br />
und sprach sich dafür aus, die<br />
Sache auf die Zeit „nach dem Endsieg“<br />
zu verschieben.<br />
Friedrich G. Blasberg, Langenfeld<br />
12<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
CICERO<br />
Leserbriefe<br />
Zum Beitrag: „Unter den Roben<br />
die Politik“ von Frank A. Meyer,<br />
<strong>Cicero</strong> 4/2014<br />
Unberechtigte Kritik<br />
Frank A. Meyer fragt sich, woher<br />
sich das Bundesverfassungsgericht<br />
das Recht nimmt, die Drei-Prozent-<br />
Hürde für die Wahlen zum Europäischen<br />
Parlament für verfassungswidrig<br />
zu erklären. In diesem Punkt<br />
muss man das BVG vor unberechtigter<br />
Kritik in Schutz nehmen.<br />
Zu einer Demokratie gehört<br />
auch, dass man abweichende Meinungen<br />
kleinerer Gruppen toleriert.<br />
Deswegen ist es zu begrüßen, dass<br />
das Gericht eine Privilegierung der<br />
großen Parteien durch eine Sperrklausel<br />
nicht zugelassen hat.<br />
Felicitas Schumacher, Köln<br />
Karikatur: Hauck & Bauer<br />
Ausschluss der Kleinen<br />
Für Meyer ist es ein unangebrachter<br />
politischer Akt des BVG, die<br />
Sperrklausel für ungültig zu erklären.<br />
Es ist wohl umgekehrt so, dass<br />
die Sperrklausel ein politischer Akt<br />
ist, mit dem ein Teil des Wahlvolks<br />
von der politischen Willensbildung<br />
ausgeschlossen wird. Und ein solcher<br />
Ausschluss ist wohl dann nicht<br />
zwingend notwendig, wenn ein<br />
Parlament nicht die Aufgabe hat,<br />
eine Regierung zu bilden und zu<br />
kontrollieren.<br />
Almuth Schröder, München<br />
Privilegien der Großen<br />
Es gab zahlreiche Versuche der<br />
großen Parteien, sich gegenüber<br />
den kleineren Parteien Privilegien<br />
zu verschaffen. Es ist Aufgabe des<br />
Wahlvolks, unabhängig von den<br />
Bedürfnissen der etablierten Parteien<br />
über die Zusammensetzung<br />
des Europäischen Parlaments zu<br />
entscheiden. Und es ist nicht Aufgabe<br />
des BVG, mithilfe einer Sperrklausel<br />
den größeren Parteien auf<br />
Kosten der kleineren Parteien Vorteile<br />
zu verschaffen.<br />
Dr. Raimund Schlüter, Köln<br />
Zu den Beiträgen in <strong>Cicero</strong> 3/2014<br />
Folgen des Nudelkaufs<br />
Unterwegs von einem sehr erfolgreichen<br />
Kundenbesuch erreichte uns<br />
die Nachricht, dass unser Sohn Nudeln<br />
wünscht. Gefüllte. Wir also<br />
zu Kaisers: Nudeln, Champagner<br />
und … dazu noch aus diesem tollen<br />
Zeitschriftenrack – <strong>Cicero</strong>. Ein<br />
Reflexkauf.<br />
Seit wir zu Hause sind, lesen<br />
wir, diskutieren erbittert (Junge gegen<br />
Alte, Papa gegen Kind, alle gegen<br />
alle), telefonieren mit Freunden<br />
und Bekannten, sind auf Facebook,<br />
scannen Seiten, um die an Leute in<br />
Übersee zu schicken. Wir sind einverstanden,<br />
nicht einverstanden,<br />
schütteln den Kopf, wir lieben die<br />
Fotostrecke mit Müttern und Töchtern<br />
(einen Lead Award hier bitte)<br />
und ärgern uns über die letzte Seite<br />
zu Sarrazin (zu einfach). Wir sind<br />
immer noch wach. Und reden. Simply<br />
said: Was für ein Blatt!<br />
Und das alles nur, weil mein<br />
Sohn Nudeln wollte.<br />
Matthias Giese, Essen<br />
Leserbrief von I. Köhnecke, <strong>Cicero</strong> 4/2014<br />
Ein Weckruf<br />
Mit Vergnügen habe ich in Ihrer<br />
letzten Ausgabe den Leserbrief<br />
von Frau Köhnecke (93) aus Wedel<br />
zum Thema Dativ und Genitiv gelesen,<br />
auch wenn sie Rechtschreibung<br />
mit Grammatik verwechselt. Ein<br />
Weckruf aus einer verloren geglaubten<br />
Zeit. Bemerkenswert, dass sich<br />
überhaupt noch jemand darüber<br />
aufregt, wo man sich bekanntlich an<br />
allem gewöhnt, auch am Dativ. In<br />
den von mir abonnierten zwei Tageszeitungen<br />
lese ich mit besonderem<br />
Interesse Gedenkberichte. Da<br />
gedenken sie hartnäckig dem teuren<br />
Verblichenen und dem besonderen<br />
Jubiläum. Und was sich erst auf den<br />
Sportseiten vor, während und nach<br />
dem Spiel an grammatikalischen<br />
Foulspielern herumtreibt.<br />
Danke, Frau Köhnecke, bei Ihnen<br />
wäre ich gern Schüler gewesen.<br />
Winfried Grund, Werl<br />
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />
Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen<br />
senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />
13<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
<strong>Cicero</strong> feiert Geburtstag: Seit zehn <strong>Jahre</strong>n bereichert<br />
das „Magazin für politische Kultur“ die deutsche<br />
Medienlandschaft. Markus C. Hurek, Mitarbeiter der<br />
ersten Stunde, erinnert sich an die Anfänge – <br />
und an den ersten großen Skandal<br />
14<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
TITEL<br />
Jubiläum<br />
Fotos: Markus C. Hurek, archiv-klar<br />
CICERO ENTSTEHT IN POTSDAM<br />
„Wie sähe für dich eigentlich das ideale Magazin aus?“<br />
Wolfram Weimer stellte diese Frage im April 2003<br />
zwischen Hauptgang und Nachspeise in einem kleinen<br />
Restaurant am Nauener Tor in Potsdam. Und wartete bereits<br />
– typisch für ihn – mit der richtigen Antwort: Es müsste monatlich<br />
erscheinen, edel daherkommen, politisch relevant sein,<br />
mit Texten wichtiger Meinungsmacher und – ohne Fotos. „Vergiss<br />
Fotos!“, sagte er beim Espresso, „volle Konzentration auf<br />
den Text!“ – „Karikaturen?“, fragte ich. Ein edles Magazin ohne<br />
Optiken konnte ich mir einfach nicht vorstellen. „Meinetwegen“,<br />
sagte Weimer, „aber sparsam dazwischengestreut, das Wichtigste<br />
sind die Texte!“<br />
CICERO HAT EINEN DECKNAMEN<br />
Am 15. August 2003 meldet das Branchenblatt Kress Report, dass<br />
der Schweizer Großverlag Ringier hinter dem „ambitionierten<br />
Projekt“ von Wolfram Weimer stecke, „ein intellektuelles politisches<br />
Magazin aus der Hauptstadt“ zu veröffentlichen. Die Medienjournalisten<br />
bezweifelten in ihrer Meldung, dass dieses Magazin<br />
tatsächlich Parzival heißen werde.<br />
Zwischen dem Mittag am Nauener Tor und der Meldung im<br />
Kress Report war viel passiert: Wolfram Weimer und Michael Ringier<br />
waren sich einig geworden. Nach etlichen Besuchen am Verlagssitz<br />
in Zürich, nach Gesprächen und Präsentationen hatte der<br />
mächtige Verleger vom Zürichsee grünes Licht gegeben für das<br />
Wagnis. Und inzwischen stand auch so etwas wie eine Redaktion.<br />
In Potsdam, direkt hinter der Glienicker Brücke, vor den Toren<br />
der Hauptstadt, hatte <strong>Cicero</strong> unter dem Decknamen Parzival eine<br />
adäquate Bleibe gefunden. Der moderne Anbau einer aufwendig<br />
renovierten Villa an der Berliner Straße passte genau: Ein verglastes<br />
Großraumbüro für das Layout, ein Konferenzraum mit Balkon,<br />
das repräsentative Büro für den Chefredakteur, und neben<br />
dem offenen Sekretariat drei Räume für Redakteure.<br />
CICERO BEKOMMT MITSTREITER<br />
Wie sucht man Mitarbeiter für ein Heft, das noch nie erschienen<br />
ist? Es gab eine Idee, ein Büro, eine Liste möglicher <strong>Cicero</strong>-Autoren<br />
– das war es. Und es gab das etwas vage Versprechen, ein<br />
ganz neues Magazin zu entwickeln, das frische Ideen braucht.<br />
Wolfram Weimer wollte diese Ideen diskutieren. Wer dazu Lust<br />
hatte, war herzlich eingeladen, unverbindlich.<br />
Bis in den Spätherbst 2003 veranstalteten wir jede Woche<br />
eine offene Redaktionskonferenz mit wechselnden Teilnehmern:<br />
Journalisten, Schriftsteller, junge Werber, Anzeigenkunden in spe,<br />
„ Vergiss Fotos!<br />
Volle Konzentration<br />
auf den Text “<br />
Wolfram Weimer<br />
Schöner Start: In dieser Potsdamer<br />
Villa (oben) wurde <strong>Cicero</strong> 2004<br />
gegründet und hatte die Redaktion in<br />
den Anfangsjahren ihren Sitz.<br />
Inzwischen sind Magazin und Verlag<br />
nach Berlin gezogen<br />
Stolzer Chefredakteur: <strong>Cicero</strong>-<br />
Gründer Wolfram Weimer (unten) im<br />
Konferenzraum des neuen „Magazins<br />
für politische Kultur“<br />
15<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Auf den Treppen vor<br />
Sanssouci: Wolfram<br />
Weimer mit der<br />
<strong>Cicero</strong>-Ausgabe vom<br />
Januar 2005
TITEL<br />
Jubiläum<br />
Politiker. Sie alle saßen um den großen Glastisch und tauschten<br />
sich aus. Was erwarten Redakteure von einem „Magazin für<br />
politische Kultur“, was wünschen sich mögliche Autoren? Wie aktuell<br />
muss es sein, wie intellektuell darf es daherkommen? In unseren<br />
Räumen traf Henryk M. Broder auf Frank A. Meyer. Wolf Jobst<br />
Siedler junior diskutierte mit Rudolf Scharping (der schließlich<br />
einen Text zur ersten Ausgabe beisteuerte), Alexander Gauland<br />
kam vorbei, Klaus Harpprecht, Maxim Biller, Christine Eichel,<br />
Roger de Weck und eines Tages auch Jim Rakete. Dem Schwarz-<br />
Weiß-Fotografen und früheren Produzenten von Nena verdankt<br />
<strong>Cicero</strong> bis heute seine Zuwendung zur Fotografie. Raketes gewaltige<br />
Aufnahmen überzeugten Weimer. Das „Vergiss Fotos“-Postulat<br />
war aufgehoben!<br />
Eingekehrt war dafür eine Stimmung, die <strong>Cicero</strong> bis heute<br />
ausmacht: Alles darf gedacht werden, von jedem am Tisch. Die<br />
Idee zählt, egal, wer sie formuliert. Es gibt keine Denkhierarchien.<br />
Wer einmal in Konzernstrukturen gearbeitet hat, in Abteilungsschubladen<br />
und Organigrammschablonen, der weiß um den Wert<br />
dieses <strong>Cicero</strong>-Schatzes.<br />
„ Alles darf<br />
gedacht werden,<br />
von jedem. Nur<br />
die Idee zählt “<br />
Markus C. Hurek<br />
Fotos: archiv-klar, Markus C. Hurek, Marc Darchinger<br />
APRIL 2004: DIE ERSTE AUSGABE VON CICERO<br />
Bis zuletzt dachten wir über den Titel nach. Die Hauptgeschichte<br />
war eine fulminante Beobachtung von Gerhard Schröder. Der<br />
Schriftsteller Peter Schneider hatte den Bundeskanzler begleitet,<br />
mehrere Tage lang, auf Reisen und Terminen. Schneiders<br />
Text vom „einsamen Kanzler“, ein Interview mit Schröder und<br />
Raketes Fotografien sollten der Titel sein. Das Deckblatt hatte<br />
Jörg Immendorff gestaltet. Es zeigte den Bundeskanzler mit einem<br />
der Immendorff’schen Affen auf der Schulter. Nur eine gute<br />
Zeile wollte uns nicht einfallen: Wir waren stolz auf Schneiders<br />
Schröder-Porträt, doch <strong>Cicero</strong> sollte nicht als Kanzlerblatt starten.<br />
Dazu war das Konzept zu konservativ, Wolfram Weimer sowieso.<br />
In unserer Not fetteten wir die Oberbegriffe auf dem Titel.<br />
Die lasen sich nun aus der Ferne so: SPD – MACHT – EINSAM.<br />
Wir waren zufrieden.<br />
CICERO HAT EINE AFFÄRE<br />
Mehr als ein Jahr später, am 12. September 2005, an einem nebligen<br />
Morgen um kurz nach acht Uhr, erlebt die kleine Potsdamer<br />
Redaktion, was Relevanz heißt. Gesprochen hatten wir viel<br />
darüber, Relevanz war quasi das Mantra der Mannschaft: Texte<br />
sollten bewegen, aufrütteln, vielleicht auch verletzen, Debatten<br />
anzetteln, wenn möglich, Aufsehen erregen am besten. Dass all<br />
dies bereits Monate vorher geschehen sein musste, im Verborgenen<br />
allerdings, das wurde uns an diesem Morgen langsam bewusst.<br />
Das Tribunal: Wolfram Weimer<br />
im Februar 2007 vor dem Bundesverfassungsgericht<br />
( oben ). Verhandelt<br />
wird die Durchsuchung der Redaktion<br />
durch die Staatsanwaltschaft<br />
Der Innenminister: Otto Schily<br />
äußert sich im Oktober 2005 nach<br />
einer außerordentlichen Sitzung des<br />
Innenausschusses des Bundestags zur<br />
<strong>Cicero</strong>-Affäre ( unten )<br />
17<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
TITEL<br />
Jubiläum<br />
Diese geheimen<br />
Informationen,<br />
dachte man im BKA<br />
nach der Lektüre,<br />
konnten nur aus<br />
dem eigenen Haus<br />
stammen<br />
Mitarbeiter der ersten Stunde:<br />
Utz Zimmermann ( Produktion ), Karen<br />
Schröder ( Art-Direktion ) und Wolfgang<br />
Glabus ( Ressort Kapital ) im Oktober<br />
2003 ( oben, von links nach rechts )<br />
Im Namen des Volkes: Am 27. Februar<br />
2007 verkündet das Bundesverfassungsgericht<br />
sein „<strong>Cicero</strong>-Urteil“ ( unten ) –<br />
eine Entscheidung im Sinne<br />
der Pressefreiheit<br />
Zwei Potsdamer Staatsanwälte standen in den Redaktionsräumen,<br />
gesichert durch Beamte des Landeskriminalamts und der Polizei:<br />
Redaktionsdurchsuchung, Verdacht auf Beihilfe zum Geheimnisverrat.<br />
In jedem Büro, an jedem Schreibtisch wachte ein Polizist.<br />
Monate zuvor hatte Bruno Schirra, bekannt für seine guten<br />
Quellen im Geheimdienstmilieu, über den „gefährlichsten Mann<br />
der Welt“ geschrieben, einen zwischenzeitlich liquidierten Al-<br />
Qaida-Anführer. In seinem Text hatte Schirra ein überwachtes<br />
Mobiltelefon erwähnt. Diese geheime Information, dachte man<br />
im Bundeskriminalamt nach der Lektüre, konnte nur aus dem eigenen<br />
Haus stammen. Nach wochenlangen internen Ermittlungen<br />
musste das BKA feststellen, dass es den Verräter so nicht würde<br />
ausfindig machen können. Die Behörde entschloss sich zu einem<br />
Strategiewechsel, der später als „<strong>Cicero</strong>-Affäre“ in die Rechtsgeschichte<br />
eingehen sollte: Das BKA, angefeuert durch Innenminister<br />
Otto Schily, übergab den Fall an die Staatsanwaltschaft<br />
Potsdam. Diese nahm nun Ermittlungen gegen Bruno Schirra<br />
und unser Magazin auf. Was man innerhalb der eigenen Wände<br />
nicht aufdecken konnte, so die Überlegung der eifrigen Ermittler,<br />
müsste sich doch aufseiten der Journalisten finden lassen. Also<br />
suchten sie in unseren Redaktionsräumen und zeitgleich bei Bruno<br />
Schirra nach E-Mails, Kalendernotizen, Bewirtungsbelegen und<br />
Ähnlichem, um herauszubekommen, wie <strong>Cicero</strong> die Information<br />
über den abgehörten Terroristen zugespielt worden war.<br />
„Diese Aktion hatte den Wert einer millionenschweren Kampagne“,<br />
schrieb ein bekannter Werbeagentur-Chef Monate später<br />
voller Anerkennung. Ein Gedanke, der uns an jenem Montagmorgen<br />
zwischen Kriminalbeamten, Staatsanwälten und einem<br />
sichtlich verunsicherten Hausmeister („Wat hat’n Euer Chef anjestellt?“)<br />
nicht gekommen wäre.<br />
Doch inzwischen hatte sich Innenminister Otto Schily im<br />
Bundestag wegen Missachtung der Pressefreiheit erklären müssen.<br />
Das Bundesverfassungsgericht hatte schließlich die Verfassungsbeschwerde<br />
von Wolfram Weimer gegen die Durchsuchung<br />
zugelassen und am 27. Februar 2007 das sogenannte „<strong>Cicero</strong>-Urteil“<br />
gefällt. Es besagt, dass es Behörden nicht erlaubt ist, Redaktionsräume<br />
zu durchsuchen, um ein Leck in den eigenen Reihen<br />
ausfindig zu machen.<br />
Es war ein Sieg für die Pressefreiheit. Und viel wichtiger noch:<br />
Unser Magazin war spätestens jetzt deutschlandweit bekannt.<br />
MARKUS C. HUREK<br />
war Wolfram Weimers erster Mitarbeiter und seit<br />
Erscheinen von <strong>Cicero</strong> bis 20<strong>10</strong> stellvertretender<br />
Chefredakteur. Heute leitet der 41-Jährige die<br />
Politikredaktion des Nachrichtenmagazins Focus<br />
Fotos: Markus C. Hurek, Uli Deck/Picture Alliance/DPA, Kerstin Bungert-Hurek (Autor)<br />
18<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Anzeige<br />
NACH ÄGYPTEN!<br />
DIE REISEN VON Max Slevogt<br />
UND Paul Klee<br />
30.4.– 3.8.2014 · GALERIE NEUE MEISTER<br />
ALBERTINUM DRESDEN<br />
KURZE CICERO-CHRONIK<br />
APRIL 2003 – DIE ANFÄNGE<br />
In einem kleinen Potsdamer Restaurant<br />
entstehen die ersten Ideen für ein neues<br />
Magazin, für das „volle Konzentration auf den<br />
Text“ gelten soll. <strong>Cicero</strong>-Gründer Wolfram<br />
Weimer lässt sich später aber doch noch von<br />
der Wirkungsmacht der Bilder überzeugen.<br />
15. AUGUST 2003 – NEUIGKEITEN<br />
Das Branchenblatt Kress Report meldet, der<br />
Schweizer Verlag Ringier stehe hinter den<br />
Plänen für ein intellektuelles politisches<br />
Magazin aus der Hauptstadt. Der Verleger<br />
Michael Ringier hat zuvor dem Projekt<br />
zugestimmt. Inzwischen existiert auch schon<br />
so etwas wie eine Redaktion.<br />
APRIL 2004 – ERSTAUSGABE<br />
Die erste Ausgabe von <strong>Cicero</strong> erscheint mit<br />
einem von Jörg Immendorff gemalten<br />
Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem<br />
Titel. Die Überschrift dazu lautet:<br />
„SPD – MACHT – EINSAM“.<br />
12. SEPTEMBER 2005 – DURCHSUCHUNG<br />
Kurz nach acht Uhr am Morgen verschaffen<br />
sich zwei Potsdamer Staatsanwälte mit<br />
mehreren Polizisten Zutritt in die Redaktion.<br />
Sie suchen nach Dokumenten, die Aufschluss<br />
über den Informanten für einen Bericht aus<br />
der Terroristenszene geben sollen. Damit<br />
beginnt die sogenannte <strong>Cicero</strong>-Affäre, an<br />
deren Ende das Bundesverfassungsgericht die<br />
Pressefreiheit stärkt.<br />
JANUAR 20<strong>10</strong> – WECHSEL<br />
<strong>Cicero</strong>-Gründer und -Chefredakteur Wolfram<br />
Weimer verlässt das Magazin und geht nach<br />
München, um dort Chefredakteur von Focus<br />
zu werden. Sein Nachfolger ist Michael<br />
Naumann, der zuvor langjähriger Herausgeber<br />
der Zeit war und während der Kanzler schaft<br />
Gerhard Schröders erster Kulturstaatsminister<br />
der Bundesrepublik.<br />
MAI 2012 – NOCH EIN WECHSEL<br />
Michael Naumann wechselt als Direktor zur<br />
Barenboim-Said-Akademie in Berlin. Sein<br />
Nachfolger wird Christoph Schwennicke,<br />
bis dahin stellvertretender Leiter des<br />
Hauptstadtbüros des Magazins Spiegel.<br />
WWW.SKD.MUSEUM<br />
Hauptförderer
TITEL<br />
Jubiläum<br />
NACH<br />
DER<br />
EUPHORIE<br />
Von MICHAEL RINGIER<br />
Das Atomium als Mahnmal eines<br />
fast religiösen Technikglaubens:<br />
Gedanken zum Geburtstag einer<br />
gedruckten Zeitschrift<br />
Kohle und Öl verbrennen, das<br />
konnte schon der Neandertaler.<br />
Atomkerne spalten konnte er dagegen<br />
nicht.“ Dieser Satz, zitiert in der<br />
NZZ am Sonntag von Hans Rudolf Lutz,<br />
dem ersten Direktor des Kernkraftwerks<br />
Mühleberg in der Schweiz, erinnert an<br />
eine Zeit, in der man einer neuen Technologie<br />
mit grenzenloser Euphorie begegnete.<br />
Die Energieprobleme schienen<br />
für alle Zeiten gelöst, und laut Wikipedia<br />
träumte man von atomaren Antrieben<br />
für Flugzeuge und Lokomotiven und von<br />
der Entsalzung des Meerwassers oder der<br />
Begrünung der Wüsten dank Atomenergie.<br />
Ultimativer Ausdruck dieser Technologiegläubigkeit<br />
war das Atomium, ein<br />
Gebäude aus neun Atomen als Wahrzeichen<br />
der Weltausstellung 1958 in Brüssel.<br />
Auch die Schweiz legte mit dem Bau<br />
von fünf Atomkraftwerken innerhalb<br />
von 15 <strong>Jahre</strong>n ein Bekenntnis zur atomaren<br />
Energiezukunft ab. Und Michael<br />
Kohn, langjähriger Präsident von Motor<br />
Columbus, einem schweizerischen Energieversorgungsunternehmen,<br />
bekam von<br />
den Medien den Titel „Atom-Papst“ verpasst<br />
– sehr passend zu einem fast religiösen<br />
Glauben an eine neue Technologie.<br />
Wer heute die westlichen Medien zum<br />
Thema Atomenergie durchstöbert, wird<br />
allerdings auf ein ganz anderes Vokabular<br />
stoßen. Das am häufigsten benutzte<br />
Wort heißt „Ausstieg“.<br />
Und was hat das mit unserer Medienwelt<br />
zu tun? Die ersten Atomjahrzehnte<br />
erinnern mich fatal an die Verbreitung<br />
des Internets seit den neunziger <strong>Jahre</strong>n.<br />
Was wurde uns da nicht alles versprochen.<br />
Grenzenlose Freiheit, schrankenlose Offenheit,<br />
unbeschränkte Individualität und<br />
noch viel mehr gesellschaftliches Manna<br />
aus der Internetparadiesbäckerei. Lauter<br />
Zuckerguss. Und was ist heute – ebenfalls<br />
– ein Teil der Realität? Grenzenlose<br />
Datensammlerei, schrankenlose Überwachung<br />
und unbeschränkte Manipulation.<br />
Und in der NZZ am Sonntag eine durchaus<br />
provokative Schlagzeile „Das Ende<br />
des Internets“ – ohne Fragezeichen!<br />
Wenn uns die Geschichte eines gelehrt<br />
hat, dann dies. Die Welt ist nie<br />
schwarz oder weiß. Energie aus Atom<br />
war sicher nie so großartig, wie man uns<br />
weismachen wollte, aber vielleicht auch<br />
nicht dermaßen des Teufels, wie uns das<br />
seit Fukushima gepredigt wird.<br />
Foto: Christian Lanz/Ex-Press<br />
20<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Eines haben die digitalen Euphoriker<br />
allerdings geschafft. Sie haben die<br />
Kollegen vom Print dermaßen verunsichert,<br />
dass die selber nicht mehr an ihre<br />
Zukunft glauben.<br />
Ich darf zitieren: „Um eine Verzettelung<br />
und eine Überforderung zu vermeiden,<br />
sind eine strategisch konsistente Positionierung<br />
im Markt, eine entsprechende<br />
Fokussierung auf die Kernstärken einer<br />
Marke und eine sorgsam vorgenommene<br />
Angebotsentwicklung unabdingbar.“<br />
Wer schreibt denn so? Ein Berater<br />
von McKinsey? Ein Marketingchef eines<br />
digitalen Multis? Viel schlimmer: Es<br />
ist ein Journalist! Die „strategisch konsistente<br />
Positionierung und die sorgsam<br />
vorzunehmende Angebotsentwicklung“<br />
stammt aus der Feder eines Chefredakteurs<br />
einer großen, renommierten<br />
Zeitung.<br />
So weit vom Journalismus verabschiedet<br />
hat sich der Journalist selbst.<br />
Er schreibt wie ein Unternehmensberater,<br />
und das folgerichtig unter dem Titel<br />
„Die Zeitung spürt den Herbst“. Wie ein<br />
vorzeitig gealterter Mensch, resigniert<br />
bis ins Knochenmark, beerdigt hier einer<br />
sein ureigenes Produkt, indem er betont,<br />
„dass es gilt, dem Unabwendbaren<br />
ins Auge zu sehen“. Unabwendbar? Faktum!<br />
Aus! Beschlossen! Für mich ist das<br />
einzig Unabwendbare zurzeit die Tatsache,<br />
dass ich schlicht nicht weiß, was in<br />
den nächsten <strong>Jahre</strong>n und Jahrzehnten<br />
passieren wird. Ich habe Ahnungen, es<br />
gibt Szenarien, ich höre Meinungen und<br />
ich sehe Möglichkeiten. Aber gesichertes<br />
Wissen?<br />
Ein bisschen Hoffnung kommt immerhin<br />
aus Hollywood. Im Film „State<br />
of Play“ sind der Starreporter Cal<br />
McAffrey alias Russel Crowe und die<br />
Gedrucktes<br />
muss die<br />
Prüfung der<br />
Zeit bestehen.<br />
Es ist meist<br />
Resultat eines<br />
langen<br />
Prozesses<br />
Onlinejournalistin Della Frye alias Rachel<br />
McAdams einer Skandalgeschichte<br />
auf der Spur. Als der Enthüllungsspezialist<br />
aus der Printwelt zu seiner Onlinekollegin<br />
sagt: „Ich dachte, du bist längst<br />
unten und haust in deine Bloggertasten“,<br />
meint diese: „Bei so einer großen Geschichte<br />
sollten die Leute schon Druckerschwärze<br />
unter den Fingern haben, wenn<br />
sie es lesen. Findest du nicht?“<br />
Selbstverständlich können Sie mir<br />
jetzt vorwerfen, dass ich einen Film zitiere,<br />
der 2009 produziert wurde, als es<br />
möglicherweise noch eine kleine Hoffnung<br />
für Print gab. Aber die nächste<br />
Medienerfahrung, die ich anfüge, hat<br />
sich erst vor kurzer Zeit ereignet. Und<br />
sie stammt nicht aus der virtuellen Welt<br />
von Hollywood, sondern aus der Realität<br />
zwölfjähriger Schüler in Zürich.<br />
Das Schulamt der Stadt Zürich organisiert<br />
dreimal jährlich einen Kurs, in<br />
dem Kinder bis zwölf <strong>Jahre</strong> die Zeitung<br />
Flip Flop erarbeiten. Wie bei allen Zeitungen<br />
schaffen es nicht alle Artikel ins<br />
Blatt. „Wenn ich den Kindern dann jeweils<br />
vorschlage, einen Teil der Artikel<br />
online zu publizieren, sind sie mächtig<br />
enttäuscht“, sagt die Journalistin, die<br />
den Kurs begleitet: „Ihnen fehlt die Magie,<br />
dass ihre Artikel 15 000 Mal auf Papier<br />
existieren.“ Online zu erscheinen, ist<br />
offenbar auch heute bei den ganz Jungen<br />
noch nicht richtig cool. Oder ist es mehr?<br />
Woher kommt dieses Gefühl, dass<br />
auf Papier Gedrucktes „mehr wert“ sei?<br />
Vielleicht, weil Gedrucktes die Prüfung<br />
der Zeit bestehen muss. Es steht<br />
„schwarz auf weiß“, meint unauslöschlich,<br />
gesagt ist gesagt. Es meint Wertigkeit.<br />
Gedrucktes ist meistens das Resultat<br />
eines langen Prozesses von der Idee<br />
über die Recherche, von der Schreibe<br />
über das Gegenlesen bis zum Korrektorat.<br />
Erst dann wird „publiziert“. Und es<br />
bleibt fassbar, verschwindet nicht in der<br />
„Cloud“, dieser digitalen Wolke, genauso<br />
wenig fassbar wie die echte Wolke oben<br />
am Himmel.<br />
Außer zwölfjährigen Zürchern und<br />
amerikanischen Schauspielern scheint allerdings<br />
niemand mehr an eine Zukunft<br />
des Gedruckten zu glauben. Vor allem<br />
nicht die Journalisten traditioneller Medienhäuser.<br />
Aber auch für diese Situation<br />
habe ich eine Lebenserfahrung gemacht.<br />
Lineare Strategien eines Unternehmens<br />
führen zwangsläufig in die Sackgasse.<br />
Lineare Euphorie meistens in die Pleite.<br />
Deshalb möchte ich hier an den Lieblingssatz<br />
meiner Frau erinnern. Er stammt von<br />
Francis Picabia, einem der bedeutendsten<br />
Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts:<br />
„Der Kopf ist rund, damit das Denken die<br />
Richtung wechseln kann.“<br />
MICHAEL RINGIER ist Verleger und<br />
Herausgeber von <strong>Cicero</strong><br />
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Spektakuläre Justizirrtümer<br />
Es kann jeden treffen: Wer unschuldig in Haft gerät, geht durch<br />
die Hölle. Jan Schmitt rollt spektakuläre Kriminalfälle auf, lässt<br />
sie durch Prozessakten und Aussagen noch einmal lebendig<br />
werden. Der Überlebenskampf von Menschen, die nie straffällig<br />
geworden sind, liest sich spannend wie ein Krimi und gibt den<br />
Blick frei in das Innerste unserer Justiz – in ein oftmals intransparentes<br />
System mit vielen Schattenseiten.<br />
www.gtvh.de<br />
GÜTERSLOHER<br />
VERLAGSHAUS<br />
Jan Schmitt<br />
UNSCHULDIG IN HAFT<br />
Wenn der Staat zum Täter wird<br />
Mit einem Vorwort von Sonia Mikich<br />
235 S. / geb. mit Schutzumschlag<br />
€ 19,99 (D) / € 20,60 (A) / CHF* 28,50<br />
ISBN 978-3-579-07068-1<br />
*empf. Verkaufspreis
TITEL<br />
Europas goldene Zukunft<br />
GOLDENES<br />
EUROPA<br />
Ende Mai wählen die Europäer ihr Parlament. Nichts wird so<br />
lustvoll schlechtgeredet wie die Europäische Union. Warum<br />
eigentlich? Sie ist eine politische Jahrhundertidee, das Beste,<br />
was diesem Kontinent nach zwei Kriegen passieren konnte.<br />
Zehn Gründe, warum Europa großartig ist. Zehn<br />
leidenschaftliche Plädoyers namhafter Autoren<br />
Illustration MARTIN HAAKE<br />
22<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
23<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
TITEL<br />
Europas goldene Zukunft<br />
1. FRIEDEN<br />
Ein Krieg in Europa gilt trotz aller Krisen für viele als<br />
unvorstellbar. Das sollte uns aber nicht in Sicherheit wiegen<br />
Von JANUSZ REITER<br />
Es war 1986 in Warschau. Eine Gruppe junger Oppositioneller<br />
traf sich, weil einer von ihnen über seine<br />
Reise nach New York berichten sollte. Dort hatte er,<br />
selbst Historiker, einen im Exil lebenden Berufskollegen<br />
getroffen. Sie sprachen über das polnische Jozef-<br />
Pilsudski-Archiv, das während des Zweiten Weltkriegs in New<br />
York Zuflucht gefunden hatte. Hoffentlich werde das Archiv<br />
nach Polen zurückkehren, sagte der Besucher aus Warschau.<br />
Der New Yorker reagierte entschlossen: „Niemals!“ „Wieso niemals?“,<br />
empörte sich der Jüngere, „auch nicht wenn Polen frei<br />
wird?“ „Nein, auch dann nicht!“ Gerade als Historiker müsse<br />
man doch wissen, dass Polen ein viel zu unsicherer Ort sei, als<br />
dass man dort so wertvolle Archivbestände deponieren könne.<br />
Die Gewissheit des Exilpolen, dass es zwischen Oder und<br />
Bug keine dauerhafte Sicherheit geben könne, ließ die Teilnehmer<br />
der Warschauer Diskussion nicht los. Sie sprachen über die<br />
Ost-West-Teilung, aber auch über Polens Geopolitik zwischen<br />
Russland und Deutschland, suchten nach Auswegen aus einer<br />
scheinbar ausweglosen Situation. Ihr Fazit lautete: Man darf<br />
vor der Geografie nicht kapitulieren. Man muss für die polnische<br />
Frage eine europäische Lösung finden. Die meisten kamen<br />
zu dem Schluss, dass es ohne eine Vereinigung Deutschlands<br />
kaum Chancen für einen europäischen Aufbruch geben wird.<br />
Keiner der Gesprächsteilnehmer konnte damit rechnen, dass<br />
solche Überlegungen nur drei <strong>Jahre</strong> später Wirklichkeit werden<br />
würden. Schon gar nicht konnten sie ahnen, dass sich innerhalb<br />
von 15 <strong>Jahre</strong>n mit dem Nato- und EU-Beitritt Polens Geopolitik<br />
grundlegend verändern würde. Auch das deutsch-polnische Verhältnis<br />
hat alle Erwartungen übertroffen. Inzwischen halten viele<br />
Polen die vergangenen 25 <strong>Jahre</strong> für die erfolgreichste, glücklichste<br />
Epoche der polnischen Geschichte. Und das habe viel mit<br />
Europa zu tun. Erst mit der Ukrainekrise wird diese Bilanz mit<br />
etwas Unsicherheit gezogen. Geht die beste Zeit schon zu Ende?<br />
Nein, die Frage von Krieg und Frieden wird nicht direkt<br />
gestellt. Ein Krieg innerhalb der EU gilt weiter als undenkbar.<br />
Was aber, wenn er in unmittelbarer Nachbarschaft auszubrechen<br />
droht? Oder wenn es gar keinen Krieg gibt, aber ein Staat<br />
seine Unabhängigkeit als Ergebnis einer „diplomatischen Lösung“<br />
verliert? So abwegig ist der Gedanke nicht. Die Teilungen<br />
Polens Ende des 18. Jahrhunderts waren ein Ergebnis der<br />
Diplomatie. Die russische Zarin entwarf in Moskau die innere<br />
Ordnung Polens, ihre Agenten sorgten in Polen dafür, dass sie<br />
die nötige Unterstützung fanden. Am Ende verschwand Polen<br />
von der politischen Landkarte. Vor den Teilungen war Polen ein<br />
pazifistisches Land. Ein militärisch schwacher Staat provoziere<br />
niemanden, argumentierte der regierende Adel, und würde deshalb<br />
von den Nachbarn in Ruhe gelassen. Heute kann man nur<br />
sagen: Wie dumm, seine Nachbarn nicht richtig zu kennen …<br />
Der Fehler, die Außenwelt nicht zu verstehen, könnte auch<br />
die EU teuer zu stehen kommen. Sie ist weder schwach noch<br />
klein. Sie wird von vielen beneidet, imponiert aber wenigen.<br />
Sie hält sich für eine Ausnahme, hat aber, anders als Amerika,<br />
nicht den Ehrgeiz, ihr Modell anderen anzubieten. Sie<br />
will sich vor der Welt schützen, anstatt sie zu gestalten. Wenn<br />
eine Macht wie Russland zu verstehen gibt, die EU sei ein Nebenprodukt<br />
des Kalten Krieges und habe zumindest mit dessen<br />
Ende ihre Existenzberechtigung verloren, tun wir so, als<br />
ob wir nicht wüssten, worum es geht.<br />
Doch seit der Ukrainekrise müssten wir das genau wissen.<br />
Es geht darum, ob das Friedensprojekt EU nur eine relativ kurze<br />
Episode in der Geschichte Europas bleibt. Oder ob die EU den<br />
Mut aufbringt, Freunde zusammenzubringen und Gegner fernzuhalten.<br />
Es geht darum, ob die Union genug Selbstrespekt findet,<br />
um anderen zu imponieren. Und es geht um ihr Konzept des Friedens,<br />
zu dem mehr gehört als die Abwesenheit von Krieg. Was<br />
das genau ist? Der Luxus, dem Nachbarn vertrauen zu können.<br />
JANUSZ REITER war Botschafter Polens in Berlin und<br />
Washington. Der 61-Jährige ist zurzeit Richard-von-Weizsäcker-<br />
Fellow der Robert-Bosch-Stiftung<br />
24<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Illustration: Martin Haake<br />
25<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
TITEL<br />
Europas goldene Zukunft<br />
2. LANDSCHAFTEN<br />
Eine Reise durch Europa ist wie der Gang durch eine reiche<br />
Ausstellung – hinter jeder Ecke eröffnet sich ein neues Bild<br />
Von WOLFGANG BÜSCHER<br />
Die romantische Vorstellung vom Reisen geht dahin,<br />
es erweitere das Bewusstsein, und der Reisende<br />
kehre stets fremder heim, als er losgezogen<br />
sei. Das ist auch nicht ganz falsch. Und doch kann<br />
ich sagen, von jeder großen Reise bin ich europäischer<br />
heimgekommen, als ich loszog.<br />
Ein Blick auf den Globus ist deprimierend. Er zeigt Europa<br />
als verzipfelte, ausfransende Warze am eurasischen Großkontinent.<br />
Aber der Astronautenblick sieht das Wesentliche<br />
nicht. Was so klein und zerklüftet ausschaut, ist Europas unverwechselbare<br />
Stärke. Nur hier herrscht nicht die Wucht schierer<br />
Fläche und Masse. Nur hier hat sich, begünstigt von einem<br />
lebensfreundlichen Klima, ein unglaublicher Reichtum des Besonderen<br />
herausgebildet. Und mir scheint, die Landschaft hat<br />
starken Anteil daran. Dass die Schweizer anfingen, Uhren zu<br />
bauen, die besten der Welt, hat etwas mit ihren Tälern zu tun.<br />
Dass die Italiener Kleidung herstellen, die beste der Welt, hat<br />
etwas mit Städten zu tun, in denen man Lust hat, sie auszuführen.<br />
Und dass die Deutschen Autos bauen, die besten der<br />
Welt, hat etwas mit den Bewegungsgesetzen unserer kontinentalen<br />
Zentrallage zu tun. Die Reihe ließe sich lange fortsetzen.<br />
Europas Genius lebt und webt in Landschaften. Es gibt<br />
Landschaften der Renaissance, solche der Reformation und katholisch<br />
durchbildete Landschaften. Es gibt Magna-Graecia-<br />
Küsten mit uralten Handelsstädten und karge Gegenden, die<br />
Konquistadoren brüteten. Es gibt die Wein-, Bier- und Schnapsbreiten,<br />
sie teilen Europa entlang von landschaftlichen so gut<br />
wie kulturellen, ja religiösen Meridianen: der weinige Westen,<br />
die bierige Mitte, der schnapsige Osten. Und das sind nur die<br />
allergröbsten Striche eines ungeheuer fein gezeichneten Bildes.<br />
Karl Marx hat von der asiatischen Despotie gesprochen.<br />
Nachdem ich durch die Große Kasachensteppe gefahren bin,<br />
durch die Gluthitze des Persischen Golfes und andere Zonen<br />
von mächtiger Monotonie, denke ich, es gibt auch eine Despotie<br />
solcher Landschaften. Eine Despotie der Sonne, des Staubes,<br />
der Tropen. Es gibt Entsprechungen zwischen Staats- und<br />
Landschaftsformen. Ich vermag mich nicht darüber zu wundern,<br />
dass der deutsche Rechtsstaat oder die italienische Stadtrepublik<br />
nicht in der arabischen Wüste entstanden sind.<br />
Durch die gewaltig-monotonen Landschaften der Großkontinente<br />
zu reisen, hat seine Magie und Schönheit, ich möchte<br />
sie nicht missen. Aber es bleibt eine Reise durch ein einziges so<br />
monströses wie grandioses Bild. Durch Europa zu reisen, ist etwas<br />
radikal anderes. Es heißt, Bilder über Bilder zu sehen, hinter<br />
jeder Biegung des Flusses, der Autostrada ein neues – durch<br />
eine unfassbar reiche Ausstellung zu gehen, von Saal zu Saal,<br />
und in jedem wechseln Licht, Farben, Motive.<br />
Die europäische Malerei, Musik, Literatur, sie konnten nur<br />
hier entstehen, in diesem von Natur und Mensch in Jahrtausenden<br />
durchgeistigten, durchgearbeiteten Weltwinkel. Das ist<br />
Europas Charme und Genius – das Durchgearbeitete, wieder<br />
und wieder. Eine Dignität der Erinnerung, die das Neue sät,<br />
nicht erstickt. Das geht nicht in der Steppe, in der Wüste, in<br />
der Prärie, das geht nur hier. Aus all dem heraus lebe, träume,<br />
schreibe ich, auch wenn ich fern davon bin.<br />
WOLFGANG BÜSCHER, Jahrgang 1951, ist Reiseschriftsteller<br />
und Reporter bei der Tageszeitung Die Welt. Sein Buch „Berlin –<br />
Moskau. Eine Reise zu Fuß“ war ein Bestseller<br />
Illustration: Martin Haake<br />
26<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
3. WOHLSTAND<br />
Die Kaufkraft der Europäer ist in den vergangenen 25 <strong>Jahre</strong>n<br />
fast kontinuierlich gewachsen – und das lässt sich fortsetzen<br />
Von ALAIN MINC<br />
Illustration: Martin Haake<br />
Obwohl Europäer sich dessen nicht bewusst sind,<br />
leben sie in einem Fleckchen Paradies und hätten<br />
viele Gründe, stolz zu sein.<br />
In der Eurokrise haben die Regierungschefs<br />
und die Europäische Zentralbank ihre Arbeit getan.<br />
Sie haben die notwendigen Maßnahmen ergriffen, selbst<br />
wenn dies für einige Länder mit schmerzhaften Reformen einherging.<br />
Lassen wir den Sonderfall Griechenland beiseite; dort<br />
müssten vor allem Steuern effizienter erhoben werden. Die Kaufkraft<br />
der Spanier und Portugiesen ist zwar gesunken. Doch gemessen<br />
an den Vorteilen, die diese Länder vom Beitritt zur Währungsunion<br />
haben, ist es ein wenig wie in der Bibel: Nach den<br />
sieben fetten <strong>Jahre</strong>n des Überflusses kommen die mageren. Insgesamt<br />
hat sich Europa mit viel Können aus einer Krise herausgearbeitet,<br />
die aus den Vereinigten Staaten importiert worden war.<br />
Wer hätte sich einst vorstellen können, dass Deutschland<br />
einen Mechanismus zur finanziellen Hilfe für EU-Mitgliedstaaten<br />
akzeptieren würde? 2008 hatte es in Amerika sechs Monate<br />
gedauert, bis ein Rettungsplan für die Banken bereitlag;<br />
2011 stand der Staat am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Die<br />
Mitgliedstaaten der Eurozone hingegen konnten Griechenland<br />
ihre Hilfe schnell zusichern. Europa kommt im Krebsgang voran,<br />
aber die Blockaden in Brüssel sind längst nicht so gravierend wie<br />
in Washington. Barack Obama skandiert „Yes we can“, aber er<br />
handelt nicht. Europa hat zwar kein Gesicht, aber es packt an.<br />
Denjenigen, die das schwache Wachstum als Argument vorbringen,<br />
sage ich: Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts<br />
pro Kopf ist relevanter. Die Kluft zwischen Europa und den USA<br />
fällt dabei viel kleiner aus. Mittel- und langfristig ist es uns gelungen,<br />
das Gleichgewicht zwischen Protektion und Wettbewerb<br />
zu wahren, das den Kern des europäischen Modells bildet. Um<br />
die deutsche Wirtschaft wieder anzukurbeln, hatte Gerhard<br />
Schröder den Sozialstaat zwar angetastet, ihn aber nicht grundsätzlich<br />
infrage gestellt. Auch in anderen Ländern können wir<br />
die soziale Marktwirtschaft rationaler gestalten, Verzerrungen<br />
korrigieren, ohne sie radikal umzukrempeln.<br />
Innerhalb der westlichen Welt ist die europäische Gesellschaft<br />
recht egalitär. Der Anteil des 1 Prozents der Reichsten<br />
am Nationaleinkommen betrug vor 30 <strong>Jahre</strong>n in den USA 8 Prozent.<br />
In Europa war es ähnlich. Heute repräsentiert dasselbe<br />
1 Prozent ein Viertel des amerikanischen Nationaleinkommens,<br />
in Europa sind wir bei 8 bis 9 Prozent geblieben. Wenn wir ein<br />
gewisses Maß an Gleichheit für einen Grundwert halten, dann<br />
ziehe ich das europäische System bei weitem dem amerikanischen<br />
vor. Die Kaufkraft der Europäer ist außerdem in 25 <strong>Jahre</strong>n<br />
fast kontinuierlich gewachsen. Auch die These, die Konkurrenz<br />
der Schwellenländer stelle ein Problem dar, ist ein Hirngespinst.<br />
Im Gegenteil. Diese Länder sind hervorragende Kunden, und<br />
der Export ist ein Beschäftigungsmotor.<br />
Was wiederhergestellt werden muss, ist kein gutgläubiger<br />
Optimismus, sondern Vertrauen. Politiker neigen dazu, aus Europa<br />
einen Sündenbock für alles zu machen. Man muss damit<br />
rechnen, dass Populisten an Bedeutung gewinnen. Aber wir<br />
leben nicht im Jahr 1933! Europa hat alle Möglichkeiten, den<br />
Weg zu mehr Konjunktur und Stabilität zu finden.<br />
ALAIN MINC, Jahrgang 1949, ist einer der führenden<br />
Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen Frankreichs. Er beriet<br />
den ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy<br />
27<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
TITEL<br />
Europas goldene Zukunft<br />
4. EINFALLSREICHTUM<br />
Keine Region der Welt exportiert so viele Ideen wie Europa.<br />
Aber wir müssen uns anstrengen, damit das auch so bleibt<br />
Von BENOÎT BATTISTELLI<br />
Innovation, insbesondere technische Innovation – und darum<br />
geht es bei Patenten – ist der Schlüssel zur Zukunft.<br />
Sie schafft Arbeitsplätze und Wohlstand. In unserer heutigen<br />
Wissensgesellschaft zeichnen sich erfolgreiche Unternehmen<br />
in erster Linie dadurch aus, dass sie immer an vorderster<br />
Front ihres jeweiligen Technologiegebiets stehen. Das<br />
geistige Eigentum, das durch ihre Forschungs- und Entwicklungstätigkeit<br />
entsteht, braucht Schutz – unter anderem durch<br />
Patente. Mehr als 66 000 Patente hat das Europäische Patentamt<br />
im vergangenen Jahr erteilt, nach rigoroser Prüfung, in<br />
höchster Qualität und an Erfinder aus der ganzen Welt.<br />
Regelmäßig höre ich, Europa sei beim Thema Erfindungen<br />
ins Hintertreffen geraten, nicht nur was die Anzahl der Patente<br />
anbelangt, sondern auch, was seine Rolle im weltweiten<br />
Wettbewerb um die besseren Ideen und Produkte betrifft. Die<br />
Fakten sprechen eine andere Sprache: Keine Region der Welt<br />
exportiert so viele seiner Ideen in die ganze Welt. Europa erwirtschaftet<br />
sozusagen eine positive Innovationsbilanz. Ob es<br />
die USA, Japan oder China sind – die Patentanfragen europäischer<br />
Unternehmen überwiegen jeweils bei weitem die Schutzanfragen<br />
von Erfindern dieser Länder in Europa. Umgekehrt<br />
ist Europa ein offener Markt für innovative Unternehmen aus<br />
der ganzen Welt. Und das ist gut so: Eine Welt ohne Protektionismus<br />
ist in meinen Augen eine bessere Welt. Gerade für<br />
junge Menschen sind die Perspektiven in einer offenen Welt<br />
weit größer als in geschlossenen Ökonomien.<br />
Wir Europäer haben beim Thema Innovation eine besondere<br />
Pflicht: Die Systeme zum Schutz geistigen Eigentums<br />
basieren auf einer zutiefst europäischen Idee, die Ende des<br />
18. Jahrhunderts ihren Siegeszug um den Globus angetreten hat<br />
und mittlerweile überall Anerkennung findet. Darauf können<br />
wir stolz sein, aber das reicht nicht. Europa muss eine führende<br />
Rolle bei der Entwicklung eines globalen Patentsystems spielen.<br />
So freuen wir uns, dass China sein Patentsystem weitgehend<br />
am europäischen ausgerichtet hat. Das hilft europäischen<br />
Unternehmen, wenn sie den chinesischen Markt erobern wollen.<br />
Wir sehen es ebenso gerne, dass mehr als 40 Patentämter überall<br />
auf der Welt mit den von uns entwickelten elektronischen<br />
Systemen etwa zur Patentrecherche arbeiten, und dass unsere<br />
Patentdatenbanken als die weltweit umfangreichste Sammlung<br />
technischen Wissens angesehen werden.<br />
Wenn es um einzelne Technologien geht, ist Europa in vielen<br />
Bereichen weltweit vorne dabei. Allerdings ist das kein Grund,<br />
uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen. Wer aufhört zu forschen<br />
und zu entwickeln, der gibt die Zukunft auf. In manchen Bereichen<br />
ist das leider schon weitgehend geschehen: In der digitalen<br />
Kommunikation oder in der Unterhaltungselektronik spielt Europa<br />
nur noch eine untergeordnete Rolle. Hier zeigt sich, dass<br />
Deindustrialisierung nicht zuletzt zu einer Schwächung der eigenen<br />
Innovationsfähigkeit führt. Bei der Biotechnologie muss<br />
und kann eine ähnliche Entwicklung noch verhindert werden.<br />
Deshalb freue ich mich, dass die EU diese Bereiche in ihre Liste<br />
der „Lead technologies“ aufgenommen hat und jetzt Anstrengungen<br />
zur Reindustrialisierung unternimmt.<br />
Unsere Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen<br />
gehören nach wie vor zu den kreativsten weltweit.<br />
Wir müssen aber Anstrengungen unternehmen, um die Rahmenbedingungen<br />
für Innovation zu verbessern. Das fängt beim<br />
Risikokapital an und hört beim Patentsystem selbst auf. Ein<br />
wichtiger Schritt war die Entscheidung, die bestehenden, immer<br />
noch zu einem weiten Teil nationalen Patentsysteme zumindest<br />
in 25 EU-Staaten zu vereinheitlichen. Damit wird das System<br />
nicht nur zugänglicher, sondern auch bis zu 70 Prozent kosteneffizienter.<br />
Ich kann die EU-Staaten deshalb nur dazu auffordern,<br />
den Vertrag zur Gründung eines EU-Patentgerichts zügig<br />
zu ratifizieren, damit das neue System in Kraft treten kann.<br />
BENOÎT BATTISTELLI ist Präsident des Europäischen Patentamts<br />
in München, einer Organisation mit 38 Mitgliedstaaten, darunter<br />
sämtliche EU-Länder. Battistelli, Jahrgang 1950, ist Franzose<br />
28<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Illustration: Martin Haake<br />
29<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
30<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
TITEL<br />
Europas goldene Zukunft<br />
5. DEMOKRATIE<br />
Die Verfasstheit einer Gesellschaft erkennt man auch an den<br />
Seitenstreifen der Straßen. Gut, dass wir diese Streifen haben<br />
Von K AREL HVÍŽĎALA<br />
Illustration: Martin Haake<br />
Als ich im Sommer 1978 ins Exil ging, sagte mir ein<br />
deutscher Freund: „Stell dir vor, ich war vor kurzem<br />
in der Tschechoslowakei, und das totalitäre<br />
Regime kann man bei euch bereits auf dem Weg<br />
vom Flughafen erkennen. Es fehlen die weißen Seitenstreifen<br />
an den Straßen. Die Bürger wissen also nicht, wo die<br />
Grenzen des Bereichs verlaufen, für den der Staat haftet, und ab<br />
welcher Stelle der Fahrer die Verantwortung übernimmt. Das<br />
ist in einer funktionierenden Demokratie unzulässig.“<br />
Damals ist mir zum ersten Mal klar geworden, was Demokratie<br />
in der Praxis bedeutet: eine Gemeinschaft vollberechtigter<br />
Bürger, die die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten<br />
und somit auch der öffentlichen Straßen übernehmen. Sie<br />
schützt die Bürger – und dient nicht einer kleinen Anzahl von<br />
manipulativen Machthabern. Im heutigen Europa sind weiße<br />
Seitenstreifen fast allgegenwärtig, sie enden irgendwo in Polen<br />
hinter Bialystok und in der Slowakei hinter Košice. Wir<br />
teilen gemeinsam einen vernetzten Raum und somit auch die<br />
Regeln und Vorstellungen darüber, wie man Demokratie weiterentwickeln<br />
kann.<br />
Ich erinnere mich bis heute, wie wir das erste Mal aus<br />
Deutschland über Österreich in die italienischen Alpen zum<br />
Skifahren gereist sind und unterwegs nicht ein einziges Mal angehalten<br />
wurden. Nur mein kleiner Sohn beschwerte sich, denn<br />
für ihn waren die Grenzüberschreitungen ins freie Europa so<br />
etwas wie ein Actionspiel gewesen. Er musste dann immer so<br />
tun, als ob er im Auto auf dem Rücksitz schlafen würde, während<br />
unter ihm gestapelte Manuskripte versteckt waren. Hätten<br />
die Zollbeamten sie entdeckt, wären wir im Gefängnis gelandet.<br />
Heute können meine Enkel solche Geschichten nicht glauben.<br />
Wer heute von Berlin nach Prag fährt, wird nicht an der<br />
Grenze abgebremst, sondern erst dort, wo die Autobahn endet<br />
– und zwar von protestierenden Umweltschützern, die verhindern<br />
wollen, dass diese neue und wichtige Verkehrsader die<br />
herrliche Natur des Böhmischen Mittelgebirges zerstört. Auch<br />
das ist Demokratie: Die Bürger haben das Recht, ihre Landschaft<br />
zu verteidigen.<br />
Demokratie ist jedoch kein starrer Zustand, sondern ein<br />
endloser Prozess, der mit der jeweiligen Tradition in den unterschiedlichen<br />
Ländern zusammenhängt. Sie wird in Großbritannien,<br />
wo ihr Beginn markiert wird von der mythischen Magna<br />
Carta aus dem Jahr 1215, anders verstanden als in Frankreich,<br />
wo sie ihre Wurzeln hat in der Französischen Revolution des<br />
<strong>Jahre</strong>s 1789. Anders auch in Deutschland und Österreich, wohin<br />
sie nach 1945 exportiert wurde. In Mitteleuropa konnte<br />
die Demokratie sogar erst nach 1989 Fuß fassen. Heute bauen<br />
wir in Europa an einer neuen, gemeinsamen demokratischen<br />
Tradition – was dazu führt, dass man anfängt, über die Demokratie<br />
anders zu denken. Der Soziologe und Philosoph Ralf<br />
Dahrendorf fasste es vor einigen <strong>Jahre</strong>n in seinem Buch „Der<br />
Wiederbeginn der Geschichte“ zusammen.<br />
Die gegenwärtig nachklingende Krise der Europäischen<br />
Union sowie die aggressive Annexion der Krim durch Russland,<br />
die der Annexion des Sudetenlands durch Deutschland<br />
im Jahr 1938 sehr ähnlich ist, könnten für die gesamte Europäische<br />
Union womöglich eine große Chance sein, um Veränderungen<br />
herbeizuführen. Ich denke da beispielsweise an eine<br />
noch engere Zusammenarbeit, insbesondere was Verteidigung<br />
und Sicherheit betrifft.<br />
Es sind letztlich einige Grundwerte, die die Basis unseres<br />
gemeinsamen Kontinents bilden: Freiheit, Gleichheit, Toleranz,<br />
Rechtsstaatlichkeit. Es sind die Prinzipien der Demokratie.<br />
Europa ergibt einen Sinn, solange wir noch über und<br />
für diese Werte streiten. Es ist ein Streit über das Wesen Europas.<br />
Solange wir diesen Streit mit Ausdauer und ohne Unterlass<br />
führen, wie Nietzsche sagte, befinden wir uns in Europa.<br />
KAREL HVÍŽĎALA ist einer der bekanntesten Journalisten und<br />
Essayisten Tschechiens. Die Bücher des 1941 geborenen Havel-<br />
Biografen sind auch auf Deutsch erschienen<br />
31<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
TITEL<br />
Europas goldene Zukunft<br />
6. KULTUR<br />
Europa ist weniger ein Kontinent denn eine kulturelle<br />
Lebensform – und deren Mission ist noch lange nicht erfüllt<br />
Von CHRISTOPH STÖLZL<br />
Wir sind schon durch ein Dutzend Fürstenthümer,<br />
durch ein halbes Dutzend Großherzogthümer<br />
und durch ein paar Königreiche<br />
gelaufen, und das in der größten Übereilung<br />
in einem halben Tag.“ So ruft es in Georg<br />
Büchners „Leonce und Lena“ der Hofnarr Valerio seinem Prinzen<br />
zu, mit dem er auf romantische Italienreise ausgezogen ist.<br />
Souveränität im Kleinen ist das europäische Urprinzip. Nicht<br />
Flächenstaat und Zentralismus, sondern Pluralismus vieler Majestäten<br />
machte und macht den Reichtum des Kontinents aus,<br />
der nur dem Namen nach einer ist.<br />
Hätten die beiden Wanderer in Büchners Lustspiel in allen<br />
Staaten, die sie so flugs durchquerten, einen Abstecher in die<br />
Theater und Opernhäuser, Philharmonien und Museen, Schlösser<br />
und Parks, Kathedralen und Kapellen gemacht – sie wären bis<br />
heute nicht beim Happy End des Dramas angekommen. Allein<br />
in Deutschland öffnen sich 6250 Museen jährlich <strong>10</strong>6 Millionen<br />
Besuchern, und um die Musikfreunde wetteifern 132 Symphonieorchester<br />
und 82 Opernhäuser. Aber was sollen Statistiken:<br />
Mutatis mutandis sieht es bei unseren Nachbarn ähnlich aus. Wer<br />
Europa durchwandert, der erlebt einen unermesslichen Reichtum<br />
an Ausdrucksformen, an Variationen der Künste auf den<br />
verschiedensten Feldern der Humanität. Elementar ist die Polyfonie<br />
der Kommunikation: Europas Menschen und also auch<br />
Kulturen sprechen viele Sprachen und Dialekte. Die europäische<br />
Seele ist vielsprachig, und sie fühlt und erlebt sich selbst so.<br />
Das alles zusammen nennen wir „Kultur“, und nur Puristen<br />
mokieren sich über die Ungenauigkeit dieses Begriffs, der<br />
das Abstrakte wie die Kunst der Fuge wie das Sinnliche der<br />
Kochkunst umgreifen kann. Seit die antiken Denker Europa<br />
zu definieren begannen, fanden sie, es handle sich vor allem<br />
um eine kulturelle Lebensform. Sie hat bis heute eine erstaunliche<br />
Kontinuität der Schönheitsideale und Gestaltungsprinzipien<br />
bewahrt. Sie ist seit drei Jahrtausenden in einem unendlichen<br />
Selbstgespräch über das Verhältnis von Gut und Böse,<br />
von Schön und Hässlich. Sie hat aus drei radikal verschiedenen<br />
Weltentwürfen, dem griechisch-individualistischen, dem<br />
römisch-rechtlichen und dem jüdisch-christlichen der Nächstenliebe<br />
eine Synthese versucht, die nie vollständig gelungen<br />
ist und darum als Vor-Wurf ewig lebendig bleibt.<br />
Wie sieht es mit der Zukunft aus? Nach Befunden der Uno<br />
lebten im <strong>Jahre</strong> 1900 in Europa 21 Prozent der Weltbevölkerung;<br />
heute sind es weniger als 12 Prozent, und am Ende unseres<br />
Jahrhunderts werden es den Schätzungen zufolge weniger als<br />
4 Prozent sein. Wird Europa zu einer quantité négligeable der<br />
Menschheitsgeschichte? Dazu wird es nicht kommen. Denn<br />
die Mission Europas ist noch lange nicht erfüllt. Die europäische<br />
Doppelformel von forschendem, formendem Menschengeist<br />
und forderndem Menschenrecht ist immer noch auf ihrem<br />
Weg rund um den Globus – selbst verschuldete Rückschläge inbegriffen.<br />
Aber es gibt für uns Europäer keine Alternative dazu.<br />
Wer das Goethe’sche „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“<br />
über Bord wirft und Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Freiheit<br />
des Individuums garantiert, sich in allen Formen Gehör zu<br />
verschaffen in der Welt, der ist schon halb verloren.<br />
CHRISTOPH STÖLZL ist Präsident der Hochschule für Musik<br />
Franz Liszt in Weimar. Der Historiker, Jahrgang 1944, war von<br />
2000 bis 2001 Berliner Kultursenator<br />
Illustration: Martin Haake<br />
32<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
7. KÜCHE<br />
So große Vielfalt auf so kleinem Raum – auch deshalb bleiben<br />
die Küchen Europas ein globaler Innovationsmotor<br />
Von JUAN AMADOR<br />
Ich bin als Sohn spanischer Gastarbeiter in Schwaben aufgewachsen,<br />
und diese Herkunft war für mich natürlich auch<br />
beim Essen prägend – zu meiner kulinarischen Sozialisation<br />
hat die Paella meiner Mutter genauso gehört wie Maultaschen<br />
und Zwiebelrostbraten. Nicht zu vergessen französische<br />
Spezialitäten wie Käse, Geflügelgerichte oder sogar<br />
Gänseleberpastete, die ich bereits als Kind kennenlernen durfte,<br />
wenn wir früher regelmäßig Verwandte im Elsass besucht haben.<br />
Und genau darin zeigt sich eigentlich schon, was die „europäische<br />
Küche“ so besonders macht: Es ist ihre geradezu überwältigende<br />
Vielfalt, noch dazu auf einem eher kleinen Raum.<br />
Der gastronomische Variantenreichtum entspricht gewissermaßen<br />
dem Landschaftsbild unseres Kontinents, weswegen ich den<br />
Begriff „Küchen Europas“ bevorzuge. Wer etwa durch Asien<br />
reist, dem erscheinen die kulinarischen Unterschiede von Region<br />
zu Region doch eher nuancenhaft. Wer dagegen von Flensburg<br />
nach Freiburg fährt oder gar von Nordfrankreich ans Mittelmeer,<br />
dem wird unterwegs gehörige Abwechslung auf dem<br />
Teller geboten.<br />
Respekt davor, wie konsequent etliche meiner Kollegen – besonders<br />
im hohen Norden – diesen Ansatz verfolgen. Denn darin<br />
spiegelt sich ja auch das Bedürfnis der Europäer nach regionaler<br />
Identität. Von europäischer Gleichmacherei kann also<br />
keine Rede sein, im Gegenteil. Ich denke, dass wir in dieser<br />
Hinsicht besonders aus den Küchen Osteuropas in Zukunft noch<br />
einiges zu erwarten haben. Denn vom kulinarischen Potenzial<br />
her haben Länder wie Polen, Bulgarien, Rumänien oder auch<br />
Russland sehr viel zu bieten. Um die Zukunft Europas braucht<br />
man sich also keine Sorgen zu machen – zumindest nicht, was<br />
die Gastronomie betrifft.<br />
JUAN AMADOR, 1968 in der Nähe von Stuttgart geboren, zählt<br />
zu den besten Köchen Deutschlands. Sein Restaurant Amador in<br />
Mannheim ist mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet<br />
Illustration: Martin Haake<br />
EUROPA WAR SCHON IMMER ein großer Impulsgeber für globale<br />
Küchentrends – man denke nur an den Siegeszug der Pizza<br />
oder an das Raffinement der französischen Haute Cuisine, die<br />
ganze Generationen von Spitzenköchen in aller Welt geprägt<br />
hat. Ich glaube, daran wird sich auch nichts ändern, weil Europa<br />
gerade wegen seiner unterschiedlichen Küchen eine Art kulinarisches<br />
Laboratorium bleibt. Aus Spanien, dem Land meiner<br />
Eltern, stammt ja eine der wichtigsten gastronomischen Innovationen<br />
der vergangenen zwei Jahrzehnte, nämlich die Molekularküche.<br />
Und das ist gewiss kein Zufall, weil die Spanier<br />
(allen voran das Küchengenie Ferran Adrià) einen Nachholbedarf<br />
gegenüber ihren französischen Nachbarn spürten. Außerdem<br />
war die spanische Küche bis dahin ziemlich einfach und<br />
rustikal, was dort einen radikalen Neuanfang einfacher machte<br />
als in den traditionsbewussten Spitzenküchen Frankreichs. So<br />
fordern sich die Küchen Europas nicht nur immer wieder zu<br />
Höchstleistungen heraus; sie befruchten einander auch in Sachen<br />
Kochtechnik oder Produktauswahl.<br />
Seit einigen <strong>Jahre</strong>n gibt es ja den Trend zur verfeinerten<br />
Regionalküche, sogar auf allerhöchstem Niveau. Ich selbst bin<br />
zwar kein Anhänger davon, weil ich mir bei meiner Arbeit<br />
keine Beschränkungen auferlegen will. Aber ich habe großen<br />
33<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
TITEL<br />
Europas goldene Zukunft<br />
8. RECHT UND ORDNUNG<br />
Der europäische Rechtsstaat ist Realität – er garantiert seinen<br />
Bürgern größtmögliche Freiheit und Sicherheit<br />
Von RUPERT SCHOLZ<br />
Obwohl der europäische Einigungsprozess in der<br />
jüngsten Vergangenheit auf viel Kritik gestoßen<br />
ist – von der Eurokrise bis hin zu überzogener<br />
Bürokratie und Kompetenzexpansionismus<br />
bei den Organen der EU –, hat er Grundlegendes<br />
geleistet, vor allem in den Bereichen von Demokratie und<br />
Rechtsstaatlichkeit. Artikel 2 des Vertrags über die Europäische<br />
Union (EUV) bekennt sich ausdrücklich zu den „grundlegenden<br />
Werten“ des Schutzes der Menschenwürde, der Freiheit,<br />
der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit<br />
und der Wahrung der Menschenrechte. Artikel 3 des EUV garantiert<br />
den Bürgerinnen und Bürgern der EU „einen Raum<br />
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“.<br />
Dies alles baut auf den gemeinsamen rechtsstaatlichen<br />
und demokratischen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten<br />
der Europäischen Union auf und verdichtet diese zum<br />
nicht nur gemeinsamen Programm, sondern auch zur verbindlich-gemeinsamen<br />
Gesamtstruktur.<br />
Herausragend ist der Schutz der Menschenwürde und der<br />
Menschenrechte. In ihm liegt der Grundwert nicht nur der Verfassungstraditionen<br />
aller Mitgliedstaaten der EU, sondern auch<br />
der aller modernen Verfassungsstaatlichkeit. In den Anfängen<br />
des europäischen Einigungsprozesses gab es hierzu noch keine<br />
gemeinschaftsrechtlichen Verbürgungen. Aber der Europäische<br />
Gerichtshof hat diese Lücke sehr bald geschlossen und die zentralen<br />
Grundlagen für einen an Menschenwürde und Menschenrechte<br />
gebundenen europäischen Rechtsstaat gelegt. Ihre Vollendung<br />
hat diese Entwicklung über den EUV und den Vertrag<br />
über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie<br />
ganz entscheidend über die Europäische Grundrechtecharta<br />
erfahren. Allerdings hat bereits zuvor die Europäische Menschenrechtskonvention<br />
aus dem Jahr 1950 für alle Mitgliedstaaten<br />
des Europarats verbindliche Grundrechtsgewährleistungen<br />
festgelegt und in der Zuständigkeit des Europäischen<br />
Gerichtshofs für Menschenrechte auch abgesichert.<br />
In alledem spiegelt sich eine gemeinsame europäische<br />
Rechtskultur wider, die in den vergangenen 200 <strong>Jahre</strong>n Schritt<br />
für Schritt erwachsen wurde und die heute für jedermann in<br />
Europa zur wahrhaftigen Selbstverständlichkeit geworden ist.<br />
Der europäische Rechtsstaat ist heute gesellschaftliche Realität;<br />
niemand in Europa stellt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit<br />
infrage. Wer sich daran nicht hält, untersteht den Sanktionsmechanismen<br />
des europäischen Unionsrechts und kann nicht<br />
Mitglied der EU werden. Die Diskussion um die mitgliedschaftlichen<br />
Ambitionen etwa der Türkei demonstrieren dies in aller<br />
Nachhaltigkeit. Die Europäische Union wahrt Demokratie und<br />
Rechtsstaatlichkeit, und sie findet in diesen Grundprinzipien<br />
moderner Verfassungsstaatlichkeit ebenso die eigene Grundlegitimation<br />
wie die maßgebende integrierende Grundgemeinsamkeit.<br />
Dies alles steht nicht mehr zur Diskussion – und dies<br />
alles gehört zu den ganz großen Leistungen des europäischen<br />
Einigungsprozesses.<br />
Rechtsstaatlichkeit bedeutet für den Bürger Gewähr von<br />
Freiheit und Gewähr von Rechtssicherheit. In freiheitsrechtlicher<br />
Sicht ist der europäische Rechtsstaat fast komplett. In<br />
sicherheitsrechtlicher Hinsicht besteht jedoch noch weiterer<br />
Entwicklungsbedarf. Trotz einiger institutioneller Anfänge,<br />
wie der in Gestalt von Europol, verharrt auch die grenzüberschreitende<br />
Sicherheitspolitik nach wie vor in den Händen der<br />
nationalen Gesetzgeber und nationalen Sicherheitsbehörden.<br />
Immer noch dominiert in der Sicherheitspolitik der nationale<br />
Souveränitätsgedanke. Der in Artikel 3 EUV versprochene gemeinsame<br />
„Raum (auch) der Sicherheit“ muss jedoch ebenso<br />
grundlegend weiterentwickelt und ausgebaut werden. So heißt<br />
jedenfalls die maßgebende Agenda aller künftigen europäischen<br />
Rechtsstaatspolitik.<br />
RUPERT SCHOLZ war Verteidigungsminister im Kabinett von<br />
Helmut Kohl. Der 1937 geborene Jurist ist Rechtsanwalt und<br />
Mitherausgeber des Grundgesetzkommentars Maunz/Dürig<br />
34<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Illustration: Martin Haake<br />
35<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
TITEL<br />
Europas goldene Zukinft<br />
9. BENUTZERFREUNDLICHKEIT<br />
Reisefreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Auslandsstudium:<br />
Die Integration hat unser Leben erheblich leichter gemacht<br />
Von GÜNTER VERHEUGEN<br />
Wer früher in Europa eine Reise tat, hatte eine<br />
Menge zu erzählen – und nicht nur Erhebendes.<br />
Es gab lästige Grenzprozeduren, den<br />
Geldumtausch und vieles mehr. Da war die<br />
Sprachbarriere noch das kleinste Hindernis,<br />
wenn man einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz im Ausland<br />
suchte, jenseits der Grenze ein Unternehmen gründen wollte,<br />
eine Ware, die von Land zu Land unterschiedliche Sicherheitsund<br />
Qualitätsstandards erfüllen musste, verkaufen oder gar<br />
eine Dienstleistung grenzüberschreitend erbringen wollte.<br />
Für die EU ist dies Vergangenheit, und kein vernünftiger<br />
Mensch würde sich diese Zeiten zurückwünschen. Aber was<br />
wir heute als unser gutes Recht ansehen, ist nicht vom Himmel<br />
gefallen. All das ist Ergebnis der Politik der europäischen Integration.<br />
Doch sosehr sie unser Leben im Einzelnen auch erleichtert<br />
und bereichert, die heutige Integrationsdebatte ist nicht<br />
voll flammender Begeisterung. Sie ist nüchtern und oft auch<br />
mit allerhand Verdruss und Verständnislosigkeit beladen. Dabei<br />
sind es nicht ihre großen politischen Ziele, die die Misstöne<br />
begründen. Sondern es ist der europäische Alltag. Da gibt es<br />
berechtigte Kritik an Unvollkommenheiten und Fehlern, aber<br />
auch Kritik, die sich auf Vorurteile und Nichtwissen gründet.<br />
Wer ein Auto kauft, verlässt sich darauf, dass alles funktioniert,<br />
vom Lenkrad bis zur Bremse. Früher hätte der deutsche<br />
Gesetzgeber dafür gesorgt. Heute tut es die EU – und niemanden<br />
stört es. Wenn aber die EU nationale oder internationale Regeln<br />
zu Handelsklassen übernimmt, ist plötzlich das Geschrei groß,<br />
und die EU gilt als Regulierungstrottel, dem nichts Sinnvolleres<br />
eingefallen ist, als sich etwa über krumme Gurken Gedanken zu<br />
machen. Seit 2009 tut sie das nicht mehr, was dazu geführt hat,<br />
dass die Gurkenkrümmung 2011 wieder dort geregelt wurde, wo<br />
sie herkam: bei der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen<br />
für Europa – übrigens mit aktiver deutscher Beteiligung.<br />
Dennoch scheinen die europäischen Handelsklassenregeln,<br />
die Qualitätsstandards festlegen, Menschen sehr wichtig zu sein,<br />
denn sonst würden sich heute nicht so viele geradezu panisch<br />
darum sorgen, dass die europäischen Gesundheits- und Qualitätsstandards<br />
bei Lebensmitteln auf dem Altar der transatlantischen<br />
Verhandlungen geopfert werden könnten – auch wenn<br />
dies überhaupt nicht zur Disposition steht.<br />
Oder nehmen wir den Euro, der in Deutschland auch deshalb<br />
einen schweren Start hatte, weil wir im Gegensatz zu anderen<br />
Ländern die doppelte Preisauszeichnung (in DM und Euro)<br />
von 1999 an für überflüssig hielten – mit dem Ergebnis, dass<br />
der Euro als „Teuro“ empfunden wurde. Es hat lange gedauert,<br />
bis auch wir begriffen, welch ein Segen der Euro für uns ist.<br />
Reisefreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Möglichkeit,<br />
woanders zu studieren, sind europäischer Alltag. Millionen Deutsche<br />
nutzen das gern. Aber wenn andere Völker das Gleiche tun,<br />
finden sich bei uns immer Leute, die nahezu hysterisch reagieren<br />
– man denke an die Diskussion um die Arbeitnehmerfreizügigkeit<br />
für Rumänen und Bulgaren. Da zeigte sich, dass eine<br />
grundlegende Frage der Integration noch nicht völlig verstanden<br />
wird. Nicht der Geldbeutel regiert die Integration, sondern<br />
die Gleichheit aller Staaten: bei den Pflichten, bei den Rechten.<br />
GÜNTER VERHEUGEN, Jahrgang 1944, war Vizepräsident der<br />
Europäischen Kommission und EU-Kommissar für Unternehmen<br />
und Industrie sowie für die Erweiterung der Union<br />
Illustration: Martin Haake<br />
36<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELT.DE/NEU<br />
Die Welt gehört denen,<br />
die nicht nach links<br />
oder rechts denken,<br />
sondern nach vorn.<br />
ROBIN ALEXANDER,<br />
REDAKTEUR
TITEL<br />
Europas goldene Zukunft<br />
<strong>10</strong>. JUGEND<br />
Europas Jugendliche haben mit vielen Problemen zu kämpfen.<br />
Nur radikales Umdenken verspricht ihnen eine goldene Zukunft<br />
Von JANNE TELLER<br />
In Europa wächst eine Generation im Bewusstsein auf, mit<br />
schlechteren Lebensumständen konfrontiert zu sein als<br />
ihre Eltern. Junge Europäer müssen sich mit unterschiedlichsten<br />
Problemen auseinandersetzen: einem unumkehrbaren<br />
Klimawandel, verschmutzten Meeren, Überbevölkerung<br />
und einer überalterten Gesellschaft. Zudem steigt die<br />
wirtschaftliche Ungleichheit. Immigranten und Flüchtlinge,<br />
die – zu Recht – auf der Suche nach besserer Lebensqualität<br />
zu uns kommen, schwächen die europäische Infrastruktur.<br />
Die Einwanderung wird zunehmen, je mehr die wirtschaftliche<br />
Ungleichheit wächst. Außerdem rückt durch die Entwicklung<br />
neuer Medien die Privatsphäre der Menschen in den Hintergrund.<br />
Und die radikale Rechte in Europa gewinnt an Boden.<br />
Im Durchschnitt ist in Europa ein Viertel der jungen Menschen<br />
arbeitslos. Im Süden, in Griechenland, Süditalien und<br />
Spanien, sind es mehr als 50 Prozent. Junge Südeuropäer wandern<br />
aus, um im Norden Jobs zu finden. Zu Hause oder im<br />
Ausland müssen sich europäische Jugendliche einem starken<br />
Konkurrenzdruck unterwerfen. Sie beginnen, einem unnatürlich<br />
schnellen Rhythmus zu folgen, der sie dazu bringt, selbstzerstörerische<br />
Verhaltensformen zu entwickeln. Sie leiden unter<br />
Essstörungen, ritzen sich, nehmen Drogen, Antidepressiva<br />
und trinken sich bewusstlos. Andere werden von sozialen Medien,<br />
Arbeit und Schönheitsoperationen abhängig. Oder sie gehen<br />
in dem Stress ganz unter.<br />
Selbstverständlich kann man über die unzähligen Möglichkeiten<br />
sprechen, die der europäischen Jugend heute geboten<br />
werden. Sie können in ganz Europa studieren und überall auf<br />
dem Kontinent arbeiten. Die Europäische Union hat sie stärker<br />
und reicher gemacht als den Großteil ihrer Altersgenossen<br />
auf der Welt. Aber all diese Gründe lassen in meinen Augen<br />
die Zukunft der europäischen Jugend nicht rosig erscheinen.<br />
Junge Europäer werden nur deshalb eine schönere, spannendere<br />
Zukunft haben, weil sie früher oder später begreifen<br />
werden, dass wir, sie, Europa und die Welt nicht so weitermachen<br />
können. Sie werden verstehen, dass Fortschritt aus einer<br />
zirkulären Harmonie des Gebens und Nehmens mit unserem<br />
Planeten entsteht und nicht aus einer Haltung des Plünderns<br />
und Wegwerfens. Sie werden begreifen, dass wir für alles, das<br />
wir in unserer Natur und unserer menschlichen Umgebung zerstören,<br />
irgendwann bezahlen.<br />
Ich habe auf Reisen mit vielen jungen Europäern gesprochen.<br />
Ihre Haltungen haben mich sowohl traurig als auch hoffnungsvoll<br />
gestimmt. Viele waren frustriert, weil sie dem Leistungsdruck<br />
nicht entsprachen; gleichzeitig suchten sie nach einem tieferen<br />
Sinn in der heutigen Gesellschaft. Wir haben ihnen keinen<br />
Weg vorgegeben, deswegen liegt es in ihrer Hand, ihn zu finden.<br />
Wenn die Jugend aufhört, zu oberflächlichen, leeren Idealen<br />
aufzuschauen, wird sie verstehen: Das Problem in unserem<br />
heutigen System liegt darin, dass man es nicht aufrechterhalten<br />
kann. Wenn sie begreifen, dass das Leben nicht nur aus<br />
kapitalistischem Wettbewerb besteht, werden sie einen sinnvolleren<br />
Weg finden.<br />
Das ist der Weg in die goldene Zukunft, nicht nur der europäischen<br />
Jugend, aber Europas. Und hoffentlich auch der Welt.<br />
JANNE TELLER ist eine vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin<br />
und Essayistin. Die gebürtige Dänin, Jahrgang 1964, war in den<br />
neunziger <strong>Jahre</strong>n Beraterin für die EU<br />
Illustration: Martin Haake<br />
38<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
„ Der einzige Ort,<br />
an dem du<br />
ganz sicher bist,<br />
ist dein Kopf “<br />
Jacob Appelbaum, Hacker und Journalist in Deutschland – und<br />
Sicherheitsrisiko aus Sicht der USA, Porträt ab Seite 44<br />
39<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
DIE GUMMISOHLEN DER MACHT<br />
Reinhard Kardinal Marx hat mehr Einfluss als jeder andere katholische Geistliche in<br />
Deutschland. Wie arbeitet er? Unterwegs mit dem neuen Chef der Bischofskonferenz<br />
Von SOPHIE DANNENBERG<br />
Foto: Wolf Heider-Sawall/Laif<br />
Der Kardinal könnte ein guter Pokerspieler<br />
sein. Die sparsamen<br />
Handbewegungen verraten, dass<br />
er sich steuern kann. Reinhard Marx wartet<br />
auf seinen Einsatz in der Katholischen<br />
Akademie zu Berlin, der Soziologe Hans<br />
Joas redet vor ihm. Der mächtige Körper<br />
des Kardinals bleibt reglos, obwohl er eigentlich<br />
gewohnt ist, einen Raum gleich<br />
einzunehmen mit seiner angerauten, starken<br />
Stimme, sodass jeder sofort weiß: Das<br />
ist der Chef. Aber er beherrscht sich.<br />
Beim Pokerspiel gibt es den sogenannten<br />
„Tell“, das Zeichen, mit dem ein<br />
Spieler unbewusst preisgibt, was er vorhat.<br />
Auch Marx hat einen „Tell“. Es sind<br />
seine Schuhe. Er trägt breite Schuhe mit<br />
gerippten Gummisohlen, an den Rändern<br />
abgerundet. Keine Pradas oder gar Adriano<br />
Stefanellis, nichts Rahmengenähtes,<br />
Handgefertigtes. Erinnert man sich<br />
an die roten Schuhe, in denen Papst Benedikt<br />
XVI. mit zierlichen Schritten die<br />
höfische Mode der Renaissance zitierte,<br />
wohl auch das Blut der Kreuzigung, dann<br />
sind Marx’ Schuhe Symbole der soliden<br />
Gegenwart, praktisch und gemütlich.<br />
Während Joas Ideen versprüht, referiert<br />
Marx die Grundprinzipien der katholischen<br />
Soziallehre. Seine Sprache ist<br />
volkstümlich. Selbstironisch schildert er,<br />
wie er sich wunderte, als er, der Westfale<br />
aus Geseke, auf einmal in der Sixtina saß,<br />
um den Papst zu wählen. Um dann auch<br />
noch dessen Berater zu werden.<br />
Das Publikum lacht an solchen Stellen,<br />
dankbar: Marx ist ja einer von uns!<br />
Ein Kardinal zum Anfassen. Der irdisch<br />
bleibt. „Guckt mal empirisch nach,<br />
wie es wirklich in der Kirche zugeht!“,<br />
ruft er. Das habe er auch Papst Franziskus<br />
gesagt: „Heiliger Vater, ich bin ein<br />
bisschen aristotelisch. Erstens: Vedere!<br />
Zweitens: Vedere! Drittens: Vedere!“<br />
Das heißt hinschauen, übersetzt er aus<br />
dem Italienischen, und wiederholt es auf<br />
Deutsch. Kirche sei nicht sein Besitz, er<br />
brauche die Meinung der anderen.<br />
Aber oft macht er doch, was er allein<br />
für richtig hält. Beispiel Kloster Ettal:<br />
Als ein Missbrauchsverdacht im Internat<br />
der Benediktinerabtei aufkam, drängte<br />
er Abt und Schulleiter zum Rücktritt. Der<br />
Vertuschungsverdacht gegen das Erzbistum<br />
war damit medienwirksam ausgeräumt.<br />
Die Abtei jedoch fühlte sich beschädigt.<br />
Eine Prüfungskommission des<br />
Vatikans entlastete die frühere Führung –<br />
weder Abt noch Prior hätten die vorgeschriebene<br />
Meldepflicht verletzt. Zwar<br />
durften beide in ihr Amt zurückkehren.<br />
Aber einige enge Freunde von Marx sind<br />
auch von der Unschuld des verdächtigten<br />
Lehrers überzeugt. Wegen der Affäre<br />
sind sie bis heute mit Marx zerstritten.<br />
ALS CAPITANO beschreiben ihn Weggefährten,<br />
als Volkstribun, der mit Macht<br />
umgehen kann und auch nach ihr greift.<br />
Schnell kam er nach oben: Erst Bischof<br />
von Trier, dann Erzbischof von München<br />
und Freising, seit vier <strong>Jahre</strong>n Kardinal.<br />
Mitglied der achtköpfigen Kardinalsgruppe<br />
zur Beratung von Papst Franziskus.<br />
Und nun auch noch Vorsitzender der<br />
Deutschen Bischofskonferenz.<br />
Als Macher gilt er, der seine Mitarbeiter<br />
nicht schont. Der den Ruhm genießt<br />
und auch mal ein Schwätzchen mag.<br />
Und der auch was Biegsames hat. Vor wenigen<br />
<strong>Jahre</strong>n betonte er, dass er für die<br />
Änderung des kirchlichen Eheverständnisses<br />
wenig Spielraum sehe. Inzwischen<br />
setzt er sich für die Kommunion wiederverheirateter<br />
Geschiedener ein. Das<br />
kann man auch als Lernprozess sehen.<br />
Eine Woche nach Berlin in der St. Michael-Kirche<br />
in München. Marx zelebriert<br />
die Versöhnungsfeier zur Fastenzeit.<br />
Mitra und Bischofsstab verleihen<br />
ihm jene Würde der Jahrtausende. Feierlich<br />
schreitet er die Reihen entlang. Unter<br />
dem festlichen Messgewand trägt er die<br />
gummibesohlten Schuhe. Später nimmt<br />
er die Beichte ab. Er begrüßt die Gläubigen<br />
mit Handschlag. Ihr gemeinsames<br />
Flüstern zuckt durch die Kirche.<br />
Am nächsten Tag in Freising. Auf<br />
dem Domberg diskutiert das Landeskomitee<br />
der Katholiken in Bayern das<br />
Thema Jugend. Hier ist der Kardinal unter<br />
Freunden. Seine Gesten sind locker,<br />
raumgreifend, er patscht auf den Tisch,<br />
schaut den Leuten mit seinen hellen,<br />
blauen Augen ins Gesicht. „Eine Kirche,<br />
die alles weiß, die auf alles eine Antwort<br />
hat, ist nicht glaubwürdig“, sagt er. Am<br />
Ende fällt gar nicht auf, dass er nicht gesagt<br />
hat, was nun mit der Jugend werden<br />
soll. Und wohin mit der Transzendenz,<br />
bei all der Realitätsbeschau?<br />
Zum Abschluss gibt es eine Predigt,<br />
begleitet von einer Band aus dem<br />
Münchner Arbeiterviertel Giesing, die<br />
sich „Vision“ nennt. „Mit Christus Brücken<br />
bauen“, schmettert die Band, „Wege<br />
eröffnen“, „Stärke zeigen“. Der Kardinal<br />
singt mit.<br />
Es ist spät geworden an diesem Freitag<br />
in der Fastenzeit, vom Domberg aus<br />
sieht man die Lichter schwirren. Beim Essen<br />
im Speisesaal des Kardinal-Döpfner-<br />
Hauses wird Marx familiär. Den Rotwein<br />
trinkt er in langen Zügen, vom Kalbsbraten<br />
mit Rahmschwammerl nimmt er<br />
zweimal nach, beim zweiten Mal drei<br />
Krustenstücke. Er kaut, schimpft und<br />
lacht. Aber den Nachtisch lässt er stehen,<br />
und als alle denken, jetzt geht der Abend<br />
erst richtig los, da ist der Kardinal weg.<br />
SOPHIE DANNENBERG ist Journalistin<br />
und Romanautorin. Bei der Recherche<br />
beeindruckte sie besonders die gotische<br />
Johanniskirche in Freising<br />
41<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
POLITIK MACHT LANGWEILIG<br />
Als Bilkay Öney in Baden-Württemberg als Integrationsministerin anfing, brachte sie<br />
viele gegen sich auf. Nach drei <strong>Jahre</strong>n kennt sie die Gesetze der Branche. Ob das gut ist?<br />
Von GEORG LÖWISCH<br />
Die Politikerin Bilkay Öney steht<br />
zwischen den Welten, notorisch,<br />
wild, von klein auf. Sie war das<br />
Mädchen, das in Berlin-Spandau von einer<br />
anderen Einwanderertochter verpetzt<br />
wurde, weil es mit Jungs rumhing.<br />
Sie war die Journalistin im Berliner Büro<br />
des türkischen Fernsehens, die der Chef<br />
„die Deutsche“ nannte. Sie saß für die<br />
Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus<br />
und lief zur SPD über.<br />
2008 – noch als Grüne – forderte sie,<br />
man müsse Roland Koch zuhören, obwohl<br />
der gerade eine Ausländerkampagne fuhr;<br />
ihre Partei distanzierte sich. 2011 traf sie<br />
Recep Tayyip Erdogan, obwohl ihre Eltern,<br />
linke Kemalisten, dessen Politik verachten.<br />
Bilkay Öney, Integrationsministerin<br />
von Baden-Württemberg, schwimmt<br />
zwischen den Strömungen. Das ist das Besondere<br />
an ihr. Das ist ihr Problem.<br />
Sonntagnachmittag, Akademie der<br />
Künste am Brandenburger Tor. Die SPD<br />
inszeniert sich auf einer Konferenz. Sieben<br />
Stuhlreihen mit Ministern, Bürgermeistern,<br />
Senatoren und Abgeordneten,<br />
denen Sigmar Gabriel den Sonntagnachmittag<br />
abzwackt. Öney kommt spät, in<br />
Reihe drei winkt sie jemand auf einen<br />
freien Platz: Raed Saleh, SPD-Chef im<br />
Berliner Abgeordnetenhaus, er stammt<br />
aus dem Westjordanland. Eine blonde<br />
Frau guckt zu den beiden rüber. Noch<br />
mal. Öney beugt sich zu Saleh. „Kommt<br />
dir das auch so vor, dass die uns anschaut,<br />
als kämen wir vom Mars?“ Öney wendet<br />
sich der Frau zu. „Wo kommen Sie eigentlich<br />
her?“ Schock. „Sachsen-Anhalt.<br />
Und Sie?“ Öney: „Früher Berlin, jetzt<br />
Baden-Württemberg.“<br />
2011, Grün-Rot hatte die Wahl im<br />
Südwesten gewonnen, suchte SPD-Chef<br />
Nils Schmid eine Integrationsministerin.<br />
Er stieß auf Öney. Diplom-Kauffrau,<br />
Ex-Journalistin. Unerschrocken, gut<br />
aussehend, nicht radikal. Sie zog nach<br />
Stuttgart, um das neue Ministerium mit<br />
knapp 60 Mitarbeitern aufzubauen.<br />
In einem ihrer ersten Interviews erklärte<br />
Öney: „Die Türken gucken fünfmal<br />
mehr Fernsehen als die Deutschen.“<br />
Grüne und Migrantenverbände tobten.<br />
„Burkinis finde ich Quatsch“, sagte sie<br />
ein paar Interviews später.<br />
Die CDU, eigentlich noch in der<br />
Mappus-Malaise, merkte auf. Bernhard<br />
Lasotta, ein Arzt aus Bad Wimpfen, war<br />
gerade integrationspolitischer Sprecher<br />
der Landtags-CDU geworden. Fortan<br />
röntgte er Öneys Äußerungen auf Skandalpotenzial.<br />
Redete sie türkisch, ließ<br />
er übersetzen. Einmal sprach sie im Zusammenhang<br />
mit dem NSU von „tiefem<br />
Staat“, ein Begriff, der in der Türkei Verbindungen<br />
von Justiz, Politik, Geheimdiensten<br />
und organisierter Kriminalität<br />
beschreibt. Das über Deutschland! Lasotta<br />
platzierte den ersten Treffer.<br />
DEM CDU-MANN ist ihre unausrechenbare<br />
Politik unverständlich. Früher war<br />
sie – selbst keine Muslimin – strikt für<br />
das Kopftuchverbot an Schulen und Kitas.<br />
Später erklärte sie, man müsse noch<br />
mal darüber nachdenken. Lasotta sagt:<br />
„Ich kann nie einschätzen, wo sie steht.“<br />
Eine, die zwischen den Strömungen<br />
schwimmt, wird immer wieder untergespült.<br />
In Stuttgart hielt Winfried Kretschmann<br />
sie oben. Der Ministerpräsident hat<br />
sich selbst ein Leben lang dem Mainstream<br />
widersetzt: Maoisten, Fundigrünen,<br />
den Wichtigtuern von Berlin. Als die<br />
CDU im Sommer 2013 beantragte, Öney<br />
zu entlassen, stützte er sie. Lasotta warf<br />
ihr vor, in einem türkischen Internetportal<br />
der CDU Rassismus unterstellt zu haben.<br />
Kretschmann tadelte sie im Landtag,<br />
lobte aber ihre unverstellte Sprache.<br />
Öney liefen Tränen übers Gesicht.<br />
Ihre zwei besten Freunde hat sie immer<br />
noch in Berlin. Die eine ist Putzfrau,<br />
sie stammt aus dem Kaukasus. Der andere<br />
heißt Ilhami, ein schwuler Friseur.<br />
In der Landtags-SPD bleibt sie ein<br />
Fremdkörper. „Die sagen: He he, was hat<br />
sie jetzt wieder angestellt“, analysiert ein<br />
einflussreiches Parteimitglied. Kein Politgeruch,<br />
kein Sozigeruch und dann auch<br />
noch frech. Die SPD, die sich endlich erweitern<br />
müsste, irritiert die Erweiterung.<br />
Öney sagt: „Ich fühle mich frei. Ich<br />
bin so lange dabei, wie ich kann. Und<br />
wenn nicht mehr, ist auch gut.“<br />
Sie arbeitet. Sie hat den Gesinnungstest<br />
für Einwanderer abgeschafft. Sie hat<br />
die Sargpflicht gelockert, sodass Muslime<br />
ihre Toten im Tuch bestatten können. Sie<br />
zeigt Einwanderern, dass die Demokratie<br />
kein Klub der Urdeutschen ist. Aber<br />
ihre Sprache ist anders geworden. Sie kontrolliert<br />
sich: „Das unverfänglichste Zeug<br />
kann einem um die Ohren fliegen.“ Zum<br />
Doppelpass gab sie neulich ein Deutschlandfunk-Interview.<br />
„Wiedererlangung“,<br />
„Amtsermittlungsgrundsatz“, „Hinnahme<br />
der Mehrstaatlichkeit“. Sie klang blechern<br />
wie ein Politautomat, ein vollintegrierter.<br />
Lasotta kann zufrieden sein. Er bilanziert:<br />
„Sie findet nicht mehr statt.“<br />
Am 27. März um 21.47 Uhr war sie<br />
plötzlich wieder da. Sie twitterte: „Als<br />
ich nach BaWü kam, war ich 40, sah aber<br />
aus wie 28. Jetzt bin ich 43 und sehe aus<br />
wie 43. Politik kann Falten, fett u. langweilig<br />
machen, trotzdem happy.“<br />
Ilhami, der schwule Friseur, hat mal<br />
zu ihr gesagt: „Bilkay, du bist Ministerin,<br />
da gibt’s Konkurrenz wie bei uns.“<br />
Wie bei den Friseuren. Aber dort ist<br />
ein eigener Stil alles, in der Politik nicht.<br />
GEORG LÖWISCH bemüht sich als<br />
<strong>Cicero</strong>‐Textchef, langweilige<br />
Politikersprache aufzubrechen<br />
Foto: Bernd Hartung/Agentur Focus<br />
42<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
DAS SCHLÜSSELKIND<br />
Sein erstes Sicherheitssystem knackte Jacob Appelbaum mit acht <strong>Jahre</strong>n im Kinderheim.<br />
22 <strong>Jahre</strong> später entdeckte er in Snowdens Daten die Handynummer von Angela Merkel<br />
Von PETRA SORGE<br />
Am liebsten hätte der Hacker Jacob<br />
Appelbaum es Angela Merkel<br />
persönlich erzählt. Oder ihren<br />
Vertrauten, für den Fall, dass das<br />
Kanzleramt den Mann mit dem Piercing<br />
in der rechten Ohrmuschel und dem Tattoo<br />
auf dem linken Arm nicht vorgelassen<br />
hätte. Appelbaum schätzt Merkel, er<br />
hält sie für links. Als er in Snowdens Datensatz<br />
den Akteneintrag entdeckte, dass<br />
der US-Geheimdienst NSA das Handy<br />
der Kanzlerin abgehört, dass er sie belauscht,<br />
bespitzelt und abgeschöpft hat,<br />
war das sein Impuls: „Ich wollte ihren<br />
Blick sehen, und ihr stellvertretend für<br />
viele Amerikaner sagen, dass ich mich<br />
für unseren außer Kontrolle geratenen<br />
Überwachungsstaat schäme.“<br />
Doch Appelbaum ist nicht nur Hacker,<br />
sondern auch freier Mitarbeiter<br />
beim Spiegel. Der wollte die Geschichte<br />
gewichtiger machen, indem er der Bundesregierung<br />
die Gelegenheit gab, Washington<br />
zur Rede zu stellen. Aus Appelbaums<br />
Entdeckung wurde so eine<br />
Weltnachricht, der Skandal, der seitdem<br />
Handygate genannt wird und seit Anfang<br />
April im NSA-Untersuchungsausschuss<br />
des Bundestags bearbeitet wird.<br />
Appelbaum, 31, schwarze Hose,<br />
schwarzer Rollkragenpulli, sitzt in einem<br />
indischen Vegan-Imbiss in Berlin-Mitte.<br />
Das Logo des Lokals ist ein auf den Kopf<br />
gedrehtes McDonald’s-M auf schwarzem<br />
Untergrund. Er sagt, er würde Merkel immer<br />
noch gerne sprechen. Er warte auf<br />
eine Einladung. „Denn ja: Ich habe noch<br />
mehr schlechte Nachrichten für Merkel.<br />
Sie braucht nur Bescheid zu sagen.“<br />
Jacob Appelbaum kämpft für Meinungsfreiheit<br />
und Privatsphäre im Internet<br />
– und gegen die NSA. Für die USA<br />
ist er ein Sicherheitsrisiko. Würde er in<br />
sein Heimatland reisen, würden Beamte<br />
ihn am Flughafen festsetzen. Er kennt<br />
das. Manchmal hat er deshalb Spielzeugschlangen<br />
oder Dildos in seinen Koffer<br />
gelegt. So konnte er bei der Durchsuchung<br />
wenigstens über die Gesichter der<br />
Beamten lachen.<br />
Das erste Mal griffen sie 20<strong>10</strong> in<br />
Newark zu. Sie beschlagnahmten seinen<br />
Laptop, sein Handy, verhörten ihn<br />
stundenlang zu Wikileaks. Wenn ihm<br />
das jetzt passieren würde, dürfte es länger<br />
dauern. Deshalb bleibt er in Berlin.<br />
Appelbaum, ein Kind der digitalen<br />
Zeit, hat keine Mobiltelefone mehr. Kreditkarten<br />
vermeidet er. Im Netz wechselt<br />
er die Identitäten. Er versteckt, verschleiert<br />
und verschlüsselt sie. Er hat Angst.<br />
VOR ÜBERWACHUNG im Internet hatte<br />
Appelbaum bereits 2012 in dem Buch<br />
„Cypherpunks“ gewarnt. Gegen diese<br />
„autoritären Kontrollstrukturen“ empfahl<br />
er technische Mittel der Geheimhaltung,<br />
die Kryptografie. Damals erklärte<br />
man ihn für paranoid. Ein Jahr später<br />
enthüllte er, dass eine Hackereinheit der<br />
NSA namens Tailored Access Operations<br />
die schwierigsten Codes knacken kann.<br />
Der Herausgeber von „Cypherpunks“<br />
war Julian Assange, Gründer von<br />
Wikileaks. 20<strong>10</strong> vertrat Appelbaum Assange<br />
auf einer Hackerkonferenz in New<br />
York. Wenn andere festsitzen, übernimmt<br />
Appelbaum die Rolle ihres Fürsprechers.<br />
Im August nahm er für Edward Snowden<br />
einen Whistleblower-Preis entgegen. Unermüdlich<br />
fordert er einen sicheren Aufenthalt<br />
für den Ex-NSA-Mitarbeiter in<br />
Deutschland. Das Nein der Bundesregierung<br />
hat ihn enttäuscht, auch seine Sicht<br />
auf Merkel ist etwas getrübt. „Deutschland<br />
ist von den USA kolonisiert.“<br />
Den Satz sagt er im Soho House,<br />
einem Club von Promis und Kreativen<br />
in Berlin-Mitte. Sie haben sich an<br />
einem Sonntagnachmittag zu einem<br />
Gesprächskreis namens D. Day versammelt.<br />
Tea Time. Die Teppiche sind flauschig,<br />
die Sofas handbestickt, die Gäste<br />
trinken Darjeeling oder Hugo, einen<br />
Longdrink mit Prosecco, frischer Minze<br />
und Holunderblütensirup. Appelbaums<br />
Botschaften wirken da etwas drastisch.<br />
„Unachtsames Surfen ist wie ungeschützter<br />
Sex.“ Kichern im Publikum.<br />
„Es kann so tödlich sein wie Aids.“<br />
Volle Aufmerksamkeit.<br />
„Julian wird wohl in der Botschaft<br />
sterben und Snowden im russischen<br />
Asyl.“ Stille.<br />
Tatsächlich stecken Assange und<br />
Snowden in der Klemme: Der eine ist in<br />
der Londoner Vertretung Ecuadors gefangen,<br />
der andere in der Krimkrise zu<br />
Putins Faustpfand geworden.<br />
Appelbaum könnte die Lücke füllen.<br />
In Berlin hat er zumindest einen<br />
Bewegungsradius. Die Pressefreiheit ist<br />
hier ein hohes Gut. Seit dem <strong>Cicero</strong>-Urteil<br />
von 2007 zögern deutsche Behörden,<br />
gegen Journalisten oder ihre Informanten<br />
vorzugehen. Die Beihilfe zum<br />
Geheimnisverrat, entschied damals das<br />
Bundesverfassungsgericht, rechtfertige<br />
keine Razzien gegen Vertreter der Presse.<br />
Durchsuchungen wie beim Guardian in<br />
London wären in Berlin nicht drin.<br />
Dass jemand wie er sich in Deutschland<br />
sicherer fühlt als in den USA, wäre<br />
vor 70 <strong>Jahre</strong>n undenkbar gewesen, sagt<br />
er gerne vor Publikum: Appelbaums Urgroßmutter<br />
war Jüdin, seine Vorfahren<br />
stammen unter anderem aus Deutschland.<br />
Das Internet, sagte Appelbaum einmal<br />
dem Magazin Rolling Stone, sei der<br />
einzige Grund, warum er lebe. Er sei in<br />
eine Familie von „völlig Verrückten“ geboren;<br />
die Eltern stritten sich ums Sorgerecht.<br />
Die ersten fünf <strong>Jahre</strong> wuchs Jacob<br />
bei der Mutter in Kalifornien auf, die unter<br />
paranoider Schizophrenie leidet. Mit<br />
Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong> (Seiten 45 bis 46)<br />
44<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
„Unachtsames Surfen ist wie ungeschützter Sex.“<br />
Der Hacker Jacob Appelbaum bewegt sich nur mit<br />
falscher Identität durchs Netz. Das Handy? Abgeschafft!<br />
sechs kam er in ein Kinderheim, dessen<br />
elektronisches Türschloss er mit acht<br />
<strong>Jahre</strong>n überlistete – es war das erste Sicherheitssystem,<br />
das er hackte. Später<br />
kam er in eine Pflegefamilie, mit neun<br />
zu seinem Vater. Der spritzte sich Heroin.<br />
„Fast 30 <strong>Jahre</strong>, bis zu seinem Tod“,<br />
sagt Appelbaum. Einmal hinterließ der<br />
Vater Jacob einen Abschiedsbrief; der<br />
Junge konnte ihn an jenem Tag gerade<br />
noch von einer Überdosis retten.<br />
Das Programmieren brachte sich Appelbaum<br />
selbst bei. Als er feststellte, dass<br />
er mehr wusste als seine Lehrer, brach<br />
er die Schule ab. Später wurde er an<br />
der University of Washington in Seattle<br />
wissenschaftlicher Mitarbeiter – ohne<br />
Hochschulabschluss.<br />
Bei seiner Arbeit unter Hackern,<br />
für die Rainforest Alliance und Greenpeace<br />
bemerkte er, was allen Aktivisten<br />
fehlte: eine Software zur sicheren<br />
Kommunikation. An einer solchen tüftelten<br />
Forscher bereits seit 2001 – das anonyme<br />
Netzwerk „Tor“. Appelbaum heuerte<br />
als Programmierer an. Mittlerweile<br />
nutzen täglich mehr als eine halbe Million<br />
Menschen Tor. Auch Edward Snowden<br />
greift auf jene Software zurück.<br />
Talentscouts im Silicon Valley wurden<br />
früh auf Appelbaum aufmerksam.<br />
Facebook bot ihm einen Job an, der kanadische<br />
Geheimdienst CSEC lockte mit<br />
einer Spitzenposition. Für das Heimkind<br />
hätte der amerikanische Traum wahr<br />
werden können. Doch es kam anders.<br />
IM APRIL 20<strong>10</strong> ENTHÜLLTE Wikileaks Details<br />
über Verbrechen von US-Soldaten<br />
im Irak, darunter das Video „Collateral<br />
Murder“. Das Committee to Protect<br />
Journalists, ein Netzwerk, das Reporter<br />
beschützen will, verfasste einen Blogeintrag<br />
über Wikileaks – und befragte dazu<br />
Appelbaum. In dem Blogeintrag wurde<br />
der Tor-Entwickler nicht als Experte<br />
zitiert, sondern als „Freiwilliger von<br />
Wikileaks“. Appelbaum fügte sich in sein<br />
Schicksal: Er entschied, das Projekt zu<br />
unterstützen.<br />
So wurde Appelbaum zum Staatsfeind.<br />
Beamte vernahmen ihn, drohten<br />
mit Gefängnis. Die US-Regierung zwang<br />
durch ein Auskunftsersuchen Twitter,<br />
Google und einen kalifornischen Internetprovider,<br />
Daten über ihn preiszugeben.<br />
Dabei wurde Appelbaum nie einer<br />
Straftat bezichtigt.<br />
In Boston verhörte das FBI einen<br />
Freund. Vor der Wohnung seiner Verlobten<br />
tauchten eines Nachts Männer auf.<br />
Sie beobachteten die Frau mit Nachtsichtgeräten<br />
durchs Schlafzimmerfenster. Als<br />
sie sich bei der Polizei beschwerte, erklärte<br />
man sie dort für hysterisch.<br />
Im März haben Appelbaum und<br />
seine frühere Verlobte den Vorfall im<br />
Schauspiel Köln nachgespielt. Dort, auf<br />
der Bühne, traf sich das einstige Paar<br />
wieder. Als wollten sie das Trauma der<br />
Überwachung verarbeiten. In einer der<br />
Theaterszenen spricht Appelbaum an einem<br />
Rednerpult über die Snowden-Enthüllungen.<br />
Da kommen die Sicherheitsleute,<br />
werfen ihn zu Boden, schlagen ihm<br />
die Brille aus dem Gesicht, reißen seine<br />
Kleider vom Leib. Sie schleifen ihn nackt<br />
von der Bühne, seine Füße bluten.<br />
Nicht mal seine kranke Mutter habe<br />
man in Ruhe gelassen, sagt er. Sie hatte<br />
sich im verwirrten Zustand an der Tasche<br />
eines Nachbarn vergriffen. Weil sie ein<br />
Stück Holz in der Hand hielt, galt das als<br />
bewaffneter Raubüberfall. Obwohl das<br />
Gericht sie für verhandlungsunfähig erklärte,<br />
fragten die Polizisten sie über die<br />
Verbindungen des Sohnes zu Wikileaks<br />
aus. Man habe ihr Handschellen angelegt<br />
und Verletzungen zugefügt, sagt Appelbaum.<br />
18 Monate sei sie inhaftiert gewesen,<br />
ohne Gerichtsurteil. Das letzte Mal<br />
sah er seine Mutter Anfang 2013.<br />
Im Mai meldete sich die amerikanische<br />
Dokumentarfilmerin Laura Poitras<br />
bei ihm. Sie erzählte, ein Mann, der<br />
sich als Geheimdienstler ausgab, habe sie<br />
kontaktiert. Poitras wollte, dass Appelbaum<br />
mit seiner technischen Brillanz ihr<br />
hilft, das Interview vorzubereiten. Aus<br />
dem Interview wurde einer der größten<br />
Geheimdienstskandale der Geschichte.<br />
46<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
„Wir erfuhren Details darüber, wie<br />
die NSA und Israel das Stuxnet-Virus<br />
zusammen geschrieben haben.“ Der<br />
Computerwurm war in iranische Atomanlagen<br />
gekrochen und hatte sie lahmgelegt.<br />
Im Dezember stellte Appelbaum<br />
die Technik auf dem Chaos Communication<br />
Congress in Hamburg vor, ein weiterer<br />
Termin, auf dem deutlich wurde,<br />
wie sehr Deutschland zum Schutzraum<br />
für Hacker, Aktivisten und Enthüllungsjournalisten<br />
geworden ist. Immer häufiger<br />
verschwimmen diese drei Rollen –<br />
wie bei Jacob Appelbaum.<br />
In Hamburg hat Appelbaum das<br />
erste Treffen der Wikileaks-Größen nach<br />
den Snowden-Enthüllungen organisiert.<br />
Julian Assange sprach per Videoschalte.<br />
Als Überraschungsgast trat Sarah Harrison<br />
auf, die Snowden von Hongkong<br />
nach Moskau geleitet hatte. Harrison lebt<br />
wie Laura Poitras in Berlin, dem neuen<br />
Zentrum dieser digitalen Bürgerrechtsbewegung.<br />
Zu deren Gesicht ist Appelbaum<br />
geworden.<br />
Als sich das Europaparlament im<br />
September erstmals mit der Massenüberwachung<br />
von EU-Bürgern befasste, war<br />
er als Zeuge geladen. Für die Bewegung<br />
ist er zum Helden geworden – beinahe<br />
wie Assange und Snowden.<br />
„Ich sehe mich nicht in dieser Liga“,<br />
sagt Appelbaum am Tisch im Vegan-Imbiss.<br />
Er will wieder etwas Ruhe in sein Leben<br />
bekommen, zumindest mehr Stabilität.<br />
Noch im vergangenen Herbst hätten<br />
Unbekannte immer wieder versucht,<br />
in seine Berliner Wohnung einzudringen.<br />
Einmal seien die Alarmanlage geknackt<br />
und sein Computer durchsucht worden.<br />
Anfang April ist er innerhalb von Berlin<br />
umgezogen. Er sagt, dass er nur kurze<br />
Zeit unbehelligt bleiben werde. „Der einzige<br />
Ort, an dem du ganz sicher bist, ist<br />
dein Kopf.“<br />
Als er auf dem Hamburger Hackerkongress<br />
gefragt wird, ob er sich je das<br />
Leben nehmen würde, antwortet er:<br />
„Niemals. Und wenn mir doch etwas zustoßen<br />
sollte, wissen Sie, dass es kein<br />
Selbstmord war.“<br />
PETRA SORGE ist Redakteurin bei <strong>Cicero</strong><br />
Online. Ihre Mails verschlüsselt sie jetzt<br />
mit dem Programm Pretty Good Privacy.<br />
Allmählich kommt sie damit klar<br />
FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />
… ob Individualisten in Gruppen reisen sollten<br />
Meine bislang einzige Gruppenreise war unsere Klassenfahrt<br />
in der Zehnten. Danach habe ich alle Reisen selbst organisiert,<br />
und meine größte Konzession an den Kollektivzwang<br />
war, dass ich pünktlich zum Abflug am Gate eintraf. Vor kurzem nun<br />
habe ich mich zu einer Gruppen-Kulturreise in den Süden überreden<br />
lassen. Alles war perfekt organisiert, jeden Abend erhielten wir einen<br />
Ablaufplan für den nächsten Tag, im Bus wurden Lunchpakete und<br />
isotonische Getränke verteilt, in der Toilette hing ein Schild „Bitte<br />
Hände waschen“, die Tickets für die Museen waren bereits gelöst, die<br />
Hotelzimmer gebucht. Ich stellte das Denken ein, trabte nur noch in<br />
der Herde mit und ertappte mich dabei, es großartig zu finden. Betreutes<br />
Reisen, der Tourismus für den erschöpften Individualisten.<br />
Für nichts verantwortlich und an nichts schuld zu sein, alle Sehenswürdigkeiten<br />
einfach serviert und von der Reiseleitung erklärt zu bekommen<br />
– ich fühlte mich wie auf Klassenfahrt. Einer der Mitreisenden<br />
gestand mir, er habe neulich den Koffer im Hotel vergessen, weil<br />
er so daran gewöhnt sei, dass ihm alles abgenommen wird.<br />
Eine hohe Betreuungsquote erhöht aber die Mäkelbereitschaft:<br />
Ein Teilnehmer monierte, die Sitze auf einer Seite des Busses hätten<br />
keinen Schatten. Ein anderer beschwerte sich, auf der Reise habe es<br />
zwei Schlechtwettertage mehr gegeben, als die Wetterstatistik vorsehe<br />
– bei diesem Veranstalter werde er nicht mehr buchen.<br />
Eine Dame erzählte von anderen Reisen, die sie unternommen<br />
habe. Sie sei kürzlich in Barbados gewesen, das zwar landschaftlich<br />
schön sei, aber ein ernsthaftes Rassenproblem habe: „Da leben ja nur<br />
Schwarze!“ Auch Thailand finde sie schwierig, die Armut sei abstoßend.<br />
Grundsätzlich bevorzuge sie das Reisen in Diktaturen. Wenn<br />
Dieben die Hand abgehackt würde und auf andere Vergehen Rohrstockhiebe<br />
oder gar die Todesstrafe stünden, könne man sich als Tourist<br />
so wunderbar sicher fühlen. Wohlgemerkt, wir befinden uns auf<br />
einer Kulturreise des bildungsinteressierten Bürgertums.<br />
Man soll ja Vorurteile regelmäßig überprüfen. Ich habe erkannt:<br />
Gruppenreisen sind mein Ding. Vorausgesetzt, die Gruppe ist nicht<br />
größer als zwei Personen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub!<br />
AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin.<br />
Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben<br />
sonst noch an Fragen aufwirft<br />
47<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
IN PUTINS BURG<br />
Im Garten steht noch Lenins Büste.<br />
Drinnen hängen die Wappen aller<br />
früheren Sowjetrepubliken.<br />
Und am Abend kommen deutsche<br />
Wirtschaftsvertreter zum Konzert –<br />
Putinkrise hin oder her. Zu Besuch<br />
in der russischen Botschaft in Berlin<br />
Von WERNER SONNE<br />
Sergey Belyaev zeigt hoch hinauf zur Spitze des<br />
gewaltigen Kuppelsaals der russischen Botschaft<br />
in Berlin. „Höher als das Brandenburger Tor“,<br />
sagt er, und: „Stalin hat das entschieden.“ Im Gebäude<br />
hängen noch Wandlampen aus Hitlers Reichskanzlei.<br />
Die goldfarbenen Halterungen gleichen Flügeln, deren<br />
Spitzen man nach unten gedreht hat, als Zeichen<br />
des Sieges über die Nazis. „Alles ist symbolisch“, sagt<br />
Belyaev. Die Freitreppe hinauf zu den Prachträumen<br />
ist aus dem Marmor, aus dem Hitler nach dem Endsieg<br />
in Moskau ein Denkmal errichten wollte.<br />
Belyaev, 58, kennt Berlin aus DDR-Zeiten, damals<br />
war er Korrespondent für Radio Moskau. Nun ist er als<br />
Pressesekretär zurück in der Botschaft, die Unter den<br />
Linden schon wegen der schieren Größe die umliegenden<br />
Gebäude dominiert. Ornamente an den Außentüren<br />
sind mit Gold verziert, drinnen stehen Marmorsäulen.<br />
Im Wappensaal hängen noch die Wappen aller<br />
Sowjetrepubliken, an der Stirnseite prangen Hammer<br />
und Sichel. Stalin persönlich mischte sich in die Planungen<br />
ein. 1952 wurde die Botschaft eröffnet, das<br />
eigentliche Machtzentrum der DDR.<br />
Den Eingang zum Kuppelsaal flankieren zwei<br />
hohe Vasen aus Meißner Porzellan – unauffälliger Ersatz<br />
für die Büsten von Stalin und Lenin. Stalin musste<br />
noch zu Sowjetzeiten weichen, Lenin nach Auflösung<br />
der UdSSR. Eine zweite, größere Lenin-Büste stand vor<br />
dem Haupteingang. Die russischen Diplomaten durften<br />
demokratisch abstimmen: Lenin auf den Müll oder<br />
Lenin in den Sommergarten im Botschaftsinnern. Er<br />
steht jetzt im Garten.<br />
48<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Foto: Sebastian Hänel für <strong>Cicero</strong><br />
Annektierung des Buffets. Beim Empfang im<br />
Spiegelsaal der russischen Botschaft in Berlin sichern<br />
sich die Gäste Lachs, Pelmeni und andere Leckereien<br />
Ein Rundgang mutet wie ein Museumsbesuch an,<br />
alles prunkt pompös und wirkt doch etwas angestaubt.<br />
Das Leben findet in den schlichten Häuserblocks hinter<br />
der glänzenden Fassade statt, Büros, Wohnungen für<br />
500 Menschen – Diplomaten, Techniker, Mitarbeiter<br />
der Handelsvertretung mit ihren Familien haben eine<br />
Schule, Kindergarten und Sportstätten. Kleinrussland<br />
unter den Linden. Der Botschafter bewohnt eine Villa<br />
im vornehmen Stadtteil Dahlem.<br />
Einst war die Botschaft eine Partyhochburg. Eine<br />
wilde Zeit, 2004 bis 20<strong>10</strong>, die <strong>Jahre</strong> der Kotenevs. Das<br />
Botschafterpaar brachte das Gebäude zum Schwingen.<br />
Hinter ihren Einladungen verblassten die Empfänge<br />
anderer Botschaften, auch das Hamburger- und Hotdog-Ritual<br />
der Amerikaner zum 4. Juli, dem US-Nationalfeiertag.<br />
Ein Kolumnist der Zeitschrift GQ notierte:<br />
„Die Bälle, die sie gaben, schäumten vor Prunk und<br />
Ausgelassenheit. Sie erzählten die wunderbarsten Märchen,<br />
aber vor allem jenes, dass dieses neue Russland<br />
ein modernes, irgendwie magisches Zarenreich sein<br />
muss.“ Für den Tagesspiegel waren die Kotenevs „ein<br />
Versprechen darauf, was aus Russland werden könnte“.<br />
Und jetzt das, Putins Sündenfall, die Krimannektierung,<br />
Sanktionen, Krisenstimmung. „Der Botschafter<br />
ist um diese Situation nicht zu beneiden“, stellt<br />
Ernst-Jörg von Studnitz an einem Aprilabend in der<br />
Botschafter Grinin sitzt in<br />
seiner Ledergarnitur. Er sagt:<br />
„So viel Beleidigung habe ich<br />
noch nie gesehen, nicht mal<br />
im Kalten Krieg“<br />
Botschaft fest. Er erinnert sich an sein eigenes Dilemma,<br />
als er als deutscher Botschafter in Moskau<br />
Berlins Rolle im Kosovokonflikt verteidigen musste.<br />
Am Morgen haben die Zeitungen von Warnungen<br />
der Nato vor der Gefahr russischer Truppen an der<br />
Grenze zur Ukraine berichtet. Für den Abend hat Botschafter<br />
Wladimir M. Grinin, Nachfolger Kotenevs, zu<br />
einem Konzert mit jungen Solisten des Bolschoi-Theaters<br />
eingeladen. Grinin begrüßt die Gäste im Ballsaal<br />
und verspricht ein „Musikfest“. Kein Wort zur Politik.<br />
Der 400 Gäste fassende Saal ist gut gefüllt, aber:<br />
„Haben Sie Politiker gesehen?“, fragt Michael Glos,<br />
der ehemalige Bundeswirtschaftsminister. Zu sehen<br />
ist keiner, jedenfalls keiner, der aktuell im Amt ist,<br />
auch die sonst üblichen Bundeswehruniformen höherer<br />
deutscher Offiziere fehlen. „Eigentlich schade“, sagt<br />
Glos und stellt sich in seiner neuen Funktion als politischer<br />
Beirat des Verbands russischer Unternehmer<br />
in Deutschland vor. „Ich bin sehr optimistisch, dass<br />
sich das wieder normalisiert“, sagt er über die Beziehungen<br />
zwischen Berlin und Moskau. Glos gibt wieder,<br />
was offenbar alle Gäste glauben wollen, die überwiegend<br />
aus der Wirtschaft kommen. Andrea von Knoop,<br />
Ehrenpräsidentin der deutsch-russischen Außenhandelskammer<br />
in Moskau und seit rund 40 <strong>Jahre</strong>n Kennerin<br />
der Szene, verweist auf die 6200 deutschen Firmen<br />
im Russlandgeschäft: „Die werden Russland alle<br />
treu bleiben.“ Auch in Krisen seien sie immer geblieben.<br />
„Und so wird das auch jetzt sein.“<br />
Die Wirtschaft sponsert den Konzertabend. Tobias<br />
Lüpke von der Beratungsfirma Ernst & Young mit<br />
4000 Leuten in Russland empfiehlt: „Der Gesprächsfaden<br />
darf nicht abreißen.“ Es gehe nicht nur um Menschenrechte,<br />
sagt er unverblümt. „Achtet auf die Arbeitsplätze,<br />
die durch Russland gesichert werden.“<br />
Nach dem Konzert der Empfang, im Spiegelsaal,<br />
das Buffet ist üppig. Pelmeni, also Teigtaschen mit<br />
Fleisch und Sauerrahm, Lachs und Salate. Ein Gericht<br />
heißt „Hering unterm Pelzmantel“. Es gibt Wodka,<br />
aber die meisten Gäste halten sich lieber an den Wein.<br />
Die Grüne Antje Vollmer, wie Glos nicht mehr<br />
im Amt, ärgert sich darüber, dass ihre Partei sich auf<br />
die Seite der Putin-Kritiker geschlagen hat. Deeskalieren<br />
und nicht eskalieren, Feindbilder abbauen, darum<br />
müsse es gehen. „Da habe ich gedacht, da gehst<br />
du hin. Da ich gegen jede Form von Phobie bin, bin ich<br />
auch gegen Russenphobie“, sagt sie. Mit diesen Gästen<br />
kann Grinin zufrieden sein.<br />
Am nächsten Morgen sitzen wir auf der dunkelbraunen<br />
Ledergarnitur, auf der schon Putin Merkel<br />
die Welt erklärt hat. Anders als der quirlige Kotenev<br />
ist Grinin ein eher unscheinbarer Mann. Aber er empört<br />
sich über die deutsche Presse, auch über Berichte<br />
rund um die Olympischen Winterspiele. „So viel Beleidigung<br />
habe ich noch nie gesehen, nicht einmal während<br />
des Kalten Krieges.“ Er spricht von einer „absichtlichen<br />
Dämonisierung“ seines Landes. „Das schürt<br />
Russlandhass“. Das Bild in den Medien stehe im Gegensatz<br />
zu seinen Erlebnissen in Deutschland. „Ich<br />
finde, dass in der deutschen Bevölkerung ein Verständnis<br />
vorhanden ist, die Beziehungen nicht zu ruinieren.“<br />
Beim Konzert am Vorabend haben übrigens auch<br />
die Kotenevs vorbeigeschaut. Sie leben weiter in Berlin.<br />
Beide schütteln Hände, viele der Gäste erinnern sich<br />
an die alten Zeiten. Maria Koteneva will sich auf Vergleiche<br />
zu früher nicht einlassen. Sie lobt die Qualität<br />
der Pelmeni.<br />
WERNER SONNE ist viel in Botschaften rumgekommen.<br />
Er war lange ARD-Korrespondent in Osteuropa und den USA<br />
49<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
CICERO FEIERT<br />
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BERLINER REPUBLIK<br />
Kommentar<br />
SMOG<br />
RAUBT DIE<br />
SICHT<br />
Tahrir, Gezi, Maidan – das<br />
Weltgeschehen leuchtet auf<br />
dem iPhone, man wischt<br />
darüber, man berührt es. Aber<br />
was versteht man dadurch?<br />
Gedanken über Funktion und<br />
Faszination der Zeitung<br />
Von<br />
FRANK A. MEYER<br />
Tahrir, Gezi, Maidan: drei Schauplätze von Revolten,<br />
ja Revolutionen. Ihre Namen haben sich ins<br />
Bewusstsein der Bürger eingeprägt. Über Monate<br />
beherrschten sie die Schlagzeilen.<br />
Sie lieferten die Bilder des Tages. Sie bestimmten<br />
die Ästhetik der Nachrichten. Sie zeigten demonstrierende<br />
Menschen, militante Kämpfer, Geschlagene<br />
und Geschundene, Polizisten in monströsen Monturen.<br />
Und das alles in Farbe: Blut, rot wie Ketchup. Kleidung,<br />
bunt wie Blumen. Flammen in leuchtendem Orange.<br />
Jedes Foto am Bildschirm akkurat bearbeitet, damit<br />
bloß nichts unklar bleibt.<br />
Die Wirklichkeit! Wirklich?<br />
Medienwirklichkeit auf jeden Fall. Wie sie das<br />
Netz garantiert: rund um den Globus, rund um die<br />
Uhr. Man muss sie nur checken, auf dem Laptop, auf<br />
dem iPad, auf dem iPhone. Sie ist immer da, leuchtet<br />
auf, wenn man sie berührt, über sie wischt, sie<br />
streichelt.<br />
Genau: Man kann die Welt zu jeder Zeit streicheln<br />
– und sie erstrahlt. Sie ist fassbar, weil handlich,<br />
weil abzulesen im Gehen wie im Stehen wie im Fahren.<br />
Ist das denn alles noch zu fassen?<br />
Die Welt ist mit uns eins geworden, kinderleicht<br />
einzufangen mit einem Netz, das jeder schon in frühester<br />
Jugend auszuwerfen lernt. Zugleich löst die Welt<br />
sich auf, in einzelne Partikel, nach denen wir hektisch<br />
klicken. Die Partikel werden zu Feinstaub, verdichten<br />
sich zu Smog, rauben uns die Sicht. Alles wissen,<br />
nichts verstehen, dieser Formel folgen die Netz-News.<br />
Genau so funktioniert das: Wer checkt, hakt ab,<br />
begreift aber nichts im Wortsinn von „be-greifen“, also<br />
greifen, also in den Griff bekommen.<br />
Nicht allein die Geschwindigkeit, mit der Ereignisse,<br />
Aktualitäten, Dramen, Komödien, Skandale,<br />
Verbrechen gemeldet werden, hindert die Konsumenten<br />
der Welt daran, die Wirklichkeit zu begreifen.<br />
Auch die Kleinteiligkeit der Darbietung verstellt den<br />
Überblick, den Blick aufs Ganze.<br />
Der Bildschirm ist klein, sehr klein; der Text rollt<br />
ab, Zeile um Zeile; das Bild lässt sich zwar aufblähen,<br />
bleibt aber beschränkt; alles wird in seine Einzelteile<br />
zerlegt: Geschichten, Gestalten, Gesichter, Gedanken –<br />
als wolle man da Vincis Abendmahl unter der Lupe<br />
erfassen. Lupenreine Wirklichkeit?<br />
Wegklicken und weiterklicken und „gefällt mir/gefällt<br />
mir nicht mehr“: Das Netz synthetisiert aus der<br />
wirklichen Wirklichkeit seine eigene digitale Wirklichkeit<br />
– durch Dekonstruktion.<br />
Wer aber setzt die dekonstruierte Welt zusammen?<br />
Wer fügt die Partikel zu einem Bild, das sich greifen<br />
lässt? Wer macht begreifbar, was als nie abreißende<br />
Newsflut auf uns niederstürzt?<br />
Wer sind die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz<br />
in Kairo, im Istanbuler Gezi-Park, auf Kiews Maidan?<br />
Welche Strömungen spiegeln sie wider? Welche<br />
Absichten verfolgen sie? Welche Geschichte erzählen<br />
sie?<br />
Die Ereignisse in ihrer gesellschaftlichen Breite<br />
und geschichtlichen Tiefe erfassen, hieße: die Gegenwart<br />
zu historisieren. Es wäre die wohl edelste Aufgabe<br />
der Journalisten. Doch wo sind sie zu finden, jene<br />
Begreifbarmacher? Sie arbeiten bei Zeitungen und<br />
Zeitschriften. Also in den Redaktionen. Sie gestalten<br />
die Welt nach ihren Prioritäten, nach ihren Einsichten,<br />
nach ihren Interessen, nach ihrem Wissen, nach<br />
ihrem Vergnügen.<br />
Sie sind der Club, dessen Weltsicht der Leser sich<br />
anvertraut. Je nach eigener Weltsicht, dem jeweils ganz<br />
eigenen Club: konservativ oder liberal oder links oder<br />
bunt und laut oder grau und gedämpft – der Neuen<br />
Zürcher Zeitung oder dem Blick oder der Frankfurter<br />
Allgemeinen Zeitung oder der Süddeutschen Zeitung<br />
oder dem Spiegel oder der Zeit oder <strong>Cicero</strong>.<br />
Solche Blätter bieten Papierwelten der Welterklärung,<br />
ausladend und einladend – und vor allem:<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
52<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Anzeige<br />
gestaltet. Das Große groß, das Kleine klein, das Unerwartete<br />
spektakulär.<br />
Zeitunglesen ist eine Entdeckungsreise: Welche<br />
Themen, nach denen ich im Netz nie und nimmer gesucht<br />
hätte, bietet mir mein Club? Was offeriert er mir<br />
an Einsichten und Zusammenhängen, auf die ich beim<br />
Klicken und Scrollen nie und nimmer gestoßen wäre?<br />
Und wie gelangt mein Club dorthin? Durch Debatten<br />
der Redakteure über die Tageswirklichkeit, über<br />
deren Abgründe und Hintergründe, über Menschen,<br />
die Politik, Wirtschaft und Kultur bewegen.<br />
Der Club ist nämlich auch ein Salon, in welchem<br />
Meinung und Gegenmeinung lustvoll das Resultat bestimmen:<br />
das Gedruckte.<br />
Die Redaktion, ein Club, ein Salon – ein Ort der<br />
Aufklärung. Zugegeben, das ist eine alte Sache, uralt<br />
im Vergleich zum Netz, bevölkert von vergleichsweise<br />
uralten Menschen, in denen das Feuer der Aufklärung<br />
noch nicht erloschen ist: irgendwie 18. Jahrhundert,<br />
kurz vor der Französischen Revolution, als sich im<br />
Salon des Baron d’Holbach die besten Köpfe Europas<br />
trafen zu Diskussion und Causerie: Denis Diderot,<br />
David Hume, Laurence Sterne, Jean-Jacques Rousseau.<br />
Was wir heute für so selbstverständlich halten,<br />
dass wir es kaum noch zu genießen verstehen, geschweige<br />
denn hegen und pflegen – es begann dort<br />
und damals: die offene Gesellschaft. Der demokratische<br />
Rechtsstaat entsprang dem Denken jener Aufklärer.<br />
Der Salon wurde zur Zeitung – Eintritt: drei<br />
Franken. Es lässt sich gut verweilen in diesem Salon.<br />
Man hat Zeit. Man denkt plötzlich, was man nie<br />
gedacht hätte, weil man liest, was man nie gelesen<br />
hätte.<br />
Zeitunglesen ist Lust an sich selbst: Der Zeitungsleser<br />
bremst die Hektik der Welt, verlangsamt sie zur<br />
Lesezeit, macht sie erfahrbar, erkennbar, begreifbar.<br />
Der Zeitungsleser verschafft sich Ungestörtheit und<br />
Überblick im Salon seiner Redaktion, seines Clubs. Er<br />
ruht im Auge des Shitstorms – und beharrt auf geistiger<br />
Selbstbestimmung. Nichts drängt ihn weiter und<br />
weiter durch glitzernde Ereignis-Partikel, die, kaum<br />
berührt, gleich wieder verglühen.<br />
Keine Netznervosität nervt ihn, kein Blitzen von<br />
Buzzfeed, kein Freundschafts-Geflimmer auf Facebook.<br />
Zeitunglesen ist angehaltene Zeit. Ich-Zeit.<br />
Und das soll jetzt vorbei sein? Oder, wenn nicht<br />
jetzt, dann spätestens in Bälde, wie doch so viele prophezeien,<br />
wie doch fast alle sagen, wie es doch Milliarden<br />
Netzmenschen zu belegen scheinen, die ihre<br />
Touchscreen-Virtuosität für das Beherrschen des Weltwissens<br />
halten.<br />
Von Albert Einstein ist der Satz überliefert: „Die<br />
Fische werden das Wasser wohl als Letzte entdecken.“<br />
Wer war gleich noch mal Albert Einstein?<br />
Dresden<br />
Festetage des Residenzschlosses<br />
26. April bis 27. Juli 2014<br />
www.skd.museum<br />
Franco Vimercati 1<br />
& George Kubler 2<br />
eine Ausstellung<br />
von WOLFGANG SCHEPPE<br />
FRANK A. MEYER ist Journalist und Gastgeber der<br />
politischen Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat
BERLINER REPUBLIK<br />
Debatte<br />
SALZ, SONNE<br />
UND MEER<br />
Von FRANZISKA BRANTNER und ROBERT HABECK<br />
Seit der Wahlpleite predigen die Grünen Liberalismus.<br />
„Klingt nach FDP-Erbschleichertum“, kritisieren zwei Grüne<br />
aus der Post-Trittin-Generation. Und schlagen der Partei ein<br />
ganz neues Freiheitskonzept vor<br />
54<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Illustration: Marco Wagner; Fotos: Brantner, Johannes Arlt/laif<br />
Freiheit ist bei den Grünen eine<br />
ambivalente Sache: Einerseits<br />
streiten wir dafür, dass jede<br />
und jeder so sein, leben und<br />
lieben kann, wie sie oder er<br />
es will. Andererseits wollen wir munter<br />
jede Menge Regeln einführen, die nicht<br />
nur wildes Wirtschaften regulieren, sondern<br />
auch in das Privatleben eingreifen:<br />
Werbeverbote, Tempolimits, Alkoholverbote,<br />
Düngevorschriften. Im Bundestagswahlkampf<br />
setzte sich – sicher auch unter<br />
der Missverstehens-Beihilfe unserer<br />
geschätzten politischen Mitbewerber –<br />
die Erzählung der grünen Bevormundung<br />
durch.<br />
Jetzt soll es wieder um grüne Freiheit<br />
gehen. Der Bundesvorstand plant<br />
einen Freiheitskongress. Und der Bundesparteitag<br />
beschloss direkt nach der<br />
vergeigten Wahl: „Wir wollen zeigen,<br />
dass der Deutsche Bundestag mit der FDP<br />
nur eine neoliberale Partei verloren hat,<br />
nicht aber eine Kraft für einen verantwortungsvollen<br />
Liberalismus. Selbstbestimmung<br />
und Liberalität sind bei uns<br />
Grünen zu Hause.“<br />
Die Grünen als Partei der Liberalität<br />
– die Behauptung schmeckt etwas<br />
schal. Sie klingt nach FDP-Erbschleichertum,<br />
nach Veggie-Day-Traumatherapie.<br />
Vielleicht ist der Liberalismus ja tatsächlich<br />
bei „uns“ zu Hause. Aber wir müssen<br />
einsehen, dass ein liberaler Zungenschlag<br />
kein Beweis ist und noch lange<br />
keine Strategie. Die Grünen haben bisher<br />
die Frage nicht beantwortet, ob sich bei<br />
ihnen etwas ändern soll und wenn ja, was.<br />
Dabei birgt der Freiheitsdiskurs tatsächlich<br />
eine große Chance für die Partei,<br />
und ein bisschen auch für die Bundesrepublik,<br />
sich nochmals neu zu erfinden.<br />
Damit könnten wir der Gesellschaft im<br />
Merkel-müden Deutschland einen Impuls<br />
geben, die Republik wacher, kreativer,<br />
freier zu machen. Dazu müssen sich die<br />
Grünen die Freiheit nehmen, Freiheit neu<br />
zu denken. Erstmal muss die Partei ein<br />
Sensorium gegen obligatorische Ismen<br />
und gegen Bevormundung entwickeln.<br />
So eine Haltung finden wir in ausgeprägt<br />
politischer Form im Werk von Albert<br />
Camus. Vielleicht ist es Zufall, dass<br />
der <strong>10</strong>0. Geburtstag des energischen Freiheitsdenkers<br />
mit der Suche der Grünen<br />
nach Orientierung zusammentraf. Aber<br />
Zufall ist der Zwilling der Freiheit, und<br />
er kann Camus zum Paten des grünen<br />
Freiheitsprojekts machen. Camus hat<br />
genau das, was die Grünen jetzt brauchen:<br />
Aus einem tief gegründeten Humanismus<br />
speisen sich seine Lebensbejahung<br />
und Bevormundungsverneinung:<br />
Camus badete und sonnte sich für sein<br />
Leben gern nackt, Salz, Sonne, Haut,<br />
Meer – das hatte existenzielle, „befreiende“<br />
Bedeutung, aber den „Nudismus“<br />
als Freiheit vorschreibende Zwangsjacke<br />
hielt er für einen „verqueren Protestantismus<br />
des Körpers“. Wertgeleitete Haltung<br />
ohne Ideologieklappe, das wäre die<br />
grüne Freiheit. Jeanyves Guérin nannte<br />
diese Camus’sche Haltung „programmlose<br />
Schärfe“ und Joseph Hanimann „radikales<br />
Augenmaß“. Genau so sollten die<br />
Grünen sein.<br />
IN SEINEM LETZTEN, erst posthum veröffentlichten<br />
und großartigen Buch „La<br />
postérité du soleil“ schreibt Camus:<br />
„Hier lebt ein freier Mensch. Niemand<br />
schuldet ihm etwas.“ Mit dieser Umkehrung<br />
der alltäglichen Besitzlogik bringt<br />
er seine Freiheitsphilosophie auf den<br />
Punkt. Das für die Freiheit relevante<br />
Die Autoren<br />
Auf einer Zugfahrt kamen die<br />
Grünen Franziska Brantner und<br />
Robert Habeck ins Gespräch.<br />
Sie entwickelten die Idee zu diesem<br />
Text. Habeck, 44 und Doktor<br />
der Philosophie, ist in Schleswig-<br />
Holstein Vize-Ministerpräsident<br />
sowie Umwelt- und Energieminister.<br />
Brantner, 34 und Doktorin<br />
der Politologie, wechselte im<br />
Herbst vom EU-Parlament in den<br />
Bundestag. Sie lebt in Heidelberg<br />
Kriterium ist nicht, dass ein Subjekt autonom<br />
und unabhängig ist, sondern dass<br />
es andere nicht in ein Schuldverhältnis<br />
gebracht hat. Selbstbestimmung, Unabhängigkeit,<br />
Freiheitsrechte für Worte, Taten<br />
und Gedanken – die liberale Philosophie<br />
der Moderne wird hier auf den<br />
Kopf gestellt.<br />
Die Freiheitsfrage ist traditionell in<br />
der Philosophie in ihrer radikalen Zuspitzung<br />
immer die Frage nach der Selbstbestimmung<br />
bis zum Ende, die Frage der<br />
Verfügung auch über den eigenen Tod<br />
durch Suizid. Das war auch für Camus<br />
die philosophische Schlüsselfrage unter<br />
dem Zeichen der Freiheit. An ihr ist eine<br />
grundsätzliche Umkehrung des Freiheitsbegriffs<br />
– und seines Gegenpols, die Unfreiheit<br />
durch Schuld – herauszuarbeiten,<br />
die den Grünen weiterhelfen kann. Camus<br />
würde nicht fragen: Ist man es jemandem<br />
schuldig weiterzuleben? Sondern:<br />
Schuldet mir jemand mein Leben?<br />
Das unterscheidet sich kategorial von<br />
einem oberflächlichen Liberalismus, der<br />
jedem nur die freie Entfaltung garantieren<br />
will.<br />
Das libertäre Denken der Freiheit<br />
macht die Urthemen der Grünen wie Naturschutz,<br />
Klimaschutz oder Atomausstieg<br />
nachgerade zur Übersetzung dieser<br />
Freiheit: Dass unsere Art, zu wirtschaften<br />
und zu verbrauchen, den Handlungsspielraum<br />
kommender Generationen begrenzt<br />
und diesen Freiheiten nimmt, ist<br />
ein Gemeinplatz. Von Soja-Importen aus<br />
Südamerika bis zu Deutschlands Außenhandelsüberschuss<br />
exportieren wir Freiheitsverluste.<br />
Ihnen gegenüber steht der<br />
Freiheitsanspruch der Selbstverwirklichung:<br />
Wirtschaftswachstum, Konsumgesellschaft,<br />
Fahren und Reisen, so viel<br />
und so weit man will, der Anspruch auf<br />
Plastiktüten und Einwegdosen inklusive.<br />
Grundrechte, Bewegungsfreiheit,<br />
Freiheit, die Berufe auszuüben, die wir<br />
wollen, Freiheit zu denken und zu forschen,<br />
daran macht sich jedoch ein voller<br />
Begriff von Freiheit fest. Ein zu enger<br />
Begriff von Freiheit nimmt sie uns<br />
gerade. Die vermeintliche Freiheit führt<br />
uns dann – Camus weitergedacht – selbst<br />
in Schuldverhältnisse und damit de facto<br />
in Unfreiheit.<br />
Camus’ Denken kann der programmatisch-philosophische<br />
Kern für ein<br />
grünes Freiheitsdenken sein, das darauf<br />
55<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Debatte<br />
verzichtet, politische Weltanschauungen<br />
zu errichten, sondern dicht bei den Problemen<br />
der Gegenwart bleiben soll, Camus<br />
hätte wohl gesagt, der Erde.<br />
Grüne Freiheit, das wäre nicht nur<br />
eine formale oder in die Zukunft versprochene,<br />
sondern eine, die sich an der<br />
realen und reellen Freiheit für möglichst<br />
viele Menschen misst. Sie schließt die Abwehr<br />
von sozialer Not und Bedrängnis<br />
ein – Freiheit und Gerechtigkeit sind für<br />
Camus nur zusammen zu erreichen –,<br />
geht aber darüber hinaus. Freiheit heißt,<br />
sich in Solidarität verwirklichen zu können.<br />
Sie ist eine Offenheit, eine Möglichkeit.<br />
„Weiß man, zu was der Mensch alles<br />
fähig ist, im Guten wie im Schlechten,<br />
weiß man auch, dass es nicht allein der<br />
Mensch ist, der beschützt werden muss,<br />
sondern die Möglichkeiten, die ihm innewohnen<br />
– seine Freiheit.“<br />
Kern grüner Freiheit wäre das Offenhalten<br />
eines existenziellen Raumes,<br />
durch den der Zugang zur Selbstverwirklichung<br />
gewahrt bleibt. Ein neuer grüner<br />
Liberalismus heißt, möglichst vielen<br />
Menschen in Gegenwart und Zukunft die<br />
Ressourcen und Voraussetzungen zu garantieren,<br />
sich so zu entfalten, wie es ein<br />
selbstbestimmtes, weltoffenes, gerechtes<br />
Leben erfordert. In letzter Konsequenz<br />
kann dies bedeuten, dass nicht unsere<br />
Freiheit als Leitbild das Leben der anderen<br />
definiert, sondern das Leben der anderen<br />
auf unsere Freiheit wirkt.<br />
Dieser Ansatz ist für die Positionierung<br />
einer um ihre Eigenständigkeit ringenden<br />
Partei eine gute Nachricht: Sind<br />
wir links? Oder bewahrend konservativ?<br />
Oder liberal? Aus einer eigenständigen<br />
Freiheitsperspektive gesprochen, lautet<br />
die Antwort: Wir wollen uns gar nicht<br />
in eine politische Weltenlehre einpassen.<br />
Wenn die CDU Wohlstand und Sicherheit<br />
für die bewahren will, die beides<br />
haben, und die SPD dafür eintritt,<br />
dass Wohlstand und Sicherheit für die erreichbar<br />
sein sollen, die beides noch nicht<br />
haben, dann sollten die Grünen für das<br />
eintreten, was über Wohlstand und Sicherheit<br />
hinausweist. Das Recht auf eigene<br />
Zeit gehört genauso dazu wie die<br />
Möglichkeit, über Zeit autonom zu bestimmen.<br />
Oder die Aussicht, Zeiten für<br />
Fürsorge und Arbeit miteinander vereinbaren<br />
zu können. Zeit ist Freiheit. Zu diesem<br />
Ansatz passt ein freies Denken, das<br />
Bubble Tea zu<br />
verbieten, aber<br />
Haschisch zu<br />
erlauben,<br />
bekommt Otto<br />
Normalbürger<br />
zu Recht nicht<br />
logisch<br />
übereinander<br />
über kurzfristige Bedürfnisse hinausgeht.<br />
Die Höhe der EEG-Umlage kann<br />
nicht zur Richtschnur dafür werden, ob<br />
Atomkraftwerke länger laufen oder nicht.<br />
Der Preis für Rindfleisch an der Discountertheke<br />
kann nicht darüber entscheiden,<br />
zu welchen Bedingungen wir Tiere halten<br />
und töten.<br />
DIE GRÜNE PARTEI steht für das Versprechen,<br />
dass das Leben anders sein kann.<br />
Wir leben aber eine Politik, die sich nicht<br />
mehr traut, große Veränderungen zu adressieren.<br />
Statt uns im Kleinen zu verlieren,<br />
müssten wir uns auf die großen<br />
Themen konzentrieren. Dafür sollten<br />
wir keineswegs auf die Mittel des Ordnungsrechts<br />
verzichten. Man kann die<br />
Welt nicht nur mit Flyern oder Aufklebern<br />
verändern. Aber wir sollten uns weniger<br />
in Debatten um Heizpilze, Werbeverbote,<br />
Helmpflichten auf Fahrrädern<br />
oder Radfahren im Wald einlassen, auf<br />
Limonaden- oder Motorroller-Verbote.<br />
Wir sollten lieber die nächste ökologische<br />
Steuerreform vorbereiten, eine<br />
Energiewende nach dem EEG entwerfen,<br />
eine Landwirtschaft ohne Subventionen<br />
aufzeigen, eine Wirtschaftspolitik<br />
ohne den Export von Unfreiheit entwickeln,<br />
Arbeits-, Steuer- und Sozialrecht<br />
so verändern, dass das Recht auf Zeit<br />
garantiert wird, und eine Außenpolitik,<br />
die das Primat der Freiheit anderen Ländern<br />
zugesteht.<br />
Ein grünes Verbotskleinklein darf<br />
nicht zur Ersatzhandlung für tatsächliche<br />
Veränderung werden. Mit Waffen<br />
spielen die meisten Kinder, seit es Pfeil<br />
und Bogen gibt. Heute sind es Paintball<br />
oder Internet-Shooterspiele. Kulturelles<br />
Erschaudern über technischen Fortschritt<br />
muss nicht in Verboten enden. Direkte<br />
militärische Forschung sollte nicht<br />
Aufgabe unserer Universitäten sein, aber<br />
etwa die Erforschung besserer Spracherkennungstechnik<br />
schon, auch auf die<br />
Gefahr hin, dass sie militärisch genutzt<br />
werden kann. Bubble Tea wegen zu hohen<br />
Zuckeranteils zu verbieten, Haschisch<br />
aber zu erlauben, kriegt Otto<br />
Normalbürger zu Recht nicht logisch<br />
übereinander.<br />
Die Grünen könnten auch mal ein<br />
paar Verbote abschaffen: Im schleswigholsteinischen<br />
Naturschutzgesetz gibt es<br />
ein Betretungsverbot für alle landwirtschaftlichen<br />
Flächen. Aber warum soll<br />
man Land nicht betreten dürfen, wenn es<br />
keinen wirtschaftlichen Schaden auslöst<br />
oder Tiere verschreckt? Und Übernachten<br />
in Naturschutzgebieten, am Strand,<br />
im Wald: Solange man nichts zerstört,<br />
was zu schützen ist, spricht nichts dagegen.<br />
Natur soll erlebbar sein. Nicht nur<br />
um ihrer selbst willen schützen wir Natur,<br />
sondern auch um unserer selbst willen.<br />
Aber Freiheit bedeutet eben auch<br />
die Verpflichtung, Rücksicht zu nehmen,<br />
sich – mit Camus gesagt – „im Zaum zu<br />
halten“, im Jargon der Landwirtschaftspolitik:<br />
sich auch an „gute fachliche Praxis“<br />
zu halten, oder als Banker: sich vom<br />
gierigen Schielen auf die letzte Zinskommastelle<br />
zu befreien. Die Frage stellt sich<br />
stets: Haben wir Zutrauen in die Gesellschaft,<br />
dass sie das hinkriegt? Jede Regel<br />
ist ein Beweis unseres Misstrauens.<br />
Von Albert Camus kann man lernen,<br />
wo die Scheidelinie verläuft: Es ist<br />
noch immer richtig, ja notwendig, die<br />
Welt besser zu machen, aber dazu muss<br />
man nicht der bessere Mensch sein oder<br />
bessere Menschen benötigen. Mit Camus<br />
sollten die Grünen wieder gegen<br />
die „Stehkragen-Jakobiner“ aufbegehren<br />
und alles dafür tun, selbst keine zu<br />
werden. Sie sollten mit einer politischen<br />
Haltung agieren, die „weder Belehrung<br />
noch die bittere Wahrheit der Größe<br />
sucht. Stattdessen Sonne, Küsse und erregende<br />
Düfte.“<br />
56<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELTBÜHNE<br />
„ Boah, nä! Watt will<br />
die denn??? Leute! Ich<br />
muss jetzt! Und zwar<br />
alleine! Das durfte<br />
selbst der Kaiser von<br />
China, und dat mach<br />
ich jetzt auch! “<br />
Martin Schulz, sozialdemokratischer Präsident des Europaparlaments, reagiert auf den Hinweis<br />
seines Vorzimmers, dass ihn eine Dame in wichtiger Angelegenheit erwarte, Porträt ab Seite 62<br />
57<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
DER UNHEIMLICHE HERR MODI<br />
Narendra Modi will Indiens neuer Regierungschef werden. Seine dunkle Vergangenheit<br />
könnte ihm am Ende aber doch noch zum Verhängnis werden<br />
Von BRITTA PETERSEN<br />
Foto: Sumit Dayal/Prospekt Photographers Agency<br />
Wer über Narendra Modi<br />
schreibt, gerät fast unweigerlich<br />
in die Falle falscher Gegensätze.<br />
„Albtraum oder Retter?“, „Indiens<br />
meistgeliebter und meistgehasster<br />
Politiker“, so lauten nur einige der Überschriften.<br />
Dabei ist die Rede vom Superschurken<br />
oder vom Superhelden – vor allem<br />
ist es Arbeit am Mythos Modi. Das<br />
kann dem Wahlkämpfer nur recht sein.<br />
Im April und Mai wählt Indien.<br />
Die Aufbruchstimmung der vergangenen<br />
Dekade ist längst einem realistischeren<br />
Bild des Landes gewichen. Nicht<br />
nur das Wirtschaftswachstum ist 2013<br />
auf vergleichsweise magere 5 Prozent<br />
gesunken. Korruptionsskandale und<br />
Massenvergewaltigungen haben Indiens<br />
aufstrebender Mittelklasse einen<br />
Spiegel vorgehalten, in den sie nicht<br />
gern blickt.<br />
Zu sehen ist ein Land, das die hohen<br />
Erwartungen an sich selbst nicht einlösen<br />
kann. „Implosion – Indiens Rendezvous<br />
mit der Wirklichkeit“, so hat der britische<br />
Journalist John Elliott sein neues<br />
Buch genannt, das dieses Phänomen analysiert.<br />
Elliott sieht Schlendrian und eine<br />
Laisser-faire-Mentalität im Zentrum der<br />
indischen Misere.<br />
Das könnte Narendra Modi ebenso<br />
sehen. Dabei ist der Mann, der gute<br />
Aussichten hat, Indiens nächster Premier<br />
zu werden, das Gegenbild von jener<br />
„Jugaad“-Haltung, der Tendenz zur<br />
Improvisation und zum Durchwursteln.<br />
Modi, 63, ist diszipliniert, asketisch und<br />
ein Kontrollfreak. Der Vegetarier raucht<br />
nicht, trinkt nicht, und es gibt keine Frau<br />
an seiner Seite. Der Mann ist mit der Politik<br />
verheiratet.<br />
Modis Aufstieg ist die klassische Geschichte<br />
eines Underdogs. Als Jugendlicher<br />
schon schloss er sich dem Rashtriya<br />
Swayamsevak Sangh (RSS) an, einer<br />
hindu-nationalistischen Kaderorganisation,<br />
deren Mitglieder sich in den frühen<br />
Morgenstunden einem militaristischen<br />
Drill unterziehen. Hier lernte der<br />
Sohn eines Teeverkäufers aus einer der<br />
untersten Kasten der indischen Gesellschaftshierarchie<br />
jene Disziplin, die seinen<br />
späteren Erfolg begründete.<br />
ERST RELATIV SPÄT in seiner politischen<br />
Karriere, 1987, wurde Modi Mitglied der<br />
Bharatiya Janata Party, für die er nun als<br />
Spitzenkandidat ins Rennen geht. Nach<br />
nur einem Jahr wurde er dank seines<br />
Rufes als effizientes Organisationstalent<br />
Generalsekretär der Partei in Gujarat.<br />
Seit 2001 ist er dort Ministerpräsident<br />
und machte den Bundesstaat zu einem<br />
der wirtschaftlich erfolgreichsten Indiens.<br />
Sein Ruf als nicht korrupter, wirtschaftsfreundlicher<br />
Macher hat ihn zum<br />
Liebling der führenden Wirtschaftsbosse<br />
gemacht.<br />
Sollte Modi im Mai genügend Stimmen<br />
erhalten, um an der Spitze der<br />
nächsten Koalitionsregierung in Neu-<br />
Delhi zu stehen, wäre er der erste Premier<br />
in der Geschichte Indiens, der nicht<br />
aus einer der drei Oberkasten stammt.<br />
Eine gesellschaftliche Revolution. Bis<br />
heute verhöhnen politische Gegner Modi<br />
daher gern als „Ghanchi“, der Name seiner<br />
niederen Kaste.<br />
„Die Wahlen 2014 könnten den Beginn<br />
des 21. Jahrhunderts in der indischen<br />
Politik markieren“, sagt Manoj<br />
Joshi vom indischen Thinktank Observer<br />
Research Foundation. Modis Aufstieg<br />
mit dem Versprechen, Indien wirtschaftlich<br />
wieder auf den Wachstumspfad zu<br />
führen, aber auch der Erfolg der neu gegründeten<br />
Aam Aadmi Party, die mit<br />
einer Antikorruptionsagenda kürzlich<br />
die Wahlen in Delhi gewinnen konnte,<br />
zeige, dass die alten Ideologien und die<br />
kastenbasierte Politik bei den Wählern<br />
nicht mehr verfangen. Entwicklung und<br />
gute Regierungsführung seien die Themen<br />
der Stunde.<br />
Klar ist, dass die Mehrheit der Wähler<br />
Modi nicht aufgrund seiner hindu-nationalistischen<br />
Ideologie ihre Stimme geben<br />
wird. Damit könnte die Politik der<br />
gezielten Hatz gegen Minderheiten, mit<br />
der in der indischen Politik immer gern<br />
gespielt wurde, zu einem Ende kommen.<br />
Modis Name aber wird auf immer<br />
mit dem antimuslimischen Massaker von<br />
Gujarat verbunden bleiben, bei dem 2002<br />
mehr als <strong>10</strong>00 Menschen getötet wurden.<br />
Es besteht kein Zweifel daran, dass an<br />
den bestialischen Morden auch Modis<br />
politische Mutterorganisation, der RSS,<br />
beteiligt war. Modi wird vorgeworfen,<br />
dass er als Ministerpräsident ein härteres<br />
Durchgreifen der Polizei gegen den<br />
mordenden Mob verhindert habe. Er bestreitet<br />
dies, eine direkte Schuld konnte<br />
ihm nie nachgewiesen werden.<br />
Unter den indischen Muslimen, aber<br />
auch im Nachbarland Pakistan wird<br />
Modis Aufstieg dennoch mit Sorge beobachtet.<br />
Ob er sich als Premier zum<br />
Staatsmann entwickelt oder eine neue<br />
südasiatische Eiszeit einläutet, wird<br />
nach Meinung seines Biografen Nilanjan<br />
Mukhopadhyay auch davon abhängen,<br />
wie stark sein Mandat ausfällt. Als<br />
schwacher Führer einer Koalition könnte<br />
er versuchen, sich als antipakistanischer<br />
Scharfmacher zu profilieren. Auf seiner<br />
Website hingegen präsentiert er sich als<br />
dichtender Schöngeist und „pragmatischer<br />
Träumer“. Narendra Modi ist ein<br />
Mann mit vielen Gesichtern.<br />
BRITTA PETERSEN lebt seit elf <strong>Jahre</strong>n in<br />
Südasien. Über Narendra Modis Gujarat<br />
schreibt sie in ihrem Buch „Wo die Götter<br />
leben. Alltag und Religion in Indien“<br />
59<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
„ICH WOLLTE DEN POSTEN NICHT“<br />
Hala Shukrallah engagierte sich lieber im Hintergrund. Damit ist es nun vorbei.<br />
Die Soziologin ist die erste Frau und Christin, die in Ägypten einer Partei vorsteht<br />
Von JULIA GERLACH<br />
Foto: David Degner für <strong>Cicero</strong> [M]<br />
Betritt sie den Raum, beherrscht sie<br />
ihn nicht. Ergreift sie das Wort,<br />
reißt sie ihre Zuhörer nicht mit.<br />
Hala Shukrallah ist anders als die normale<br />
Politikerpersönlichkeit in Ägypten. Eine<br />
bescheidene, nachdenkliche Frau. Dennoch<br />
wurde sie im März zur Vorsitzenden<br />
der Dustur-Partei gewählt, die Medien ihres<br />
Landes feiern sie als Lichtgestalt, und<br />
die zierliche Frau, 59, im braunen Jeanskostüm,<br />
lacht über den ganzen Rummel.<br />
Erklären lässt sich der Hype leicht.<br />
Ihre Wahl ist die erste gute Nachricht in<br />
einer Zeit voller Hiobsbotschaften. Sonst<br />
geht es um Verhaftungen von Mursi-Anhängern<br />
und deren massenhafter Verurteilung<br />
zum Tode, die andauernde<br />
Wirtschaftskrise und darum, dass mit<br />
Feldmarschall Abdel Fattah al Sisi ein<br />
Mann zum Präsidenten gewählt wird,<br />
der für die Rückkehr zur alten autoritären,<br />
militärgeprägten Ordnung steht.<br />
Geradezu dankbar stürzen sich die Medien<br />
daher auf Shukrallah: Zum ersten<br />
Mal in der Geschichte Ägyptens wurde<br />
eine Frau und noch dazu eine Christin<br />
zur Vorsitzenden einer Partei gewählt.<br />
Überhaupt hatte man die Dustur-Partei<br />
schon fast abgeschrieben, so lange war<br />
immer nur von Austritten und Streit unter<br />
den Mitgliedern die Rede gewesen.<br />
Der Parteizentrale ist der Niedergang<br />
anzusehen. Moderne Büromöbel, die eigentlich<br />
gerade erst angeschafft wurden,<br />
verstauben ungenutzt in viel zu großen<br />
Räumen. Plakate an den Wänden zeugen<br />
von vergangenen Aktionen. Eine Ecke<br />
wurde hergerichtet. Dort posiert Shukrallah<br />
für einen ausländischen Fotografen.<br />
Es fällt ihr schwer, still zu sitzen, und<br />
noch schwerer, nicht zu reden. „Wissen<br />
Sie, ich wollte den Posten doch gar nicht.<br />
Ich organisiere lieber im Hintergrund und<br />
lese gerne Bücher“, sagt sie und wirft dem<br />
Fotografen einen entschuldigenden Blick<br />
zu. „Aber meine Parteifreunde haben<br />
mich bekniet, und vielleicht braucht die<br />
Partei jetzt tatsächlich eine Frau wie mich.<br />
Zumindest ist es wirklich allerhöchste<br />
Zeit, dass wir etwas unternehmen“, sagt<br />
sie. Die demokratische Bewegung habe<br />
2011 wichtige Entwicklungen angestoßen,<br />
„aber wir haben uns bisher immer damit<br />
herausgeredet, dass wir nicht gut genug<br />
organisiert sind, um selbst Macht zu übernehmen<br />
oder auch nur mit den anderen<br />
Mächtigen zu verhandeln“.<br />
Gegründet wurde die Partei – übersetzt<br />
bedeutet ihr Name „Verfassungspartei“<br />
– 2012 von Friedensnobelpreisträger<br />
Mohammed el Baradei. Sie wurde<br />
zum Sammelbecken für die Aktivisten<br />
der Revolution. Seitdem ist viel passiert.<br />
Im Sommer 2012 kam der Muslimbruder<br />
Mohammed Mursi an die Macht und<br />
wurde nach nur zwölf Monaten wieder<br />
abgesetzt. Viele der Dustur-Mitglieder<br />
beteiligten sich an dieser „zweiten Revolution“,<br />
el Baradei übernahm in der<br />
vom Militär eingesetzten Übergangsregierung<br />
den Posten des Vizepräsidenten.<br />
DIE HOFFNUNG AUF DEMOKRATIE und<br />
Freiheit wurde schnell enttäuscht. Brutal<br />
ging das Militär gegen Mursi-Anhänger<br />
vor, und el Baradei trat im August 2013<br />
von seinem Amt zurück. Nach der Räumung<br />
der Protestlager der Mursi-Anhänger<br />
wollte er mit seinem guten Ruf die<br />
Regierung nicht länger stützen. Viele<br />
Mitglieder verließen daraufhin die Partei.<br />
Sie fühlten sich von el Baradei verraten.<br />
Seit das Militär Mursi abgesetzt hat,<br />
verhärten sich die Fronten. Große Teile<br />
der säkularen Mittelschicht überschlugen<br />
sich in Hasstiraden gegen die Muslimbruderschaft.<br />
Angesehene Intellektuelle<br />
wie Sonallah Ibrahim, der selber im Gefängnis<br />
gefoltert wurde, forderten eben<br />
diese Behandlung für Mursi-Anhänger.<br />
Der Politikprofessor Saad Eddin Ibrahim<br />
schlug sogar vor, für Muslimbrüder<br />
Konzentrationslager einzurichten.<br />
Jetzt, da auch immer mehr säkulare<br />
Aktivisten der Revolution von 2011 verhaftet<br />
worden sind, stellen die Säkularen<br />
entsetzt fest, dass von den Idealen der<br />
Revolution kaum noch etwas übrig ist.<br />
Auch deswegen wird Shukrallahs<br />
Wahl so begeistert aufgenommen – sie<br />
zeigt, dass nicht alles vergebens war. Nicht<br />
nur, weil es möglich ist, dass eine Frau<br />
und Christin eine solche Position bekleidet.<br />
Shukrallah gehört zu einer Gruppe<br />
von linken und liberalen Aktivisten, die<br />
seit Jahrzehnten versucht haben, dem<br />
Mubarak-Regime etwas entgegenzusetzen.<br />
Die Soziologin, die ihren Master an<br />
der University of Sussex machte, kommt<br />
aus der Studentenbewegung der siebziger<br />
<strong>Jahre</strong>, gründete mit anderen die ägyptische<br />
Menschenrechtsorganisation und<br />
eine Frauenrechtsorganisation. Zuletzt<br />
leitete sie eine Initiative, die Menschen in<br />
Armenvierteln zur Gründung von Nachbarschaftsinitiativen<br />
ermunterte.<br />
„Sie sehen, diese Rolle als Medienstar<br />
passt gar nicht zu mir, aber ich mache mit.<br />
Die Aufbruchstimmung ist wichtig: Wir<br />
haben schon viele Mitglieder zurückgewonnen<br />
und neue dazu“, sagt sie. „Wir<br />
haben nicht mehr viel Spielraum und vor<br />
allem keine Zeit zu verlieren. Die Türen<br />
sind dabei, wieder ins Schloss zu fallen.<br />
Wir müssen jetzt schnell noch einen Fuß<br />
in den Spalt bekommen.“<br />
Aus vielen <strong>Jahre</strong>n der Opposition unter<br />
Mubarak weiß sie, wie man in den<br />
Nischen eines autoritären Systems etwas<br />
erreichen kann. Dieses Wissen ist<br />
in Ägypten wieder gefragt.<br />
JULIA GERLACH berichtet seit 2008<br />
aus Kairo. Sie hat vier Regierungen und<br />
mehrere Revolutionen erlebt<br />
61<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
DER DOPPELTE SCHULZ<br />
Der Sozialdemokrat Martin Schulz ist ein Polterer. Nun will er Chef der EU-Kommission<br />
werden. Wäre das ein Risiko für Europa? Was kann dieser Mann noch?<br />
Von CONSTANTIN MAGNIS<br />
Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz<br />
Martin Schulz muss aufs Klo. Aber<br />
er darf nicht. Es fängt an, als er<br />
gerade für einen TV-Auftritt geschminkt<br />
wird. Es ist der Beginn einer<br />
Straßburger Sitzungswoche. Ob er noch<br />
mal schnell …? Sein Assistent tippt auf<br />
die Uhr und schüttelt mitleidig den Kopf.<br />
Da muss er, der Präsident des Europaparlaments,<br />
sitzen bleiben, mit der Papierserviette<br />
um den Hals, die sein Hemd vor<br />
Make-up schützen soll, und kann nur nervös<br />
auf dem viel zu hohen Schminkstuhl<br />
mit den Beinen wackeln. Nach der Sendung<br />
will Schulz davoneilen, aber dann<br />
ist da dieser griechische Reporter, der<br />
unbedingt ein Interview braucht und so<br />
lange fleht, bis er es bekommt.<br />
Nun ist Schulz wirklich angespannt,<br />
es ist jetzt dringend. Er marschiert entschlossen<br />
durch die Hallen des Straßburger<br />
Parlaments auf sein Ziel zu, aber dauernd<br />
ruft jemand „Monsieur le Président“<br />
und will ihn begrüßen. Schließlich meldet<br />
sein Vorzimmer, dass im Büro bereits<br />
eine Dame mit einem sehr wichtigen Anliegen<br />
warte, er müsse schnell kommen.<br />
„Boah, nä! Watt will die denn???“, platzt<br />
es entnervt aus ihm heraus. „Leute! Ich<br />
muss jetzt! Und zwar alleine! Das durfte<br />
selbst der Kaiser von China, und dat<br />
mach ich jetzt auch!“<br />
DER THRON, den der Sozialdemokrat<br />
Martin Schulz, 58, eigentlich besteigen<br />
will, befindet sich nicht in der Herrentoilette<br />
des EU-Parlaments. Schulz will<br />
nach der Europawahl Präsident der Brüsseler<br />
Kommission werden. Er will das<br />
höchste Amt, das die Europäische Union<br />
zu vergeben hat.<br />
Selbst wenn Schulz die Wahlen im<br />
Mai für sich entscheiden sollte, ist es<br />
längst nicht ausgemacht, dass er auch<br />
auf dem Thron Platz nehmen darf. Der<br />
Lissabon-Vertrag sieht vor, dass der<br />
Kommissionspräsident vom Rat der<br />
Staats- und Regierungschefs der EU dem<br />
Europaparlament vorgeschlagen und von<br />
diesem gewählt wird. Dabei sollen die<br />
Staats- und Regierungschefs das Ergebnis<br />
der Europawahl „berücksichtigen“. Sie<br />
müssen aber nicht. Einen Automatismus,<br />
den Wahlsieger zu küren, gibt es nicht.<br />
Erschwert wird die Sache für Schulz<br />
durch ein Dilemma: Er hat den Ruf eines<br />
Polterers und Regelbrechers, eines<br />
Mannes, der den präsidialen Habitus<br />
nicht nur zugunsten menschlicher Bedürfnisse<br />
bereitwillig fallen lässt. Er ist<br />
ein Präsident zum Anfassen, ein visionärer<br />
Rhetoriker mit Pathos und ungebremster<br />
Leidenschaft: Alles Stärken in<br />
seinem jetzigen Amt, sie machen ihn zum<br />
Gegenentwurf des ungeliebten, technokratischen<br />
EU-Apparatschiks.<br />
Aber die Frage ist, wie hilfreich diese<br />
Eigenschaften für den Chefbürokraten<br />
an der Spitze des EU-Verwaltungsapparats<br />
noch wären. Kann Schulz führen?<br />
Eignet sich ein Mann, der gewohnheitsmäßig<br />
vom Protokoll abweicht, und damit<br />
beispielsweise Abgeordnete des<br />
israelischen Parlaments durch eine unbedachte<br />
Äußerung über die Wasserverteilung<br />
in der Region verärgert hat, für ein<br />
exekutives Amt, in dem ein falscher Satz<br />
die New Yorker Börse in Panik versetzen<br />
kann? Für einen Job, den der jetzige Inhaber<br />
José Manuel Barroso einmal mit<br />
dem eines Fluglotsen verglich, der ständig<br />
Crashs vermeiden muss? Wäre Europa<br />
bereit für Kommissionschef Schulz?<br />
Der Fluglotse des Martin Schulz<br />
heißt Armin Machmer. Er ist sein Pressesprecher<br />
und Spindoctor, er soll den<br />
kommunikativen Flug des Präsidenten<br />
planen, korrigieren, sicher zur Landung<br />
bringen. An einem Montag im März wird<br />
in Straßburg ein Interview der Neuen<br />
Zürcher Zeitung mit Schulz auf Video<br />
aufgezeichnet, Machmer verfolgt Schulz’<br />
Performance auf einem Bildschirm.<br />
„Unser heutiger Gast will hoch hinaus“,<br />
liest der Moderator vom Teleprompter<br />
ab, „und wenn er es schafft, wird er<br />
bald schon einer der mächtigsten Männer<br />
Europas sein, noch mächtiger, als er<br />
heute schon ist.“ Schulz wird ausgiebig<br />
zur Krimkrise befragt, Machmer nickt<br />
den Antworten seines Chefs zufrieden<br />
hinterher. „Macht er gut“, murmelt er.<br />
THEMENWECHSEL. Der Moderator fragt<br />
jetzt nach dem Schweizer Referendum<br />
gegen die Freizügigkeit. Ob es wirklich<br />
schlau war, dass die EU so rasch auf das<br />
Votum reagiert habe und unter anderem<br />
den Erasmus-Austausch für Schweizer<br />
Studenten gestoppt habe? Armin Machmer<br />
ist elektrisiert. Zu dieser heiklen<br />
Frage hat er Schulz noch im Aufzug gebrieft.<br />
Er soll einfach erklären, der Stopp<br />
von Erasmus sei ein Automatismus. „Das<br />
habe ich ihm vorher gesagt“, ruft Machmer<br />
erwartungsvoll.<br />
Aber Schulz spult das einstudierte<br />
Argument nicht ab. Er sagt etwas völlig<br />
anderes: „Überhaupt kein Verständnis“<br />
habe er für die Suspendierung junger<br />
Schweizer am Erasmus-Programm.<br />
Machmer hält den Atem an und wirkt<br />
kurz fassungslos. „Ausgerechnet die<br />
Menschen, die am glühendsten für die<br />
Integration der EU werben, sollen jetzt<br />
den Preis zahlen für eine Politik, die die<br />
SVP angeschoben hat“, schimpft Schulz.<br />
„Das finde ich falsch.“<br />
Machmer atmet aus. Der Lotse hat<br />
den Funkkontakt verloren, Schulz ist<br />
eine völlig andere Route entlanggerauscht.<br />
Aber immerhin, er ist sicher<br />
gelandet. „Okay“, sagt Machmer resigniert.<br />
„Auch gut. Gut gemacht.“ Schulz<br />
mag schwer zu steuern sein, er hat sich<br />
aber offenbar selbst ganz gut im Griff.<br />
63<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
Obwohl ihm der Ruf eines schwer<br />
kontrollierbaren Raufbolds anhaftet,<br />
liegt ein Geheimnis des Martin Schulz<br />
in seiner Selbstkontrolle. Die musste er<br />
auf die harte Weise lernen. Er wächst als<br />
jüngstes von fünf Kindern in der Polizeistation<br />
von Hehlrath auf. Sein Vater leitet<br />
als Beamter die Wache des kleinen Dorfes<br />
bei Aachen. Martin Schulz ist keine<br />
Leuchte in der Schule, er verlässt sie nach<br />
der Mittleren Reife und fühlt sich deshalb<br />
seinen älteren, akademisch erfolgreichen<br />
Geschwistern noch jahrelang unterlegen.<br />
DIE HOFFNUNG, sich als Fußballspieler<br />
profilieren zu können, stirbt mit einer<br />
Knieverletzung. Stattdessen macht<br />
er eine Ausbildung zum Buchhändler.<br />
Als er mit 24 <strong>Jahre</strong>n plötzlich arbeitslos<br />
wird, beginnt er zu trinken. Er verliert<br />
Freunde, die Wohnung, seine Geliebte.<br />
Landet, wie er später sagen wird, „in der<br />
Gosse“. Es ist ein Vollabsturz, den Martin<br />
Schulz heute bei jeder sich bietenden Gelegenheit<br />
zum mythischen Wendepunkt<br />
seiner Biografie erklärt. Doch anders<br />
als ein Horst Seehofer, der Erweckungserlebnisse<br />
wie seine lebensgefährliche<br />
Herzmuskelentzündung ebenfalls zelebriert,<br />
ändert Schulz sein Leben wirklich.<br />
Martin Schulz reißt sich zusammen.<br />
Statt sich damals, wie er es kurz erwogen<br />
hat, das Leben zu nehmen, geht er für<br />
vier Monate in die Entzugsklinik. Seitdem<br />
ist er trocken, obgleich ihm heute als<br />
Spitzenpolitiker ständig Bierhumpen und<br />
Weingläser in die Hand gedrückt werden.<br />
Damals macht er sich als Buchhändler<br />
selbstständig, engagiert sich in der SPD,<br />
heiratet. Erst mit diesem Schritt, sagt er<br />
heute, emanzipiert er sich endgültig von<br />
seinen älteren Geschwistern.<br />
Vor allem aber entwickelt Schulz<br />
nach seinem Absturz Strategien zur inneren<br />
Ordnung und Stabilisierung, an denen<br />
er – nach eigener Aussage – bis heute<br />
eisern festhält: Jeden Abend schreibt er<br />
Tagebuch, 33 Bände aus 33 <strong>Jahre</strong>n hat er<br />
inzwischen im Regal. Nie geht er ins Bett,<br />
ohne ein Buch gelesen zu haben. Manchmal<br />
nur eine halbe Seite, manchmal ein<br />
ganzes Kapitel, über die Jahrzehnte spart<br />
Schulz sich so ein intellektuelles Kapital<br />
an, das man ihm nicht ansieht, im<br />
Gegenteil.<br />
Sein Gesicht, mit den wilden Augen<br />
und dem wüsten Bart, ist das eines<br />
Den Jähzorn,<br />
den viele für einen<br />
nicht zu bändigenden<br />
Teil des<br />
Schulz’schen<br />
Charakters<br />
hielten, legt er<br />
mit seiner neuen<br />
Rolle ab wie einen<br />
alten Mantel<br />
Kriegers. Im kleinen Kreis verfällt er oft<br />
in die unfreiwillig komische Pose eines<br />
liebenswerten Aufschneiders. „Boah,<br />
ich war heute auf einer Veranstaltung,<br />
3000 Leute, da war eine Stimmung, du,<br />
ich sach dir!“, ruft er dann, hebt die<br />
Augenbrauen in Andeutung einer unaussprechlich<br />
erschöpfenden Sensation,<br />
winkt ab und lacht ein dreckiges<br />
Erzähl-mir-nix-Lachen. Oder er ächzt:<br />
„Nä, noch was essen, ich platze, du, ich<br />
bin vorhin so vollgestopft worden“, und<br />
formt mit den Händen einen Schwabbelbauch.<br />
Mit seiner karikaturhaft wichtigtuerischen<br />
und zugleich proletigen Art<br />
erinnert er dann an jemanden, der Gebrauchtwagen<br />
handelt.<br />
Schulz aber hat mit Literatur gehandelt<br />
und handelt heute mit großen Ideen.<br />
Er ist ein Intellektueller und das Gegenteil<br />
der Figur, die er gelegentlich zu verkörpern<br />
scheint. Gleichzeitig kann er eitel<br />
sein. Man sieht ihm an, wenn ihm die<br />
eigenen Worte gefallen. Er lächelt dann<br />
versonnen und folgt mit kaum merklichen<br />
Kopfbewegungen dem Rhythmus<br />
der eigenen Sätze, als lausche er einer<br />
bewegenden Sinfonie. Doch wenn er im<br />
Gespräch den dänischen Philosophen<br />
Kierkegaard zitiert, auf Goethes „Faust“<br />
verweist oder die Zusammenhänge zwischen<br />
dem Verdun, dem Kriegschronisten<br />
Ernst Jünger und dem faschistischen<br />
Soldatenideal aufzeigt, schaut er einfach<br />
nur wie einer, der konzentriert in seinem<br />
Werkzeugkasten kramt.<br />
Paradoxerweise wurde sein Aufstieg<br />
vom Provinzbuchhändler zum bekanntesten<br />
Gesicht der EU weder durch<br />
polternde Kumpelhaftigkeit noch durch<br />
intellektuelle Wortgewalt vorangetrieben.<br />
Als Schulz 1987 mit 31 <strong>Jahre</strong>n Bürgermeister<br />
der 30 000-Einwohner-Stadt<br />
Würselen wird, gilt er als taktischer und<br />
umsichtiger Vermittler zwischen den Interessengruppen.<br />
Er kommt 1994 ins EU-<br />
Parlament, büffelt nächtelang Englisch,<br />
Französisch, später auch Spanisch und<br />
Italienisch, und fällt im Gegensatz zu vielen<br />
seiner Kollegen durch disziplinierte<br />
Detailarbeit auf. Auch damit verdient er<br />
sich den Vorsitz der deutschen SPD-Abgeordneten<br />
und 2004 schließlich den aller<br />
Sozialdemokraten im Parlament.<br />
Das Bild des tobenden Teutonen, das<br />
heute viele von Schulz haben, entsteht in<br />
seiner Zeit als Chef der deutschen SPD-<br />
Abgeordneten, während der ihm 2003<br />
der damalige italienische Regierungschef<br />
Silvio Berlusconi den Gefallen tut, ihn<br />
mit einem Nazikapo zu vergleichen. Damit<br />
ist Martin Schulz auf einen Schlag europaweit<br />
bekannt. Im EU-Parlament bekommt<br />
Schulz regelmäßig Wutausbrüche<br />
in Debatten mit dem rechten Lager. Dann<br />
kriegt er einen roten Kopf und brüllt, bis<br />
der Parlamentspräsident ihn rüffelt.<br />
DERSELBE SCHULZ vereint die nationalen<br />
Lager durch Beharrlichkeit und geschicktes<br />
Netzwerken zu einer geschlossenen,<br />
sozialdemokratischen Kraft, die er so resolut<br />
und straff führt, dass viele erleichtert<br />
aufatmen, als er 2012 Parlamentspräsident<br />
wird. Den Jähzorn, den viele<br />
für einen nicht zu bändigenden Teil des<br />
Schulz’schen Charakters hielten, legt er<br />
mit seiner neuen Rolle ab wie einen alten<br />
Mantel.<br />
Nun erntet er fraktionsübergreifenden<br />
Respekt dafür, wie er dem Amt des<br />
Parlamentspräsidenten neue Relevanz<br />
verleiht. Wie er sich gegenüber EU-Rat<br />
64<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
und EU-Kommission behauptet. Wie<br />
er verhandelt und gestaltet, außenpolitisch,<br />
finanz- und wirtschaftspolitisch,<br />
wo seine Vorgänger nur gegrüßt und gegrinst<br />
haben.<br />
Es ist, als gäbe es Schulz – und<br />
Schulz. „Das ist bei ihm, als würden<br />
mehrere Softwareprogramme nebeneinander<br />
laufen“, sagt ein Wegbegleiter.<br />
Als hätte Schulz verschiedene Gänge,<br />
zwischen denen er mühelos hin und her<br />
schalten kann. Wer beobachtet, wie er<br />
vom Deutschen ins Französische wechselt,<br />
kann sich das ungefähr vorstellen.<br />
Es wirkt dann, als würde Schulz mit der<br />
Sprache auch seine Persönlichkeit justieren.<br />
Mit einem Mal überzieht ein betrübtes<br />
Amüsement sein Gesicht, in der<br />
Stimme schwingt ein genießerisches Timbre,<br />
als hätte Schulz einen Hebel umgelegt,<br />
von Deutscher auf Franzose.<br />
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DEN EUROPÄISCHEN VISIONÄR und den<br />
rheinischen Proll, den brüllenden Berserker<br />
und den strategischen Denker, den<br />
ehemaligen Alkoholabhängigen und den<br />
harten Chef, den wilden Redner und den<br />
methodischen Verhandler – Schulz hält<br />
alle diese Typen offenbar mit schierer<br />
Willensstärke beisammen und unter Kontrolle.<br />
Vieles spricht dafür, dass er sich<br />
diese Kraft in jahrzehntelanger, täglicher<br />
Selbstdisziplinierung abgetrotzt hat.<br />
Von Angela Merkel hört man, dass<br />
sie sich im Notfall gut mit einem Kommissionschef<br />
Schulz arrangieren könnte.<br />
Vielleicht liegt das nicht nur daran, dass<br />
Schulz Deutscher ist und die Kanzlerin<br />
ohnehin mit der SPD regiert. Möglicherweise<br />
hat Merkel in Schulz auch Qualitäten<br />
erkannt, die ihr selbst und der Spitze<br />
der EU fehlen.<br />
Angela Merkel pflegt mit ihren Händen<br />
eine perfekt symmetrische, reglose<br />
Raute zu formen. Wenn Martin Schulz<br />
herumsteht, legt er alle zehn Finger zusammen,<br />
wie zu einem Brustkorb, und<br />
lässt sie dann wild pumpen, wie einen<br />
schlagenden Herzmuskel.<br />
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CONSTANTIN MAGNIS ist Ressortleiter<br />
Reportagen bei <strong>Cicero</strong> und hat Schulz im<br />
In- und Ausland begleitet. In Frankreich<br />
kam er sich manchmal recht bescheuert<br />
vor: Er hat Schulz auf lauter Terminen<br />
begleitet und nichts verstanden, weil er<br />
kein Französisch spricht<br />
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<strong>Cicero</strong> Test
WELTBÜHNE<br />
Analyse<br />
Syrien ist ein Leichenhaus.<br />
Mehr als 140 000 Menschen<br />
sind in dem grausamen Bürgerkrieg<br />
getötet worden. Das<br />
Massensterben ist so furchtbar,<br />
dass die Vereinten Nationen es aufgegeben<br />
haben, die Toten zu zählen.<br />
Im Irak ist der Krieg zwischen<br />
Sunniten und Schiiten neu entflammt.<br />
2013 starben mehr als 8000 Iraker, die<br />
höchste Opferzahl seit 2008. Mehr als<br />
140 000 Menschen sind seit vergangenem<br />
Dezember vor religiös motivierter<br />
Gewalt aus der Provinz Anbar geflohen.<br />
Im Januar verließen in nur einer Woche<br />
65 000 Iraker Falludscha und Ramadi –<br />
Städte, die wieder in die Hände von Al<br />
Qaida gefallen sind.<br />
Die Straßen Beiruts werden von Autobomben<br />
und Anschlägen erschüttert,<br />
weil die Kämpfe in Syrien auf den Libanon<br />
übergreifen. Auch Kairo ist zu einem<br />
Schauplatz von Bombenexplosionen und<br />
Tötungen geworden, zeitgleich kommt es<br />
zu dschihadistischen Angriffen im Sinai.<br />
Andere, scheinbar stabile arabische Staaten<br />
könnten bald auch in Gefahr sein.<br />
Die maskierten Al-Qaida-Kämpfer<br />
erleben einen neuen Aufwind. Sie scheinen<br />
die einzigen Sieger in all dem Chaos<br />
im Nahen Osten zu sein. Ihren Rekruten<br />
und fanatischen Anhängern ist es<br />
gelungen, sowohl den Volksaufstand in<br />
Syrien als auch die schwelenden Ressentiments<br />
im Irak in einen religiösen<br />
Krieg zwischen Sunniten und Schiiten<br />
zu verwandeln. Unter dem Label „Islamischer<br />
Staat im Irak und in der Levante“<br />
hat Al Qaida sich kein geringes<br />
Ziel gesteckt: die Grenzen zwischen Syrien<br />
und Irak von der Landkarte tilgen<br />
und einen eigenen transnationalen Terrorstaat<br />
ausrufen.<br />
Die Kämpfer sind disziplinierter,<br />
besser bewaffnet und erfahrener denn<br />
je. Die Schlachtfelder Syriens haben<br />
der Terrororganisation als Sammelort<br />
und Übungsplatz gedient. Inzwischen<br />
überqueren ihre kampfgestählten Infanteristen<br />
ungehindert die syrisch-irakische<br />
Grenze. Der amerikanische Botschafter<br />
im Irak schätzt, dass sich mehr<br />
als 2000 Al-Qaida-Kämpfer im Land<br />
aufhalten.<br />
Der Nahe Osten versinkt nicht einfach<br />
im Chaos. Er nimmt eine neue, ungleich<br />
tödlichere Gestalt an. Die vor<br />
TÖTEN FÜR DEN<br />
TERRORSTAAT<br />
Attentate und Massaker reihen sich schier<br />
endlos aneinander – Al Qaida mordet, als habe<br />
es nie einen „Krieg gegen den Terror“ gegeben.<br />
Ihr Ziel: Syrien und Irak von der Karte tilgen<br />
Von WILLIAM J. DOBSON<br />
66<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Illustration: Simon Prades<br />
<strong>10</strong>0 <strong>Jahre</strong>n hastig gezogenen und vom<br />
Westen aufgezwungenen Grenzen sollen<br />
durch eine neue religiöse Spaltung<br />
ersetzt werden. Die Region ist zum<br />
Schachbrett der beiden größten Rivalen<br />
geworden: Iran und Saudi-Arabien. Diese<br />
Regime beanspruchen für sich, den schiitischen<br />
beziehungsweise sunnitischen Islam<br />
zu repräsentieren. Mit Waffen, Geld<br />
und Kämpfern heizen sie einen existenziellen<br />
Konflikt an, in dem Verhandlungen<br />
nicht vorgesehen sind. Al Qaida ist<br />
die hässliche Konsequenz eines Krieges<br />
innerhalb des Islam, der von Teheran und<br />
Riad gefördert wird.<br />
Dieses Mal ist etwas anders: Die<br />
USA sind nicht beteiligt. Amerika, das<br />
Soldaten nach Afghanistan, in den Irak<br />
und anderswo geschickt hat, ist nicht<br />
mehr da. Dieses Vakuum – entstanden<br />
durch die Abwesenheit der amerikanischen<br />
Supermacht und durch die Schwächung<br />
der vielen arabischen Regime, die<br />
jahrzehntelang von den USA gestützt<br />
wurden – erlaubt es Iran und Saudi-Arabien,<br />
sich gegenseitig zu belagern. Die<br />
Hilferufe der Opfer oder auch nur ihre<br />
Bitte um eine begrenzte Intervention veranlassen<br />
Washington nicht zum Handeln.<br />
Als etwa im Januar sunnitische Rebellen<br />
die westirakische Stadt Falludscha<br />
eroberten, sagte Außenminister John<br />
Kerry, er sei besorgt um die Iraker. Allerdings<br />
sei dies „ihre Schlacht“.<br />
Amerika ist der Kriege müde und<br />
hat kein Interesse an Auslandseinsätzen.<br />
Hinzu kommt: Je näher die USA ihrer<br />
Energieunabhängigkeit kommen, desto<br />
weniger Gründe gibt es für sie, sich auf<br />
ein neues Nahost-Abenteuer einzulassen.<br />
So eskaliert die Gewalt ungehindert,<br />
und die Auswirkungen der amerikanischen<br />
Militärinterventionen des vergangenen<br />
Jahrzehnts werden offensichtlich:<br />
Der Nahe Osten steht in Flammen, und<br />
Al Qaida – das ursprüngliche Ziel von<br />
Amerikas „Krieg gegen den Terror“ – ist<br />
schlagkräftiger denn je.<br />
In gewisser Weise waren die modernen<br />
Staaten des Nahen Ostens von Anfang<br />
an zum Scheitern verurteilt. Die<br />
Siegermächte des Ersten Weltkriegs<br />
zwangen den Überresten des Osmanischen<br />
Reiches künstliche Staatsgrenzen<br />
auf, ohne Rücksicht auf die Menschen in<br />
der Region. Es wurden grundverschiedene<br />
Gruppen gewaltsam vereint und<br />
ungeachtet ihres Glaubens, ihrer Geschichte<br />
oder ihrer Stammeszugehörigkeit<br />
einheitlich regiert. Minderheiten<br />
wie die Sunniten im Irak oder die Alewiten<br />
in Syrien wurden zu Herrschern<br />
über die Mehrheitsbevölkerung gemacht,<br />
die meist einer anderen Konfession angehörte.<br />
Aus Sicht der Kolonialmächte eine<br />
geniale Strategie, die zweierlei gewährleistete:<br />
die Abhängigkeit der arabischen<br />
Regime von externen Mächten und geringen<br />
politischen Wandel.<br />
Der Kalte Krieg hat diese Region nur<br />
scheinbar stabilisiert. Tatsächlich geriet<br />
der Nahe Osten in einen ungesunden<br />
67<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELTBÜHNE<br />
Analyse<br />
Zustand der politischen, sozialen und<br />
wirtschaftlichen Starre. Verfall, Armut<br />
und Korruption dieser immer autoritäreren<br />
Regime brachten nichts Langlebigeres<br />
als den Aufstieg des islamischen<br />
Fundamentalismus hervor.<br />
Die Region glich immer schon einem<br />
Pulverfass – die Verantwortung für die<br />
Explosion aber hat stets derjenige, der<br />
die Lunte zündet. In diesem Fall die Regierung<br />
von George W. Bush. Zu Recht<br />
wird ihr vorgeworfen, die Dämonen und<br />
die aufgestaute Wut in der Region entfesselt<br />
zu haben. Der Irakkrieg ist ein Katalysator<br />
für fast alles gewesen, was danach<br />
geschah. So tragisch dieser Krieg auch<br />
war, der Friede wirkte fast genauso destabilisierend.<br />
Indem die USA die Schiiten<br />
im Irak stärkten und die Sunniten von<br />
der Macht ausschlossen, sorgten sie unbeabsichtigt<br />
dafür, dass diese alte Feindschaft<br />
Bestandteil der Zukunft des Landes<br />
bleiben wird. Inzwischen sind mehr<br />
als zwei Millionen Iraker – überwiegend<br />
Sunniten und Christen – wegen der Unterdrückung<br />
durch die Schiiten und aus<br />
Angst vor der immer autoritäreren Regierung<br />
von Premierminister Nouri al Maliki<br />
aus dem Land geflohen.<br />
Nach der Rücksichtslosigkeit der<br />
Bush-Regierung waren die Amerikaner,<br />
und nicht nur die, erleichtert über<br />
die wohlüberlegte Umsicht von Barack<br />
Obama. Zwar war Bushs Nachfolger nicht<br />
gerade zimperlich, was den Einsatz von<br />
Gewalt angeht – man denke nur an den<br />
enormen Anstieg der Drohnenangriffe<br />
oder an das waghalsige Kommando zur<br />
Tötung Osama bin Ladens in seinem pakistanischen<br />
Versteck. Aber wenn es um<br />
die Entsendung amerikanischer Soldaten<br />
geht, hat Obama die Grenzen jedes Einsatzes<br />
so eng wie möglich gesteckt. Der<br />
Präsident zeigt die Umsicht eines Juristen,<br />
er betreibt eine wohlkalkulierte Außenpolitik.<br />
Die Kosten politischer Entscheidungen<br />
wägt er vorsichtig ab gegen<br />
die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs.<br />
Das mag auf den ersten Blick vernünftig<br />
klingen. Wenn wir aber den Preis<br />
von Obamas Vorsicht ignorieren, erliegen<br />
wir einer fatalen Selbsttäuschung.<br />
Seine Regierung hat beschlossen, die Geschehnisse<br />
in Syrien als einen humanitären<br />
Albtraum zu betrachten – und nicht<br />
als einen entscheidenden strategischen<br />
Wendepunkt für den Nahen Osten. Die<br />
Berater des Präsidenten haben die Wahrscheinlichkeit<br />
heruntergespielt, dass sich<br />
die Gewalt über die syrischen Landesgrenzen<br />
hinaus ausbreiten könnte. Hat<br />
man aber das Morden und das Chaos erst<br />
einmal als humanitäre Katastrophe definiert,<br />
ist es für einen realistischen Präsidenten<br />
viel leichter, eine Intervention<br />
zu vermeiden.<br />
DAS WEISSE HAUS hält die Geschehnisse<br />
zwar für schrecklich und bedauernswert,<br />
sieht aber kein strategisches Interesse an<br />
einem Eingreifen. Bis auf einen Moment,<br />
als Obama aufgrund Baschar al Assads<br />
Einsatz von Chemiewaffen über einen<br />
militärischen Vergeltungsschlag nachdachte,<br />
hat der US-Präsident zu keiner<br />
Zeit vorgehabt, den syrischen Staatschef<br />
zu stürzen oder auch nur irgendetwas zu<br />
unternehmen, um das Abschlachten zu<br />
beenden.<br />
Die Obama-Regierung hat den Preis<br />
des Nichteingreifens wissentlich ignoriert.<br />
Das Argument, das Massensterben<br />
in Syrien werde keine gravierenden strategischen<br />
Folgen haben, war von Anfang<br />
an unsinnig. Unabhängig davon, ob Assad<br />
stürzt oder nicht, befeuert das syrische<br />
Chaos Konflikte und Instabilität im<br />
gesamten Nahen Osten.<br />
Syrien ist zu einem Ort geworden,<br />
an dem Terroristen und Dschihadisten<br />
sich neu sammeln; sie rekrutieren, bilden<br />
aus und planen künftige Anschläge.<br />
Wegen seiner geografischen Lage, der politischen<br />
Allianzen und konfessionellen<br />
Zersplitterung war Syrien schon immer<br />
ein Dreh- und Angelpunkt des Nahen Ostens.<br />
Wir erleben gerade, was es heißt,<br />
diesen Schlüsselstaat zu verlieren.<br />
Die Aussichten für den Nahen Osten<br />
waren lange nicht mehr so düster. Es gibt<br />
keinerlei Anzeichen für eine Entspannung<br />
der katastrophalen Lage in Syrien.<br />
Mit der Aussicht auf einen langen und<br />
blutigen Stellungskrieg steigt die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass auch andere Länder<br />
zum Kriegsschauplatz werden. Die radikalen<br />
Aufständischen, die auf Syriens<br />
68<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
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Illustration: Simon Prades; Foto: Travis Daub<br />
Schlachtfeldern aufwachsen – ob sunnitische<br />
Extremisten aus dem Al-Qaida-Lager<br />
oder schiitische Kämpfer der Hisbollah<br />
– werden sich weiter in der Region<br />
ausbreiten und religiösen Hass entfesseln.<br />
Von allen denkbaren Entwicklungen<br />
ist eine am wahrscheinlichsten: Der iranisch-saudische<br />
Stellvertreterkrieg wird<br />
sich ausweiten. Es war immer klar, dass<br />
Iran seine Freunde in Damaskus unterstützen<br />
würde. Wenn sich die religiösen<br />
Spannungen nun verstärken, wird Teheran<br />
versuchen, seine Interessen auch in<br />
Irak und Bahrain durchzusetzen – beides<br />
Länder mit schiitischer Mehrheit – sowie<br />
in Kuwait, Libanon und Jemen, wo größere<br />
schiitische Minderheiten leben. Riad<br />
wird Teheran dies zurückzahlen.<br />
Im besten Fall können die USA begrenzt<br />
beeinflussen, was auf syrischem<br />
Boden geschieht. Sie werden aber sicherlich<br />
alles unternehmen, um einen dritten<br />
Kriegseinsatz im 21. Jahrhundert zu verhindern.<br />
Indem sie aber nicht einmal das<br />
geringste Interesse zeigen, etwas zu unternehmen,<br />
wird Washington nur eines<br />
erreichen: Riad und Teheran ermutigen,<br />
das Machtvakuum zu füllen.<br />
DIE BEDROHLICHSTE AUSSICHT ist, dass<br />
sich der religiöse Konflikt zwischen den<br />
beiden regionalen Großmächten zu einem<br />
neuen nuklearen Rüstungswettlauf<br />
entwickelt. Im Vorfeld der Atomverhandlungen<br />
mit dem Iran in Genf warnten die<br />
Saudis bereits, sie müssten ihre eigene<br />
Form nuklearer Abschreckung schaffen.<br />
Was heißen könnte, dass sie die entsprechende<br />
Technologie von Pakistan kaufen.<br />
Das mag auf den ersten Blick weit hergeholt<br />
klingen. Doch es gibt wenige religiöse<br />
und politische Fehden, die so tief reichen<br />
wie die Spaltung, die Teheran und<br />
Riad entzweit.<br />
Auch werden sich Unruhen, Kämpfe<br />
und Leid nicht auf den Nahen Osten beschränken.<br />
US-Geheimdiensten zufolge<br />
sind mehr als 7000 ausländische Kämpfer<br />
aus nicht weniger als 50 Ländern nach<br />
Syrien gereist, um sich dem Kampf anzuschließen.<br />
Von diesen Kämpfern stammen<br />
mehr als 2000 Rekruten aus Westeuropa<br />
– Tendenz steigend. Tatsächlich<br />
ist die Zahl der Ausländer, die sich den<br />
Kämpfen angeschlossen haben, weitaus<br />
größer als in Afghanistan und Irak, auch<br />
weil es viel einfacher ist, die syrische<br />
Front zu erreichen. Die meisten fliegen<br />
in die Türkei und reisen dann auf dem<br />
Landweg in den Krieg. Extremistische,<br />
mit Al Qaida vernetzte Gruppen nehmen<br />
einen Großteil dieser neuen Fußsoldaten<br />
auf.<br />
Was aber geschieht, wenn diese abgehärteten<br />
Kämpfer und religiösen Fundamentalisten<br />
wieder heimkehren? Nach<br />
Angaben britischer Behörden sind bereits<br />
mehr als 50 solcher Kämpfer nach<br />
Großbritannien zurückgekehrt. Der Leiter<br />
von Scotland Yard glaubt, es sei „fast<br />
unvermeidbar“, dass einer dieser aus Syrien<br />
zurückgekehrten Kriegsveteranen<br />
einen Terroranschlag verüben wird.<br />
Im Irak haben die Regierungstruppen<br />
derweil Falludscha eingekesselt, sie<br />
bereiten einen möglichen Einmarsch in<br />
die Stadt vor. Vor etwas mehr als neun<br />
<strong>Jahre</strong>n haben amerikanische Soldaten in<br />
einer der blutigsten Schlachten seit Vietnam<br />
darum gekämpft, die selbe, von<br />
den gleichen Aufständischen gehaltene<br />
Stadt zu erobern. Diesmal werden irakische<br />
Soldaten gegen die neueste Inkarnation<br />
von Al Qaida antreten, ein<br />
Kampf, bei dem sich Schiiten und Sunniten<br />
gegenüberstehen.<br />
Die USA werden nicht ganz abwesend<br />
sein. Das Pentagon hat angekündigt,<br />
500 Luft-Boden-Abwehrraketen an den<br />
Irak zu verkaufen. Irak war das große<br />
Experiment der Amerikaner: Sie wollten<br />
die Demokratie in den Nahen Osten exportieren.<br />
Heute ist der Irak ihr Kunde.<br />
Seit mehr als einem Jahrhundert<br />
ist der Nahe Osten eine Unruheregion.<br />
Doch es ist ein Unterschied, ob das Gebiet<br />
von Aufständen, Korruption und<br />
Verfall geplagt wird – oder ob es einem<br />
ausgewachsenen Flächenbrand zum Opfer<br />
fällt.<br />
Fast elf <strong>Jahre</strong> nach ihrem Einmarsch<br />
in den Irak sind die USA nicht nur mit<br />
dem Versuch gescheitert, die Region zu<br />
demokratisieren. Sie haben auch noch<br />
dazu beigetragen, sie in Flammen zu setzen.<br />
Dann haben sie dem Nahen Osten<br />
den Rücken gekehrt.<br />
Übersetzung: Luisa Seeling<br />
WILLIAM J. DOBSON ist<br />
Redakteur bei Slate und Autor<br />
von „The Dictator’s Learning<br />
Curve: Inside the Global Battle<br />
for Democracy“<br />
G e f ö r d e r t d u r c h d i e<br />
Medienpartner<br />
69<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELTBÜHNE<br />
Analyse<br />
PUTIN = HITLER ?<br />
Der deutsche Einmarsch im Sudetenland ist wie<br />
die russische Annektierung der Krim. Stimmt das?<br />
Und ist der Vergleich sinnvoll?<br />
Von PHILIPP BLOM<br />
Hermann Wilberg stand da und tat, was<br />
man ihm aufgetragen hatte. Er rannte<br />
auf und ab, fuchtelte mit den Armen und<br />
sah verzweifelt aus. Er musste um jeden<br />
Preis gerettet werden. Glücklicherweise<br />
war das Kanonenboot SMS Panther der deutschen<br />
kaiserlichen Marine in der Nähe. In Agadir. Das<br />
aber war kein Zufall. Kaiser Wilhelm II. suchte nach<br />
einem Vorwand, um seinen Machtanspruch auf Teile<br />
Marokkos zu unterstreichen und hatte das ältliche Kanonenboot<br />
vorsorglich vor die marokkanische Küste<br />
bei Agadir geschickt.<br />
Um aber einen gefährdeten Untertanen retten zu<br />
können, musste der erst mal in Agadir sein. So wurde<br />
der glücklose Ingenieur Wilberg von seinem Posten im<br />
260 Kilometer entfernten Mogador auf einen Gewaltmarsch<br />
durch die Malariasümpfe beordert, um sich<br />
an der Küste retten zu lassen. Die kaiserliche Marine<br />
brachte ihn unbeschadet nach Hause.<br />
Im Kielwasser der Panther aber entstand ein gewaltiger<br />
diplomatischer Sturm um koloniale Macht – ein mindestens<br />
so solider Kriegsgrund wie die Ermordung eines<br />
Habsburger Erzherzogs in Sarajevo drei <strong>Jahre</strong> später.<br />
Der Panthersprung 1911 war der vielleicht jämmerlichste<br />
Versuch der diplomatischen Geschichte, sich als<br />
Schutzmacht aufzuspielen und dabei Territorialpolitik<br />
zu betreiben. Kaiser Wilhelm scheiterte damit – Großbritannien<br />
und Frankreich rückten enger zusammen.<br />
Die Strategie aber ist geblieben. Auch Adolf Hitler<br />
hat sie 1938 in der Tschechoslowakei angewendet,<br />
als er sich von dem Sudetendeutschen Konrad Henlein<br />
als Retter rufen ließ und das Sudetenland annektierte.<br />
Wolfgang Schäuble, der Bundesfinanzminister,<br />
hat nun für Empörung gesorgt, als er Putin mit Hitler<br />
verglich oder besser gesagt Putins Strategie der<br />
Krim annektierung mit Hitlers Invasion im Sudetenland.<br />
Auch die ehemalige US-Außenministerin Hillary<br />
Clinton hat diesen Vergleich benutzt.<br />
Natürlich gibt es Parallelen zwischen dem Sudetenland<br />
1938 und der Krim 2014. In beiden Fällen bekam<br />
eine Großmacht, die ein Auge auf eine angrenzende<br />
Region geworfen hatte, einen sorgfältig orchestrierten<br />
„Hilferuf“ einer dort lebenden nationalen Minderheit<br />
und marschierte ein, um das eigene Volk zu schützen.<br />
„Heim ins Reich“ ist eine Devise, die im jahrhundertelang<br />
von Migration, religiösen Verfolgungen und<br />
ethnischen Säuberungen gezeichneten Europa noch<br />
nie etwas anderes war als ein Vorwand für expansionistische<br />
Politik. Deshalb stellt sich die Frage: Wie<br />
sinnvoll ist so ein Vergleich, und was kann er aussagen?<br />
Schäuble hat recht: Putin und Hitler haben die<br />
gleiche Strategie angewendet. Allerdings lässt das außer<br />
Acht, dass sie damit keinesfalls alleine sind. Die<br />
„Glorious Revolution“, die 1688 Wilhelm von Oranien<br />
auf den englischen Thron brachte, war nichts anderes<br />
als eine niederländische Invasion Englands nach<br />
einem fingierten Hilferuf der dortigen Protestanten;<br />
der erste Kreuzzug <strong>10</strong>99 begann als Reaktion auf das<br />
Ansuchen des in Konstantinopel residierenden oströmischen<br />
Kaisers Alexios I. Komnenos; die römische<br />
Invasion der britischen Inseln 43 n. Chr. sollte offiziell<br />
dem verbündeten König Verica zu Hilfe eilen. Die<br />
europäische Geschichte – und nicht nur die – ist voll<br />
von solchen Beispielen.<br />
Der Panthersprung<br />
1911 war der vielleicht<br />
jämmerlichste<br />
Versuch der<br />
diplomatischen<br />
Geschichte, sich als<br />
Schutzmacht<br />
aufzuspielen<br />
70<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Aber Wladimir Putin hat sich nach so weit entfernten<br />
Beispielen wohl nicht umsehen müssen: 1545<br />
fiel schon Iwan der Schreckliche in die Krim ein, um<br />
dem tatarischen Khan Cangäli zu helfen, der sich in<br />
einer chaotischen Situation gegen Rivalen durchzusetzen<br />
versuchte. So gesehen hat Putins Handeln zaristische<br />
Tradition.<br />
Warum also wurde Putin nicht mit Wilhelm von<br />
Oranien oder mit Kaiser Claudius verglichen? Die Antwort<br />
liegt auf der Hand: Es geht um das Beleidigungspotenzial.<br />
Da können römische Cäsaren und englische<br />
Könige mit Hitler nicht mithalten. Iwan der Schreckliche<br />
wäre schon geeigneter.<br />
Der Verweis auf Hitler, auf das Böse schlechthin<br />
in der Geschichte, ist eindimensional, weil er nichts<br />
weiter ist als ein reflexhaftes Zucken der Rhetorik im<br />
Nachkriegseuropa, das längst jedes reflektierenden<br />
und analytischen Inhalts entleert und zur Anrufung<br />
des Beelzebubs in der Politik verkommen ist. Wenn gar<br />
nichts mehr geht, dann gehen die Nazis immer noch.<br />
Hier wird aus einem hinkenden Vergleich ein gefährlicher.<br />
Wer Putins Strategie mit der Hitlers vergleicht,<br />
der denkt auch die darauffolgenden Ereignisse<br />
mit und will das signalisieren: Damals war das Appeasement<br />
des britischen Premiers Neville Chamberlain<br />
ein schwerer Fehler, der die größeren Schrecken<br />
eines Weltkriegs nach sich zog. Für die Briten war die<br />
Annektierung der Tschechoslowakei in Chamberlains<br />
unsterblichen Worten „ein Disput in einem weit entfernten<br />
Land, zwischen zwei Völkern, von denen wir<br />
nichts wissen“. Ein heutiger Aggressor, so die Implikation,<br />
kann mit Appeasement nicht rechnen.<br />
Für Putin kann das nur eine besonders bittere<br />
Ironie sein. Vom Völkerrecht einmal abgesehen, ist<br />
und bleibt Hitler besonders in Russland eine Art Antichrist,<br />
der Diktator, gegen dessen Blutdurst, Habgier<br />
und Grausamkeit Russland die letzte Bastion war, welches<br />
ihn unter immensen Opfern überwand. Nach einer<br />
ambivalenten Revolution, einem blutigen Bürgerkrieg,<br />
nach Gulags, Schauprozessen und Massenerschießungen<br />
war gerade der tatsächlich heroische Kampf gegen<br />
die Nazis ein Gründungsmythos für die späte UdSSR.<br />
Sie hatte die Welt von einem Tyrannen befreit, litt aber<br />
wirtschaftlich noch immer, während Staaten, die sie<br />
befreit hatte, in ungekanntem Reichtum lebten.<br />
Jetzt von denen, die Russland befreite, mit Hitler<br />
verglichen zu werden, ist eine abenteuerliche Wende,<br />
zumal Putins Entourage überzeugt ist, der Westen<br />
habe Russland seine damaligen Opfer nicht gedankt,<br />
und nur die Sowjetunion sei stark genug gewesen, den<br />
mit militärischen oder kapitalistischen Mitteln vorangetriebenen<br />
expansionistischen Begehrlichkeiten des<br />
Westens die Stirn zu bieten.<br />
Vielleicht schickt es die richtigen Signale an die eigenen<br />
Wähler in Deutschland und den USA, Putin in<br />
die Nähe Hitlers zu rücken, gleichzeitig aber verstellt<br />
Putin nutzt auch<br />
jetzt in der<br />
Ostukraine eine<br />
Strategie, die wir seit<br />
der Antike kennen<br />
und die auch in<br />
Russland Anwendung<br />
gefunden hat<br />
es den Blick auf ein besseres Verständnis der Situation.<br />
Putin handelt aus einer extremen Lesart der russischen<br />
Erinnerung heraus, für die die Krim ohnehin<br />
zu Russland gehört und auch strategisch um keinen<br />
Preis aufgegeben werden kann und die der Welt noch<br />
immer beweisen will, dass Russland nicht herumgeschubst<br />
werden kann, dass ihre Größe und ihre historischen<br />
Opfer die Russen berechtigen, ihre eigenen<br />
Regeln zu machen.<br />
Das sieht der Westen anders. Aber auch unsere<br />
Erinnerung ist eine andere. Auch unser Hitler ist als<br />
das schlechthin Böse zur Chiffre geworden. In Moskau<br />
aber ist er auch eine Chiffre für die Expansion des<br />
Westens und die Demütigung Russlands. Wir sprechen<br />
nicht über dieselbe Vergangenheit, nicht die gleiche Erinnerung<br />
daran. Da hilft es wenig, das eigene Schema<br />
rhetorisch noch stärker festzuzurren.<br />
Putin ist ein Autokrat, der auf unverfroren transparente<br />
Weise die Demokratie benutzt, um eine reaktionäre<br />
und scheinbar von reinen Machtinteressen<br />
diktierte Agenda durchzusetzen. Scheinbar, denn<br />
gleichzeitig geht es ihm wohl darum, das russische<br />
Reich wiederauferstehen zu lassen.<br />
Wir verstehen Putin und unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten<br />
nicht besser, wenn wir historische<br />
Vergleiche bemühen, die mit enormem historischen<br />
Gepäck kommen, die eine gewisse Antwort implizieren<br />
und doch nicht passen wollen. Putin nutzt auch<br />
jetzt in der Ostukraine eine Strategie, die wir seit der<br />
Antike kennen und die auch in Russland Anwendung<br />
gefunden hat: die moralische Rechtfertigung des Aggressors,<br />
der sich als loyaler Beschützer gibt. Wer so<br />
etwas tut, dem geht es um Macht, aber auch um Prestige.<br />
Nur der konsequente Verlust von beidem kann<br />
diesen Appetit zügeln.<br />
PHILIPP BLOM ist Historiker. Er stammt aus Hamburg<br />
und wurde in Oxford promoviert. Seine Bücher,<br />
etwa „Der taumelnde Kontinent“, sind preisgekrönt<br />
71<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELTBÜHNE<br />
Hintergrund<br />
DIE PRÄSIDENTENMACHER<br />
Das Duell zwischen<br />
dem Milliardär<br />
Pjotr Poroschenko<br />
und der früheren<br />
Premierministerin<br />
Julia Timoschenko<br />
in der Ukraine:<br />
Hinter den beiden<br />
stehen gewiefte<br />
Strategen und<br />
Coaches<br />
Von MORITZ GATHMANN<br />
Julia Timoschenko, 53, geht mit<br />
neuer Frisur in den Kampf ums<br />
Amt des ukrainischen Präsidenten.<br />
Ihre glatten blonden Haare<br />
sind nun etwas dunkler gefärbt<br />
und fließen am Hinterkopf zu einem lockeren<br />
Knoten zusammen. Über ein<br />
Jahrzehnt war Timoschenkos Markenzeichen<br />
ihr volkstümlicher Haarkranz,<br />
einem Heiligenschein gleich aus güldenem<br />
Haar um ihren Kopf geflochten.<br />
Doch der stand gleichzeitig für Timoschenkos<br />
größtes Problem: ihre mangelnde<br />
Glaubwürdigkeit. Die Ukrainer<br />
sahen den Haarkranz, als Timoschenko<br />
auf der Welle der orangefarbenen Revolution<br />
an die Macht geschwemmt wurde,<br />
sie sahen ihn, als Timoschenko sich in<br />
der Rolle der Premierministerin endlose<br />
Schlachten mit ihrem einstigen Mitstreiter<br />
Präsident Wiktor Juschtschenko lieferte,<br />
und sie sahen ihn, als Timoschenko<br />
20<strong>10</strong> die Präsidentschaftswahlen gegen<br />
Wiktor Janukowitsch verlor.<br />
Ohne Zopf, aber voller Angriffslust<br />
macht sich die erst im Februar aus dem<br />
Gefängnis Entlassene daran, ihren lange<br />
gehegten Traum zu verwirklichen: Präsidentin<br />
der Ukraine zu werden.<br />
Folgte man allerdings in den vergangenen<br />
Monaten westlichen Medien,<br />
insbesondere den deutschen, schien es<br />
nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis<br />
der nächste Präsident der Ukraine Vitali<br />
Klitschko, 42, heißen würde. Auch Umfragen<br />
in der Ukraine zeigten ihn lange<br />
als aussichtsreichsten Herausforderer<br />
des damals noch amtierenden Präsidenten<br />
Wiktor Janukowitsch. Inzwischen ist<br />
der Geschichte, genauso wie Klitschkos<br />
Kandidatur. Er verzichtete zugunsten des<br />
Milliardärs Pjotr Poroschenko, 48, und<br />
will – zum dritten Mal – für das Amt des<br />
Kiewer Bürgermeisters kandidieren.<br />
Klitschkos Partei Udar (Schlag)<br />
wird – neben Timoschenkos Allukrainischer<br />
Vereinigung Vaterland – seit<br />
ihrer Gründung von der CDU-nahen<br />
72<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Illustration: Jens Bonnke<br />
Konrad-Adenauer-Stiftung beim Aufbau<br />
von Parteistrukturen unterstützt.<br />
Ein wichtiger Fürsprecher Klitschkos auf<br />
europäischer Ebene ist der CDU-Politiker<br />
Elmar Brok, der in seiner Funktion<br />
als Chef des Auswärtigen Ausschusses<br />
des EU-Parlaments während der Maidan-<br />
Revolution mehrfach nach Kiew reiste.<br />
Anfang Februar, Janukowitsch war noch<br />
im Amt, erklärte Brok in einem Interview<br />
Vitali Klitschko zum „geeigneten<br />
Staatspräsidenten“.<br />
AUCH DER EHEMALIGE georgische Staatspräsident<br />
Michail Saakaschwili stieg in<br />
Kiew mehrfach in den Ring für Klitschko.<br />
Und auch Saakaschwilis Berater und<br />
Freund Raphaël Glucksmann war immer<br />
wieder an Klitschkos Seite. „Wir haben<br />
mit ihm seine weitere Strategie diskutiert“,<br />
sagt Glucksmann. Seine wichtigste<br />
Mission sah der Sohn des französischen<br />
Philosophen André Glucksmann darin,<br />
die Maidan-Revolution gegen die russische<br />
Propaganda zu verteidigen. „Zum<br />
ersten Mal in der Geschichte Europas<br />
sind Menschen mit der europäischen<br />
Flagge in der Hand gestorben. Diese Revolution<br />
ist ein historisches Ereignis für<br />
uns“, sagt Glucksmann. Nach dem Sieg<br />
der Maidan-Revolution hat er ein Center<br />
for Democracy gegründet. „Experten aus<br />
Georgien und Estland sollen der neuen<br />
Regierung beim Kampf gegen die Korruption<br />
helfen.“<br />
Die Rolle des Westens in der ukrainischen<br />
Innenpolitik hat eine längere<br />
Vorgeschichte als der Maidan. In den<br />
vergangenen <strong>Jahre</strong>n investierte die politische<br />
Elite der Ukraine Millionen in<br />
PR-Kampagnen in den USA und Europa.<br />
Auslöser war Wiktor Janukowitschs Rachefeldzug<br />
gegen seine Gegner nach seinem<br />
Wahlsieg 20<strong>10</strong>. Nach der Verhaftung<br />
Julia Timoschenkos Ende 2011 wurde das<br />
westliche Ausland mit aller Macht in die<br />
ukrainische Politik gezogen: Von 2011 bis<br />
2013 zahlte Timoschenkos Ehemann Alexander,<br />
der in den Neunzigern mit seiner<br />
Frau mit Gasgeschäften ein Vermögen<br />
machte, 920 000 US-Dollar an den ehemaligen<br />
demokratischen US-Kongressabgeordneten<br />
und heutigen Lobbyisten<br />
James Slattery. Dieser nutzte seine Kontakte,<br />
um eine Resolution des US-Senats<br />
für die Entlassung Timoschenkos aus der<br />
Haft zu erwirken. Mit Erfolg. Der Senat<br />
verabschiedete die Resolution einstimmig.<br />
In Europa beauftragte Timoschenkos<br />
Partei die britische PR-Agentur<br />
Ridge Consulting damit, in den USA und<br />
in der EU eine breite Berichterstattung<br />
über den Prozess gegen sie zu bewirken<br />
und für politische Rückendeckung zu sorgen.<br />
Timoschenkos enger Berater Grigorij<br />
Nemyrja warb in den europäischen<br />
Hauptstädten unermüdlich dafür, die Befreiung<br />
Timoschenkos zur Bedingung für<br />
die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens<br />
zwischen der Ukraine und der<br />
Europäischen Union zu machen.<br />
Aber auch die Gegenseite war aktiv.<br />
Das Janukowitsch nahe stehende European<br />
Centre for a Modern Ukraine beauftragte<br />
2012 und 2013 für 1,4 Millionen<br />
Dollar mehrere Lobbyfirmen in den USA,<br />
um die von Timoschenko angestrebte Resolution<br />
des Senats zu verhindern.<br />
Das 2011 von der Deutschen Ina<br />
Kirsch und führenden Mitgliedern von<br />
Janukowitschs Partei der Regionen gegründete<br />
European Centre for a Modern<br />
Ukraine vertrat die Interessen der<br />
Regierungspartei. Im Auftrag des Zentrums<br />
lud die PR-Firma Fleishman-Hillard<br />
zu kostenlosen Journalistenreisen<br />
in die Ukraine und zu Treffen mit<br />
73<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELTBÜHNE<br />
Hintergrund<br />
Timoschenkos<br />
Wille zur Macht<br />
ist groß, vielleicht<br />
ist er durch die<br />
drei <strong>Jahre</strong> im<br />
Gefängnis sogar<br />
noch größer<br />
geworden<br />
Januko witsch-treuen Abgeordneten und<br />
Politologen ein – die letzte Einladung<br />
stammt vom 20. Februar, einen Tag, bevor<br />
Janukowitsch die Flucht ergriff.<br />
Kirsch ist seit <strong>Jahre</strong>n als Beraterin<br />
für Außenpolitik im Europäischen Parlament<br />
tätig. In dieser Funktion veröffentlichte<br />
sie im August 2011 eine Studie<br />
für die Friedrich-Ebert-Stiftung über die<br />
Vor- und Nachteile des Freihandelsabkommens<br />
mit der EU. Kirschs Ehemann<br />
Robert van de Water, ein ehemaliges Mitglied<br />
der Sozialdemokratischen Fraktion<br />
im EU-Parlament, war seit 2012 außenpolitischer<br />
Berater der ukrainischen Regierung.<br />
Auf Anfragen antwortet Kirsch<br />
inzwischen nicht mehr.<br />
Bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen<br />
zeichnet sich ein Zweikampf<br />
zwischen Poroschenko und Timoschenko<br />
ab. Aller Wahrscheinlichkeit<br />
nach werden sie sich im zweiten Wahlgang<br />
gegenüberstehen. Die Liste der<br />
Kandidaten ist weitaus länger.<br />
Unter den 23 Bewerbern sind auch<br />
mehrere Nationalisten, etwa Oleh<br />
Tjahnybok, Chef der nationalistischen<br />
Swoboda-Partei. Er gehörte zum Triumvirat<br />
um Vitali Klitschko und den heute<br />
amtierenden Premier Arsenij Jazenjuk,<br />
die während der Maidan-Proteste die<br />
Verhandlungen mit Janukowitsch führten.<br />
So wie Klitschko haben auch Tjahnybok<br />
die „Handshakes mit dem Diktator“<br />
geschadet. In Umfragen kommt er<br />
nicht über 3 Prozent. 1 bis 2 Prozent<br />
der Ukrainer würden einen Kandidaten<br />
wählen, der noch weiter rechts steht als<br />
Tjahnybok: Dmitri Jarosch, Anführer des<br />
Rechten Sektors. Sein Imagewechsel war<br />
am radikalsten: Der Nationalistenführer,<br />
bis dahin für radikale Auftritte und nationalistische<br />
Rhetorik bekannt, trat plötzlich<br />
mit Anzug und Krawatte vor die verblüfften<br />
Journalisten und erklärte, seine<br />
Bewegung trete gegen Fremdenfeindlichkeit<br />
und Antisemitismus und für das Assoziierungsabkommen<br />
mit der EU ein.<br />
Viele der Präsidentschaftsanwärter<br />
gelten allerdings als sogenannte technische<br />
Kandidaten. „Die haben selber<br />
keine Chance auf einen Wahlsieg – sie<br />
werden von den Favoriten dazu eingesetzt,<br />
um den politischen Gegner direkt<br />
zu attackieren“, erklärt Juri Romanenko,<br />
Politikberater und Besitzer der populären<br />
Onlinezeitung Hwylya. Der völlig<br />
chancenlose Sorjan Schkirjak etwa,<br />
ein enger Verbündeter Timoschenkos,<br />
werde bei diesen Wahlen die Rolle eines<br />
„Spoiler“-Kandidaten gegen Poroschenko<br />
spielen, prognostiziert Romanenko.<br />
„UNSERE STRATEGIE HEISST: das Land<br />
einen“, sagt Igor Gryniw, 53. Der Berater<br />
von Pjotr Poroschenko empfängt in<br />
seinem Büro an der Institutska-Straße<br />
in Kiew. Auf dem Bild hinter ihm spiegelt<br />
sich ein junger Mann in einer Pfütze,<br />
der eine orangene Flagge trägt. „Meine<br />
Wahlstrategie für Juschtschenko 2004<br />
wurde von der amerikanischen Vereinigung<br />
der Politikberater zur besten Strategie<br />
des <strong>Jahre</strong>s gewählt“, erzählt Gryniw<br />
stolz. Seit 1990 ist er in der ukrainischen<br />
Politik, manchmal als Abgeordneter, immer<br />
als Berater, 2006 für Klitschko, 20<strong>10</strong><br />
für Timoschenko.<br />
Diesmal hat Gryniw versucht, Timoschenko<br />
von der Kandidatur abzubringen<br />
– erfolglos. Nun feilt er an der<br />
Strategie für Poroschenko. Der Schokoladenfabrikant,<br />
dessen Vermögen<br />
das amerikanische Wirtschaftsmagazin<br />
Forbes auf 1,3 Milliarden Dollar schätzt,<br />
hat bereits eine lange politische Karriere<br />
hinter sich. Zuletzt war er 2012 Minister<br />
unter Janukowitsch. Dennoch weckt<br />
er weit weniger schlechte Erinnerungen<br />
bei den Ukrainern als seine Konkurrentin<br />
Timoschenko, die als unglaubwürdig<br />
und streitsüchtig gilt. Durch seine<br />
Allianz mit Klitschko hat Poroschenko<br />
seinen größten Nachteil kompensiert –<br />
seine Partei Solidarnost war bislang lediglich<br />
ein Papiertiger. Jetzt kann er auf<br />
Klitschkos funktionierende Parteistruktur<br />
in den Regionen zurückgreifen. Erste<br />
Erfolge gibt es bereits. Gryniw zeigt eine<br />
Grafik der Umfragewerte: Alle Institute<br />
sehen Poroschenko im ersten Wahlgang<br />
deutlich über 20 Prozent, Timoschenko<br />
bei unter <strong>10</strong> Prozent.<br />
Doch Timoschenkos Wille zur Macht<br />
ist groß, vielleicht ist er durch die drei<br />
<strong>Jahre</strong> im Gefängnis sogar noch größer<br />
geworden. Ihr bleibt nur die Attacke. An<br />
ihrer Kampagne ist eine große Zahl ukrainischer<br />
PR-Berater beteiligt, darunter<br />
Taras Beresowjez mit seiner Agentur<br />
Berta Communications. Er ist einer der<br />
erfahrensten Politikberater des Landes.<br />
Ukrainischen Medien zufolge ist auch der<br />
russische Wahlkampfexperte Alexej Sitnikow<br />
an Timoschenkos Strategie beteiligt<br />
– er war es, der ihr im Jahr 2004 den<br />
markanten Haarkranz verpasste und sie<br />
auch bei der Präsidentschaftswahl 20<strong>10</strong><br />
beriet. Bestätigen wollte das Sitnikow<br />
bislang nicht.<br />
Seit ihrer Freilassung ist Timoschenko<br />
in fast jeder Folge von „Schuster<br />
Live“ zu sehen gewesen. Es ist die<br />
wichtigste Talkshow des Landes, jeden<br />
Freitag, vier Stunden, eine Million Zuschauer.<br />
Eine Mischung aus Arabella und<br />
Maybrit Illner, in der sich die führenden<br />
Politiker des Landes seit nunmehr neun<br />
<strong>Jahre</strong>n „Hundekämpfe“ liefern, wie Politikberater<br />
Gryniw sagt. Timoschenko<br />
redet ihre Gegner hier in Grund und Boden,<br />
schimpft auf die „russischen Aggressoren“,<br />
kündigt einen „Kampf gegen die<br />
Oligarchen“ an.<br />
Zu den typisch ukrainischen Tricks<br />
gehört, dass in den Sendungen Timoschenkos<br />
Leute wie ihr Berater Beresowjez<br />
unter den Fragestellern sitzen –<br />
ohne dass er als solcher ausgewiesen<br />
wird. Ähnliche Register zieht aber auch<br />
Poroschenko: In Odessa saß er im April<br />
im Studio eines Regionalsenders und ließ<br />
sich befragen. Der Interviewer war sein<br />
regionaler Wahlkampfleiter in Odessa.<br />
MORITZ GATHMANN berichtet<br />
aus den Ländern der ehemaligen<br />
Sowjetunion. 20<strong>10</strong> verfolgte er<br />
Janukowitschs Wahlkampf, 2014<br />
erlebte er dessen Sturz<br />
Foto: Privat<br />
74<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
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76<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WELTBÜHNE<br />
Fotoessay<br />
MÖRDERISCHE<br />
MAUER<br />
3144 Kilometer trennen Mexiko und die USA. An manchen<br />
Stellen ist der Grenzzaun dreimal so hoch wie einst die<br />
Berliner Mauer. Jahr für Jahr sterben hier 400 Menschen,<br />
die versuchen, illegal in die USA zu gelangen. Sie werden<br />
von Patrouillen erschossen oder verdursten. Aber in den<br />
Städten an dieser mörderischen Grenze lebt die Kultur noch.<br />
Künstler auf beiden Seiten der Grenze setzen Zeichen<br />
Fotos STEFAN FALKE<br />
Unüberwindbar scheint die Tausende Kilometer lange Grenze zwischen Mexiko und den USA<br />
77<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Leobardo Sarabia ist Essayist und Kulturveranstalter. Außerdem leitet er das jährlich<br />
stattfindende Kunstfestival „Tijuana Interzona“. Er lebt in Colonia Federal
Juan Amparano ist Maler, Architekt und Direktor des Museo De Arte, dessen Renovierung er<br />
selber geleitet hat. In Nogales fördert er Künstler, die an der Grenze leben, mit Ausstellungen<br />
Der Fotograf Aldo Guerra hat sich auch einen Namen als Video- und Performancekünstler<br />
gemacht. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er lebt in Tijuana<br />
79<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Der Fotograf Josue Castro zählt zu den Künstlern, die das Stadtzentrum von Tijuana mit<br />
ihren Arbeiten wiederbelebt haben. Ihm gehört dort die Galerie „La Tentación“
Der Performancekünstler Artierra Entonada lebt in Nuevo Laredo. Sein Porträt, das an den „Joker“<br />
aus dem Film Batman erinnert, hat sein Freund Felipe Flores Montemayor gemalt<br />
Der Fotograf Tochiro Gallegos versteht sich als „Straßenarbeiter“. Sein Selbstverständnis<br />
lautet: „Der Kern des Lebens ist vorwärtszugehen, egal was sich einem in den Weg stellt“<br />
82<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Siki Carpio, Frontfrau und Gründerin der Band „Cristina Crème“, versteht sich wahlweise<br />
als Magierin oder als singende Kulissenmalerin. Sie lebt in ihrer Geburtsstadt Tijuana
Der mexikanische Maler Manuel Miranda will „Kunst an der Grenze<br />
schaffen, fördern und weiterentwickeln“. Er lebt in McAllen<br />
Am Día de los Muertos, einem der wichtigsten mexikanischen<br />
Feiertage, besucht Stefan Falke den Schrein von<br />
„Juan Soldado“, dem Schutzheiligen der Grenzgänger. Er<br />
steht in Tijuana, die Stadt am Pazifik mit 1,5 Millionen Einwohnern<br />
liegt an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Es ist das<br />
Jahr 2008. Unter der Kuppel der kleinen Kapelle auf dem ältesten<br />
Friedhof der einstigen Touristenstadt fühlt sich der Fotograf<br />
aus New York wie unter einer Glocke aus Angst – bis zum Ende<br />
des <strong>Jahre</strong>s werden 843 Menschen bei Gefechten lokaler Drogenkartelle<br />
sterben. Falkes Besuch bei dem Schutzheiligen wird zum<br />
Beginn einer mehrjährigen Entdeckungsreise entlang der Grenze<br />
zwischen Mexiko und den USA.<br />
Während seiner Reisen südlich des meistfrequentierten Grenzübergangs<br />
der Welt lernt Falke Künstler, Galeristen und die Vizedirektorin<br />
des Museums für zeitgenössische Kunst kennen. „Die<br />
Diskrepanz zwischen der Realität und den Behauptungen der Medien<br />
über Mexiko war erstaunlich“, sagt der Fotograf. Er versteht,<br />
dass die Bewohner Tijuanas ihre Stadt nicht nur als Krisenschauplatz,<br />
sondern auch als Laboratorium für einen rapiden demografischen<br />
Wandel und transkulturellen Austausch begreifen.<br />
Die Mauer, gegen die sich die kosmopolitische Metropole Tijuana<br />
presst, ist zum Symbol der Grenzstadtidentität geworden:<br />
Vor den meterhohen Stahllatten feiern Familien die Quintaneras,<br />
den Übergang vom Kind zur Frau der 15-Jährigen, hier lassen sich<br />
Hochzeitspaare fotografieren. Der Ort ist Teil eines Staates, der<br />
La Frontera heißt und als schmaler Streifen vom Pazifik bis zum<br />
Atlantik reicht. Am Atlantik liegt die Stadt Matamoros, sie ist eines<br />
der Zentren des Drogenterrors. Hier trifft Falke auf Patricia<br />
Ruiz-Bayon. Sie hat das Massaker an 72 Migranten durch die Zeta-<br />
Gang im Jahr 20<strong>10</strong> in einer rituellen Performance aufgearbeitet.<br />
In Ciudad Juárez, wo in manchen <strong>Jahre</strong>n bis zu 3000 Menschen<br />
umgebracht wurden, wagte sich Mayra Martell an das<br />
Tabuthema unauffindbarer junger Mädchen und<br />
Frauen und fotografierte die von den Eltern unangetasteten<br />
Zimmer der Verschollenen. Für ihre<br />
Arbeit riskiert Martell ihr Leben. „Künstler genießen<br />
nur so lange Immunität, wie ihre Arbeit unpolitisch<br />
ist“, sagt Falke.<br />
Nicht weniger beeindruckend sind die prächtigen,<br />
über die ganze Stadt ausgebreiteten Wandmalereien<br />
des Jellyfish-Kollektivs. Wie jeder in Ciudad<br />
Juárez wurden auch diese jungen Künstler mit<br />
furchtbaren Verbrechen konfrontiert – sie wehren<br />
sich mit Farbe gegen die Gewalt. Das gilt auch für<br />
das Taller-Yonke-Team, das seine Fresken als postapokalyptisches<br />
Erbe in Nogales hinterlässt.<br />
Was bleibt, wenn irgendwann einmal das<br />
<strong>10</strong>0-Millionen-Dollar-Geschwader der Helikopter<br />
und Überwachungsdrohnen den Himmel über der<br />
Stadt verlassen hat, wenn die gepanzerten Polizeistreifen<br />
abgezogen und alle Bewohner ausgezogen<br />
sind – letzte Lebenszeichen einer Zivilisation, wie<br />
die Wandmalereien von Pompeji.<br />
CLAUDIA STEINBERG<br />
Jellyfish ist ein Künstlerkollektiv in Ciudad Juárez.<br />
Grenzgänger – im wörtlichen wie übertragenen Sinn<br />
Fotos: Stefan Falke/Laif (Seiten 76 bis 84)<br />
84<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
KAPITAL<br />
„ Lebten wir in<br />
einer idealen Welt<br />
mit vernünftigen<br />
Unternehmern,<br />
bräuchten wir<br />
überhaupt keine<br />
Gewerkschaften.<br />
Das ist aber leider<br />
nicht so “<br />
Wolfgang Grupp, Inhaber des Textilherstellers Trigema, kritisiert den<br />
Umgang seiner Unternehmerkollegen mit ihren Mitarbeitern, Seite 94<br />
85<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
DIE WEGSEHERIN<br />
Die CSU-Politikerin Dagmar Wöhrl kleidet sich gerne als Helferin der Armen.<br />
Gleichzeitig arbeitet sie für eine Schweizer Bank, mit der Reiche den Staat schröpfen<br />
Von TIL KNIPPER<br />
Foto: Johannes Arlt/Laif<br />
Trrransparrrenz!“: Mit gerolltem<br />
R, vorgetragen in ihrem charmanten<br />
fränkischen Singsang, gehört<br />
das Wort zu den Lieblingsbegriffen von<br />
Dagmar Wöhrl. Die CSU-Bundestagsabgeordnete<br />
aus Nürnberg redet überhaupt<br />
gern von sich und ihrer Arbeit. Über ihre<br />
Homepage, Twitter und Facebook und ihren<br />
Blog namens „Wöhrl Wide Web“ versorgt<br />
sie ihre Wähler mit Kochrezepten,<br />
Literaturtipps, schreibt über ihre Liebe<br />
zum 1. FC Nürnberg und berichtet von<br />
ihrer Arbeit als Vorsitzende des Bundestagsausschusses<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung. Hier<br />
liege ihr seit <strong>Jahre</strong>n „die Unterstützung<br />
für die Ärmsten der Armen sehr am Herzen“,<br />
schreibt die ehemalige Staatssekretärin<br />
im Wirtschaftsministerium.<br />
Weniger auskunftsfreudig wird<br />
Wöhrl, 59, wenn es um ihre Nebentätigkeit<br />
im Verwaltungsrat der Schweizer<br />
Bank J. Safra Sarasin geht. Für diesen Job<br />
als Aufseherin hat sie vergangenes Jahr<br />
laut ihrer Bundestagshomepage Einkünfte<br />
in Höhe der Stufe 6 erhalten: einen Betrag<br />
zwischen 50 000 Euro und 75 000 Euro.<br />
Vielleicht redet Wöhrl nicht so gern<br />
über ihr Engagement bei der Sarasin-<br />
Bank, weil dem Schweizer Geldinstitut<br />
wohl eher die Unterstützung für die<br />
Reichsten der Reichen am Herzen liegt.<br />
Seit einem Bericht des Stern von Ende<br />
März steht das Baseler Geldinstitut wegen<br />
Aktiengeschäften zulasten des deutschen<br />
Steuerzahlers in der öffentlichen Kritik.<br />
Es geht dabei um sogenannte Cum-<br />
Ex-Deals. Diese Geschäfte fanden im<br />
zeitlichen Umfeld jenes Tages statt, an<br />
dem für Aktien die Dividende ausgeschüttet<br />
wird. Rund um diesen Stichtag<br />
wurden mehrfach in riesigen Stückzahlen<br />
Aktien hin- und herverkauft, erst mit Dividende<br />
(cum) und anschließend – nach<br />
der Auszahlung der Dividenden – ohne<br />
(ex). Ziel der beteiligten Anleger und<br />
Banken war es, sich die nur einmal für<br />
die Dividende entrichtete Kapitalertragssteuer<br />
hinterher mehrfach erstatten zu<br />
lassen. Sie nutzten dazu eine Gesetzeslücke<br />
im deutschen Steuerrecht. Weil bei<br />
diesen Deals auch sogenannte Leerverkäufe<br />
abgewickelt wurden, bei denen<br />
zunächst nur geliehene Aktien verkauft<br />
wurden, war für die Finanzbehörden<br />
nicht ersichtlich, wer zum Zeitpunkt<br />
der Dividendenausschüttung der rechtmäßige<br />
Inhaber der Aktien war. Im Ergebnis<br />
zahlte der Staat mehr Steuern zurück<br />
als er vorher eingenommen hatte.<br />
Erst 2012 wurde die Gesetzeslücke<br />
geschlossen, von Finanzminister Wolfgang<br />
Schäuble, dem Fraktions- und Regierungskollegen<br />
von Dagmar Wöhrl.<br />
Finanzbehörden und Staatsanwaltschaften<br />
ermitteln derzeit bundesweit<br />
in mehr als 50 Cum-Ex-Fällen, bei denen<br />
der Fiskus um mehr als 1,5 Milliarden<br />
Euro betrogen worden sein soll. Die<br />
Dunkelziffer liegt wahrscheinlich höher.<br />
DIE SARASIN-BANK wird mehrfach mit<br />
Cum-Ex-Deals in Verbindung gebracht.<br />
Zu ihren deutschen Kunden gehören<br />
der Drogerieunternehmer Erwin Müller,<br />
der Gründer des Finanzvertriebs AWD,<br />
Carsten Maschmeyer, und Schalke-Boss<br />
Clemens Tönnies, die Millionen in entsprechende<br />
Fonds investiert haben sollen.<br />
Maschmeyer sammelte zusätzlich noch<br />
Geld bei seiner Exfrau Bettina, seiner<br />
Verlobten Veronica Ferres und seinem<br />
Freund, dem HSV-Trainer Mirko Slomka,<br />
für das Investment ein.<br />
Seit diese Spezialität der Bank enthüllt<br />
ist, steht deren Verwaltungsrätin<br />
ziemlich entblößt da. Ihr Engagement für<br />
die Schwächeren in aller Welt wirkt wie<br />
Verkleidung. „Frau Wöhrl trägt eine Mitverantwortung<br />
für die Geschäfte zulasten<br />
der deutschen Steuerzahler“, sagt Gerhard<br />
Schick, finanzpolitischer Sprecher<br />
der Grünen. Jan van Aken von der Linkspartei<br />
fordert Wöhrl auf, sich zu entscheiden,<br />
„ob sie eine Volksvertreterin oder<br />
Steuerflüchtlingshelferin sein will“.<br />
Wöhrl antwortet auf die Frage, ob<br />
sie nach den gegen die Bank erhobenen<br />
Vorwürfen nicht ihr Verwaltungsratsmandat<br />
niederlegen müsse: „Ein Bericht<br />
in einem Magazin ist für mich kein Handlungsgrund.“<br />
Ihre Reaktion auf die Cum-<br />
Ex-Deals erscheint zumindest moralisch<br />
widersprüchlich. Einerseits begrüßt sie<br />
es, dass Finanzminister Schäuble die Gesetzeslücke<br />
geschlossen habe, weil man<br />
diese Deals nicht gutheißen könne.<br />
Andererseits beharrt die Rechtsanwältin<br />
auf einem juristischen Standpunkt:<br />
Sie wolle die Entscheidung des<br />
Bundesfinanzhofs abwarten, ob es sich<br />
bei den Cum-Ex-Deals im Zeitraum vor<br />
2012 um zulässige Steuergestaltung oder<br />
rechtswidrige Steuerhinterziehung gehandelt<br />
habe. Das Urteil wird im Mai<br />
erwartet. Ob es Konsequenzen für ihren<br />
Verbleib im Verwaltungsrat haben<br />
könnte, will sie jetzt nicht entscheiden.<br />
Das passt zum Verständnis ihrer Tätigkeit<br />
als Aufseherin der Bank, die auf<br />
ihrer Homepage nachzulesen ist: Danach<br />
versteht sie es als ihre Pflicht, kritische<br />
Anmerkungen zu machen, die sich<br />
von den Vorstellungen des Vorstands<br />
unterscheiden.<br />
Sie versucht die Schweizer Bank<br />
von innen heraus zu verändern. Für sie<br />
hat das noch einen Vorteil: Dass sie zwei<br />
Mal Geld bekommt, vom Bundestag und<br />
der Bank.<br />
TIL KNIPPER leitet das Ressort Kapital<br />
bei <strong>Cicero</strong>. Die destruktive Kreativität<br />
der Finanzbranche überrascht ihn immer<br />
wieder aufs Neue<br />
87<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
ADIDAS, PUMA, NIKE UND WIR<br />
Den Schwarzwäldern Jochen und Mathias Mieg gehört der kleinste Spielzeughersteller<br />
Deutschlands. Tipp-Kick, ihr einziges Produkt, droht gerade aus der Mode zu geraten<br />
Von BENNO STIEBER<br />
Der Star der Saison trägt ein rotes<br />
Trikot und ist immer schussbereit.<br />
Seine Technik ist nicht besser<br />
als die der anderen Figuren im Set.<br />
Den Unterschied machen seine dunkle<br />
Hautfarbe und die Wischmob-Frisur. Unverkennbar<br />
Dante, der Innenverteidiger<br />
des FC Bayern.<br />
Mathias Mieg stellt die Tipp-Kick-<br />
Figur mit dem Plastik-Afro vor sich auf<br />
den Tisch und strahlt. Dass der Brasilianer<br />
im WM-Jahr nicht nur beim deutschen<br />
Meister aus München unter Vertrag<br />
steht, sondern auch bei Deutschlands<br />
kleinstem Spielzeughersteller, der Edwin<br />
Mieg OHG, ist für den Firmenchef<br />
wie der Gewinn der Champions League.<br />
Das Familienunternehmen aus<br />
Schwenningen im Schwarzwald führt er<br />
seit Ende der neunziger <strong>Jahre</strong> zusammen<br />
mit seinem jüngeren Cousin Jochen.<br />
Bei Dante habe alles gepasst, erklärt<br />
Jochen Mieg. Die WM in der Heimat des<br />
Brasilianers, das sympathische Image des<br />
Spielers und die Chance, mit dessen charakteristischer<br />
Frisur eine unverwechselbare<br />
Figur für die Tipp-Kick-Kollektion<br />
zu schaffen. Marketing ist bei den Miegs<br />
Chefsache, denn es ist längst zum Kerngeschäft<br />
des Unternehmens geworden. Die<br />
Produktion haben sie ausgelagert. Die<br />
Figuren werden in einem Betrieb im benachbarten<br />
Villingen gegossen und anschließend<br />
in Tunesien per Hand lackiert.<br />
Mathias Mieg, ein bulliger Mann mit<br />
Glatze und hörbarem Schwarzwälder Dialekt,<br />
musste schon als Kind für Tipp-<br />
Kicks Werbekampagnen posieren. Sein<br />
jüngerer Cousin Jochen stieg später ein,<br />
reklamiert aber für sich, im ewigen Duell<br />
der beiden Chefs mit ein paar Siegen<br />
vorne zu liegen.<br />
Ein Klick auf den roten Knopf, das<br />
rechte Bein des Spielers schwingt nach<br />
vorne und kickt den zwölfeckigen Ball in<br />
Richtung Tor. Dort pariert ein Torwart,<br />
der mittels Drahtsteuerung nach links<br />
und rechts hechtet. Generationen von<br />
Kindern haben mit den Zinkfiguren und<br />
dem weiß-schwarzen Ball ganze Weltmeisterschaften<br />
nachgespielt.<br />
1924 HATTE DER UHRMACHER Edwin<br />
Mieg einem Möbelhersteller das Patent<br />
abgekauft. Der Großvater der heutigen<br />
Chefs verbesserte die Mechanik und<br />
brachte das Spiel unter dem Namen Tipp-<br />
Kick heraus. Das Wunder von Bern 1954<br />
war nicht nur für Nachkriegsdeutschland<br />
eine große Sache, es bescherte auch Edwin<br />
Mieg Rekordumsätze. Das Abschneiden<br />
der deutschen Nationalmannschaft<br />
bei Welt- und Europameisterschaften<br />
lässt sich bis heute an den Bilanzen des<br />
Familienunternehmens ablesen. „Es gibt<br />
vier Firmen, deren Umsatz direkt von<br />
Fußballergebnissen abhängig ist“, sagt<br />
Mathias Mieg halb scherzhaft, halb im<br />
Ernst: „Adidas, Puma, Nike und wir.“<br />
Kleine Unterschiede gibt es aber<br />
trotzdem zwischen den drei Weltkonzernen<br />
und den Miegs mit ihren zehn<br />
Mitarbeitern. Das Innovationstempo im<br />
Schwarzwald ist eher gemächlich. Die<br />
letzte bahnbrechende Änderung war die<br />
Torwartfigur „Toni“. Pate stand Toni Turek,<br />
einer der Helden von Bern, Markteinführung<br />
1954. Auf Tradition legen<br />
sie im Schwarzwald viel Wert. Auf dem<br />
Platz verändern die Miegs nichts, experimentieren<br />
allenfalls mit einer Anzeigetafel,<br />
die Torjubel und Hymnen abspielt.<br />
Die Generation Playstation können<br />
sie mit dieser behäbigen Strategie aber<br />
kaum noch begeistern. Auch der Vertrieb<br />
wird durch das Verschwinden der Spielzeugfachgeschäfte<br />
schwieriger. Immer<br />
wichtiger werden daher Kooperationen<br />
und Werbepartnerschaften, die bereits<br />
30 Prozent des Umsatzes ausmachen.<br />
Der größte Auftrag dieser Art kam zur<br />
WM 2006 in Deutschland. Damals bestellte<br />
Ramazzotti eine Million Spielfiguren.<br />
In einer Schachtel gab es zum<br />
Kräuterschnaps den Kicker, einen Ball<br />
und eine Torwand. Produziert wurden<br />
die Ramazzotti-Kicker ausnahmsweise in<br />
China, weil die Villinger Gießerei diesen<br />
Auftrag nicht bewältigen konnte.<br />
Ansonsten hat die Globalisierung<br />
bisher einen großen Bogen um die Marke<br />
Tipp-Kick gemacht. Die Eroberung des<br />
französischen Marktes zur EM 2012<br />
scheiterte kläglich. Schuld war wohl das<br />
schwache Abschneiden der Équipe Tricolore.<br />
Auf eine Offensive in Brasilien haben<br />
die Miegs verzichtet.<br />
Stattdessen freuen sich die Schwenninger<br />
schon auf die WM in Katar. Weniger<br />
weil sie bei den Scheichs einen großen<br />
Markt vermuten, sondern weil das Turnier<br />
wegen der Hitze im Winter stattfinden<br />
soll. „WM und Weihnachtsgeschäft<br />
in einem, das wäre natürlich super“, sagt<br />
Mathias Mieg. Wenn Deutschland dann<br />
noch den Titel holt, muss er wohl wieder<br />
die Gießerei in China anrufen.<br />
BENNO STIEBER saß als Junge selbst<br />
beim Tipp-Kick meist auf der Ersatzbank.<br />
Jetzt, im Duell mit seinem siebenjährigen<br />
Sohn, bekommt er eine neue Chance<br />
MYTHOS<br />
MITTELSTAND<br />
Was hat Deutschland,<br />
was andere nicht haben?<br />
Den Mittelstand!<br />
<strong>Cicero</strong> stellt in jeder Ausgabe<br />
einen mittelständischen<br />
Unternehmer vor.<br />
Die bisherigen Porträts<br />
finden Sie unter:<br />
www.cicero.de/mittelstand<br />
Foto: Andy Ridder für <strong>Cicero</strong><br />
88<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
KAPITAL<br />
Umfrage<br />
DANKE,<br />
LIEBE<br />
ARBEITERSCHAFT!<br />
Die Wirtschaft wächst, noch nie hatten<br />
so viele Menschen in Deutschland<br />
einen Job. Das ist auch das Verdienst<br />
der Arbeitnehmer. Allerhöchste Zeit<br />
für eine Würdigung durch die Chefs –<br />
pünktlich zum 1. Mai<br />
Vor elf <strong>Jahre</strong>n gab es mal einen BDI-Präsidenten,<br />
der am liebsten alle Tarifverträge<br />
verbrennen lassen wollte und das Betriebsverfassungsgesetz<br />
gleich mit. Nicht nur deswegen<br />
ist der Gewerkschaftsgegner Michael<br />
Rogowski in Vergessenheit geraten. Die Arbeitnehmervertreter<br />
wurden sogar in der Öffentlichkeit gern als<br />
„Bremser“ und „Betonköpfe“ wahrgenommen.<br />
In der Krise haben die Gewerkschaften nun ein<br />
beachtliches Comeback gefeiert. Studien zeigen, dass<br />
Betriebsräte und Gewerkschaften mit moderaten Tarifabschlüssen,<br />
der Zustimmung zu Kurzarbeit und flexiblen<br />
Arbeitszeitmodellen einen gewichtigen Anteil daran<br />
hatten, dass Deutschland trotz der Finanzkrise so<br />
gut dasteht.<br />
Das Ausland guckt nicht nur neidisch auf unsere<br />
niedrigen Arbeitslosenzahlen, sondern zeigt auch wachsendes<br />
Interesse am Modell der „betrieblichen Mitbestimmung“,<br />
das zu einem Standortvorteil geworden ist.<br />
Die deutsche Wirtschaft steht nämlich gerade dort,<br />
wo die Gewerkschaften stark sind, besonders gut da.<br />
Maschinenbau, Chemie und die Autohersteller strotzen<br />
vor Wettbewerbsfähigkeit. Starke Gewerkschaften<br />
und hochprofitable Unternehmen müssen kein Gegensatz<br />
sein.<br />
Trotz unterschiedlicher Interessen outen sich daher<br />
in unserer <strong>Cicero</strong>-Umfrage Führungskräfte der deutschen<br />
Wirtschaft als Anhänger der Mitbestimmung. Auf<br />
die Idee, Tarifverträge zu verbrennen, käme heute keiner<br />
von ihnen. til<br />
Fotos: BASF, Stefan Simonsen/DDP Images<br />
90<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
MARGRET SUCKALE<br />
Personalvorstand BASF<br />
und Präsidentin des<br />
Arbeitgeberverbands Chemie<br />
Es müssen nicht Megafone und Trillerpfeifen<br />
sein. Ganz im Gegenteil. Die Verständigung<br />
zwischen Arbeitgebern und<br />
Gewerkschaften funktioniert besser,<br />
wenn leisere Töne angeschlagen werden.<br />
Wenn die Sache im Mittelpunkt steht und<br />
nicht die öffentliche Wirkung. Wenn wir<br />
gemeinsam Lösungen finden, die innovativ<br />
sind und sowohl den Mitarbeitern als<br />
auch den Unternehmen Vorteile bringen.<br />
„Vertrauensvolle Zusammenarbeit“ –<br />
diese zwei Worte stehen dafür, wie Arbeitgeber<br />
und Gewerkschaft in der chemischen<br />
Industrie miteinander umgehen.<br />
Dass diese besondere Sozialpartnerschaft<br />
funktioniert, zeigt die Tatsache, dass der<br />
letzte Streik über 40 <strong>Jahre</strong> zurückliegt.<br />
Denn wir haben dasselbe Ziel: die Wettbewerbsfähigkeit<br />
der Branche zu erhalten<br />
und so Arbeitsplätze langfristig zu<br />
sichern.<br />
Mit diesem wichtigen Ziel im Blick<br />
arbeiten wir gemeinsam an Themen wie<br />
dem demografischen Wandel, der Nachwuchssicherung<br />
oder Gesundheit und<br />
Nachhaltigkeit. Eine solche Sozialpartnerschaft<br />
ist ein echter Standortvorteil.<br />
Den Gewerkschaften kommt eine<br />
wichtige Rolle in unserer Gesellschaft zu.<br />
Sie werden ihrer Verantwortung gerecht,<br />
wenn sie sich als Gestalter verstehen und<br />
nicht als Gegenspieler. Die Zersplitterung<br />
der Gewerkschaften durch Einzelgewerkschaften<br />
gefährdet unser gesamtes Tarifvertragssystem,<br />
unsere Sozialpartnerschaft<br />
und letztlich auch den Standort<br />
Deutschland. Daher brauchen<br />
wir eine gesetzlich verankerte<br />
Tarifeinheit, die<br />
den Frieden und die Solidarität<br />
im Betrieb stärkt.<br />
Auch hier gilt: Megafon<br />
und Trillerpfeife müssen<br />
nicht sein.<br />
„ Die Polemik herausnehmen<br />
und gemeinsam nach<br />
Lösungen suchen “<br />
DIRK ROSSMANN<br />
Inhaber der Drogeriekette Rossmann<br />
Als Unternehmer habe ich im Alltag mit Gewerkschaften wenig zu tun,<br />
weil Rossmann nicht tarifgebunden ist. Wir orientieren uns aber immer<br />
an den Tarifverträgen der Branche und zahlen häufig sogar mehr<br />
an unsere Mitarbeiter. Außerdem stehe ich in einem regen Austausch<br />
mit unserem Betriebsrat. Ich bin inzwischen ein großer Anhänger der<br />
Mitbestimmung bei uns in Deutschland, weil es das Verständnis für die<br />
Interessen der jeweils anderen Seite geschärft hat. Ich bin manchmal<br />
überrascht, wie unternehmerisch unsere Betriebsräte denken. Wichtig<br />
ist, dass beide Seiten, ich als Arbeitgeber und die Vertreter<br />
der Arbeitnehmer, immer das Beste für das Unternehmen<br />
herausholen wollen. Wenn es Probleme<br />
gibt, suchen wir gemeinsam nach Lösungen. Aggression,<br />
Polemik und Konfrontation zwischen<br />
Arbeitgebern und ihren Mitarbeitern helfen niemandem.<br />
In Deutschland hat sich auch im Zuge<br />
der Agenda 20<strong>10</strong> die Erkenntnis durchgesetzt: Ein<br />
finanziell gesundes Unternehmen ist wichtiger für<br />
die Mitarbeiter als die Durchsetzung von Maximalforderungen.<br />
Bei einer Insolvenz gibt es<br />
am Ende nur Verlierer.<br />
Wie groß der Anteil der Arbeitnehmer<br />
an Deutschlands Comeback<br />
als Wirtschaftsnation ist, zeigt vielleicht<br />
am besten das Beispiel Volkswagen:<br />
Dort haben sie in der Krise<br />
die 28-Stunden-Woche eingeführt<br />
und niemanden entlassen.<br />
Das war ethisch und kaufmännisch<br />
die beste Entscheidung.<br />
Denn als es wieder aufwärtsging,<br />
waren noch alle Fachkräfte<br />
an Bord. Für solche sozialen<br />
Revolutionen kann ich<br />
mich begeistern.<br />
Das wünsche ich mir auch<br />
von den Gewerkschaften und<br />
den Arbeitgeberverbänden:<br />
Die Polemik herausnehmen<br />
und gemeinsam Lösungen<br />
finden.<br />
91<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
KAPITAL<br />
Umfrage<br />
„ In Deutschland müssen<br />
eher die Veränderer<br />
als die Beharrer den Kurs<br />
bestimmen “<br />
NICOLA LEIBINGER-KAMMÜLLER<br />
Inhaberin des Maschinenbauers Trumpf<br />
Organisationen sind immer nur dann gut,<br />
wenn sie sich die Kraft zur Veränderung erhalten.<br />
Das gilt auch für Gewerkschaften. Soweit<br />
ich dies beurteilen kann, gibt es in der<br />
deutschen Gewerkschaftslandschaft sowohl<br />
die „Betonfraktion“ – Hardliner, die immer<br />
noch in den Ritualen des (vor-)letzten Jahrhunderts<br />
verhaftet sind –, aber eben auch<br />
die Modernisierer, die wissen, dass kluges<br />
Handeln mit dem Betrachten der Realität<br />
und damit auch des gesellschaftlichen Wandels<br />
beginnt.<br />
Für uns als mittelständisches Hochtechnologieunternehmen<br />
in Baden-Württemberg<br />
war es ein Glücksfall, dass unsere „Counterparts“<br />
aus einem sehr innovativen und veränderungsbereiten<br />
Umfeld der IG Metall stammen.<br />
Dass wir bei Trumpf unser bundesweit<br />
beachtetes neues Arbeitszeitmodell einführen<br />
konnten, war nur möglich, weil wir mutige<br />
Partner in Betriebsrat und Gewerkschaft hatten.<br />
Partner, die über die <strong>Jahre</strong> hinweg das Vertrauen<br />
aufgebaut haben, dass auf der anderen Seite nicht<br />
der leibhaftige Gottseibeiuns sitzt.<br />
In unserem Fall hat das Miteinander von Unternehmensleitung,<br />
Betriebsrat und Gewerkschaften<br />
dazu geführt, dass unsere Mitarbeiter<br />
Veränderungen und Neuerungen durchaus<br />
offen gegenüberstehen. Angesichts neuer, dynamischer<br />
Wettbewerber weltweit brauchen<br />
wir diese Kultur – sowohl im Unternehmen<br />
wie in Deutschland insgesamt. Für den Standort<br />
Deutschland wäre es daher wünschenswert,<br />
wenn in allen Gewerkschaften eher die Veränderer<br />
als die Beharrer den Kurs bestimmten.<br />
Fotos: Thomas Bernhardt/VISUM, Carsten Dammann, Mathias Krohn/Ullstein Bild [M]
BURKHARD SCHWENKER<br />
CEO von Roland Berger<br />
„In Deutschland gehen mehr Arbeitsstunden durch Grußworte verloren<br />
als durch Streiks.“ Dieses Bonmot des früheren Hamburger Kultursenators<br />
Ingo von Münch spiegelt sicher die gelegentliche Verzweiflung<br />
angesichts repräsentativer Verpflichtungen (oder dem Schreiben<br />
von Gastbeiträgen) wider. Richtig ist aber auch: In Deutschland gibt<br />
es wenig Streiks.<br />
Doch es ist mehr als das. Was uns stark macht, ist unsere ausgeprägte<br />
industrielle Kompetenz, unsere Handwerkskultur, die Verbindung<br />
aus Industrie und Dienstleistungen, die einzigartige Kombination<br />
aus großen Konzernen und mittelständischen Unternehmen, um<br />
die uns viele Volkswirtschaften beneiden. Und vor allem ist es unsere<br />
Stakeholder-Orientierung, die auf Einbezug setzt und auf gemeinsames<br />
Schaffen von Wert, statt eindimensional dem amerikanischen Paradigma<br />
vom Shareholder-Value zu folgen.<br />
Unsere Gewerkschaften, unser System der Tarifautonomie, die<br />
Mitbestimmung in unseren Unternehmen haben daran großen Anteil.<br />
Denn die Tarifautonomie geht einher mit der Chance, dezentral<br />
zu einem fairen und für Branchen oder Regionen vernünftigen Interessenausgleich<br />
zu kommen. Und die Mitbestimmung führt dazu, dass<br />
wir in unseren Unternehmen Bodenhaftung behalten, dass es um betriebliche<br />
Interessen geht, dass um die beste Lösung gerungen wird –<br />
und manchmal auch um die bessere Idee.<br />
Besonders in schwierigen Zeiten haben unsere<br />
Gewerkschaften bewiesen, dass man auf sie<br />
zählen kann. Dass sie in den Betrieben verwurzelt<br />
sind, dass es um gemeinsame Interessen<br />
geht. Und dass Konsens mehr Erfolg<br />
bringt als sture Blockade, wie sie andernorts<br />
üblich ist – auf beiden Seiten!<br />
65 <strong>Jahre</strong> nach Gründung des DGB und<br />
der Verabschiedung des ersten Tarifvertragsgesetzes<br />
geht es Deutschland heute<br />
besser als vielen anderen Ländern.<br />
War es vor einigen <strong>Jahre</strong>n kaum<br />
möglich, internationalen Investoren<br />
unser System zu erklären<br />
– für den Begriff „betriebliche<br />
Mitbestimmung“ gibt es<br />
bis heute kein englisches Pendant<br />
–, spricht nun sogar der<br />
Economist davon, dass unsere<br />
Gewerkschaften ein<br />
Standortvorteil sind. Deswegen<br />
danke an beide<br />
Seiten, Arbeitnehmer<br />
und Arbeitgeber – sie<br />
machen Deutschlands<br />
Wirtschaft stark!<br />
ANTON F. BÖRNER<br />
Präsident des Bundesverbands<br />
Groß- und Außenhandel<br />
Anders als etwa in Italien, Spanien oder<br />
Frankreich sehen sich die Gewerkschaften<br />
hierzulande nicht in einem fortdauernden<br />
Klassenkampf, sondern in einem<br />
sozialpartnerschaftlichen Ringen um die<br />
beste Lösung. Auch wenn dieses Ringen<br />
für Arbeitgeberverbände nicht immer ein<br />
Honigschlecken ist, führt es doch meist zu<br />
vernünftigen Ergebnissen. Durch die Mitbestimmung<br />
kennen die Arbeitnehmer<br />
die kurz-, mittel- und langfristige Investitionsplanung<br />
ihres Unternehmens. So<br />
kann vieles rechtzeitig geklärt und sozialverträglich<br />
geregelt werden – aus Mitbestimmung<br />
wird Mitverantwortung.<br />
So ist es uns in der vergangenen<br />
Dekade gelungen, fast drei Millionen<br />
neue Arbeitsplätze zu schaffen und die<br />
Beschäftigung auf einen historischen<br />
Höchststand zu bringen. Dass uns das<br />
Ausland um die geringe Arbeitslosigkeit<br />
beneidet, gerade auch bei Jugendlichen,<br />
ist das Ergebnis partnerschaftlichen Zusammenwirkens<br />
der Tarifparteien.<br />
Das Erfolgsmodell ist jedoch gefährdet<br />
durch die wachsende Anzahl von<br />
Spartengewerkschaften. Sie führt zu einer<br />
Entsolidarisierung der Arbeitnehmer.<br />
Ich halte es für missbräuchlich, wenn<br />
kleine, zum Teil hochprivilegierte Grüppchen<br />
ihre überzogenen Eigeninteressen<br />
auf Kosten des Allgemeinwohls durchsetzen<br />
wollen. Dieses Problem muss die neue<br />
DGB-Spitze gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden<br />
schnellstmöglich lösen.<br />
93<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
KAPITAL<br />
Umfrage<br />
MATTHIAS WISSMANN<br />
Präsident des Verbands der Automobilindustrie<br />
Das freie Aushandeln von Löhnen und Gehältern zwischen Gewerkschaften<br />
und Arbeitgebern funktioniert in Deutschland deswegen so<br />
gut, weil das Verständnis für die Situation des jeweils anderen hier besonders<br />
ausgeprägt ist: In vielen Aufsichtsräten stellen Gewerkschaften<br />
den stellvertretenden Vorsitzenden, zahlreiche Betriebsräte vertreten<br />
dort die Interessen der Belegschaft.<br />
Im Ergebnis wurden so in den vergangenen <strong>Jahre</strong>n oftmals Lohnabschlüsse<br />
erzielt, die „Maß und Mitte“ hatten. Beiden Seiten ging es<br />
dabei immer auch um die Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland.<br />
Natürlich gab und gibt es unterschiedliche Positionen, auch Konflikte.<br />
Doch unterm Strich ist die Bilanz positiv: Insbesondere die IG Metall<br />
hat mehr als einmal gezeigt, dass sie die Herausforderungen, die die<br />
Automobilindustrie im weltweiten harten Wettbewerb meistern muss,<br />
versteht. Das Verständnis für industriepolitische Fragen, die Bedeutung<br />
wettbewerbsfähiger Energiekosten, den Ausbau und Erhalt<br />
der Infrastruktur als Voraussetzung für künftiges<br />
Wachstum am Standort Deutschland ist bei ihren Vertretern<br />
besonders ausgeprägt. Sie wissen auch, welch<br />
strategisch wichtige Bedeutung das Premiumsegment<br />
für die Beschäftigten in dieser Industrie hat:<br />
60 Prozent der inländischen Arbeitsplätze allein<br />
bei Pkw-Herstellern hängen vom Premiumsegment<br />
ab. Auf diesen Zusammenhang hat die Gewerkschaft<br />
auch bei der Diskussion um die CO 2<br />
-<br />
Regulierung öffentlich hingewiesen.<br />
Auf einen wichtigen Standortfaktor werden unsere<br />
Unternehmen auch künftig nicht verzichten<br />
können: Sie brauchen die notwendige<br />
Flexibilität, um auf Marktschwankungen<br />
rasch reagieren zu können. Beide<br />
Seiten sollten sich hier aufgeschlossen<br />
zeigen. Der gemeinsame Erfolg<br />
wird uns auch in Zukunft nicht in<br />
den Schoß fallen. Neue Wettbewerber<br />
aus Asien, notwendig<br />
wachsende Produktion im Ausland<br />
und zunehmender weltweiter<br />
Protektionismus heißen wichtige<br />
Herausforderungen, die wir<br />
gemeinsam bewältigen müssen.<br />
Fazit heute: Wir schätzen<br />
die IG Metall als verlässlichen<br />
Partner, der – neben seinen legitimen<br />
Interessen – stets auch<br />
die gesamtwirtschaftliche Verantwortung<br />
im Blick hat. Und<br />
wir hoffen, dass der erfolgreiche<br />
Weg der vergangenen <strong>Jahre</strong><br />
weiter verfolgt wird.<br />
WOLFGANG GRUPP<br />
Inhaber des Textilunternehmens<br />
Trigema<br />
Lebten wir in einer idealen Welt mit vernünftigen<br />
Unternehmern, bräuchten wir<br />
überhaupt keine Gewerkschaften. Das<br />
ist aber leider nicht so, weil sich auch in<br />
Deutschland immer mehr Unternehmer<br />
unanständig verhalten und ihre Mitarbeiter<br />
heuern und feuern, wie es ihnen gerade<br />
passt. Das geht natürlich nicht. Ich<br />
habe in 46 <strong>Jahre</strong>n nicht einen Mitarbeiter<br />
wegen schlechter Auftragslage entlassen,<br />
nie kurzarbeiten lassen und beschäftige<br />
keine Leiharbeiter, weil meine Mitarbeiter<br />
doch mein wichtigstes Kapital sind.<br />
Den Gewerkschaften gebührt ein<br />
Lob dafür, dass sie in den vergangenen<br />
<strong>Jahre</strong>n moderaten Lohnabschlüssen zugestimmt<br />
haben. Und sie haben die Agenda<br />
20<strong>10</strong> am Ende mitgetragen, die Deutschland<br />
wieder wettbewerbsfähig gemacht<br />
hat. Wo wir ohne Schröders Reformen<br />
heute stehen würden, möchte ich gar<br />
nicht wissen.<br />
Deswegen ist auch die aktuelle Diskussion<br />
um den Mindestlohn ein Armutszeugnis<br />
für die Unternehmer hierzulande.<br />
Ich muss doch den Anspruch<br />
haben, meine Mitarbeiter so zu bezahlen,<br />
dass sie davon in Deutschland leben<br />
können. Aber wir leben eben nicht in einer<br />
idealen Welt.<br />
Fotos: Britta Pedersen/Picture Alliance/DPA, Action Press<br />
94<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
STIL<br />
„ Wir sind kritische<br />
Beobachter des<br />
Schönheitskults, aber<br />
auch Protagonisten<br />
im gleichen System.<br />
Der Druck steigt.<br />
Auch auf Männer “<br />
Steen T. Kittl spricht im Interview über den Schönheitswahn im Allgemeinen<br />
und die Bedeutung von Haaren im Speziellen, ab Seite <strong>10</strong>6<br />
95<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
STIL<br />
Porträt<br />
SIE MACHT ES STIMMIG<br />
Luise Helm ist die Synchronstimme von Scarlett Johansson. Die spielt in „Her“ die<br />
Hauptrolle, ist aber nie zu sehen. Wie es ist, wenn Aussehen nichts und Stimme alles ist<br />
Von LENA BERGMANN<br />
Foto: Joachim Gern<br />
Niemals schließt Luise Helm beim<br />
Synchronisieren die Augen. Sie<br />
darf keine Geste verpassen,<br />
muss jede Sekunde an der Schauspielerin<br />
dran sein. Sie muss Bewegungen studieren,<br />
Gestus und Lippen im Blick haben.<br />
Nur so kann sie die Emotionen verstehen,<br />
die Anspannung spüren. Und natürlich<br />
muss sie immer wieder die Stimme hören,<br />
der sie ein Leben im Deutschen verleihen<br />
wird. „Ich krieche in diese Körper<br />
hinein“, sagt Luise Helm.<br />
Die gebürtige Ostberlinerin, 31<br />
<strong>Jahre</strong> alt, ist Schauspielerin. „Das Synchronisieren“,<br />
sagt sie, „ist nur eine Facette<br />
des Berufs, genau wie das Hörbuch-<br />
Sprechen.“ Wenn Luise Helm im Studio<br />
vor dem Mikrofon steht „in einem unheimlich<br />
abstrakten Raum mit geringem<br />
Bewegungsradius“, überträgt sie das, was<br />
die Darstellerin auf der Leinwand erlebt,<br />
präzise in die deutsche Sprache: Einatmer<br />
auf Einatmer, Ausatmer auf Ausatmer,<br />
Lacher auf Lacher.<br />
Seit Woody Allens „Matchpoint“ aus<br />
dem Jahr 2005 ist sie die deutsche Synchronstimme<br />
von Scarlett Johansson.<br />
Johanssons Stimme ist nicht irgendeine<br />
Stimme. Aus ihr klingt die fröhliche,<br />
opulente Sexyness der amerikanischen<br />
Blondine, wie man sie seit Marylin Monroe<br />
auf der Leinwand nicht mehr gesehen<br />
hat. Johanssons Stimme ist ein tiefes<br />
Hauchen, frivol und doch herzlich und<br />
mädchenhaft. „Auch Scarlett klingt nicht<br />
immer gleich“, sagt Helm, die wie deren<br />
zensierte, jüngere Version aussieht. Sie<br />
könnte eine deutsche Cousine sein.<br />
Ob die Person rennt, schwimmt oder<br />
Sex hat: All das muss Luise Helm in ihre<br />
Stimme legen. Wenn die Darstellerin<br />
liegt, spricht auch Helm ihren Text liegend,<br />
wenn sie sitzt, spielt Luise Helm<br />
im Sitzen. Und wenn die Filmfigur außer<br />
Atem ist, rennt sie auf der Stelle, „weil<br />
die Stimme dann ganz anders aus dem<br />
Körper kommt.“ Doch was ist, wenn die<br />
Hauptfigur, wie in „Her“, nicht zu sehen<br />
ist? Wenn ihr das Körperliche fehlt, in<br />
das man hineinkriechen kann? Wenn die<br />
Rolle nur aus Stimme besteht?<br />
Einen ganzen Film von einer Stimme<br />
tragen zu lassen, war die kühne Idee von<br />
Regisseur Spike Jonze, der für „Her“ mit<br />
dem Oskar für das beste Originaldrehbuch<br />
prämiert wurde. Sein in der frühen<br />
Zukunft verorteter Protagonist Theodore<br />
Twombly, gespielt von Joaquin<br />
Phoenix, ist ein von der Liebe desillusionierter<br />
und von der Scheidung gebeutelter<br />
Texter für Liebesbriefe. Einsam und<br />
emotional unterstimuliert verliebt er sich<br />
in „Samantha“, das neue Betriebssystem<br />
seines Rechners. Dies klingt gruselig, erscheint<br />
in diesem Film jedoch verstörend<br />
natürlich. Samantha hat eine komplexe<br />
Persönlichkeit, ist neugierig und intuitiv,<br />
hat Humor und erotische Fantasien. Im<br />
Smartphone in der Brusttasche begleitet<br />
sie Twombly durch den Tag, abends säuselt<br />
sie ihm vom Nachttisch aus Sanftheiten<br />
ins Ohr.<br />
DIE STIMME SPIEGELT die Persönlichkeit,<br />
das akustische Erscheinungsbild<br />
ist ähnlich bedeutend wie das optische.<br />
Die Menschen kleiden, schminken und<br />
parfümieren sich, die ganze Schönheitsindustrie<br />
basiert darauf. Aber wenn die<br />
Stimme als unangenehm wahrgenommen<br />
wird, nutzt das wenig. Umgekehrt kann<br />
die Stimme eine ganze Persönlichkeit<br />
transportieren – das lehrt dieser Film.<br />
Wie schwierig es war, eine Schauspielerin<br />
zu finden, deren Stimme Samantha<br />
diese Präsenz verleihen konnte,<br />
zeigt die Tatsache, dass der Regisseur<br />
seine ursprüngliche Besetzung nach<br />
dem Dreh des Filmes durch Johansson<br />
ersetzte. Die Produktionsfirma Warner<br />
Brothers wollte auch bei der deutschen<br />
Synchronisation sichergehen. Obwohl<br />
Helm die deutsche Stimme von Johansson<br />
ist, musste sie sich für „Her“ gegen<br />
andere Vorsprecherinnen durchsetzen.<br />
In Mikrofone hat Helm gesprochen,<br />
bevor sie lesen konnte. Als sie fünf <strong>Jahre</strong><br />
alt war, nahm sie der Vater, ebenfalls Synchronsprecher,<br />
mit ins Studio. „Wenn<br />
eine Kinderstimme gesucht wurde, war<br />
ich dran.“ Seit sie zehn ist, steht sie auch<br />
vor der Kamera, obwohl sie keine Ausbildung<br />
absolvierte. Als Schauspielerin wird<br />
sie noch heute oft als junges Mädchen gecastet.<br />
Großen Respekt hat sie sich als<br />
Sprecherin erarbeitet. Bescheiden erklärt<br />
sie dies mit über 25 <strong>Jahre</strong>n Erfahrung.<br />
„Es geht um Rhythmus und Melodie – da<br />
bin ich ganz gut drin“, sagt sie. Die Synchronisierung<br />
von „Her“ hat sie sitzend<br />
gespielt. „Es besteht permanent Nähe und<br />
Intimität zwischen den beiden“, sagt sie.<br />
So stand das Mikrofon auch näher an ihrem<br />
Mund als sonst. „Weil es kein Gesicht<br />
gab, das ich hätte lesen können, war ich<br />
mehr bei mir selbst“, so erklärt es Helm.<br />
Ein Satz aus „Her“ ist ihr extrem<br />
wichtig. Nachdem Theodore bekennt: „I<br />
wish I could touch you“, fragt Samantha<br />
zurück: „How would you touch me?“<br />
Das sei der Moment, in dem die Maschine<br />
erstmals ein Bedürfnis artikuliere und<br />
menschlich werde. „Wie würdest du mich<br />
berühren? Wie würdest du mich berühren?<br />
Wie würdest du mich berühren?“ Im<br />
Interview spricht Luise Helm den Satz<br />
dreimal. Je nach Betonung klingt er mal<br />
verführerisch, mal distanziert, mal unsicher,<br />
mal überwiegt die Neugierde,<br />
mal der Schalk. Jetzt hat sie die Augen<br />
geschlossen.<br />
LENA BERGMANN, Ressortleiterin Stil,<br />
prognostiziert, dass „Her“ ein Klassiker<br />
wird, der Film zur digitalen Gesellschaft<br />
97<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
BASMA KAHIE, London
STIL<br />
Reportage<br />
SIE SPIELEN MIT<br />
KONFLIKTSTOFF<br />
Von KATHARINA PFANNKUCH<br />
Fotos LANGSTON HUES<br />
Darf Verhüllung<br />
modisch sein? Von<br />
Bahrain bis Köln,<br />
von London bis<br />
Istanbul entstehen<br />
Trends, die mit dem<br />
Hijab, dem islamischen<br />
Schleier,<br />
spielen. Auch die<br />
Modeindustrie reagiert.<br />
Vorhang auf<br />
für die Hijabistas<br />
RUBAI ZAI, Rotterdam<br />
99<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
STIL<br />
Reportage<br />
Selma Elaimy rückt ein letztes Mal<br />
ihr Kopftuch zurecht, dann ist sie<br />
bereit: Inmitten der Gassen rund<br />
um den Galata-Turm in Istanbul, zwischen<br />
flanierenden Touristen und eilenden<br />
Passanten, konzentriert sich die<br />
21 <strong>Jahre</strong> alte Ägypterin auf die Anweisungen<br />
des Fotografen Langston Hues.<br />
Der dreht seine Baseballmütze mit dem<br />
Schirm nach hinten, prüft das Licht und<br />
beginnt, die posierende Selma Elaimy zu<br />
fotografieren. Die Tunesierin Aysha Marzouk<br />
und einige türkische Freundinnen<br />
schauen zu, lange haben sie alle auf diesen<br />
Tag gewartet.<br />
Vor der Kamera von Langston Hues<br />
zu stehen, gilt für viele Musliminnen<br />
als modischer Ritterschlag: Seit sechs<br />
Monaten reist der 26 <strong>Jahre</strong> alte Blogger<br />
aus New York nach Chicago, Dubai, Paris<br />
oder Kuala Lumpur, um für seinen Blog<br />
„Modest Street Fashion“ junge Frauen<br />
zu fotografieren, die islamische Mode<br />
neu interpretieren. „Viele Muslime fassen<br />
Glauben und Spiritualität als Lifestyle<br />
auf. Das äußert sich auch in ihrer<br />
Mode“, sagt Hues, der mit 19 zum Islam<br />
konvertierte. In sozialen Netzwerken<br />
entdeckte er den Trend, der mit der Verhüllung<br />
spielt, das Kopftuch immer wieder<br />
neu inszeniert und dabei westliche<br />
Trends aufnimmt.<br />
Das Kopftuch drückt nicht nur die<br />
Zugehörigkeit seiner Trägerin zum muslimischen<br />
Glauben aus, es soll sie laut<br />
Tradition auch vor den Blicken fremder<br />
Männer schützen. Wenn aus dem Kopftuch<br />
ein knallpinker Turban wird, zum<br />
Schleier hautenge Jeans, High Heels, auffällige<br />
Accessoires und Make-up getragen<br />
werden, entstehen jedoch schnell<br />
Outfits, die Blicke auf sich ziehen.<br />
Mit dem Bild von geduckt vorbeihuschenden<br />
Frauen in dunklen Verhüllungen<br />
haben die Hijab-Trägerinnen, die vor<br />
Langston Hues’ Kamera kokett posieren,<br />
nichts gemeinsam. Konservativen Kritikern<br />
geht das zu weit: Eine muslimische<br />
Frau habe sich zurückhaltend, bescheiden<br />
und vor allem nicht aufreizend zu kleiden<br />
– ein Kopftuch zu einem ansonsten<br />
engen oder auffälligen Outfit erfülle nicht<br />
mehr seinen eigentlichen, religiösen Sinn.<br />
Aysha Marzouk kümmert sich wenig<br />
um derartige Kritik: Sie setzt auf den<br />
Rocker-Look, trägt derbe Stiefel und Lederjacke.<br />
Ein schwarzer Turban umrandet<br />
das Gesicht der 20-Jährigen, in dem<br />
knallrot geschminkte Lippen und Piercings<br />
in Augenbraue und Unterlippe auffallen.<br />
Selma Elaimy trägt zu ihrem im<br />
Nacken gebundenen und in Rosatönen gemusterten<br />
Tuch pinkfarbenen Lippenstift.<br />
Die schmal geschnittene Hose, flache<br />
Herrenschuhe und ein heller Kurzmantel<br />
schaffen eine Sechziger-<strong>Jahre</strong>-Silhouette.<br />
„In der Mode sollte man nicht auf<br />
Trends achten“, sagt Selma Elaimy. „Die<br />
einzige Regel, der ich folge, ist eine religiöse:<br />
Ich bedecke mich.“ Tatsächlich ist<br />
außer ihrem Gesicht und Händen ihr gesamter<br />
Körper bedeckt.<br />
FEDA EID, New York<br />
„HIJAB“ IST ARABISCH und bedeutet<br />
Verhüllung. Im Koran heißt es in Sure<br />
24, dass Frauen ihre Reize mit – je nach<br />
Übersetzung – einem Tuch oder Schleier<br />
bedecken sollen und sie nur vor ihrem<br />
Ehemann und Verwandten entblößen<br />
dürfen. Vom Kopftuch ist jedoch nicht<br />
explizit die Rede. Lediglich die Frauen<br />
des Propheten Muhammad werden in<br />
Sure 33 aufgefordert, auch den Kopf zu<br />
verhüllen, um nicht belästigt zu werden.<br />
Bis heute debattieren Muslime darüber,<br />
ob das Kopftuch eine religiöse Pflicht und<br />
noch zeitgemäß sei. Eine der prominentesten<br />
Stimmen in Deutschland ist die Islamwissenschaftlerin<br />
Lamya Kaddor, die<br />
die Schutzfunktion des Tuches im modernen<br />
Rechtsstaat für obsolet hält.<br />
Dennoch ist es allgegenwärtig: Von<br />
Kairo bis Köln, von Istanbul bis London,<br />
<strong>10</strong>0<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Anzeige<br />
„Viele Muslime<br />
fassen Glauben<br />
und Spiritualität<br />
als Lifestyle auf.<br />
Das äußert sich<br />
in ihrer Mode“<br />
Langston Hues, Modeblogger<br />
von modeststreetfashion.com<br />
schlicht in Schwarz oder in leuchtenden<br />
Farben kunstvoll drapiert. Die vagen<br />
Formulierungen des Koran lassen<br />
viel Raum für Interpretationen. Diese<br />
reichen vom iranischen Tschador, der<br />
Kopf und den gesamten Körper verhüllt,<br />
über die afghanische Burka, die der Trägerin<br />
nur den Blick durch ein Stoffgitter<br />
vor den Augen ermöglicht, bis hin zu<br />
vielen Varianten des Kopftuchs, das mit<br />
moderner Kleidung kombiniert wird: In<br />
der Türkei ist der Amira-Stil beliebt, bei<br />
dem das Tuch über einem breiten Haarband<br />
getragen wird, in Nordafrika bevorzugen<br />
Frauen den locker gebundenen<br />
Shayla-Stil und drapieren das Tuch<br />
mit Stecknadeln um Kopf und Schultern.<br />
Kaum ein Kleidungsstück weckt so kontroverse<br />
Assoziationen wie das Kopftuch.<br />
Zeichen der Unterdrückung und Abgrenzung<br />
oder religiöses Symbol und Identitätsmerkmal<br />
– für jeden verbirgt sich etwas<br />
anderes unter dem Stoff, aus dem die<br />
Diskussionen sind.<br />
Selma Elaimy und Aysha Marzouk<br />
kennen diese Debatten. Im Alltag beschäftigt<br />
sie jedoch eine andere Frage:<br />
Wie modisch darf Verhüllung sein? Im Internet<br />
bietet ein Universum fantasievoller<br />
Blogs Antworten. Junge Musliminnen<br />
präsentieren hier ihre eigenen Versionen<br />
von Hijab-Mode. Da wird das Tuch zum<br />
Turban oder im klassischen Stil gebunden,<br />
mit Jeans und Sneakers oder zu Haremshose<br />
und Blazer kombiniert. Nicht<br />
zu eng, nicht zu kurz, nicht zu offenherzig<br />
– das sind die Regeln der Hijabistas,<br />
der muslimischen Variante der Fashionistas.<br />
So werden Frauen, die sich für Mode<br />
interessieren und für Fotografen posieren,<br />
in der Welt der Streetblogs genannt.<br />
„Das Internet beschleunigt den<br />
Trend, islamische Mode mit westlichen<br />
Einflüssen zu vermischen“, sagt Reina<br />
Lewis, Professorin am London College of<br />
Fashion. Das Phänomen könne man seit<br />
etwa zehn <strong>Jahre</strong>n vor allem in London,<br />
Amsterdam oder New York beobachten:<br />
„Töchter muslimischer Einwanderer<br />
wachsen in der hiesigen Konsumkultur<br />
auf. An dieser wollen sie teilhaben<br />
und gleichzeitig ihre kulturellen Hintergründe<br />
bewahren.“ Dies falle Frauen<br />
der zweiten und dritten Einwanderergeneration<br />
leichter als ihren Müttern und<br />
Großmüttern: „Sie sind gebildet, sprechen<br />
mehrere Sprachen, haben Zugang<br />
zu Medien und Konsum.“<br />
Reina Lewis ist von der politischen<br />
Bedeutung des Trends überzeugt. „Es<br />
mag zunächst trivial klingen, weil es um<br />
Mode geht. Doch genau diese Mode kann<br />
sich positiv auf Integrationsprozesse auswirken.“<br />
Die jungen Frauen sind ein aktiver,<br />
sichtbarer Teil der Gesellschaften,<br />
in denen sie leben. Durch den Mix islamischer<br />
Mode mit globalen Trends und<br />
Elementen verliert das Kopftuch seine<br />
abgrenzende Funktion. Über religiöse<br />
und kulturelle Grenzen hinweg entsteht<br />
ein Austausch auf Basis der Mode. Beim<br />
Fachsimpeln über Kleidung und Accessoires<br />
spielt das Kopftuch keine Rolle.<br />
Ablehnung und Argwohn weichen der<br />
Neugier.<br />
DAS GLAUBT AUCH die Bloggerin Tasnim<br />
Baghdadi aus Köln. Vor anderthalb <strong>Jahre</strong>n<br />
entdeckte die 25 <strong>Jahre</strong> alte Muslimin<br />
den Turban für sich und erlebte positive<br />
Reaktionen: „Der Turban weckt andere<br />
Assoziationen als das klassische Kopftuch.“<br />
Statt an eine unterdrückte Frau<br />
denke man an Stilikonen wie Grace Kelly,<br />
die in den sechziger <strong>Jahre</strong>n Turban trug.<br />
Auch die Silhouette, die Hals und Schultern<br />
erkennen lässt, sei dem westlichen<br />
Auge vertrauter als versteckte Konturen.<br />
„Der Turban-Look rückt das Prinzip<br />
der Bedeckung plötzlich in ein positives<br />
Licht“, sagt Baghdadi.<br />
Seit sie 14 ist, bedeckt sie ihr Haar –<br />
zunächst aus religiösen Gründen und<br />
weil es in ihrer marokkanischen Familie<br />
so üblich war. Später kamen andere<br />
Motive hinzu: „Das Kopftuch hat auch<br />
eine feministische Dimension. Es bedeckt<br />
die Reize und zwingt den Betrachter, die<br />
Persönlichkeit jenseits der Optik wahrzunehmen.“<br />
Baghdadi experimentiert gern:<br />
Ihr Monopol<br />
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Gerhard<br />
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<strong>10</strong>1<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
ALAA ELHAREZI, Chicago
Foto: privat (Autorin)<br />
„Genau diese<br />
Mode kann sich<br />
positiv auf<br />
Integrationsprozesse<br />
auswirken“<br />
Reina Lewis, Professorin am London<br />
College of Arts und Veranstalterin<br />
des Seminars „Faith and Fashion“<br />
Mal bindet sie ihr Tuch tief im Nacken,<br />
manchmal trägt sie auch Hut. Der Turban<br />
aber ist ihr Favorit.<br />
Auch Sonia Kefi liebt Turban. Darunter<br />
trägt die Kölnerin mit tunesischen<br />
Wurzeln ein „Ninja“: Die eng anliegende<br />
Kappe bedeckt Haare, Hals und<br />
Dekolleté. Kefi, Gründerin von „My Hijab“,<br />
einem der ersten deutschen Labels<br />
für moderne islamische Mode, hält sich<br />
an religiöse Bekleidungsregeln, interpretiert<br />
diese aber neu. Eine ihrer Kreationen<br />
ist das Kijab, eine Mischung aus Hijab<br />
und Kragen. Inspiriert vom Bubikragen,<br />
der im vergangenen Sommer ein Comeback<br />
erlebte, bedeckt Kefis Variante Hals,<br />
Schultern und Brustansatz, kann zu Kleidern<br />
oder Mänteln kombiniert werden.<br />
Ihre Entwürfe seien tragbar für Frauen<br />
mit und ohne Hijab, sagt die 25-Jährige:<br />
„Meine Mode spiegelt den Austausch zwischen<br />
verschiedenen Kulturen und Mentalitäten<br />
wider.“ Doch gerade weil der<br />
Turban oft auf den ersten Blick nicht als<br />
islamisch wahrgenommen wird, kritisieren<br />
ihn konservative Muslime.<br />
IN DUBAI, Abu Dhabi oder Riyad dominiert<br />
zum Beispiel ein einheitlicher Look.<br />
Zur schwarzen Abaya trägt frau schwarzes<br />
Kopftuch, nur die Formen variieren.<br />
Accessoires sind in den Shopping-Tempeln<br />
am Golf umso wichtiger: Unter den<br />
Abayas blitzen Designerschuhe mit abenteuerlich<br />
hohen Absätzen hervor, Handtaschen<br />
und Sonnenbrillen großer Labels<br />
lassen erahnen, was für Outfits sich erst<br />
unter den Gewändern verbergen.<br />
Viele Unternehmen wissen schon<br />
lange um dieses Potenzial: Gucci, seit<br />
1990 in der Region, ist allein in den<br />
Emiraten mit sechs Filialen vertreten,<br />
STIL<br />
Reportage<br />
die Türen der ersten Hermès-Filiale in<br />
Abu Dhabi öffneten sich 2012. Im Februar<br />
lud Hermès Kundinnen zu einer Modenschau<br />
in Dubai und begeisterte mit<br />
langen, weiten Schnitten aus fließenden<br />
Stoffen. Chanel zeigt seine diesjährige<br />
„Cruise Collection“ ebenfalls in Dubai.<br />
Die britische Designerin Hana Tajima,<br />
deren avantgardistische Hijab-Mode in<br />
Magazinen wie Elle zu sehen ist, überrascht<br />
die Emotionalität konservativer<br />
Kritiker ebenso wenig wie das große Interesse<br />
der Medien am Phänomen der Hijabista:<br />
„Alles, was Normen infrage stellt,<br />
fasziniert Menschen“, sagt die 26-jährige<br />
Tochter eines Japaners und einer Britin,<br />
die mit 17 zum Islam konvertierte. Viele<br />
Muslime müssten sich erst an das neue<br />
Bild der selbstbewussten Muslimin mit individuellem<br />
Stil gewöhnen – genau wie<br />
westliche Gesellschaften, die Musliminnen<br />
oft nur als fremdartige, homogene<br />
und unterdrückte Masse wahrnehmen.<br />
Hinter dem Hijabista-Phänomen verbirgt<br />
sich neben Liebe zur Mode auch die Auseinandersetzung<br />
junger Musliminnen mit<br />
Tradition und gesellschaftlichen Erwartungen.<br />
Reina Lewis spricht von einer offenen<br />
Subkultur, die sich nicht nur über<br />
Mode ausdrückt: Pop-Superstar Yuna aus<br />
Malaysia tourte gerade mit Turban durch<br />
Europa. Shelina Janmohamed aus London<br />
schrieb mit „Love in a Headscarf“ das<br />
Buch zur Bewegung, die Berlinerin Soufeina<br />
Hamed wird in den Medien für ihre<br />
Comics über den Alltag mit Kopftuch gefeiert.<br />
Mayam Mahmoud ist als Ägyptens<br />
erste Rapperin mit Hijab gleichermaßen<br />
erfolgreich und umstritten.<br />
In Istanbul sind die Fotos von Selma<br />
Elaimy mittlerweile im Kasten, das<br />
nächste Model ist Aysha Marzouk. Die<br />
skeptischen Blicke der Passanten sind<br />
nicht zu übersehen, dennoch strahlt sie<br />
in die Kamera, ihre Piercings blitzen im<br />
Sonnenlicht. Sie sei ein gutes Beispiel für<br />
die Frauen, die er weltweit fotografiert,<br />
sagt Langston Hues: „Sie allein entscheiden,<br />
was sie tragen.“<br />
Sie werden weiterhin den Diskussions-Stoff<br />
Kopftuch neu inszenieren.<br />
KATHARINA PFANNKUCH,<br />
freie Autorin, lernte bei dieser<br />
Recherche, dass religiöse<br />
Grenzen keine Rolle spielen,<br />
wenn Frauen Mode diskutieren<br />
<strong>10</strong>3<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014<br />
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Otto<br />
Dix<br />
Der Krieg<br />
Das Dresdner<br />
Triptychon<br />
www.skd.museum<br />
Albertinum<br />
5. April – 13. Juli<br />
2014<br />
Otto Dix, Der Krieg (Triptychon), rechte Tafel, Detail, 1929 - 1932, Öl auf Holz, Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, © VG Bild-Kunst Bonn und Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 2014
STIL<br />
Wolfgang Joop<br />
ECHT WOW!<br />
Von ANKE SCHIPP<br />
Es kommt durchaus vor, dass Wolfgang Joop donnerstagsabends<br />
auf ProSieben etwas Kluges sagt. Wenn er<br />
zum Beispiel Thomas Hayo auf eine Tautologie aufmerksam<br />
macht. Oder wenn er mit sicherem Strich die Kandidatinnen<br />
auf einem Block skizziert und treffend ihre Charaktere<br />
analysiert. Heidi, Thomas und die Mädchen machen<br />
dann „Aah“ und „Ooh“. Nur mutet das Ganze irgendwie an,<br />
als wäre Joachim Gauck zu Besuch<br />
in einer Brennpunktschule, und die<br />
Schüler würden denken, ja, schon<br />
krass, was der Alte so macht – um<br />
sich dann wieder schnell ihrem Alltag<br />
zu widmen, also mit dem Smartphone<br />
spielen, Kumpels verkloppen,<br />
die Samantha aus der 8b mobben.<br />
Vermutlich hat Joop die Diskrepanz<br />
zwischen sich, den Mädchen,<br />
Happy-Heidi und dem nicht gerade<br />
um Reflexion bemühten Thomas<br />
Hayo erkannt, als er im Februar als<br />
Juror bei „Germany’s next Topmodel“<br />
einstieg. Hilflos haspelte er sich<br />
durch die ersten Sendungen, dann<br />
aber passte er sich an und wechselte<br />
rhetorisch in das Mode-Gebrabbel,<br />
das er nach Jahrzehnten<br />
im Modezirkus perfekt beherrscht:<br />
Wow! So sweet! Oh my God! Ein toller<br />
Look! Echt wow! Heidi nennt er<br />
längst „Darling“, die Mädchen sind<br />
jetzt „seine“ Mädchen, und wenn eine rausfliegt, heult Wolfi<br />
mit, weil er selbst zwei Töchter hat und ihm das so wahnsinnig<br />
zu Herzen geht. Neulich hatte ein Mädchen Geburtstag,<br />
und Wolfi schlug mit einem Geburtstagskuchen in der Modelvilla<br />
auf, half beim Kerze-Auspusten und sang krächzend<br />
„Happy Birthday“. Der Mann ist angekommen im Format.<br />
Aber das hat seinen Preis.<br />
Nehmen wir Karl Lagerfeld, der andere große deutsche<br />
Designer – noch größer als Joop, aber mit vergleichbarer Intelligenz.<br />
Der sagte unlängst, dass er Facebook und Twitter<br />
stupide finde, obwohl er sich für alles Neue interessiere.<br />
Nur: „Ich bin der Professor, der das Insekt betrachtet, nicht<br />
das Insekt selbst.“<br />
Genau darin liegt Joops Problem. Plötzlich ist er, der Eloquente,<br />
der Belesene, der Bissige, Teil einer dubiosen Welt,<br />
die er vor zwei <strong>Jahre</strong>n noch kritisiert hat. Modedesigner<br />
bringen Quote, das hat vermutlich auch ProSieben erkannt,<br />
seit Guido Maria Kretschmer als netter Schwuler auf RTL2<br />
älteren Damen Modetipps gibt, und Harald Glööckler als<br />
eine Mischung aus schwulem Wrestler und Botox-Reinkarnation<br />
König Ludwigs II. Reality-Fernsehen macht. Mehrmals<br />
schon hatte ProSieben deshalb bei Joop angefragt. Vor<br />
zwei <strong>Jahre</strong>n kommentierte er noch kühl: „Dieser Exhibitionismus<br />
und dieses Vorführen junger<br />
Mädchen ist nicht mein Stil.“ Warum<br />
also jetzt? Braucht er das Honorar?<br />
Geht es um Geltungsdrang? Oder um<br />
Product-Placement für seine schwächelnde<br />
Marke „Wunderkind“? Seine<br />
Begründung ist so banal wie blöd: Er<br />
habe dem kalten Winter entfliehen<br />
und ein paar Monate in L. A. verbringen<br />
wollen, wo der Großteil der<br />
Dreharbeiten stattfindet.<br />
Den Rest redet er sich schön:<br />
Er bewundere die Professionalität<br />
von Heidi, er liebe es, den Mädchen<br />
die Welt der Mode zu erklären.<br />
Die Mädchen, die seine Enkelinnen<br />
sein könnten und in der Sendung<br />
vermutlich zum ersten Mal seinen<br />
Namen gehört haben, seien ihm ans<br />
Herz gewachsen. Dafür knutschen<br />
sie ihn so lange ab, bis sein ganzes<br />
Gesicht von Kussmündern übersät<br />
ist und Gouvernanten-Heidi tadelt:<br />
„Wie siehst denn du aus? Hat mal einer nen Waschlappen?“<br />
Dass er mehr drauf hat als sie, ahnt vermutlich auch<br />
die plappernde Barbiepuppe. In den Medien wird er schon<br />
als der heimliche Star der Sendung gefeiert. Nur muss man<br />
sich vor Augen führen, was das für ein Erfolg ist, den er mit<br />
69 <strong>Jahre</strong>n errungen hat: Er ist der Lichtblick in der neunten<br />
Staffel einer Castingshow, die vorgibt ein Topmodel zu suchen,<br />
in Wahrheit aber nur über drei Monate hinweg einen<br />
Zickenkrieg inszeniert, der Quote bringen soll. Schon in der<br />
ersten Sekunde nach dem Finale wird die komplette Staffel<br />
vergessen sein. Und Joop hat nicht mehr als jene Aufmerksamkeit<br />
bekommen, die jedes Fernsehsternchen bekommt,<br />
bevor es verglüht.<br />
ANKE SCHIPP ist Redakteurin mit Schwerpunkt Mode bei der<br />
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung<br />
Plötzlich ist der eloquente, belesene, bissige Joop Teil<br />
einer dubiosen Welt, die er vor zwei <strong>Jahre</strong>n noch kritisiert hat<br />
Foto: Hannelore Förster/Getty Images<br />
<strong>10</strong>4<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
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Özlem Topçu, Istanbul<br />
Ich schreibe für<br />
DIE ZEIT<br />
Özlem Topçu ist Politikredakteurin. Wir begegnen ihr in Istanbul – auch das noch, jetzt haben wir alle Klischees beisammen: Eine<br />
Türkin schreibt über Türken, Treffpunkt Bosporus. Ist das jetzt ein Schritt nach vorne oder einer zurück, wenn ausgerechnet jemandem<br />
wie ihr die Aufgabe zufällt, uns die Türkei zu erklären? Niemand werde gern auf nur eine Identität reduziert, sagt die Journalistin.<br />
Wie sie mit solchen Schubladen umgeht, wie ihr Fazit aussieht, schildert sie im Film.<br />
Autoren der ZEIT im Filmporträt<br />
www.fuer-die-zeit.de
STIL<br />
Interview<br />
„MERKEL<br />
FRISIERT<br />
SICH<br />
EINE<br />
KRONE“<br />
Haare sind<br />
Schmuck – allerdings<br />
nur, wenn<br />
sie richtig sitzen.<br />
Der Autor Steen<br />
T. Kittl untersucht<br />
die Beziehung<br />
zwischen Mensch<br />
und Frisur<br />
Steen T. Kittl<br />
ist 44 <strong>Jahre</strong> alt, lebt als freier<br />
Autor in Berlin und arbeitet<br />
außerdem als Kreativberater in<br />
der Werbung. „Du hast die Haare<br />
schön“ ist bei Dumont<br />
erschienen und setzt sich mit<br />
dem zeitgenössischen Schönheitswahn<br />
auseinander<br />
Herr Kittl, für Ihr neues Buch „Du hast<br />
die Haare schön“ sind Sie und Ihr Koautor<br />
Christian Saehrendt auf Recherchereise<br />
gegangen. Sie haben sich<br />
in deutschen Salons frisieren lassen,<br />
meist inkognito. Ein ganzes Buch über<br />
Haare – ist das nicht an den Haaren<br />
herbeigezogen?<br />
Steen T. Kittl: Die Idee zu dem Buch<br />
kam uns, als die Show „Germany’s next<br />
Topmodel“ erstmals ausgestrahlt wurde.<br />
Alle aus unserem Freundeskreis schauten<br />
sich die Show damals an, aber lästerten<br />
trotzdem fürchterlich. Und auf<br />
einmal debattierten alle über Schönheit,<br />
Selbstoptimierung, Oberflächendesign –<br />
und Haare gehören dazu. Wir vergleichen<br />
uns mit unwahrscheinlich schönen<br />
Menschen, die uns die Medien präsentieren.<br />
Wir sind kritische Beobachter dieses<br />
Schönheitskults, aber auch Protagonisten<br />
im gleichen System. Der Druck steigt.<br />
Auch auf Männer?<br />
Man bemerkt die forcierten Schönheitsbemühungen<br />
der Männer jedenfalls<br />
auch im Friseursalon. Männlichen Kunden<br />
wird inzwischen oft angeboten, sich<br />
die Augenbrauen korrigieren zu lassen.<br />
Es stößt zwar kein Mann die Salontüre<br />
auf und ruft: „Ich will meine Haare färben“,<br />
aber er setzt sich hin und sagt etwas<br />
wie: „Meine Güte, sehe ich alt aus.“<br />
Dann weiß der Friseur, dass er ein Angebot<br />
machen kann, das Gesicht durch<br />
Farbe frischer wirken zu lassen. Bei Männern<br />
läuft das diskret. Man wird ja auch<br />
heute nicht mehr zwangsläufig mit einem<br />
Turm aus Alufolie auf dem Kopf gefärbt,<br />
es gibt dezente Techniken, etwa<br />
Tönungen, die beim Waschen aufgetragen<br />
werden.<br />
Warum stehen Männer nicht einfach<br />
dazu?<br />
Feminin codierte Praktiken gelten<br />
beim Durchschnitt immer noch als fragwürdig.<br />
Gerhard Schröder hat damals<br />
sogar eine einstweilige Verfügung erwirkt,<br />
um zu verhindern, dass Medien<br />
behaupten, er habe sich die Haare gefärbt.<br />
Wenn man sich die männliche Bevölkerung<br />
in seinem Alter anschaut, haben<br />
viele gefärbte Haare. Berlusconi ist<br />
mit seiner Rundumerneuerung offensiv<br />
umgegangen. Er hat das als disziplinarische<br />
Maßnahme an sich selbst vor den<br />
Medien zelebriert. Dies hat auch Frau<br />
Merkel unter Druck gesetzt, ihr Äußeres<br />
zu verändern.<br />
Inzwischen trägt sie eine Art Helm, der<br />
ihre weichen Gesichtszüge in einem<br />
kantigen Rahmen inszeniert.<br />
Psychologen würden wahrscheinlich<br />
von einer symbolischen Krone sprechen,<br />
die für sie entwickelt wurde: Die Kanzlerin<br />
hat sich krönen lassen. Die Frisur<br />
verleiht ihr etwas Erhabenes. Es war ein<br />
Prozess über Monate, bis sie dort ankam.<br />
Ich würde mich nicht wundern, wenn sie<br />
jeden Tag geföhnt wird. Nun hat sie keine<br />
Frisur mehr, mit der man morgens aufwacht,<br />
sondern eine Frisur, die täglich<br />
hergestellt werden muss.<br />
Wie gefällt Ihnen eigentlich die neue Frisur<br />
der Verteidigungsministerin?<br />
Bei Frau von der Leyen war die Inspiration<br />
„Frische Brise“ oder die eingefrorene<br />
Cabriofrisur. Das soll wohl dynamisch<br />
wirken. Doch wenn sie sich bewegt,<br />
wirkt es steif, man erkennt, dass etwas<br />
fixiert ist, mit Haarspray. Die Bewegung<br />
des Körpers wird missachtet. Ihre alte<br />
Steckfrisur hat mir besser gefallen, sie<br />
war nicht unbedingt ästhetisch ansprechender,<br />
funktionierte aber als Alleinstellungsmerkmal<br />
für eine Politikerin.<br />
Die einzige andere Frau mit der gleichen<br />
Frisur war Elfriede Jelinek. Jetzt<br />
ist die Frisur der Verteidigungsministerin<br />
austauschbar.<br />
Die Frisur von Hillary Clinton wurde bereits<br />
während ihrer Zeit als First Lady<br />
kommentiert: zu kurz, zu lang, zu bieder,<br />
zu jugendlich, zu toupiert. Dann<br />
erteilten ihr die Medien sogar ein<br />
Pferdeschwanz-Verbot.<br />
Sie band den Pferdeschwanz mit<br />
dem falschen Haargummi, ein sogenanntes<br />
Scrunchie, wie es in den Neunzigern<br />
beliebt war. Die Medien machten<br />
daraus ein Scrunchie-Gate. Dass Clinton<br />
als Außenministerin durch verschiedene<br />
Klimazonen flog, deswegen zwangsläufig<br />
verknittert im Flugzeug saß und sich vor<br />
der Kamera mit einem Pferdeschwanz<br />
behalf, wurde ihr übel genommen. Da<br />
geht es auch um Disziplin.<br />
Wir Deutschen lassen unseren Politikern<br />
aber mehr durchgehen!<br />
Fotos: Privat (Autor), DDP Images, Kay Nietfeld/Picture Alliance/DPA, Jochen Lübke/DDP Images/DAPD, Picture Alliance/DPA/Photoshot<br />
<strong>10</strong>6<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Nicht unbedingt. Joschka Fischer<br />
ist dafür das historische Beispiel. Es gab<br />
2005 Schlagzeilen wie: „Ist Joschka Fischer<br />
zu dick für den Wahlkampf?“ Mit<br />
schlecht sitzenden Anzügen wird auch<br />
immer gerne eine Reportage eröffnet.<br />
Trittins Schnurrbart war Thema, Thierses<br />
Fusselbart. Und wenn man sich Katrin<br />
Göring-Eckardts Verwandlung anschaut,<br />
ihren Weg vom Bürstenschnitt zum langen<br />
Powerhaar, der weiblichen starken<br />
Mähne, mit dem Erklimmen der grünen<br />
Spitze, lässt das vermuten, dass auch unsere<br />
Politiker das Oberflächendesign inzwischen<br />
sehr ernst nehmen. Glauben Sie<br />
mir, wenn Frau Merkel zu ihrer alten Frisur<br />
zurückkehren würde, gäbe es viele<br />
Fragezeichen in den Gazetten.<br />
Anton Hofreiter.<br />
Ich bin gespannt, was sich da noch<br />
tun wird, ob er das bis zur nächsten Wahl<br />
durchziehen wird. Männer und lange<br />
Haare – da tickt sowieso die Uhr. Nicht<br />
jeder Mann kann bis ins Alter würdevoll<br />
lange Haare oder Pferdeschwanz tragen<br />
wie Karl Lagerfeld.<br />
die offensichtlich stundenlang in der<br />
Maske drapiert und mit Kunsthaar getunt<br />
wurden.<br />
So wie die New Yorker Wohnungen<br />
in Romantikkomödien immer unglaublich<br />
riesig sind, sind auch die Haare der<br />
Damen immer dicht, lang und glänzend.<br />
Das sind Genregesetze. Wenn wohlhabende<br />
Amerikaner Herzschmerz haben,<br />
will das Millionenpublikum träumen und<br />
keine beengten Wohnungen sehen. Oder<br />
lichtes Frauenhaar.<br />
Sie sagen, jeder hat ein besonderes Verhältnis<br />
zu seinen Haaren. Selbst wenn<br />
er keine mehr hat.<br />
Bei den Männern herrscht die große<br />
Angst vor der Glatze. Dabei sieht eine<br />
Glatze mit der richtigen Kopfform toll<br />
aus. Oder man macht dann auf Typ.<br />
Selbst mit einer Kopfform wie Bert kann<br />
das markant aussehen, wenn das Drumherum<br />
stimmt und man das Ganze mit<br />
Würde trägt. Frauen haben ab 40 diffusen<br />
Haarausfall, dann müssen die Haare<br />
schick arrangiert oder andere Ablenkungsmaßnahmen<br />
ergriffen werden.<br />
Wir sollten auch über Bärte sprechen.<br />
In dem Moment, in dem ein Trend<br />
in der Werbung allpräsent ist, ist er auch<br />
schon wieder vorbei. Das war mit den<br />
Wuschelfrisuren und Kreativschals bei<br />
Männern so und jetzt wird es so mit den<br />
Bärten sein. Schade, dass sich vor <strong>Jahre</strong>n<br />
dieser Trend zu ornamentalen Bartmustern<br />
nicht durchgesetzt hat; die Evolution<br />
dieses Styles hätte mich interessiert.<br />
Aber auf viele wirkt Neues gleich manieriert.<br />
Dem Gusto der privilegierten Milieus<br />
entspricht das nicht. Da muss alles<br />
natürlich aussehen.<br />
Ihre Recherchen haben Sie auch nach<br />
Miami geführt. Was haben Sie da<br />
beobachtet?<br />
Zum Beispiel, dass Kurzhaarfrisuren<br />
bei Frauen in Amerika und gerade in Miami<br />
immer noch ein Statement sind. Damit<br />
wird eine Frau schon fast als alternativ<br />
wahrgenommen. Die „normale Frau“<br />
in den USA trägt ihr langes Haar blondiert<br />
und natürlich hohe Absätze.<br />
Fast wie die Darstellerinnen der Romantikkomödien.<br />
Ich moniere mangelnden<br />
Realismus, wenn man nur Mähnen sieht,<br />
„Powermähnen bei Frauen lassen<br />
vermuten, dass Politiker das<br />
Oberflächendesign inzwischen<br />
sehr ernst nehmen.“ Fallbeispiele<br />
von oben: Runderneuerter<br />
Berlusconi, gekrönte Merkel, von<br />
der Leyen noch mit Steckfrisur<br />
sowie Clinton mit Pferdeschwanz,<br />
der ihr schwer verübelt wurde<br />
Friseure schneiden ja heute nicht mehr<br />
nur Haare, sie kreieren Frisuren und<br />
nennen sich auch Art-Direktoren und<br />
Top-Stylisten.<br />
Und es gibt Blow Dry Bars in den<br />
Großstädten, wo man sich auf einen Espresso<br />
zwischendurch föhnen lassen<br />
kann. Um die Ecke Wax and the City<br />
zur Haarentfernung mit Heißwachs und<br />
daneben Botox to go. Oberflächendesign<br />
gehört zum Alltag.<br />
Hatten Sie auf dem Friseurstuhl auch<br />
deprimierende Erlebnisse?<br />
Ich war in Berlin-Lichtenberg im<br />
Dong Xuan Center, ein asiatisch geprägtes<br />
Einkaufsparadies. Europäisches Haar<br />
ist aus der Sicht von Asiaten schwaches<br />
Haar. Ich habe dem Friseur nur gesagt,<br />
„etwas kürzer, bitte“. Dann kam ich mit<br />
einem raspelkurzen GI-Schnitt aus dem<br />
Salon. Der Friseur betrachtete mich mitleidig,<br />
nach dem Motto: „Aus den Haaren<br />
kann man einfach nicht mehr rausholen<br />
als den Militärlook.“ Danach habe<br />
ich bunte Schals getragen, um das zu<br />
konterkarieren.<br />
Das Gespräch führte LENA BERGMANN<br />
<strong>10</strong>7<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
WARUM<br />
ich trage,<br />
WAS<br />
ich trage<br />
KATRIN BAUERFEIND<br />
STIL<br />
Kleiderordnung<br />
Foto: Tibor Bozi<br />
Ehrlich gesagt, manchmal erkenne<br />
ich mich selbst nicht wieder. In diesem<br />
roten Kleid zum Beispiel. Die<br />
Betonung liegt zu sehr auf „Frau“. Wenn<br />
man dazu noch raucht, macht man den<br />
Vamp und ein Versprechen, das man vielleicht<br />
gar nicht halten will. Im Kapuzenpulli<br />
mache ich keine Versprechen.<br />
Ich betrachte die Welt gerne aus der<br />
Kapuzenpulli-Perspektive. In Turnschuhen.<br />
Ich mag es lieber klassisch als klamaukig,<br />
lieber schlicht als schrill und<br />
sehr viel lieber langweilig als laut. Doch<br />
so kann man sich nicht auf einem Buchcover<br />
zeigen oder moderieren.<br />
Und ja, ich stehe dazu, dass ich mir<br />
das Rauchen noch nicht abgewöhnt habe,<br />
sondern schön gescheitert bin. Um das<br />
Scheitern geht es auch in meinem Buch.<br />
Ich finde, wir sollten uns nicht dem Optimierungswahn<br />
unterwerfen. Man sollte<br />
auch mal wieder unperfekt sein dürfen.<br />
Was meine Klamotten aussagen, darüber<br />
mache ich mir privat keine Gedanken.<br />
Wenn ich ein T-Shirt trage, trage ich<br />
ein T-Shirt. Es gibt ja Leute, die einem<br />
durchaus etwas sagen wollen, mit einem<br />
T-Shirt: Wer sie sind und wo sie stehen.<br />
Sie tragen ihre Klamotten aus Überzeugung.<br />
Ich trage meine Klamotten, weil<br />
man nicht nackt aus dem Haus geht.<br />
Wenn überhaupt, finde ich es spannend,<br />
Zwölf-Zentimeter-Absätze zu tragen<br />
und wie eine Tussi auszusehen. Ein<br />
Kontrast, der mir gefällt. Wenn dann jemand<br />
am Ende eines Abends sagt: „Ach,<br />
du bist gar keine Tussi!“, empfinde ich<br />
das als Kompliment.<br />
Es gibt ja Frauen, die immer toll angezogen<br />
sind, die einen kreativen Mix<br />
beherrschen, der funktioniert. Mir fällt<br />
zu einer Bluse im Laden nichts ein. Jedenfalls<br />
nicht: Die passt wunderbar zu<br />
Katrin Bauerfeind, 31, moderiert<br />
auf 3sat „Bauerfeind assistiert“.<br />
Ihr Buch „Mir fehlt ein Tag<br />
zwischen Sonntag und Montag“<br />
erschien soeben im Fischer-Verlag<br />
meiner lila Hose! Da habe ich kein Talent.<br />
So was ist angeboren. Wofür ich ein Talent<br />
habe, ist bei minus drei Grad barfuß<br />
Ballerinas zu tragen, mich bei 30 Grad<br />
schwarz zu kleiden und vorsichtshalber<br />
noch eine Jacke einzupacken.<br />
Von großen fetten Schriftzügen habe<br />
ich mich inzwischen emanzipiert. In<br />
meiner Kleinstadt war es in meiner Jugend<br />
extrem wichtig, wer was trägt. Es<br />
ist ja schlimm, was den Kindern in den<br />
Neunzigern angetan wurde, musikalisch<br />
und modisch. Es mussten Bomberjacke,<br />
Schlaghose, Boots von Buffalo sein. Bloß<br />
nicht in den Deichmann-Tretern ankommen!<br />
Markenklamotten waren eine sichere<br />
Bank. Es gibt ja so ein paar Sachen<br />
im Leben, da weiß man einfach, man positioniert<br />
sich gerade richtig. Zum Beispiel<br />
darf man ja momentan über Uli Hoeneß<br />
nicht sagen: „Er hat doch auch viel Gutes<br />
getan.“ Damit man nicht aneckt, muss<br />
man sagen: „Also, man muss schon seine<br />
Steuern zahlen!“ So war das auch mit den<br />
Klamotten in meiner Jugend – mit den<br />
richtigen Marken habe ich mir die Zustimmung<br />
der breiten Masse gesichert.<br />
Aufgezeichnet von LENA BERGMANN<br />
<strong>10</strong>8<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
SALON<br />
„ Der Erste Weltkrieg<br />
war ein Weltkrieg,<br />
weil es um den Besitz<br />
der Welt ging “<br />
Der Historiker Jörg Friedrich über die globale Dimension und die<br />
Spätfolgen des Krieges von 1914 bis 1918, Interview ab Seite 114<br />
<strong>10</strong>9<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
IHRE EPEN SIRREN KRAFTVOLL<br />
Die amerikanische Schriftstellerin Donna Tartt inszeniert sich als unnahbare Sphinx.<br />
Alle zehn <strong>Jahre</strong> veröffentlicht sie einen umfangreichen Roman. Nun ist es wieder so weit<br />
Von PETER HENNING<br />
Foto: Beowulf Sheehan/Corbis<br />
Nein, da widerspricht sie energisch<br />
und schüttelt den akkurat frisierten<br />
Pagenkopf: „Nein, ich würde<br />
mich nicht als Eremitin bezeichnen. Eher<br />
als Einzelgängerin, oder, wenn Sie so<br />
wollen, als Mönch.“ Was sie suche, seien<br />
Einkehr und das Zwiegespräch mit sich<br />
selbst, nicht Ablenkung und Zerstreuung.<br />
Folgerichtig pflegt Donna Tartt nur wenige<br />
enge Freundschaften und verlässt<br />
ihr New Yorker Apartment nur, wenn es<br />
unumgänglich ist. „Am liebsten nachts“,<br />
wie sie mit einem knappen Lächeln verrät.<br />
„Dann kann ich mich ungestört bewegen,<br />
ohne Angst haben zu müssen, erkannt<br />
zu werden.“<br />
Kaum etwas zu ihrer Biografie ist bekannt.<br />
Verlässlich dokumentiert scheinen<br />
über ihr Geburtsdatum, den 23. Dezember<br />
1963, und den Geburtsort Greenwood,<br />
Mississippi, hinaus lediglich ihre<br />
Studienaufenthalte an der Mississippi<br />
University und am Bennington College<br />
in Vermont sowie ihre Liaison mit dem<br />
Schriftstellerkollegen Bret Easton Ellis.<br />
Er war es auch, der ihr erstes Manuskript<br />
an die einflussreiche Literaturagentin<br />
Armanda Urban empfahl – und Donna<br />
Tartt damit den entscheidenden Schubs<br />
in Richtung Erfolg verpasste.<br />
Der Rest ruht im Dunkel geschickt<br />
gepflegter Geheimniskrämerei. „Was ich<br />
zu sagen habe, steht in meinen Büchern“,<br />
sagt sie, nippt an ihrer Tasse Tee und bewegt<br />
die rechte Hand wie einen Taktstock.<br />
„Wenn ich Lust auf ein Gespräch<br />
habe, greife ich zu einem guten Buch.<br />
Was ist ein Buch anderes als ein langer<br />
Dialog zwischen Autor und Leser?“<br />
Donna Tartt spricht halblaut und<br />
klar. Jede ihrer Bewegungen wirkt seltsam<br />
kontrolliert, beinahe einstudiert.<br />
Diese Frau will nichts dem Zufall überlassen.<br />
Alles an ihr wirkt ingenieurhaft austariert,<br />
bis hin zur exquisiten Kleidung,<br />
einem schwarzen, über Brust und Bauch<br />
von diversen Silberspangen gehaltenen<br />
Lederkostüm, in dem sie steckt wie ein<br />
General in seiner Uniform.<br />
So wirkt die Verfasserin von drei fast<br />
ziegelsteindicken, hochgelobten Bestsellern<br />
wie eine Besucherin aus einer anderen<br />
Welt. Eine Feldherrin im Wörterkrieg,<br />
der kein Gefecht zu lange währt. Zehn<br />
<strong>Jahre</strong> dauern ihre Schreibschlachten in<br />
der Regel; kräftezehrende und, wie sie<br />
sagt, nicht enden wollende Kontroversen<br />
um das passende Wort, das richtige Bild,<br />
den treffenden Ausdruck. Kämpfe, aus<br />
denen sie ausgezehrt und um jeweils eine<br />
Dekade gealtert hervorgeht – am Ende<br />
aber auch als Siegerin, welche die Einsamkeit<br />
der Langstreckenläuferin besser<br />
als jede andere kennt.<br />
IHR 1992 ERSCHIENENER ROMAN „Eine<br />
geheime Geschichte“, für den sie die<br />
gigantische Vorschusssumme von<br />
450 000 Dollar kassierte, schlug in der<br />
US-Literaturszene ein wie eine Serie<br />
Monsterblitze. Die rasant erzählte Geschichte<br />
neuenglischer Internatsstudenten,<br />
die für krude Ideale einen Mord<br />
begehen, machte den sogenannten Unterhaltungsroman<br />
feuilletonfähig.<br />
„Meine Bücher wurzeln in den Untiefen<br />
meines Bewusstseins“, sagt Donna<br />
Tartt, ohne dass eine Regung in ihrem<br />
makellosen Porzellangesicht erkennbar<br />
wäre. „Ich bin oft selbst überrascht, in<br />
welche Richtungen es mich führt.“ Das<br />
klingt, als flüsterten ihr finstere Geister<br />
die Stoffe ein. Das Resultat sind kraftvoll<br />
sirrende Epen wie ihr zweiter Bestseller<br />
„Der kleine Freund“ von 2003, in welchem<br />
sie das von düsteren Verwerfungen<br />
gezeichnete Leben der jungen Südstaatlerin<br />
Harriet Cleve zum Schauplatz ihres<br />
literarischen Exorzismus macht. Nun,<br />
abermals zehn <strong>Jahre</strong> später, folgt Tartts<br />
dritter, <strong>10</strong>22 Seiten starker Streich „Der<br />
Distelfink“: ein Buch, in dem sie Entwicklungsroman,<br />
Adoleszenzgeschichte<br />
und Kriminalroman zu einem Cocktail<br />
mischt, der nach wenigen Seiten Lektüre<br />
für einen Zustand aus Betäubung und<br />
gleichzeitiger Erleuchtung sorgt.<br />
Denn Tartt, die in ihrem Buch die<br />
wechselvolle Geschichte des 13-jährigen<br />
Theo Decker erzählt, macht es wie<br />
ihr erklärter Säulenheiliger Charles Dickens:<br />
Sie vermischt kritische Sozialstudie<br />
mit prallem Erzählen. Sie schickt ihren<br />
früh traumatisierten Protagonisten<br />
in eine wohlhabende weiße Familie, aus<br />
deren scheinheiliger Welt ihn sein tablettensüchtiger<br />
Vater kurzerhand entführt<br />
und ins Spielerparadies Las Vegas<br />
verschleppt. Dort lernt Theo die finsteren<br />
Abgründe Amerikas kennen. Carel<br />
Fabritius’ titelgebendes Gemälde „Der<br />
Distelfink“ führt schließlich ins Zentrum<br />
krimineller Interessen. Man muss<br />
das nicht mögen, vielleicht ist es nicht<br />
einmal große Literatur. Hat man sich allerdings<br />
eingelassen auf Tartts soghaftes<br />
Erzählen, gibt es kein Zurück mehr.<br />
So wird diese seltsam zerbrechlich<br />
wirkende literarische Unruhestifterin<br />
stoisch weiterschreiben in dem ihr eigenen<br />
Zehnjahresrhythmus. Wird Satz<br />
für Satz auf die Goldwaage legen. Kühl<br />
wie ein Ingenieur und mit einem großen<br />
Arsenal Fragen im Kopf. „Nur was mich<br />
interessiert und überrascht“, erklärt sie<br />
beim Abschied, „wird auch den Leser interessieren<br />
und überraschen. Ich schreibe<br />
nicht, weil ich etwas weiß, sondern um<br />
etwas zu erfahren.“ Und sie lacht. Auf<br />
ihre kalkulierte, eisig-schöne Art.<br />
PETER HENNING ist Schriftsteller.<br />
Obwohl er Donna Tartt schätzt, sind seine<br />
eigenen Romane (zuletzt „Ein deutscher<br />
Sommer“) nie umfänglicher als 600 Seiten<br />
111<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
HEY, WIDERSPRICH MIR DOCH<br />
Ein kleiner, gern in Weiß und Rosa gekleideter Mann mit näselnder Stimme weist der<br />
Rockmusik neue Wege. Jan Delay ignoriert seine Grenzen, weil er sie kennt<br />
Von THOMAS WINKLER<br />
Der Anzug: leuchtend weiß. Ebenso<br />
das Hütchen und der Rahmen der<br />
Sonnenbrille. Hemd, Krawatte,<br />
Einstecktuch, die Schuhe: alles in aufeinander<br />
abgestimmten Rosatönen. Man<br />
sollte bei Youtube gesehen haben, wie<br />
sich der so ausstaffierte Jan Delay auf<br />
den Weg nach Wacken machte, um einen<br />
Kulturschock auszulösen. Dort, im<br />
nördlichen Schleswig-Holstein, wo sich<br />
alljährlich im August 70 000 Menschen<br />
mit zotteligen Haaren, Jeans und schwarzen<br />
T-Shirts zum größten Metal-Festival<br />
der Welt zusammenrotten, traf der Mann<br />
im weißen Zwirn auf seine habituelle Antithese<br />
– und amüsierte sich prächtig.<br />
Ein gutes halbes Jahr später ist Jan<br />
Delay in Berlin, um sein Album „Hammer<br />
& Michel“ zu bewerben. Er trägt einen<br />
schlichten schwarzen Kapuzenpulli,<br />
fläzt sich auf dem Hotelzimmersofa und<br />
antwortet auf die Frage, ob ihm vor seinem<br />
Ausflug als bunter Paradiesvogel ins<br />
Reich der Satansjünger mit der schwarzen<br />
Kleiderordnung nicht der gut angezogene<br />
Arsch auf Grundeis gegangen sei:<br />
„No risk, no fun.“<br />
Jan Delay, geboren 1976 als Jan<br />
Phillip Eißfeldt. Weitere Pseudonyme:<br />
Boba Ffett, Eizi Eiz. Beruf: Popstar<br />
ohne Stimme. Status: Stilikone in einem<br />
Land, das unter der Stildiktatur<br />
von Heidi Klum ächzt. „Ich bin der wandelnde<br />
Widerspruch“, sagt Delay, „das<br />
ist mein Job.“<br />
Gemeint ist ein Widerspruch im doppelten<br />
Sinne. Die inneren Widersprüche,<br />
die es miteinander zu versöhnen gilt.<br />
Und der äußere gegen die herrschenden<br />
Verhältnisse. Niemandem hierzulande<br />
gelingt dieser Spagat – musikalisch, inhaltlich<br />
und in Modefragen – so überzeugend<br />
wie Jan Delay. Ausgerechnet dem<br />
Mann, der singt, als bräuchte er dringend<br />
eine Polypen-OP.<br />
Bestes Beispiel: „Hammer & Michel“.<br />
Auf dem neuen Album legt Delay nach<br />
ersten Erfolgen als Rapper, nach souveränen<br />
Solo-Erkundungen von Reggae und<br />
Funk die bislang unerwartetste musikalische<br />
Kehrtwende hin: Diesmal widmet<br />
er sich dem, wie er sagt, „classic rock“<br />
mit tiefer gelegten Gitarrenriffs, schwerblütigen<br />
Rhythmen und männlich konnotierten<br />
Ritualen. Doch Delay wäre nicht<br />
der Großmeister des Widerspruchs, gelänge<br />
es ihm nicht, der Rockmusik eine<br />
federnde Sexyness abzugewinnen.<br />
„HAMMER & MICHEL“ sei „ein geiles Wortspiel“.<br />
Man sollte nicht erwarten, dass<br />
in den zwölf Songs aktuelle Entwicklungen<br />
hinter dem ehemaligen eisernen Vorhang<br />
verhandelt werden. Stattdessen näselt<br />
Delay von Liebe und Vitaminen, von<br />
Günther Jauch, Uli Hoeneß und Pippi<br />
Langstrumpf, reimt „Volvic“ auf „Vollfick“.<br />
Das ist oft sinnfrei, durchsetzt von<br />
Insiderscherzen, spricht aber – hier wartet<br />
die nächste Kontradiktion – eine derart<br />
breite Masse an, dass Delay die größten<br />
Mehrzweckhallen der Republik füllt.<br />
Auf deren Bühnen wird er im Sommer<br />
wieder stehen, natürlich im schicken<br />
Anzug, und singend fragen: „Wohin mit<br />
all dem Hass?“ Er wird womöglich wieder<br />
kontroverse Äußerungen loslassen,<br />
wie früher, als er Widersprüchliches<br />
zur RAF mitteilte. Diesmal singt er<br />
über „Dicke Kinder“, und man könnte<br />
Reime wie „Und dass gutes Essen teuer<br />
ist, das ist eine Lüge / Für jede Tüte<br />
Chips kriegst du zwei Kilo Gemüse“ interpretieren<br />
als neoliberale Kritik an<br />
Hartz-IV-Empfängern.<br />
Er singt auch: „Mein altes Weltbild,<br />
ja, das liegt in Trümmern“, denn: „Baden-Württemberg<br />
ist grün, CSU ist Kernkraftgegner,<br />
während die Nazis für Palästina<br />
protestieren.“<br />
Die Welt hat sich verändert, aber die<br />
Musik kann helfen, sich zurechtzufinden.<br />
Er sei „dankbar, dass es früher, als ich<br />
aufgewachsen bin, einfacher war, eine<br />
Haltung zu entwickeln“. Deshalb, sagt er,<br />
„nervt mich das immer noch“, wenn Polizisten<br />
um ein Autogramm bitten. Nicht,<br />
weil er etwas gegen den Menschen hat,<br />
sondern weil er nicht verstehen kann,<br />
wie jemand, der seine Musik mag, sich<br />
entscheiden konnte, Polizist zu werden.<br />
Das ist ein Widerspruch, der sogar Delay<br />
irritiert. Mit dem er sich aber versöhnt.<br />
„Mittelfinger raus und zur Revolte aufrufen“,<br />
sagt er, während er die turnschuhbewehrten<br />
Füße auf den Tisch streckt, „aber<br />
eben auch locker machen, tanzen.“<br />
Dass es dem kleinen Mann mit dem<br />
großen Stilbewusstsein gelingt, diese Widersprüche<br />
auszuhalten, darin besteht<br />
sein Talent. Das Kunststück gelingt dank<br />
seiner schäbigen Stimme. „Stimme? Die<br />
ist doch egal“, sagt Jan Delay und hat<br />
nicht recht. Gerade weil sie nicht stark<br />
oder schön ist, sondern zerbrechlich, eine<br />
Allerweltsstimme, signalisiert sie eine<br />
Authentizität, die es möglich macht, sich<br />
als glamouröser Entertainer neu zu erfinden,<br />
ohne die als Rapper erworbene Authentizität<br />
einzubüßen.<br />
Es ist eine Stimme in der Tradition<br />
von Delays Vorbildern Rio Reiser und<br />
Udo Lindenberg, mit denen er nicht nur<br />
einen gewöhnungsbedürftigen Gesangsstil<br />
gemeinsam hat, sondern auch die seltene<br />
Fähigkeit, die deutsche Sprache poptauglich<br />
zu machen. So ist Jan Delays<br />
Stimme eine Stimme, die, gerade weil<br />
sie so schmuddelig klingt, leuchtet wie<br />
edler, sehr weißer Zwirn.<br />
THOMAS WINKLER ist Popkritiker, nennt<br />
aber keinen weißen Anzug sein Eigen.<br />
Mit Jan Delay hat er sich dennoch ganz<br />
prächtig unterhalten<br />
Foto: Dominik Butzmann/Laif [M]<br />
112<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
SALON<br />
Gespräch<br />
„EIN ZIVILISATIONSBRUCH“<br />
Was machte den Ersten Weltkrieg zum Weltkrieg? Ein Gespräch mit<br />
dem Publizisten und Historiker Jörg Friedrich, dessen Darstellung<br />
„14/18: Der Weg nach Versailles“ Anfang Mai erscheint<br />
114<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Fotos: AKG Images, Hans Scherhaufer (Autor)<br />
Machen wir es kurz, Herr Friedrich: Wer<br />
war schuld am Ersten Weltkrieg?<br />
Jörg Friedrich: Das deutsche Publikum<br />
ist schuldverliebt. Aber schuld ist<br />
jemand an einem Verkehrsunfall, nicht<br />
an dem gegenseitigen Abschlachten von<br />
Abermillionen Leuten.<br />
War der Erste Weltkrieg nicht der<br />
größte anzunehmende Verkehrsunfall<br />
der Geschichte?<br />
Stellen Sie sich vor: Alle Autos in<br />
Europa fahren mit Karacho aufeinander<br />
los. Sieht einer ein Auto, gibt er Vollgas<br />
und hält darauf zu. Die Autos sind bald<br />
Schrott, es werden neue gebaut – eigentlich<br />
nur noch Autos für Zusammenstöße,<br />
der Rest ist zweitrangig. Die nächsten<br />
Jahrgänge bekommen den Führerschein.<br />
Das läuft zwei, drei <strong>Jahre</strong> mit wachsender<br />
Wut. Fragen Sie danach, wer 1914 als<br />
Erster falsch geblinkt hat? Man will doch<br />
wissen, warum diese Menschen nicht aufhören.<br />
Wovon sind sie besessen? Um dieser<br />
Frage auszuweichen, sagt man, ein<br />
Schuldiger habe damit angefangen.<br />
Schuld ist keine historische Kategorie?<br />
Nein. Niemand fragt, wer schuld gewesen<br />
sein soll an der Reformation oder<br />
der Völkerwanderung. Das ist Quatsch.<br />
Im Krieg aber war die Frage von Belang.<br />
Die Schuldfrage gehört zur Propagandafront.<br />
Jede Regierung muss ihren<br />
Soldaten sagen, warum sie sie ins Sterben<br />
schickt. Krieg meint Töten und Sterben.<br />
Seine Materie sind das Herz und das<br />
Fleisch der Soldaten. Ist die Armee nicht<br />
mehr zum Sterben bereit, ist der Krieg<br />
beendet. Den Männern wird in Verdun<br />
gesagt, ihr seid hier, an einem militärisch<br />
letztlich unbedeutenden Platz, um<br />
zu sterben. Ihr verblutet nicht, weil die<br />
Regierung politisch friedensunfähig ist,<br />
sondern weil der Feind keine Wahl lässt.<br />
Am Ende hat man zehn Millionen Tote,<br />
und die Welt ist schlechter als vorher.<br />
Historiker nehmen Schuldzuweisungen<br />
vor. Sean McMeekin hat soeben in seinem<br />
Buch „Juli 1914“ das Zarenreich für<br />
den Ersten Weltkrieg verantwortlich<br />
gemacht. Deutsche Historiker wie Gerd<br />
Krumeich oder Volker Berghahn sehen<br />
die Hauptverantwortung bei Wilhelm II.<br />
oder „vor allem in Berlin und Wien und<br />
Jörg Friedrich<br />
„Der Brand. Deutschland<br />
im Bombenkrieg 1940–1945“<br />
wurde 2002 zum internationalen<br />
Erfolg und löste eine Historikerdebatte<br />
aus. Zuvor hatte<br />
der in Essen gebo rene Jörg<br />
Friedrich über „Das deutsche<br />
Heer in Russland 1941 bis 1945“<br />
und über den bundesrepublikanischen<br />
„Freispruch für die<br />
Nazi-Justiz. Die Urteile gegen<br />
NS-Richter seit 1948“ geforscht<br />
Indische Hilfstruppen unterstützten<br />
englische Soldaten.<br />
Eine Postkarte zeigt sie 1914<br />
weitaus weniger in London, Paris oder<br />
St. Petersburg“.<br />
An Torheiten Kaiser Wilhelms und<br />
an Brutalitäten des deutschen Oberkommandos<br />
mangelte es nicht. Ich muss meinen<br />
Kollegen insofern zustimmen, als es<br />
Wilhelm möglich gewesen wäre, seine<br />
Solidarität mit Österreich-Ungarn aufzukündigen.<br />
Aber eines hat er richtig<br />
gesehen. Österreich-Ungarn wollte mit<br />
den serbischen Nationalisten abrechnen,<br />
weil sie diesen ganz sympathischen<br />
Vielvölkerstaat abwracken wollten. Die<br />
schlauen Serben ließen sich aber auf eine<br />
politische Lösung ein, und Wilhelm sah<br />
darin am 28. Juli 1914 morgens einen<br />
glänzenden diplomatischen Sieg. Krieg<br />
sei nun überflüssig. Er wollte nicht nach<br />
Osten marschieren, gegen seinen Vetter,<br />
Zar Nicolai, nicht nach Westen, gegen die<br />
französische Republik, geschweige denn<br />
nach Norden, gegen die eigene Familie<br />
in England.<br />
Es kam anders.<br />
Deutschland hatte 1914 keine Ziele<br />
bei den Nachbarn. Es musste aber seinen<br />
Beistandsvertrag mit Österreich erfüllen.<br />
Sofern Russland sich in den österreichisch-serbischen<br />
Konflikt einmischte,<br />
bestand für Wilhelm sonnenklar Bündnispflicht.<br />
Diese hörte auf, als Serbien zu<br />
99 Prozent eingelenkt hatte. Da machten<br />
die Russen jedoch schon seit zwei Tagen<br />
mobil. Alle Parteien hätten am 29.<br />
und 30. Juli bequem aussteigen können,<br />
aber jeder machte Ernst, aus der Angst,<br />
sonst zu verlieren. Das war das Hauptmotiv<br />
Wilhelms.<br />
Wie erklären Sie sich bei so viel Friedensliebe<br />
in Berlin die berühmte Aussage des<br />
Generalstabschefs Moltke vom Mai 1914,<br />
es bleibe „nichts anderes übrig, als einen<br />
Präventivkrieg zu führen“, ehe „die<br />
militärische Übermacht unserer Feinde“<br />
zu groß geworden sei?<br />
Präventivkrieger gibt es überall, damals<br />
wie heute. Die Militärs haben einen,<br />
wie sie meinen, genialen Plan in der<br />
Schublade und wollen losschlagen, solange<br />
die Chancen gut stehen. Nur wollten<br />
Kaiser Wilhelm und sein Kanzler<br />
Bethmann Hollweg Ende Juli eben nicht<br />
marschieren, solange sie sich sicher sein<br />
konnten, dass die andern nicht marschieren.<br />
Dann kam Moltke, wusste, dass die<br />
Russen schon unterwegs waren, und fand<br />
die Gelegenheit günstig.<br />
In der deutschen Schublade lag der untaugliche<br />
Schlieffen-Plan. Man wollte<br />
Frankreich binnen sechs Wochen niederwerfen<br />
und sich dann nach Russland<br />
wenden.<br />
Alle Kriegspläne waren untauglich,<br />
der französisch-russische „Plan XVII“<br />
noch viel mehr. Der Schlieffen-Plan fußte<br />
auf der Annahme, dass die Deutschen<br />
115<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
SALON<br />
Gespräch<br />
sich nicht gleichzeitig an zwei Fronten<br />
halten konnten. Sie standen aber dann<br />
vier <strong>Jahre</strong> an vier Fronten, in Russland,<br />
in Frankreich, auf dem Balkan und unter<br />
der See gegen England. Im Osten und<br />
Südosten haben sie schließlich gewonnen<br />
und im Westen verloren. Dieses geteilte<br />
Resultat wird gern übersehen, aber ohne<br />
das versteht man rein gar nichts.<br />
Der „Zivilisationsbruch“, schreiben Sie,<br />
ereignete sich trotz geringerer Opferzahlen<br />
an der Westfront: „Zum ersten<br />
Mal behauptete das weltbeherrschende<br />
Europa, dass es allenfalls ein geografischer<br />
Begriff sei, aber kein Zivilisationshort.<br />
Wer die Kathedrale von Reims<br />
mit Krupp-Kanonen beschießt, gehört<br />
offensichtlich nicht dazu, und wer mit<br />
Seeblockaden das Aushungern von<br />
Kindern und Kranken bezweckt, auch<br />
nicht.“<br />
Die Blockade der Nordsee von Ende<br />
1914 an ist für rund 800 000 Ausgehungerte<br />
in Deutschland verantwortlich. Die<br />
Engländer riegelten die maritimen Zufahrtswege<br />
ab, auch jene, die über die<br />
neutralen Häfen führten, also norwegische,<br />
dänische, holländische Häfen.<br />
Deshalb fehlten den Deutschen Medikamente,<br />
Fette und Früchte. Das ist eben totaler<br />
Krieg, ohne Rechtsschranken. Ein<br />
massives Sterben der Schwächsten in der<br />
Gesellschaft war die Folge. Mit europäischer<br />
Zivilisation hatte das nichts zu tun.<br />
Ebenso wenig wie die deutschen Gräuel<br />
beim Durchmarsch durch Belgien. Diese<br />
aber hätten sich „im Rahmen des bei<br />
Belgiern und Briten, Franzosen und Amerikanern<br />
Üblichen“ bewegt. Heute, lese<br />
ich bei Ihnen, falle ein „Kleinkrieg in Irak<br />
oder Libanon weitaus gräulicher aus“.<br />
Nach scharfer Berechnung durch<br />
zwei britische Kollegen sind den deutschen<br />
Gräueltaten, die es natürlich gab<br />
und die schrecklich waren, rund 3000 Zivilisten<br />
zum Opfer gefallen. Der Anti-<br />
Partisanenkrieg ist aus sich heraus<br />
rechtlos und blutig. Wenige <strong>Jahre</strong> zuvor<br />
starben im Burenkrieg der Engländer in<br />
An der Ostfront gab es die<br />
meisten Kriegstoten zu<br />
beklagen: Die russische<br />
Garde‐Infanterie im Einsatz<br />
Südafrika 40 000 Zivilisten in den concentration<br />
camps. Das entnehme ich dem<br />
„Oxford Military Dictionary“.<br />
Durchgesetzt hat sich das Bild vom<br />
hässlichen Deutschen, nicht Engländer.<br />
Seltsam, oder? Krieg ist nie eine Bewährungsstätte<br />
der höheren Moral. Mit<br />
welchem Recht blockierte man Holland?<br />
Damit die Holländer nichts weiterverkaufen<br />
an die Deutschen. Wenn wir die<br />
österreichisch-ungarischen zu den deutschen<br />
Hungeropfern hinzuzählen, kommen<br />
wir auf über eine Million getöteter<br />
Zivilisten, darunter die Ärmsten der Armen,<br />
die Ältesten, Kränksten und Jüngsten.<br />
Das ist die Härte des Krieges. Die<br />
Deutschen haben keinen Grund, sich darüber<br />
zu empören. Sie haben ihrerseits<br />
über die Ostsee versucht, Russland zu<br />
blockieren. Es gab in diesem Krieg nicht<br />
die Rechtstreuen und die Rechtsuntreuen,<br />
sondern nur die moralische Pflicht, den<br />
Krieg zu gewinnen. In der Wahl der<br />
Mittel sehe ich überhaupt keinen Unterschied<br />
zwischen der deutschen und der<br />
alliierten Seite. Nur dass Letztere zigmal<br />
mehr Ziviltote verursacht hat. Aber<br />
es waren deutsche Kriegsschuldige, die<br />
keine Rücksicht verdienten.<br />
Die alliierte Seite hätte ohne den Eintritt<br />
der USA nicht gewonnen.<br />
Der militärische Beitrag der Amerikaner<br />
war minimal. Aber die USA haben<br />
bereits vor Kriegseintritt 40 Prozent<br />
des alliierten Materials geliefert. Die Bezieher<br />
haben sich dabei ruiniert, und die<br />
Lieferanten wurden steinreich.<br />
Der Kriegsschuldartikel im Versailler<br />
Friedensvertrag befand sich im Abschnitt<br />
über Reparationszahlungen.<br />
Wurden die Deutschen Opfer einerseits<br />
der Gräuel, andererseits der Gräuelpropaganda,<br />
mit der der Krieg begonnen<br />
hatte?<br />
Die Propagandafront ist eine Front<br />
wie der Schützengraben. Es wird geschossen<br />
mit Granaten, Kugeln, Gas und<br />
mit Verleumdung, Propaganda, Desinformation.<br />
Man muss den Feind dämonisieren.<br />
Gegen einen Feind, den man schätzt,<br />
zieht der Soldat nicht ins Feld. In britischen<br />
Feldpostbriefen steht: Wir befinden<br />
uns auf einem Kreuzzug gegen den<br />
Auswurf des Menschengeschlechts. Es sei<br />
Foto: Scherl/SZ Photo<br />
116<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Anzeige<br />
ein Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei.<br />
Der Kreuzzug ist von 1915 an der<br />
beherrschende Kriegsgrund der Entente.<br />
Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />
Wurde die entscheidende Schlacht an<br />
der Propagandafront verloren?<br />
Eindeutig. Die Gräuel beim Durchmarsch<br />
durch Belgien drangen bis in die<br />
USA und sorgten für Abscheu, die Folgen<br />
durch die Hungerblockade blieben<br />
versteckt. Bis heute befassen die Historiker<br />
sich kaum mit den Aberhunderttausenden<br />
deutschen Toten. Man müsste<br />
systematisch die Akten der Krankenhäuser<br />
sichten.<br />
Das bringt uns nicht der Antwort auf<br />
die Frage näher, warum das „Weltfest<br />
des Todes“ (Thomas Mann) bis zum bitteren<br />
Ende ausgefochten wurde.<br />
In der Tat. Der Zivilisationsbruch<br />
besteht nicht darin, dass Krieg geführt<br />
wurde. Nein, hier wurde ein Krieg geführt,<br />
bei dem das militärische Instrumentarium<br />
nicht den leisesten Erfolg<br />
zeitigte. Krieg soll eine gewaltsame Lösung<br />
von Streitfragen sein, die sich politisch<br />
nicht lösen ließen. Hier war es anders.<br />
An der Westfront standen sich vier<br />
<strong>Jahre</strong> lang zwei gleich starke Heere gegenüber<br />
und trugen Schicht für Schicht<br />
vom Leben ihrer jungen Männer ab. Die<br />
europäische Zivilisation mit ihren zentralen<br />
Begriffen Staatskunst, Humanität,<br />
Mitmenschlichkeit und Bruderschaft in<br />
Christo hatte ausgespielt. Europäer, die<br />
seit der Neuzeit die Heiligkeit des Lebens<br />
und die Kostbarkeit des Individuums<br />
hochgehalten hatten, steckten nun<br />
wie Ratten in den Löchern, lebten mit<br />
den Leichen, infizierten sich – und kriegten<br />
es nicht fertig, sich in Stockholm oder<br />
Bern von Staatsmann zu Staatsmann diskret<br />
zu unterhalten.<br />
Der Krieg als eine riesige Dialog- und<br />
Kommunikationskatastrophe?<br />
Er war eine Tragödie. Ein Krieg, der<br />
begonnen wurde, um die Völker der Monarchie<br />
beieinanderzuhalten, hinterließ<br />
eine instabilere, verstörtere, ärmere, verzweifeltere,<br />
unglücklichere Welt als jene<br />
von 1914. Dass Deutschland Republik<br />
wurde und alle zwei <strong>Jahre</strong> einen neuen<br />
Kanzler bekam, wiegt die Toten nicht auf,<br />
die Krüppel. Weiten wir den Blick: Auf<br />
dem Boden der Donaumonarchie kamen<br />
© Foto Barenboim: Peter Adamik © Foto Schäuble: Ilja C. Hendel/BMF<br />
© Foto Gabriel: Dominik Butzmann<br />
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Ensemble
SALON<br />
Gespräch<br />
und diese nach vier <strong>Jahre</strong>n noch 40 Kilometer<br />
vor Paris steht, dann ist er nicht<br />
gleichgewichtsverträglich. Keiner aus der<br />
Siegerkoalition konnte einzeln mit dem<br />
Reich konkurrieren. Versailles sollte eine<br />
gesündere Neugründung werden.<br />
Foto: Keystone<br />
Was bedeutet 1919 der Versailler Friede?<br />
Er bedeutet genauso einen Irrsinn<br />
wie der Krieg. Russland fehlte in Versailles,<br />
weil ihm der Verrat an der Anti-<br />
Deutschlandkoalition verübelt wurde,<br />
Deutschland war gewissermaßen in<br />
Ketten vorgeladen zur Unterschrift. So<br />
lehnten die zwei größten Mächte auf<br />
dem Kontinent den Frieden ab. Wenn<br />
sich die zwei Verlierer zusammentaten,<br />
waren sie weit stärker als die Sieger, wie<br />
sich 1939/40 gezeigt hat.<br />
keine Grenzen zustande, in denen es die<br />
Bewohner miteinander aushielten. Auch<br />
die Angehörigen des Osmanischen Reiches,<br />
Türken, Araber, Kurden, Armenier,<br />
Iraker, Ägypter, haben in den Formen<br />
seiner Zerlegung bis heute keinen<br />
Frieden gefunden.<br />
War der Erste Weltkrieg überhaupt ein<br />
Weltkrieg?<br />
Er war ein Weltkrieg, weil es um<br />
den Besitz der Welt ging. Das Osmanische<br />
Reich etwa reichte von Ägypten bis<br />
zu den Dardanellen. Bereits in den ersten<br />
Kriegswochen machte sich England<br />
Ägypten untertan – ein Gebiet, dreimal<br />
so groß wie England und 33-mal so groß<br />
wie Belgien. Bis Mitte der fünfziger <strong>Jahre</strong><br />
blieb es Teil des British Empire.<br />
Wo waren noch Weltfragen berührt?<br />
Russland ist ein eurasischer Kontinent<br />
für sich, zwischen Pazifischem<br />
Ozean und Elbe. Österreich-Ungarn<br />
hatte eine enorme Ausdehnung, und<br />
dann waren da die riesigen Kolonialgebiete<br />
in Afrika. In diesem Krieg wurde<br />
die ganze Welt zusammengerafft. Es<br />
war nicht nur ein Krieg, an dem die<br />
Welt beteiligt war, Kanadier, Australier,<br />
Neuseeländer, Inder, Japaner. Es<br />
war ein Krieg um die Welt. Auch die<br />
Wie in Berlin 1917 litt die deutsche<br />
Bevölkerung auch unter der<br />
britischen Seeblockade. Fast eine<br />
Million Menschen starben<br />
Frage, wem die Ukraine gehört, spielte<br />
eine große Rolle.<br />
Warum zogen immer mehr Staaten gegen<br />
das Deutsche Reich zu Felde?<br />
Italiener und Rumänen wurden mit<br />
satten Zugewinnen geködert. Die Amerikaner<br />
kamen hinzu, als sie ihre Schuldner<br />
zu verlieren drohten und die deutschen<br />
U-Boote die Rüstungsexporte<br />
kaputt machten.<br />
Ihr Buch begreift den Weltkrieg als Weg<br />
nach Versailles.<br />
Der Gegenseite der Deutschen ging<br />
es um den Rückbau der Reichsgründung<br />
von 1871. Das haben sie untereinander<br />
deutlich gesagt. Wenn eine Weltkoalition<br />
nötig ist, um einen Einzigen zu stoppen,<br />
Also war Versailles kein „Schandfriede“?<br />
Es war ein gefühlter Schandfriede.<br />
Am meisten haben sich die Deutschen<br />
über den dummen Kriegsschuldartikel<br />
aufgeregt. Aber der diente nur dazu,<br />
den Deutschen die Kriegskosten aufzuhalsen.<br />
Am Ende haben sie jedoch außer<br />
ihren eigenen Kosten nicht viel davon<br />
gezahlt. Der Vorteil für Deutschland<br />
war das geostrategische Resultat. Weil<br />
Russland nun antiwestlich war, fiel die<br />
Klammer fort, die bis 1914 das Deutsche<br />
Reich von rechts und links in Schach gehalten<br />
hatte, durch ein russisch-französisches<br />
Bündnis und die Engländer als<br />
Zünglein an der Waage. 1941 kam die<br />
Klammer wieder zustande. Damit ging<br />
der Zweite Weltkrieg verloren. Die Zwischenkriegszeit<br />
war ein Kartenhaus. Es<br />
brauchte nur der böse Geist hineinfahren,<br />
dann musste es umkippen.<br />
Nach Versailles ging der Weg also weiter<br />
nach Stalingrad, Dresden, Hiroshima?<br />
Nicht zwangsläufig. Aber Versailles<br />
öffnete beiden Verlierern eine fatale<br />
Chance. Sie konnten sich als Schurkenstaaten<br />
konstituieren und mit dieser<br />
Kraft Europa wieder in ein Meer von<br />
Blut und Trümmern stürzen. Und das<br />
haben sie verschuldet, ja. Versailles war<br />
die Dummheit, die den Verbrechern die<br />
Realisierung ihrer Chance geliefert hat.<br />
Die zwei Weltkriege waren völlig überflüssig.<br />
Das ist das Traurige.<br />
Das Gespräch führte ALEXANDER KISSLER<br />
118<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Laufen, um zu überleben:<br />
Was wir von unseren Vorfahren lernen können.<br />
Jetzt<br />
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Jetzt im Handel und im
SALON<br />
Debatte<br />
AM ANFANG<br />
WAR DER RAUB<br />
Die Fälle Gurlitt und<br />
Welfenschatz richten ein grelles<br />
Licht auf die Zukunft<br />
der Museen: Droht eine<br />
Privatisierung aller Kunst?<br />
Von BEAT WYSS<br />
Der Kunsthändlersohn Cornelius Gurlitt hat Anfang<br />
April eine „Verfahrensvereinbarung“ mit der Bundesrepublik<br />
Deutschland und dem Freistaat Bayern<br />
unterzeichnet. Ein internationales Expertenteam<br />
wird nun alle 1280 Bilder seiner Sammlung<br />
untersuchen. Raubkunst soll ermittelt und an die Geschädigten<br />
zurückgegeben werden. Dazu war Gurlitt rechtlich nicht<br />
gezwungen, allfällige Straftatbestände sind verjährt.<br />
Auch die Washingtoner Erklärung trifft auf Gurlitt als Privatperson<br />
nicht zu. Das Abkommen vom Dezember 1998 über<br />
geraubte Vermögenswerte aus der Zeit zwischen 1933 und 1945<br />
wurde von 45 Staaten und zwölf nichtstaatlichen Organisationen<br />
getroffen. Darin kommen die Unterzeichner überein, beschlagnahmte<br />
Kunstwerke aus jener Zeit zu identifizieren und<br />
in einem zentralen Register offenzulegen. Die formulierten<br />
Grundsätze beschränken sich auf eine moralische Verpflichtung<br />
zwischen den unterzeichnenden Staaten und Organisationen.<br />
Deren Forderung nach „fairen und gerechten Lösungen“<br />
lässt großen Verhandlungsspielraum offen.<br />
Auch in den Debatten um Raub- und Beutekunst gilt: Wer<br />
die Zukunft entwerfen will, kommt an einer Analyse der Vergangenheit<br />
nicht vorbei. Die Museen Europas entstanden vor<br />
dem Hintergrund revolutionärer Umwälzungen und der kriegerischen<br />
Neuordnung Europas in napoleonischer Zeit. Erst die<br />
Gewalt gegen überlieferte Bindungen konnte jene Objekte freisetzen,<br />
die über einen grauen Markt in den Museen landeten.<br />
Zuerst und am radikalsten geschah dies in Paris, wo der<br />
Louvre, die ehemalige Stadtresidenz des Königs, am 23. Juli<br />
1793, sechs Monate nach der Hinrichtung von Ludwig XVI.,<br />
per Dekret zum „Musée central des arts“ erklärt wurde. Das<br />
übrige Europa des 19. Jahrhunderts blieb monarchisch regiert<br />
und begnügte sich damit, die fürstlichen Sammlungen in eine<br />
öffentliche Institution der Volksbildung umzuwidmen.<br />
Während eines kurzen Jahrhunderts also festigte sich die<br />
Institution Museum als Schatzhaus des Nationalstaats. Über<br />
die oft ungeklärten Herkünfte seines Bestands wuchs der Efeu.<br />
Das Museum war die Kathedrale der Bürgerlichkeit, für die sich<br />
Mäzene verdient machen wollten. In Berlin taten sich jüdische<br />
Mitbürger durch großzügige Schenkungen und Leihgaben hervor:<br />
James Simon, Mitbegründer der Deutschen Orient-Gesellschaft<br />
und Stifter der Porträtbüste von Nofretete; Eduard Arnhold,<br />
Stifter der Villa Massimo in Rom; Oscar Huldschinsky,<br />
Gründungsmitglied des Kaiser-Friedrich-Museumsvereins. Die<br />
Juden waren das Rückgrat des Bildungsbürgertums.<br />
Naziideologie ist ein Frontalangriff auf bürgerliche Werte.<br />
Das erklärt die besonders zynische Konsequenz, mit der das<br />
jüdische Eigentum durch das Regime geplündert wurde: über<br />
Zwangssteuern, erzwungene Veräußerungen, entschädigungslose<br />
Beschlagnahmung bis zur physischen Ausmerzung der Eigentümer.<br />
Ebenso konsequent sind die Nationalsozialisten die<br />
Totengräber des Museums, dessen universalistisches Konzept sie<br />
mit Rassenpropaganda bekämpften. In Razzien wurden öffentliche<br />
Sammlungen auf klassische Moderne hin durchforstet und<br />
deren Beschlagnahmung durch das „Gesetz über die Einziehung<br />
von Erzeugnissen entarteter Kunst“ vom 31. Mai 1938 abgesichert.<br />
Insgesamt betraf die Maßnahme rund 20 000 Werke aus<br />
<strong>10</strong>1 Museen. Vier Kunsthändler wurden mit dem Verkauf zwecks<br />
Devisenbeschaffung beauftragt: Karl Buchholz, Ferdinand Möller,<br />
Bernhard A. Böhmer und Hildebrand Gurlitt. Die von den<br />
„Kunstwäschern“ für unverwertbar erklärten Werke wurden am<br />
20. März 1939 im Hof der Berliner Hauptfeuerwache verbrannt.<br />
An der konfiszierten Kunst bediente sich die Führungsriege,<br />
zuvorderst Adolf Hitler. Mit einem monumentalen Führermuseum<br />
in Linz gedachte er, sich in der Stadt seiner Jugend<br />
monumental zu verewigen. Hermann Göring wollte mit „Carinhall“<br />
in der brandenburgischen Schorfheide seiner verstorbenen<br />
ersten Frau ein museales Denkmal setzen. So wird das<br />
Ende einer Institution im Geist bürgerlicher Bildung eingeläutet.<br />
Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor wurde 1806<br />
von Napoleon geraubt. Sie kehrte 1814 zurück<br />
Foto: Gerd Schütz/AKG Images<br />
120<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Anzeige<br />
Das Museum als Mausoleum autokratischer Eitelkeiten: die Nazis<br />
lieferten die grobschlächtige Blaupause künftiger „Privatmuseen“.<br />
Mit der Politik systematischer Beschlagnahmungen<br />
wurde die Idee vom Museum als einem soliden Schatzhaus bürgerlicher<br />
Erinnerungskultur zersetzt. Die aktuellen Restitutionsforderungen<br />
sind Nachbeben auf jene willkürlichen Eingriffe,<br />
welche die Institution in den Grundfesten erschüttert.<br />
Zwei zentrifugale Kräfte befördern die Zerstreuung öffentlicher<br />
Sammlungen in Privatbesitz. Die eine Fliehkraft entspringt<br />
dem Kunstmarkt, dessen Hochpreisigkeit alle Wertvorstellungen<br />
aus der Gründungszeit der Museen übersteigt. Gab<br />
deren Erwerbungspolitik damals den Takt an, so liegen die<br />
erzielten Auktionspreise heute jenseits der Anschaffungsbudgets<br />
öffentlicher Sammlungen. Diese Asymmetrie greift auf<br />
das Denken und Handeln jener Museumsleute über, die sich<br />
als neuliberale Eventmanager verstehen. Sie spekulieren mit<br />
dem Tafelsilber und müssen sich den Vorwurf gefallen lassen,<br />
in der Tradition der dreißiger <strong>Jahre</strong> zu stehen, als Teile des<br />
Sammlungsbestands zur Geldbeschaffung verwertet wurden.<br />
Die zweite Fliehkraft entsteht durch die Restitutionsforderungen,<br />
angeregt von Anwälten, die mit Erfolgshonorar arbeiten.<br />
Ihr Verfahren wird wiederum dadurch befeuert, dass<br />
der Wert der Kunstwerke der Klassischen Moderne seit der<br />
Nachkriegszeit enorm gestiegen ist. Die Aussicht, einen Gewinn<br />
abzuschöpfen, motiviert den Aufwand an Provenienzforschung<br />
und Gerichtskosten. An der Causa Welfenschatz,<br />
dem Umgang mit dem weiterhin im Berliner Kunstgewerbemuseum<br />
zu bewundernden Kirchenschatz, der 1935 von jüdischen<br />
Zwischenhändlern an den preußischen Staat verkauft<br />
worden war, lässt sich diese juristische Fracking-Methode studieren.<br />
Gepresst wird mit moralischem Druck auf ziemlich unklaren<br />
Raubkunstverdacht hin.<br />
Ist es die Rache der Geschichte an den Grauzonen der Legitimität,<br />
in deren Zwielicht die musealen Sammlungen einst<br />
zusammengetragen wurden? Die Peristaltik des Sammelwesens<br />
kehrt sich um. Vom Zusammenfluss im öffentlichen Raum sickern<br />
die wertvollsten Stücke mehr und mehr in den Privatbesitz.<br />
Wem das egal ist, sei die Mahnung von Hermann Parzinger,<br />
dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz,<br />
entgegengehalten: „Kulturgeschichte lässt sich nur dann schreiben,<br />
wenn wir fundierte Kenntnisse zur Provenienz und zum<br />
historischen Kontext der Objekte haben. (…) Kunstwerke und<br />
Kulturgüter, die der Öffentlichkeit entzogen sind, nehmen nicht<br />
mehr teil an der Ausformung des kulturellen Gedächtnisses der<br />
Menschheit: Sie werden Individualbesitz Einzelner, die sie nur<br />
mehr als Spekulationsobjekt benutzen.“<br />
Das Museum ist Treuhänder des öffentlichen Gedächtnisses.<br />
Die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte währende Bewahrung, Erforschung<br />
und Vermittlung seiner Gegenstände hat den Wert<br />
der versammelten Werke erhöht. Und der museale Mehrwert<br />
gespeicherten Wissens soll jetzt als Warenfetisch sozialer Distinktion<br />
privat abgeschöpft werden?<br />
Unbenannt-1 1 11.03.14 20:55<br />
Am 12. Mai<br />
ist Muttertag!<br />
tag!<br />
BEAT WYSS ist einer der bekanntesten Kunsthistoriker des<br />
Landes. Er lehrt Kunstwissenschaft und Medienphilosophie<br />
an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe<br />
und schreibt jeden Monat in <strong>Cicero</strong>
SALON<br />
Reportage<br />
DAS LEBEN IST<br />
Erst wurde die Giraffe<br />
filetiert, dann starben<br />
die Löwen. Was ist<br />
bloß los im Zoo von<br />
Kopenhagen? Ein<br />
Spaziergang zwischen<br />
Fleischfressern<br />
Von MARIE AMRHEIN<br />
In der Sonne liegt der Kopf eines Ponys.<br />
Die buschige Mähne fällt locker<br />
über die weiße Blesse, der Hals ist<br />
unsauber abgetrennt worden. Die<br />
Augen fehlen, vermutlich haben<br />
sich an ihnen die zwei Möwen gütlich<br />
getan, die auf dem Felsen herumhüpfen,<br />
auf dem der Schädel liegt. Die Möwen<br />
hacken eilig ihre Schnäbel ins Fleisch,<br />
als sorgten sie sich, dass einer der Eisbären<br />
auftaucht, für die das Fleisch bestimmt<br />
ist.<br />
Willkommen im Zoo von Kopenhagen,<br />
jenem Ort, der unter den Begriffen<br />
„Schlachthof“, „Killerzoo“ oder „Zoo<br />
pervers“ bekannt geworden ist. Denn<br />
dort wurde eine einjährige gesunde Giraffe<br />
namens Marius mit Kopfschuss<br />
getötet, um sie danach öffentlich zu<br />
sezieren und den Löwen zum Fraß vorzuwerfen.<br />
Ein Kind, das unter den Zuschauern<br />
war, fiel in Ohnmacht. Die internationale<br />
Aufregung steigerte sich noch um<br />
einige Grade, als wenige Wochen später<br />
einer Löwenfamilie der Garaus gemacht<br />
wurde. Tierschützer gaben Alarm, Kamerateams<br />
rückten an, Mütter regten sich<br />
auf. Petitionen mit 150 000 Unterstützern<br />
forderten die Schließung des Zoos.<br />
An diesem Donnerstagvormittag<br />
ist davon nichts zu spüren. Der Himmel<br />
über Kopenhagen ist blau, die Stimmung<br />
Illustration: Felix Gephart<br />
122<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
EIN PONYKOPF<br />
friedlich. Am Eingang drängeln sich<br />
Schüler aus dem Bus, sie stromern zum<br />
Affendschungel, sehen sich das Elefantenhaus<br />
von Sir Norman Foster an oder<br />
schlecken Eis auf der Terrasse neben den<br />
Kamelen. Oder sie rennen zu den Eisbären,<br />
die sich allerdings verkrochen haben,<br />
und stoßen: auf den Ponykopf.<br />
Gerade kommt eine Gruppe Erstklässler<br />
vorbei. Die Kinder schauen interessiert<br />
zu dem augenlosen Schädel hinüber.<br />
Aber keines kreischt, keines fällt<br />
in Ohnmacht. Die Erstklässler schlendern<br />
weiter. Was ist da bloß los? „Die<br />
Kleinen verstehen, dass die Tiere etwas<br />
zum Fressen brauchen“, sagt eine der<br />
drei Lehrerinnen. „Und je größer sie werden,<br />
desto genauer erklären wir ihnen<br />
alles. Dazu gehört dann auch, dass ein<br />
Tier aus Gründen der Zucht eben getötet<br />
werden muss.“<br />
Der Zoodirektor wäre wohl froh,<br />
wenn er das hörte. Bengt Holst hatte es in<br />
der jüngsten Zeit etwas schwer, sich verständlich<br />
zu machen. Als ihn der Moderator<br />
einer britischen Nachrichtensendung<br />
zur öffentlichen Sektion der Giraffe befragte,<br />
erklärte Holst, es sei doch interessant<br />
zu sehen, wie groß ein Giraffenherz<br />
sein muss, damit es Blut in das zwei Meter<br />
entfernte Gehirn pumpen kann. Der<br />
bewusstlose Junge habe während der<br />
Vorstellung einfach zu wenig getrunken.<br />
Die Kritiker tobten.<br />
Der Kopenhagener Zoo handelt<br />
nach einem schlichten Prinzip: Zum<br />
gesunden Zoo gehört ein einwandfreier<br />
Genpool, eine frische Mischung von Erbfaktoren.<br />
Wer damit nicht dienen kann,<br />
ist raus. So erging es Marius. Die Giraffe<br />
hätte sich im Zoo nicht weitervermehren<br />
dürfen, es bestand Inzuchtgefahr.<br />
Ein britischer Zoo, der anbot, die Giraffe<br />
aufzunehmen, bekam eine Absage.<br />
Auch hier sei das Genmaterial im Zoo zu<br />
ähnlich. Der Kopenhagener Zoo kooperiert<br />
nur mit anderen Zoos, die wie er<br />
nach den Richtlinien der Europäischen<br />
123<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
SALON<br />
Reportage<br />
Der Zoo<br />
zeigt im<br />
Grunde nur<br />
Banales:<br />
Raubtiere<br />
fressen Tiere<br />
Zoo- und Aquarienvereinigung handeln<br />
und züchten. So hatte auch ein Privatmann<br />
keine Chance, der das Tier für<br />
270 000 Euro erstehen wollte, um es<br />
vor dem Tod zu retten.<br />
Die Sache mit dem Zoo hat Dänemarks<br />
Image einen kleinen Kratzer<br />
verpasst. Die Einwohner Kopenhagens,<br />
Stadt der schönen Häuser und<br />
stilsicheren Menschen, in der sie eine<br />
Sprache sprechen, die immer ein bisschen<br />
klingt, als beuge man sich gerade<br />
zu einem Kind hinunter, sind nun nicht<br />
mehr bekannt für ihr hohes Budget an<br />
Entwicklungshilfe, sondern als Volk der<br />
Giraffenmörder.<br />
Gerade war die Aufregung um Marius<br />
abgeflaut, da wurde vier Löwen Gift<br />
injiziert. Es starben: das 16 <strong>Jahre</strong> alte<br />
Leittier, seine 14 <strong>Jahre</strong> alte Kumpanin<br />
und die zwei gemeinsamen Kinder. Übrig<br />
blieben zwei Löwinnen aus dem Wurf<br />
von 2012. Als potenzielle Mütter einer<br />
neuen Generation Kinder mit „guten Genen“<br />
durften sie leben. Für sie erwarb der<br />
Zoo ein Löwenmännchen aus einem Safaripark<br />
südlich von Aarhus als Partner.<br />
Im Löwengehege ist das neue Männchen<br />
heute nicht zu sehen. Es hat sich in<br />
einer Höhle verkrochen, die in einem Innenkäfig<br />
liegt. Dort, beim Neuankömmling,<br />
befindet sich auch das Futter. Die<br />
Zoostrategen legen es darauf an, dass die<br />
Löwinnen in den Innenkäfig zum Fressen<br />
gehen und sich dort mit dem neuen Gefährten<br />
bekannt machen – es wäre der<br />
erste Schritt zur Familiengründung.<br />
ABER DIE LÖWINNEN meiden den Innenkäfig.<br />
Sie liegen einfach rum. „Miaoo“<br />
schreit ein Mädchen mit pinker Pudelmütze<br />
den Raubkatzen zu. Die haben<br />
sich in den entferntesten Winkel zurückgezogen.<br />
Zwei Wochen lang haben<br />
sie nichts gefressen. Sie sind auf der Hut,<br />
starren auf die Tür zum Innengehege.<br />
Vermutlich können sie riechen, dass dort<br />
ihr Fressen liegt. Aber dort liegt auch er,<br />
der Neue.<br />
Es sei wichtig, dass der neue Löwe<br />
schnell ankomme, hatte der Zoo auf seiner<br />
Internetseite erklärt. Sonst laufe man<br />
Gefahr, dass die Weibchen sich zusammentun<br />
und den Neuen zerfleischen. Löwin<br />
frisst Löwe – es wäre eine neue spektakuläre<br />
Nachricht aus Kopenhagen, die<br />
Tierfreunde würden womöglich Wirtschaftssanktionen<br />
verlangen oder zumindest<br />
ein Eingreifen der Königin.<br />
Wenn die Tiere weiterhin nichts zu<br />
fressen bekommen, gibt es noch die Möglichkeit,<br />
sie zu betäuben und dann zu<br />
trennen. „Wir hoffen wirklich, dass es<br />
nicht so weit kommt“, seufzt eine Zoomitarbeiterin<br />
in grüner Arbeitsmontur.<br />
Ihr Name soll auf keinen Fall genannt<br />
werden. Denn der Zoo hat seine Kommunikationsstrategie<br />
geändert. Als die<br />
Proteste anhielten, verstummten Direktor<br />
Holst und seine Kollegen. „Wir haben<br />
nichts weiter hinzuzufügen“, lautet heute<br />
die Antwort auf Interviewanfragen.<br />
In einem bewaldeten Gehege rennen<br />
zwei Wölfe rammdösig im Kreis herum.<br />
Einige Hundert Meter weiter sehen die<br />
Besucher zwei Störchen dabei zu, wie sie<br />
klappernd und humpelnd mit gestutzten<br />
Flügeln ein Nest in Bodenhöhe bauen. Es<br />
sind Szenen, wie sie sich in jedem Zoo<br />
dieser Welt abspielen: Stolze Tiere werden<br />
in ihrem Bewegungsdrang beschnitten,<br />
sie verlieren ihr natürliches Wesen.<br />
Da liegt der Gedanke nicht fern, dass<br />
das Glück, Nachwuchs zu bekommen,<br />
noch eine Möglichkeit ist, diesen Tieren<br />
eine Art von Sinn im Leben zu geben.<br />
Vielleicht die einzige, die ein Zoo überhaupt<br />
hat.<br />
Weiter geht es. Im Kellergewölbe unter<br />
dem Eisbärengehege lässt sich in einer<br />
Eislochattrappe erleben, wie sich ein Seehund<br />
als Beute fühlt. Es ist wie ein winziges<br />
3-D-Kino für eine Person. Eine Erstklässlerin<br />
geht hinein. Es ist still, nichts<br />
um sie herum. Nur weiße Ferne. Plötzlich<br />
ein Schnaufen und Stampfen. Woher<br />
kommt es? Plötzlich ist da ein Eisbär.<br />
Ganz nah. In letzter Sekunde duckt<br />
sie sich. Wütendes Fauchen, das Mädchen<br />
kreischt. Dann hüpft es strahlend aus der<br />
Kinohöhle.<br />
Eine Ecke weiter dreht sich das Spiel<br />
um: Wer auf einem Bildschirm im richtigen<br />
Moment zuschlägt, erwischt den<br />
aus seinem Eisloch auftauchenden Seehund<br />
und wird mit einer blutigen Splatterszene<br />
belohnt. So vorbereitet, treffen<br />
die Schüler draußen auf den echten Eisbären.<br />
Es riecht nach vergammelndem<br />
Algenmatsch. Der Bär geifert, atmet ein,<br />
atmet aus. Dann brüllt er.<br />
In der für Besucher offenen Tropenküche<br />
sind in Plastikschälchen die<br />
schrumpeligen Kadaver nackter Babymäuse<br />
zur Fütterung abgefüllt. Im Gehege<br />
der scharfzahnigen Wüstenluchse<br />
quillt Hasengedärm aus dem Bauch des<br />
Opfers. In einem Wassergraben sitzt ein<br />
dicker Braunbär, die Füße schauen aus<br />
der Wanne, er spielt mit einem Knochen.<br />
Zooalltag.<br />
Was ist da bloß schiefgegangen mit<br />
dem Kopenhagener Zoo und der Welt?<br />
Vielleicht das: Eine Zoodirektion, die die<br />
Tiere besser kennt als die Menschen, hat<br />
diese zu einer Art Übersprungshandlung<br />
provoziert. An der Massentierhaltung<br />
ändert sich so schnell nicht viel, und die<br />
Currywurst schmeckt weiterhin, da wird<br />
eben der Zoo attackiert. Dabei zeigt der<br />
im Grunde nur Banales. Raubtiere fressen<br />
Tiere, der Tod des Ponys ist das Leben<br />
des Eisbären.<br />
Die Erstklässler laufen vom Ponykopf<br />
lachend zum Affenfelsen. Die gerade<br />
erstandenen Plüscheisbären pressen<br />
sie fest an die Brust.<br />
MARIE AMRHEIN, freie<br />
Autorin, lebt in Niedersachsen<br />
auf einem Hof. Sie staunte,<br />
wie kaltblütig sie der ersten<br />
Schafschlachtung beiwohnte<br />
Foto: Andrej Dallmann<br />
124<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
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SALON<br />
Literaturen<br />
Neue Bücher, Texte, Themen<br />
Literaturverfilmung<br />
Schönheit und Verbrechen<br />
Hossein Amini verfilmt Patricia Highsmiths Roman<br />
„Die zwei Gesichter des Januars“<br />
Ob Alfred Hitchcock, Wim Wenders<br />
oder Claude Chabrol –<br />
alle Verfilmungen von Patricia<br />
Highsmiths Kriminalromanen sind bislang<br />
mehr oder minder schiefgegangen.<br />
Immer fehlte die emotionale Komplexität<br />
der Vorlage: die untergründige Bedrohung,<br />
die von durchschnittlich und<br />
sympathisch erscheinenden Figuren ausgeht,<br />
der gefährliche doppelte Boden in<br />
jedem einzelnen. Wenn am 29. Mai Hossein<br />
Aminis Filmversion von Highsmiths<br />
„Die zwei Gesichter des Januars“ ins<br />
Kino kommt, wird das im Prinzip nicht<br />
anders sein. Und doch lohnt es sich, den<br />
Film anzuschauen.<br />
Viggo Mortensen und Kirsten Dunst<br />
spielen ein Ehepaar, das seinen eleganten<br />
Lebensstil mit Aktienbetrügereien finanziert.<br />
Sie sind vor den Gläubigern nach<br />
Athen geflohen, nun begegnen sie auf der<br />
Akropolis dem charmanten Yale-Absolventen<br />
Rydal Keener. Der verdient sich<br />
seinen Lebensunterhalt als Fremdenführer<br />
(und prellt zwischendurch Touristen<br />
um kleinere Geldbeträge). Ein Blick zwischen<br />
dem Betrüger Chester und Rydal<br />
genügt, und ein Drama um Liebe, Mord<br />
und Totschlag nimmt seinen Lauf. Es<br />
führt das Trio nach Kreta, auf dem Basar<br />
in Istanbul wird es enden; und nur einer<br />
von ihnen überlebt.<br />
Amini zeigt schöne Menschen in exquisiter<br />
Kleidung an malerischen Schauplätzen<br />
in einer Geschichte voll überraschender<br />
Wendungen. Mit dem Roman<br />
hat jedoch auch er nur oberflächlich zu<br />
tun: Alles verengt sich bald auf ein Eifersuchtsdrama.<br />
Und wir kehren zum Roman<br />
zurück: Die Nähe zum Ungeheuren<br />
gelingt eben nur Highsmith selbst.FMG<br />
Patricia Highsmith<br />
„Die zwei Gesichter des Januars“<br />
Aus dem Amerikanischen von Werner Richter.<br />
Diogenes, Zürich 2005. 425 S., <strong>10</strong>,90 €<br />
Foto: Studiocanal 2013<br />
126<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Forschung und Gesellschaft<br />
Wer oder was ist<br />
eigentlich eine Familie?<br />
Die glänzende Studie von Andreas Bernard zur<br />
Entwicklung nicht nur der Reproduktionsmedizin<br />
Am 25. Juli 1978, kurz vor Mitternacht,<br />
kam im britischen Oldham<br />
ein Kind per Kaiserschnitt zur<br />
Welt: der erste Mensch, der nicht beim<br />
Sex, sondern im Labor gezeugt worden<br />
war – Louise Brown, das Mädchen<br />
aus der Petrischale. Die Mutter, die aufgrund<br />
fehlender Eileiter nicht auf natürlichem<br />
Wege schwanger werden konnte,<br />
entstammte der Arbeiterschicht. Bereits<br />
Tage vor dem Geburtstermin herrschte<br />
Ausnahmezustand in der Klinik, unzählige<br />
Journalisten versuchten vergeblich,<br />
als Priester, Handwerker oder Pfleger<br />
verkleidet, bei der „Geburt des Jahrhunderts“<br />
dabei zu sein. Das Kreißsaal-Video<br />
kann man heute auf Youtube ansehen<br />
– es wurde vom Informationsdienst<br />
der britischen Regierung aufgezeichnet.<br />
Was damals eine Sensation war, ist<br />
heute flächendeckend praktizierte Fortpflanzungsroutine.<br />
Allein in Deutschland<br />
werden im Jahr 2014 wieder an<br />
die <strong>10</strong> 000 Kinder außerhalb des Mutterleibs<br />
gezeugt. Weltweit verdanken<br />
inzwischen fünf Millionen Menschen<br />
ihre Existenz den Techniken der „assistierten<br />
Empfängnis“ – so der unter<br />
Medizinern übliche Sammelbegriff für<br />
Samenspende, Leihmutterschaft und<br />
In-vitro-Fertilisation.<br />
In seinem Buch „Kinder machen“ nähert<br />
sich der Kulturwissenschaftler und<br />
Journalist Andreas Bernard dem Thema<br />
mit bemerkenswert ideologiefreiem<br />
Scharfsinn. Von der antiken Empfängnislehre<br />
des Aristoteles spannt er den<br />
Bogen zu den Regenbogenfamilien der<br />
Gegenwart, Reportagen werden mit diskursanalytischen<br />
und wissenschaftshistorischen<br />
Überlegungen enggeführt.<br />
Die Geburt von Louise Brown markiert<br />
in gleich mehrfacher Hinsicht einen<br />
dramaturgischen Höhepunkt dieser<br />
Bestandsaufnahme der Reproduktionsmedizin<br />
und ihrer gesellschaftlichen Begleitumstände.<br />
So konstatiert Bernard<br />
die wissenschaftshistorische Gesetzmäßigkeit,<br />
derzufolge das Wissen von<br />
der Zeugung alle 150 <strong>Jahre</strong> revolutioniert<br />
wird. Den Anfang machte der niederländische<br />
Naturforscher Antoni van<br />
Leeuwenhoek, als er im Jahr 1677 unter<br />
seinem selbst gebauten Mikroskop die<br />
beweglichen „Samentierchen“ im männlichen<br />
Ejakulat entdeckte. Dass die Frau<br />
einen gleichwertigen Beitrag zur Entstehung<br />
neuen Lebens beisteuert, fand anderthalb<br />
Jahrhunderte später Karl von<br />
Baer heraus. 1827 sah er seine Vermutung<br />
der Existenz weiblicher Eizellen bestätigt,<br />
als er eine läufige Hündin tötete<br />
und deren Eierstöcke sezierte. Ende des<br />
<strong>Jahre</strong>s 1977 schließlich, acht Monate bevor<br />
das erste „Retortenbaby“ das Licht<br />
der Welt erblickte, gelang es Robert Edwards,<br />
dem später mit dem Nobelpreis<br />
ausgezeichneten Gynäkologen von Louise<br />
Browns Mutter, das Wissen um Ei und<br />
Samentierchen außerhalb des menschlichen<br />
Körpers fruchtbar zu machen.<br />
Aus der Gegenwartsperspektive ist<br />
insbesondere Bernards Rekonstruktion<br />
der Debatten interessant, die unmittelbar<br />
nach 1978 an der Tagesordnung waren.<br />
Vor allem in Deutschland einte die<br />
Ablehnung der Reproduktionsmedizin<br />
bis in die neunziger <strong>Jahre</strong> hinein die ansonsten<br />
unversöhnlichen Lager von Feministinnen,<br />
Kirchenvertretern, Konservativen<br />
und Linken. Das Vokabular in<br />
Leitartikeln und Parlamentsreden glich<br />
dabei erstaunlicherweise der Wortwahl,<br />
derer sich unlängst die Schriftstellerin<br />
Sibylle Lewitscharoff bediente, als sie<br />
pauschal all jene Kinder, die nicht auf<br />
die gute alte Art entstanden sind, öffentlich<br />
als „Halbwesen“ diskreditierte. Die<br />
Welle der Empörung, die ihr entgegenschlug,<br />
bestätigt Bernards aufklärungsoptimistischen<br />
Befund: Das öffentliche<br />
Bewusstsein scheint allmählich zu akzeptieren,<br />
dass die Würde des Menschen<br />
unabhängig von den Bedingungen seiner<br />
Entstehung existiert.<br />
Allerdings gibt es auch Schattenseiten.<br />
In Osteuropa und Indien boomt die<br />
Leihmütterindustrie, und obgleich die<br />
Retortenbabys heute „Wunschkinder“<br />
heißen, geraten manche von ihnen in<br />
ernsthafte Identitätskrisen, wenn sie erst<br />
im Erwachsenenalter mit der Erkenntnis<br />
konfrontiert werden, dass ihr sozialer Vater<br />
nicht mit ihnen verwandt ist.<br />
Zu den großartigsten Passagen des<br />
Buches gehören jene, in denen die Geschichte<br />
der Reproduktionsmedizin mit<br />
der Geschichte der Familie in Zusammenhang<br />
gebracht wird. Die biologisch<br />
und sozial nobilitierte Dreifaltigkeit von<br />
Mutter-Vater-Kind macht Bernard auf<br />
ihre historische Bedingtheit hin durchsichtig:<br />
Erst im 18. Jahrhundert avancierte<br />
die bürgerliche Kleinfamilie zum<br />
normativen Modell. Tiefe Risse erhielt<br />
diese Idealvorstellung von der „Keimzelle<br />
der Gesellschaft“ allerdings infolge<br />
der Umwälzungen von 1968. Gerade als<br />
die Reproduktionsmedizin Durchbrüche<br />
wie die Geburt von Louise Brown<br />
feierte, erreichten Scheidungsraten einen<br />
bis dato ungekannten Höhepunkt;<br />
in der Frauen- wie der Studentenbewegung<br />
grassierte der Überdruss an tradierten<br />
Lebensentwürfen. Für Bernard<br />
allerdings schließen sich die Nestwärme<br />
der Kleinfamilie und die medizinischen<br />
Methoden der asexuellen Zeugung keineswegs<br />
aus. Statt das überkommene Familienmodell<br />
endgültig auszuhöhlen, so<br />
die originell-versöhnliche These, bietet<br />
gerade die Reproduktionsmedizin Möglichkeiten,<br />
den Begriff der Familie mit alternativen<br />
Inhalten zu füllen. In der Petrischale<br />
lassen sich offenbar nicht nur<br />
Eizelle und Samen vereinen, sondern<br />
auch restauratives und revolutionäres<br />
Potenzial.<br />
Marianna Lieder<br />
Andreas Bernard<br />
„Kinder machen“<br />
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2014. 542 S., 24,99 €<br />
127<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
SALON<br />
Literaturen<br />
Roman<br />
Schattenboxen in<br />
der Komfortzone<br />
Im Roman „Schlafgänger“<br />
räsonieren Privilegierte entspannt<br />
über Ausgegrenzte<br />
Im 19. Jahrhundert zog es Schlafgänger<br />
in die großen Städte: Berlin, Frankfurt<br />
und Wien. Eine Wohnung konnten<br />
die jungen Neuankömmlinge sich nicht<br />
leisten; stattdessen mieteten sie stundenweise<br />
Betten und erkauften sich, von der<br />
Polizei misstrauisch beäugt, die Möglichkeit<br />
von Schlaf in fremden Wohnungen.<br />
In Dorothee Elmigers zweitem Roman<br />
werden die historischen Schlafgänger<br />
den Flüchtlingen der Gegenwart gegenübergestellt:<br />
Eine namenlos bleibende<br />
Schriftstellerin doziert dort in großer<br />
Runde über Schlaflosigkeit, die sowohl<br />
Schlafgänger als auch Flüchtlinge quäle.<br />
Die Diskutanten sind in einem nicht näher<br />
definierten Raum versammelt; Ort<br />
und Zeit bleiben, wie bereits in Elmigers<br />
Debüt „Einladung an die Waghalsigen“,<br />
nebulös. Betont wird lediglich, dass<br />
man sich in der Gegenwart befinde, als<br />
Außenwelt scheint sporadisch Los Angeles<br />
auf.<br />
Dorothee Elmigers Figuren-Ensemble,<br />
zu dem eine Übersetzerin, ein Student,<br />
eine Frau namens A. L. Erika und<br />
ein Journalist gehören, scheint wie aus<br />
dem Nichts auf eine Theaterbühne zu treten<br />
und dort mehr oder minder willkürlich<br />
Texte zu deklamieren. Darin geht es<br />
um das Verhältnis zwischen Mensch und<br />
Biene, um Tretbootfahrten oder Schleimhautentzündungen<br />
aufgrund von Zugluft<br />
in Orchestergräben. Ihren Gesprächspartnern<br />
begegnen die Figuren meist mit<br />
Spott oder Desinteresse – zu sehr sind sie<br />
von ihrer eigenen Innenwelt absorbiert.<br />
Einzig der Logistiker genießt ungeteilte<br />
Aufmerksamkeit: Der 27-Jährige ist<br />
von Schlaflosigkeit befallen und dient der<br />
Runde als Sensationslieferant. Aufgrund<br />
seiner hartnäckigen Insomnie sind ihm<br />
alle Selbstverständlichkeiten im Leben<br />
abhandengekommen: Er kann sich nicht<br />
mehr von Außeneindrücken distanzieren<br />
und fühlt sich in jede Fernseh- und<br />
Radioszenerie selbst mit hineingesogen.<br />
Mit fortschreitendem Schlafdefizit halluziniert<br />
er von Flüchtlingen, die ihm folgen,<br />
die gar seine Wohnung bevölkern,<br />
bis er zu einem radikalen Mittel greift.<br />
Es scheint, als wollten die übrigen<br />
Diskussionsteilnehmer dem Logistiker<br />
nacheifern: Der Journalist betont, dass<br />
er darüber nachgedacht habe, versuchsweise<br />
eine seiner Fingerkuppen am Verputz<br />
aufzurauen, weil die Flüchtlinge<br />
ihre Fingerkuppen abschleifen, um nicht<br />
identifizierbar zu sein. A. L. Erika wiederum<br />
fantasiert sich im Supermarkt eine<br />
Flüchtlingsvergangenheit für den mexikanischen<br />
Kassierer zurecht: „Ich hatte<br />
mir seinen Körper vorgestellt, wie er sich<br />
bei Mexicali über die Grenze bewegte,<br />
klandestin und gefährdet … Es hatte<br />
mich gereizt, auf diese Weise über seinen<br />
Körper zu verfügen.“<br />
Die Flüchtlingsthematik ist hier jedoch<br />
nur eine von vielen – bald füllt sich<br />
der Raum wieder mit Banalitäten. Die<br />
mal zwei Zeilen, dann wieder vier Seiten<br />
langen Monologe der Figuren sind<br />
unverbunden aneinandergereiht, eine<br />
Handlung oder einen roten Faden gibt es<br />
nicht. Die Struktur des Romans spiegelt<br />
die fehlgehende Kommunikation seiner<br />
Protagonisten wider, deren Unfähigkeit,<br />
der eigenen Selbstbespiegelungslust wenigstens<br />
temporär eine Absage zu erteilen.<br />
Elmigers Figuren sind Vollzeitschattenboxer,<br />
getrieben von einem diffusen<br />
Leiden an sich selbst. Die historischen<br />
Schlafgänger sind ihnen genauso fern<br />
wie die gegenwärtigen Flüchtlinge: Man<br />
spricht über sie, nicht mit ihnen. Die Erzählungen<br />
des Logistikers signalisieren<br />
da nur ein zeitweiliges Erregungsgefühl,<br />
keine Erschütterung. Dieser Diskurs<br />
findet im vertrauten Umfeld studierter<br />
Wohlstandsbürger statt, in einer Komfortzone,<br />
in der die Flüchtlinge gesichtslos<br />
werden. Wie seine Hauptfiguren tritt<br />
auch der Roman selbst gespensterhaft auf<br />
die Bühne, trägt seinen Text vor und verschwindet<br />
dann, ohne Spuren zu hinterlassen.<br />
Dana Buchzik<br />
Dorothee Elmiger<br />
„Schlafgänger“<br />
DuMont, Köln 2014. 142 S., 18 €<br />
Philosophie<br />
Du musst kein<br />
Schwein sein<br />
Aaron James findet eine<br />
leichtfüßige Theorie für den<br />
Rüpel und Widerling an sich<br />
Er ist zumeist männlich, hat ein großes<br />
Mundwerk und stellt eine weitverbreitete<br />
Gattung in der Geschichte<br />
der menschlichen Spezies dar:<br />
das – sagen wir es unverblümt – Arschloch.<br />
Es drängelt auf der Autobahn, klopft<br />
Machosprüche oder kassiert als skrupelloser<br />
Manager Millionen. Gut, dass angesichts<br />
dessen pöbelnder Allgegenwart<br />
nun eine systematische Untersuchung<br />
des respektlosen Scheusals vorliegt. In<br />
„Arschlöcher – eine Theorie“ fühlt der<br />
an der University of California in Irvine<br />
Politische Philosophie lehrende Aaron<br />
James all den Berlusconis, Putins und<br />
Bohlens – um nur einige seiner Vorzeigerüpel<br />
zu erwähnen – auf den Zahn.<br />
Wie es sich gehört, beginnt die Studie<br />
mit einer Definition ihres Gegenstands:<br />
„Ein Mensch gehört zur Gattung Arschloch,<br />
wenn (…) er sich in Beziehungen<br />
zu anderen Menschen systematisch Freiheiten<br />
herausnimmt, die einem tief verwurzelten<br />
Anspruchsdenken entspringen,<br />
das ihn für die Einwände anderer<br />
unempfänglich macht.“ So weit, so gut.<br />
Auf einen humoristischen Klassifikationsparcours<br />
zwischen Mario Barth,<br />
Darwin’scher Artenbestimmung und viel<br />
Klatsch und Tratsch folgt eine umfangreiche<br />
Typologie des marktschreierischen<br />
Widerlings: Da ist zum Beispiel Oliver<br />
Pocher, der Mariah Carey in einer Talkshow<br />
als „Presswurst“ betitelte. Als Musterexemplar<br />
eines arroganten Fieslings<br />
gilt James hingegen der Biologe Richard<br />
Dawkins – setzt er doch den Glauben<br />
pauschal mit kollektiver Idiotie gleich.<br />
Nicht besser halten es Präsidenten<br />
mit eingebautem Vorfahrtssignal. Man<br />
denke an den „Bunga-Bunga“-Politganoven<br />
Berlusconi oder an Mahmud Ahmadinedschad,<br />
die beide UN-Vollversammlungen<br />
nutzten, um ihr ideologisches<br />
Schießpulver auf die westlichen Wohlstandsgesellschaften<br />
abzufeuern.<br />
128<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Jeder bekommt sein Fett ab. Doch<br />
wozu ein solches Buch? Im zweiten Teil<br />
wird die grundsätzliche Dimension sichtbar.<br />
Wie Harry G. Frankfurts „On Bullshit“<br />
oder der filmische Kassenschlager<br />
„Fack ju Göhte“ von Bora Dagtekin verhandelt<br />
James im Mantel des Ordinären<br />
die Herausforderungen gesellschaftlicher<br />
Dekadenz. Um Philosophie einem großen<br />
Publikum mundgerecht zuzubereiten,<br />
werden Show und Geist leichtfüßig<br />
aufeinander bezogen. Jenseits der seichten<br />
Wortkaskaden erweist sich der Autor<br />
als souveräner Jongleur aktueller<br />
Diskurse. Die Fragen, wie die Arschloch-<br />
Mentalität entsteht, die im Grunde eine<br />
Chiffre für allgemeinen Sittenverfall sei,<br />
und wie der einzelne Pöbelknabe moralisch<br />
zu bewerten ist, dienten James dazu,<br />
gekonnt Seitenwege zu den wichtigen<br />
Debatten um Willensfreiheit, Biologismus<br />
und Schuldfähigkeit einzuschlagen.<br />
Vor allem das Kapitel zur systemischen<br />
Analyse gibt den Flapsigkeiten<br />
Substanz. James arbeitet konzentriert<br />
heraus, wie der gegenwärtige Kapitalismus<br />
durch ein falsches Anreiz- und Bonussystem<br />
massenhaften Egoismus und<br />
damit das erwähnte „Anspruchsdenken“<br />
generiert, und zeigt „Eindämmungsmechanismen“<br />
auf. Den Freiheitsgedanken<br />
dieser Wirtschaftsordnung vermag demnach<br />
nur ein Bekenntnis zu den Werten<br />
und deren Institutionen zu retten. Neben<br />
einem erneuerten religiösen Bewusstsein<br />
fordert James mehr Engagement für Familien.<br />
Sie vermittelten „soziale Tugenden“,<br />
Vertrauen und Respekt.<br />
Wie aber soll sich der Einzelne verhalten?<br />
Ihm sei eine stoische Akzeptanz<br />
des menschlichen Makels geraten. Weder<br />
Krieg noch Resignation helfen im Umgang<br />
mit den Radaubrüdern. Selbst wenn<br />
diese Lösungen ein wenig an Glückskeksweisheiten<br />
erinnern, skizziert das Buch<br />
plausibel und nonchalant, wie Mensch<br />
und Gemeinschaft zu dem wurden, was<br />
sie sind. Vielleicht mag das helfen, die<br />
„Arschloch-Nettoproduktion“ künftig ein<br />
wenig zu mindern. Björn Hayer<br />
Aaron James<br />
„Arschlöcher – eine Theorie“<br />
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A., die Hauptfigur aus David Levithans<br />
gerade auf Deutsch erschienenem Jugendroman<br />
„Letztendlich sind wir dem<br />
Universum egal“, jeden Tag erlebt. Er –<br />
oder sie? – hat bei der Geburt keinen eigenen<br />
Körper abbekommen, so die verblüffende<br />
Grundidee des preisgekrönten<br />
Autors. Zum 5994sten Mal wacht er zu<br />
Beginn des Buches deshalb in einem<br />
anderen Körper, einem anderen Leben<br />
auf. Schnell kommt er über „Abfragen“<br />
an wesentliche Informationen: Namen,<br />
Geschlecht, Hautfarbe, Ort, Allergien,<br />
Vorgeschichte. Doch dann muss er sich<br />
blitzschnell im konkreten Umfeld und<br />
jeweiligen Gefühlsleben zurechtfinden.<br />
Und das an jedem Tag seines Lebens.<br />
Als Kind wäre er manchmal gern geblieben,<br />
schrie, wenn die Eltern dieses<br />
Tages am Abend das Licht ausmachten.<br />
Denn im Schlaf, das wusste er, verließ er<br />
diese Familie wieder, wachte am nächsten<br />
Tag in einer anderen auf. Inzwischen<br />
hat er sich abgefunden mit seinem außergewöhnlichen<br />
Dasein und versucht, im<br />
Leben der anderen keinen Schaden anzurichten,<br />
auch wenn er sie, wie am ersten<br />
Morgen des Buches, nicht mag. Justin<br />
wird er heute heißen, im Körper eines<br />
ruppigen und egozentrischen Schülers<br />
stecken, in dessen Zimmer mehr Videospiele<br />
als Bücher herumliegen. Solche Typen<br />
kennt er zur Genüge, das wird wohl<br />
kein guter Tag. Doch hier irrt A.: Dieser<br />
Tag wird alles ändern. Denn er trifft<br />
Justins Freundin Rihannon und verliebt<br />
sich in sie.<br />
Hier beginnt eine der ungewöhnlichsten<br />
Liebesgeschichten der Jugendliteratur.<br />
Wie kann ich jemanden wiedersehen,<br />
wenn ich jeden Tag an einem<br />
130<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014<br />
anderen Ort aufwache? Wie kann ich<br />
eine Beziehung aufbauen, wenn ich selbst<br />
jeden Tag in einem anderen Körper lebe?<br />
Mal schwarz, mal weiß, mal Junge, mal<br />
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Für all dies findet der Autor verblüffende<br />
Antworten. Am überraschendsten<br />
dabei ist, dass A. jenseits aller ständig<br />
wechselnden Äußerlichkeiten als Persönlichkeit<br />
sichtbar und liebenswert wird,<br />
nicht nur für Rihannon, sondern auch für<br />
die Leser. So ist dies Buch ein spannender<br />
und unterhaltsamer Crashkurs in Sachen<br />
Empathie und Toleranz. A. ist es egal, ob<br />
er schwul oder hetero ist, männlich oder<br />
weiblich, arm oder reich. Da er das alles<br />
schon von innen erlebt hat, weiß er<br />
um das Verbindende allen Lebens – auch<br />
ohne eigene äußere Attribute ist er ganz<br />
er selbst. Oder sie.<br />
Dieses furiose Buch stellt all die<br />
sorgfältig gepflegten Unterschiede infrage,<br />
mit deren Hilfe wir uns definieren.<br />
A. kann nur deshalb sein Leben bewältigen,<br />
weil genau diese Unterschiede, so<br />
nimmt er es wahr, nicht mehr als 2 Prozent<br />
unseres Menschseins ausmachen.<br />
Das Verbindende verpflichtet uns dazu,<br />
uns umeinander zu kümmern, besonders,<br />
da wir dem Universum egal sind. Das alles<br />
klingt recht philosophisch, und das ist<br />
es auch. Doch motivieren sich die Überlegungen<br />
zwanglos aus dem Gang der Ereignisse<br />
und aus der Vielfalt der involvierten<br />
Personen.<br />
Ganz nebenbei ändert sich während<br />
der Lektüre aber auch der Blick auf<br />
das eigene Leben. Welcher Jugendliche<br />
möchte nicht irgendwann jemand anders<br />
sein, wünscht sich nicht hin und wieder<br />
andere Eltern? Welches Privileg es jedoch<br />
ist, eine Geschichte zu haben, einen<br />
Namen, Erinnerungen und die Möglichkeit,<br />
sich für den nächsten Tag zu verabreden,<br />
darüber bringt uns dieses Buch<br />
zum Nachdenken.<br />
Am Schluss, dies als Warnung, gibt<br />
es kein Happy End für das junge Liebespaar.<br />
Nur eine Hoffnung auf den zweiten<br />
Band.<br />
Britta Sebens<br />
David Levithan<br />
„Letztendlich sind wir dem<br />
Universum egal“<br />
Aus dem Amerikanischen von Martina Tichy.<br />
S. Fischer FJB, Frankfurt a. M. 2014. 394 S., 16,99 €
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Bibliotheksporträt<br />
DENN DIESES ICH<br />
SIND SEHR VIELE<br />
Der Rezitator und Schriftsteller Gert Heidenreich lernte aus<br />
Büchern die Grammatik des Verlusts und der Liebe. In seinem<br />
Haus am Ammersee überwintern Träume<br />
Von EVA GESINE BAUR<br />
Wir haben eine Kanne Tee leer getrunken. Da sagt er mit seinem Gandhi-Lächeln<br />
in die Regale: „Ich war das unheimliche Kind einer unheimlichen<br />
Welt.“ Ein Kind, das während eines Bombenhagels in die Welt geholt<br />
wurde, „von einer mit Branntwein besoffenen Hebamme“. Das mit vier in<br />
der Flüchtlingsvilla im hessischen Großzimmern stand und sagte: „Ich will<br />
nach Afrika.“ Ein Kind, das mit elf seine ersten Theaterstücke schrieb, in<br />
Versen. Ein Kind, das alles Düstere mochte, sich schuld daran fühlte, dass<br />
den Eltern die Liebe abhandengekommen war, und sich zurückzog in Bücherwelten.<br />
Ein unheimisches Kind, ohne Heimat.<br />
Über dem Klappbett hatte er drei Fächer für Bücher. 50 <strong>Jahre</strong> nach seiner<br />
Geburt schrieb Gert Heidenreich „Das Buch ist die Heimat der Phantasie“.<br />
Und 69 <strong>Jahre</strong> nach seiner Geburt eine Erzählung über „Die andere<br />
Heimat“. Nicht seine, sondern die von Regisseur Edgar Reitz, mit dem er<br />
das Drehbuch des gleichnamigen Filmes über ein Dorf im Hunsrück schrieb.<br />
Beide erhielten den Bayerischen Filmpreis 2014.<br />
Die Bibliothek im zugewucherten Haus ist kühl. Seit 30 <strong>Jahre</strong>n lebt Heidenreich<br />
hier im Hinterland des Ammersees in Oberbayern. Vier Wochen<br />
war das Haus unbewohnt. In der Nacht ist er aus dem Urlaub zurückgekehrt,<br />
den er mit Frau und Sohn dort im eigenen Haus verbracht hat.<br />
Zuletzt hat er also am Drehbuch eines Spielfilms mitgearbeitet. „Es war<br />
ein neues und heftiges Erlebnis“, sagt er. Die einzige Erscheinungsform von<br />
Sprache, die er noch nicht ausprobiert hatte. Die anderen übte er so intensiv,<br />
dass jeder meint, er müsse jeweils nur darin zu Hause sein. „Die meisten<br />
halten mich für viele“, sagt er. Die meisten kriegen nicht zusammen, dass<br />
es da einen Journalisten und einen Dramatiker, einen Essayisten und einen<br />
Romancier, einen fabelhaften Sprecher, einen Lyriker und einen Krimiautor<br />
gibt, die alle Gert Heidenreich heißen, alle 1944 in Eberswalde geboren<br />
worden sind. Und zweieinhalb Meter im Bücherregal füllen.<br />
Fichtenholzregale bis unter den Giebel. Die Bücher lax geordnet. „Nur<br />
nach Anfangsbuchstaben. Horvath kann vor Hegel stehen. Aber ich finde alles.“<br />
Über dem Fenster hängen selbst gemalte Bilder. Auf dem Tisch liegen<br />
133<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
die neuen CDs mit Endes „Momo“, daneben das „Heimat“-Buch. Doch ihr<br />
Macher sagt: „Ich bin aus der Zeit geraten. Wie Jakob, der Träumer.“ Die<br />
Hauptfigur des Reitz-Filmes. Anders als dessen Bruder, der Tatendurstige,<br />
lebt Jakob nur in seiner Fantasie und seinen Büchern. „Ohne Träume“, sagt<br />
Heidenreich, „kann der Mensch nicht leben. Er muss wissen, wie Hoffnung<br />
geht.“<br />
Früh lernte das Flüchtlingskind, wohin es fliehen konnte. Er lernte es<br />
von seiner Lehrerin in der Volksschule, Fräulein Ott, „weißer Knoten, weißer<br />
Schnurrbart und glühend begeistert fürs Buch“. Und von seiner Mutter,<br />
einer Lehrerin für Deutsch, Biologie und Religion. „Die hat im Gymnasium<br />
den Urfaust inszeniert.“ Später die „Antigone“ des Sophokles. „Nur in der<br />
Literatur wird die Erfahrung der Menschheit bewahrt. Nur das Lesen bereitet<br />
vor auf Verlust und Liebe, auf Angst und Neid“, sagt Heidenreich.<br />
Gert, der Träumer, entführte schon als Gymnasiast in Darmstadt andere<br />
in seine Reiche. „Wenn ich Goethes ‚Prometheus‘ vorgetragen habe, haben<br />
die anderen gesagt: Der kann das so, dass du glaubst, er wäre Prometheus.“<br />
Mit der Wirklichkeit ist der Träumer oft kollidiert. Durch die Aufnahmeprüfung<br />
zur Sprecherausbildung fiel er durch. Dass er dennoch zu einem<br />
der begehrtesten Sprecher im Lande wurde, verdanke er Robert Michal<br />
beim Bayerischen Rundfunk. Beim ersten Lesen nach hartem Training unterbrach<br />
ihn Michal, bevor er ein Wort gesprochen hatte. „Aber ich habe<br />
doch noch gar nichts gesagt“, protestierte Gert Heidenreich. „Du hast falsch<br />
geatmet.“ Sprechen ist Kunst, die Schwerstarbeit erfordert, damit sie leicht<br />
daherkommt. Vier Wochen hat er sich vorbereitet, Ecos „Der Name der<br />
Rose“ einzulesen. Und dann in zehn Tagen eingespielt, in denen er lebte<br />
„wie ein Hochleistungssportler“.<br />
Später flog er beim BR hinaus, als ein williger Aufräumer entfernte,<br />
was Franz Josef Strauß „rote Giftspritzer“ nannte. Damals, Ende der Siebziger,<br />
hatte er sich längst daran gewöhnt, an keinem Ort heimisch zu sein.<br />
Auch wenn das Schicksal ihn dazu nötigen will. „Ich bin einen Tag nach<br />
dem Abitur aus Darmstadt abgehauen. Aber als PEN-Präsident musste ich<br />
ständig wieder dorthin. Da wurde es mir immer fremder.“ Im Jahr 2000 erschienen<br />
Erzählungen von ihm unter dem Titel: „Der Mann, der nicht ankommen<br />
konnte“. Dass der Mann dahinter es nimmermüde versucht, macht<br />
Gert Heidenreichs Bücher zu einer Weltreise für seine Leser.<br />
Er führt sie in die Nähe seines normannischen Hauses in „Die Steinesammlerin<br />
von Etretat“, führt sie durch sein Paris, sein München in „Abschied<br />
von Newton“, führt in seine innere Heimat, in der er schweigsam<br />
lebte nach dem Tod seines 17-jährigen Sohnes Johannes, mit den Gedichten<br />
„Im Augenlicht“. In seinem Wüstenroman „Belial oder die Stille“ landete<br />
er dort, wo er mit vier <strong>Jahre</strong>n hingewollt hatte, Afrika.<br />
Auf dem Tisch liegt sein Tablet, ohne das er nicht reist. „Der ganze Hölderlin<br />
drauf und der ganze Rilke.“ Heimat, tragbar.<br />
EVA GESINE BAUR hat soeben „Mozart. Genius und Eros“ ( Beck ) veröffentlicht<br />
134<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014<br />
Foto: Dirk Bruniecki für <strong>Cicero</strong>
SALON<br />
136<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
Foto: Jens Gyarmaty/VISUM [M]<br />
Die letzten 24 Stunden<br />
In der Pampa<br />
hoch zu Pferd,<br />
glückstrunken<br />
im Theater<br />
HORTENSIA<br />
VÖLCKERS<br />
Hortensia Völckers<br />
Die Kunsthistorikerin arbeitete<br />
als Kuratorin für Tanz und<br />
Bildende Kunst, war Intendantin<br />
der Wiener Festwochen und ist<br />
seit 2002 künstlerische Direktorin<br />
der Kulturstiftung des Bundes<br />
Man lebt nur einmal, heißt<br />
es, deshalb stirbt man<br />
auch nur einmal. Trotzdem<br />
kann ich mich nicht<br />
zwischen zwei Szenarien<br />
entscheiden, wie ich meine letzten<br />
24 Stunden vor mir sehe. Das hat gewiss<br />
etwas mit meiner gesamten Existenz zu<br />
tun, die sich zwischen zwei Kontinenten<br />
abspielt und in der sich die elementare<br />
Erfahrung der Natur ebenso nachdrücklich<br />
spiegelt wie die der Kultur.<br />
Ich wurde in Buenos Aires geboren.<br />
Als Kind habe ich die mehrmonatigen<br />
Sommerferien oft im Norden verbracht,<br />
rund vier Autostunden entfernt von der<br />
Hauptstadt. In der Pampa ist die Landschaft<br />
völlig flach, der Himmel meist blau<br />
und das Licht immer sehr besonders. Wie<br />
alle saß ich andauernd auf dem Pferd,<br />
und das würde ich vor meinem Tod wieder<br />
so machen, ohne Sattel, bloß mit einem<br />
Schafsfell als Unterlage.<br />
Der Tag wird nicht einsam, aber in<br />
Stille verlaufen, weil die Menschen, die<br />
dort leben, höchstens das Notwendigste<br />
reden. Ihre Pferde sind gutmütige Arbeitstiere<br />
und helfen dabei, die Kuhherden<br />
zusammenzuhalten oder anzutreiben.<br />
Man steht um vier Uhr morgens auf,<br />
wenig später geht es los bis gegen Mittag,<br />
wenn es mit 40 Grad Celsius unerträglich<br />
heiß wird. Dann setzen sich alle unter die<br />
Bäume. Man grillt Fleisch, trinkt Matetee,<br />
schweigt gemeinsam.<br />
Ist ein Fluss zu durchqueren,<br />
schwimmt man mit den Pferden an das<br />
andere Ufer, indem man absteigt und<br />
sich an ihrem Schwanz festhält. In der<br />
Hitze trocknen Mensch und Tier schnell<br />
und reiten weiter, Stunde um Stunde. Es<br />
ist eine ziemlich kontemplative Tätigkeit.<br />
Ich stelle mir vor, dass ich einfach<br />
nicht aufhöre zu reiten, bis mein Pferd<br />
und ich, die wir beide schon alt sind, vor<br />
Erschöpfung zusammenbrechen, einschlafen<br />
und sterben. Wir haben all unsere<br />
Kräfte aufgebraucht und sind ohne<br />
Aufhebens in den Weiten der Landschaft<br />
verschwunden.<br />
Meine Mutter lebt noch in Argentinien,<br />
auch deswegen sind meine Beziehungen<br />
zu diesem Land nach wie<br />
vor eng. Weihnachten habe ich nie anderswo<br />
gefeiert. Das überrascht mich<br />
selbst, denn ich bin, Arbeitsstationen in<br />
New York und Wien ausgenommen, seit<br />
über 30 <strong>Jahre</strong>n in Deutschland daheim.<br />
Als Reverenz an die unzähligen tollen<br />
Stunden, die ich hier mit Kunst und Kultur<br />
privat wie beruflich verbracht habe,<br />
möchte ich aber auch gern in einem Theatersaal<br />
sterben.<br />
Ich würde die Zeit zurückdrehen<br />
und mir Jürgen Goschs grandiose Düsseldorfer<br />
Inszenierung von „Macbeth“<br />
wünschen, die 2006 zum Berliner Theatertreffen<br />
eingeladen wurde. Sämtliche<br />
Rollen wurden, wie einst bei Shakespeare<br />
üblich, nur von Männern gespielt,<br />
was zur Folge hatte, dass etwa Devid<br />
Striesow eine ganz reizende Lady Macbeth<br />
mit Faltenröckchen und Langhaarperücke<br />
zeigte.<br />
Bald waren alle nackt und übergossen<br />
sich mit Flaschen voller Blut, die<br />
deutlich sichtbar am Bühnenrand standen,<br />
mit Unmengen von Mousse au chocolat<br />
und sonstigem Zeug. Das alles hätte<br />
ekelhaft wirken können, tat es jedoch<br />
nicht, weil die Mittel ohne Täuschungsmanöver<br />
offengelegt und formal großartig<br />
eingesetzt waren. Wenn alle Zuschauer<br />
längst gegangen sind, würde ich<br />
allein im leeren Raum weiterklatschen,<br />
und der Kunst, die mir zeitlebens so viel<br />
Freude und Glück geschenkt hat, mit einem<br />
letzten Applaus danken. Bis dass der<br />
Tod uns scheidet.<br />
Aufgezeichnet von IRENE BAZINGER<br />
137<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
POSTSCRIPTUM<br />
N°-5<br />
MEHR DENKEN WAGEN!<br />
Es floh einmal eine fleißige Generation<br />
Adenauer mit gestärkten Hemden und<br />
imprägnierten Seelen ins Morgen, weil das<br />
Gestern so braun und böse war. Dann forderte<br />
eine kritische Generation Brandt mit<br />
wehendem Schopf und suchendem Herzen<br />
das Heute, schon weil das ihre Väter ärgerte.<br />
Sie wich der Mauerfall-Generation<br />
Kohl mit weitem Blick und praktischem<br />
Verstand, die kuschelte sich ins Gestern als<br />
Gemütlichkeitsecke für verlorene Identitäten.<br />
Doch was ist heute? Wankt da eine<br />
Generation Merkel im Fließgewand der<br />
Bewusstlosigkeit, ohne Gestern, Heute und<br />
Morgen? Zumindest prägen die Weißräume<br />
des Großkoalitionären die politische Kultur<br />
so stark, dass sich unser Land anfühlt wie<br />
eine Lounge der konfliktfreien Willenlosigkeit.<br />
Wie die Kanzlerin sich selbst, so<br />
definiert sich die Republik nicht mehr durch<br />
das, was sie ist und will, sondern nur noch<br />
durch das, was sie nicht ist und nicht will.<br />
Die Große Koalition avanciert damit<br />
nicht bloß zur langatmigen Regierungsformation,<br />
sie wird zur Signatur unserer Zeit.<br />
Vom Elternabend über das Ikea-Wohnzimmer<br />
bis zum Parteitag wollen sich alle am<br />
liebsten auf einem Quadratmillimeter politisch<br />
korrekter Mitte treffen. Das öffentliche<br />
Streiten ist einem permanenten Koalitionsgespräch<br />
gewichen. Medien setzen<br />
dazu seltsame Prioritäten, die die kritische<br />
Intelligenz immer geringer schätzt, die affirmative<br />
höher und die inszenatorische am<br />
höchsten. Dereinst tobte sogar ein Kampf<br />
um Argumente, woraufhin Politiker, Journalisten,<br />
Staatsbürger über Inhalte Feinde<br />
werden konnten. Vorbei. Heute wollen wir<br />
einander nur lässig gefallen. Entspannung<br />
ist wichtiger als Entdeckung. Das ist nicht<br />
bloß Possierlichkeit der Postmoderne, es ist<br />
der Triumph des Opportunistischen über<br />
die Wahrheit. Wenn aber das Kleid des<br />
Großkoalitionären alles umschmeichelt,<br />
darf man sich dann wundern, dass Politik<br />
wie Medien eine Glaubwürdigkeitskrise<br />
durchleiden? Die Menschen durchschauen<br />
das schillernde Grokokleid als lichtes<br />
Nachthemd.<br />
Das war eine Motivation, als wir vor<br />
zehn <strong>Jahre</strong>n mit <strong>Cicero</strong> Opposition machten.<br />
Opposition nicht gegen Parteien und<br />
Regenten, sondern gegen die Uniformität<br />
des Denkens, gegen die Deformation des<br />
Politischen zum Treibholz der Geschichte.<br />
<strong>Cicero</strong> lud ein zum Wettbewerb der Ideen<br />
und Haltungen. Die Überzeugten und<br />
Überzeugenden haben uns interessiert.<br />
Umso schöner ist es, dass <strong>Cicero</strong> in diesen<br />
zehn <strong>Jahre</strong>n autonomes Denken riskiert<br />
hat und mit einer altmodischen Suche nach<br />
Wahrheit die Supernanny der geistigen<br />
Konformität immer mal wieder auf andere<br />
Gedanken gebracht hat.<br />
WOLFRAM WEIMER<br />
gründete <strong>Cicero</strong> und war von 2004<br />
bis 20<strong>10</strong> Chefredakteur. Heute ist er<br />
Verleger der Weimer Media Group.<br />
Anlässlich des Jubiläums schließt er<br />
diese Ausgabe ab<br />
DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 22. MAI<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
138<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014
hermès. ein neues zeitverständnis.<br />
arceau le temps suspendu<br />
einen augenblick lang die zeit vergessen, um sie ihrem tempo anzupassen:<br />
anhand eines drückers können sie auf wunsch die stunden und minuten verschwinden lassen,<br />
während der sekundenzeiger unermüdlich seinem rasanten lauf folgt. dank einer<br />
exklusiven hauseigenen komplikation, verbirgt die schöne illusion den unbehelligt fortgesetzten<br />
gang des uhrwerks. durch einen weiteren fingerdruck wird die zeit erneut angezeigt.<br />
Informationen unter: 089 55 21 53 0<br />
HERMES.COM