Himmel und Erde - Lutherkirche Wiesbaden
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Kreislaufvon Günter Meder<br />
7<br />
Simone kannte ich aus der Zeit der Bürgerinitiative zur<br />
Erhaltung der Wildkirschbäume in unserem Wohnviertel.<br />
Sie war mit einem Mann verheiratet, der zweimal in<br />
meinem Beisein Männer über 50 als »alte Säcke« bezeichnet<br />
hatte. Aufgr<strong>und</strong> meiner Frage, wie viele Jahre er denn<br />
selbst noch benötige, um zu dieser »erlauchten Gruppe«<br />
dazu zu gehören, zog ich mir seinen Unmut zu, den er sicherlich<br />
schon vorher aus der leicht zu erklärenden Tatsache<br />
gehabt hatte, dass Simone mich aus welchen Gründen<br />
auch immer – wie ich übrigens auch sie – schätzte. Während<br />
ihr Mann täglich nach Frankfurt mit Zug, Anzug <strong>und</strong><br />
Aufzug in die 17. Etage einer Investmentbank einpendelte,<br />
designte <strong>und</strong> plante Simone indessen in ihrer dreiviertel<br />
Million Euro teuren Eigentumswohnung die lebensfremde<br />
Zukunft ihrer Kinder, der zufolge die Gegenwart nichts galt<br />
<strong>und</strong> Kindheit ein Mangelzustand war, der nur durch möglichst<br />
frühes Lernen, Wissensaneignung <strong>und</strong> Trainings –<br />
unter anderem in Frühchinesisch <strong>und</strong> Fagott-Spielen – zu<br />
überwinden war.<br />
Dass Simone mich mochte, merkte ich jedes Jahr daran,<br />
dass sie mich ein oder zwei Tage nach meinem Geburtstag<br />
anrief <strong>und</strong> mir gratulierte. »Ich habe auch ein Geschenk<br />
für Dich.« Diesen Satz sagt sie mir nun schon seitdem ich<br />
sie kenne. Das Geschenk überreicht sie mir dann aber immer<br />
erst bei irgendeinem Anlass ungefähr ein halbes Jahr<br />
nach meinem Geburtstag, obwohl sie nur eine Straße weiter<br />
wohnt.<br />
Das erste Geschenk, das sie mir vor zehn Jahren gemacht<br />
hatte, war eine CD mit Bach-Adaptionen<br />
für Akkordeon <strong>und</strong> Querflöte mit<br />
Alexei Stranuriwitsch <strong>und</strong> Swetlana<br />
Plischiskova der Petersburger<br />
Meisterklasse. Wer<br />
mich kannte – <strong>und</strong> Simone<br />
konnte mich nicht kennen<br />
– wusste, dass ich zwar<br />
die Musik von Bach sehr<br />
mochte, aber dass eine<br />
Kombination von Akkordeon<br />
<strong>und</strong> Querflöte<br />
›nicht an mich ranging‹.<br />
Ich hörte mir die<br />
CD also erst gar nicht<br />
an, ließ sie in ihrer<br />
Cellophanverpackung, auf der ein kleiner Aufkleber mir signalisierte,<br />
dass Simone diese CD in der Musikalienhandlung<br />
Wagner <strong>und</strong> Heffner in Kassel erstanden haben musste.<br />
Zwei Wochen später verschenkte ich sie an Werner, von<br />
dem ich dachte, dass er Akkordeonmusik mochte, da er<br />
schließlich seinen Sohn jahrelang zum Akkordeonunterricht<br />
in einen Vorort gefahren hatte. Auch dachte ich:<br />
Wenn Werner diese CD nicht mag, schenkt er sie seinem<br />
Sohn weiter <strong>und</strong> somit hat er ein Geschenk gespart, so wie<br />
ich ein Geschenk an Werner gespart habe, wenn ich die<br />
CD von Simone für mich an ihn weiterschenke.<br />
So schenkt mir Simone nun schon jedes Jahr – wie schon<br />
gesagt immer ein halbes Jahr nach meinem Geburtstag –<br />
eine CD, die bisher alle ohne Ausnahme noch nie meinem<br />
musikalischen Geschmack entsprochen haben. An allen<br />
fehlte mir Biss, Experiment, Neugierde auf Neues <strong>und</strong> lebendige<br />
Musikalität. So habe ich alle weiterverschenkt <strong>und</strong><br />
manchen Menschen, das bildete ich mir jedenfalls ein, eine<br />
echte Freude gemacht. Vorher hatte ich die Idee, sie auf<br />
dem jährlich im Viertel stattfindenden Flohmarkt zu verkaufen.<br />
Doch riet ich mir selber davon aus naheliegenden<br />
Gründen ab, denn Simone wohnt ja nur eine Straße weiter.<br />
Gestern war es dann mal wieder soweit. Simone hatte mir<br />
im Mai zwei Tage nach meinem Geburtstag gratuliert <strong>und</strong><br />
gestern – es war ein kalter eisiger Novembertag – steckte<br />
sie mir während der Eröffnung der neuen Festhalle eine<br />
CD in meine Manteltasche, flüsterte mir noch »Nachträglich<br />
zu Deinem Geburtstag« zu <strong>und</strong> verschwand,<br />
»denn ich habe noch einen Termin«, sagte sie.<br />
Heute habe ich die CD in meiner Manteltasche<br />
wiederentdeckt, das schöne Geschenkband<br />
aufgeschnürt <strong>und</strong> das<br />
bunte Papier aufreißen müssen. Was<br />
wird es dieses Mal für eine Musik<br />
sein? Ich halte die CD in den Händen:<br />
Bach-Adaptionen für Akkordeon<br />
<strong>und</strong> Querflöte mit Alexei<br />
Stranuriwitsch <strong>und</strong> Swetlana<br />
Plischiskova der Petersburger<br />
Meisterklasse. Hinten auf der<br />
Cellophanverpackung immer<br />
noch der kleine Aufkleber der<br />
Musikalienhandlung Wagner<br />
<strong>und</strong> Heffner in Kassel.<br />
himmel <strong>und</strong> erde | März – Juni 2013