Warum Esperanto in Europa keine Chance hat - Plansprachen.ch
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<strong>Warum</strong> <strong>Esperanto</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> ke<strong>in</strong>e <strong>Chance</strong> <strong>hat</strong><br />
Aktuelle Spra<strong>ch</strong>enkonstellation und Spra<strong>ch</strong>(en)politik <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> und ihre<br />
wahrs<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>li<strong>ch</strong>en Konsequenzen für <strong>Esperanto</strong><br />
2 Bu<strong>ch</strong>- und Themenbespre<strong>ch</strong>ungen<br />
Andreas Künzli (CH)<br />
S<strong>ch</strong>re<strong>in</strong>er, Patrick: Staat und Spra<strong>ch</strong>e <strong>in</strong> <strong>Europa</strong><br />
Nationalstaatli<strong>ch</strong>e E<strong>in</strong>spra<strong>ch</strong>igkeit und die Mehrspra<strong>ch</strong>enpolitik der Europäis<strong>ch</strong>en Union.<br />
Verlag Peter Lang, Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong>, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2006.<br />
186 S. 1<br />
Im Jahr 2004 war e<strong>in</strong>e Europäis<strong>ch</strong>e Union entstanden, die 27 Staaten mit <strong>in</strong>sgesamt 21 Amtsund<br />
Arbeitsspra<strong>ch</strong>en repräsentierte. 2007 wurden no<strong>ch</strong> Rumänien und Bulgarien aufgenommen, so<br />
dass das Spra<strong>ch</strong>enspektrum si<strong>ch</strong> auf 23 erweiterte. 2 Die Vertiefung der Integration führte dazu, dass<br />
die politis<strong>ch</strong>en Aufgaben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zunehmend vielspra<strong>ch</strong>igen Umfeld gelöst werden mussten.<br />
Spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und spra<strong>ch</strong>enpolitis<strong>ch</strong> führte diese historis<strong>ch</strong>e Erweiterung zu e<strong>in</strong>er grösseren Komplexität<br />
und ma<strong>ch</strong>te e<strong>in</strong>e enorme zusätzli<strong>ch</strong>e Übersetzungstätigkeit notwendig. (Kap. 2.1.).<br />
Die offizielle Statusplanung (Amtsspra<strong>ch</strong>enregelung) und die <strong>in</strong>offizielle Statusplanung<br />
(Arbeitsspra<strong>ch</strong>enregelung) der EU <strong>hat</strong> e<strong>in</strong>e Hierar<strong>ch</strong>ie europäis<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>en mit vier Stufen<br />
ges<strong>ch</strong>affen. Die oberste Stufe bilden das Englis<strong>ch</strong>e und das Französis<strong>ch</strong>e, deren immense Bedeutung<br />
si<strong>ch</strong> vor allem dar<strong>in</strong> ausdrückt, dass diese beiden Spra<strong>ch</strong>en mit Abstand am meisten na<strong>ch</strong>gefragt s<strong>in</strong>d.<br />
Die zweite Stufe umfasst die restli<strong>ch</strong>en 21 EU-Amtsspra<strong>ch</strong>en, die zwar im externen S<strong>ch</strong>riftverkehr und<br />
bei Veröffentli<strong>ch</strong>ungen der EU e<strong>in</strong>e gewisse Rolle spielen, im bürokratis<strong>ch</strong>en Arbeitsalltag aber zu<br />
verna<strong>ch</strong>lässigen s<strong>in</strong>d. Die dritte Stufe betrifft diejenigen Spra<strong>ch</strong>en, die weder EU- no<strong>ch</strong><br />
e<strong>in</strong>zelstaatli<strong>ch</strong>e Amtsspra<strong>ch</strong>en s<strong>in</strong>d, aber dur<strong>ch</strong> Bes<strong>ch</strong>luss des M<strong>in</strong>isterrats im Juni 2005 auf EU-Ebene<br />
<strong>in</strong> vielem den EU-Amtsspra<strong>ch</strong>en glei<strong>ch</strong>gestellt wurden. 3 Die vierte Stufe s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> besteht aus den<br />
übrigen europäis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en, die ni<strong>ch</strong>t e<strong>in</strong>mal Amtsspra<strong>ch</strong>en s<strong>in</strong>d. 4<br />
So f<strong>in</strong>det die EU e<strong>in</strong>e Reihe ‚fertiger’ Standardspra<strong>ch</strong>en vor, die als Amtsspra<strong>ch</strong>en ihrer<br />
Mitgliedstaaten zuglei<strong>ch</strong> den Status glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigter EU-Amtsspra<strong>ch</strong>en geniessen.<br />
Für die EU-Alltagsspra<strong>ch</strong>enpraxis bedeutet diese spra<strong>ch</strong>pyramidale und hierar<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e<br />
Konstruktion aber vor allem dies: Während <strong>in</strong> der M<strong>in</strong>isterrunde des Rates grundsätzli<strong>ch</strong> komplett<br />
verdolmets<strong>ch</strong>t wird, ist bei vor- und na<strong>ch</strong>bereitenden Beamten- und Expertentreffen Englis<strong>ch</strong> die<br />
e<strong>in</strong>zige Spra<strong>ch</strong>e. Die Dom<strong>in</strong>anz des Englis<strong>ch</strong>en ist also s<strong>ch</strong>on heute gross und wird mit ziemli<strong>ch</strong>er<br />
Si<strong>ch</strong>erheit au<strong>ch</strong> ohne aktives Zutun no<strong>ch</strong> zunehmen. Frankrei<strong>ch</strong> fordert lautstark die<br />
1 Inhaltsverzei<strong>ch</strong>nis s http://www.planspra<strong>ch</strong>en.<strong>ch</strong>/Peterlang_S<strong>ch</strong>re<strong>in</strong>er_StaatundSpra<strong>ch</strong>e.pdf.<br />
2 Diese Erweiterung konnte <strong>in</strong> diesem Bu<strong>ch</strong>, dessen Redaktionss<strong>ch</strong>luss im Oktober 2005 war, ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
berücksi<strong>ch</strong>tigt werden.<br />
3 Dies betrifft z.B. das Katalanis<strong>ch</strong>e, s.<br />
http://www20.gencat.cat/docs/Llengcat/Documents/Publicacions/Catala%20llengua%20<strong>Europa</strong>/Arxius/cat_euro<br />
pa_alemany_07.pdf. E<strong>in</strong>e Sonderstellung nimmt au<strong>ch</strong> das Luxemburgis<strong>ch</strong>e e<strong>in</strong>, das zwar Nationalspra<strong>ch</strong>e e<strong>in</strong>es<br />
souveränen EU-Mitgliedstaats ist, nämli<strong>ch</strong> des Grossherzogtums Luxemburgs, <strong>in</strong>nerhalb der EU aber als<br />
M<strong>in</strong>derheitenspra<strong>ch</strong>e gilt, also ke<strong>in</strong>e Amtsspra<strong>ch</strong>e der Union ist. Obwohl seit 1973 Vertragsspra<strong>ch</strong>e, wurde<br />
Iris<strong>ch</strong> erst 2007 als Amtsspra<strong>ch</strong>e <strong>in</strong> der EU e<strong>in</strong>geführt. In den baltis<strong>ch</strong>en Staaten Estland und Lettland ist zwar<br />
mehr als e<strong>in</strong> Drittel der Bevölkerung russis<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>ig, denno<strong>ch</strong> <strong>hat</strong> das Russis<strong>ch</strong>e dort ledigli<strong>ch</strong> den Status e<strong>in</strong>er<br />
Fremdspra<strong>ch</strong>e (wie Englis<strong>ch</strong>, Deuts<strong>ch</strong>, F<strong>in</strong>nis<strong>ch</strong>, S<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong> usw.). In Lettland wird von gewissen Kreisen<br />
gefordert, das Russis<strong>ch</strong>e zur zweiten Amtsspra<strong>ch</strong>e zu erheben.<br />
4 S. au<strong>ch</strong> http://de.wikipedia.org/wiki/Amtsspra<strong>ch</strong>e_(Europäis<strong>ch</strong>e_Union)#Liste_der_Amtsspra<strong>ch</strong>en.<br />
1
Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung der europäis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en, während Deuts<strong>ch</strong>land und Österrei<strong>ch</strong> die Stärkung des<br />
Deuts<strong>ch</strong>en verlangen.<br />
Spra<strong>ch</strong>(en)politis<strong>ch</strong>er Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en Nationalstaaten und EU<br />
Historis<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tet verfolgten die Nationalstaaten eher den Kurs der spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Zentralisierung. Denn die monozentris<strong>ch</strong>e Struktur der Nationalstaaten ma<strong>ch</strong>te – und ma<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong><br />
heute – e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e als vere<strong>in</strong>igendes Mittel zur Verständigung <strong>in</strong> S<strong>ch</strong>lüsselberei<strong>ch</strong>en<br />
wie Wirts<strong>ch</strong>aft, Verwaltung, Re<strong>ch</strong>tswesen und Medien <strong>in</strong> diesen Staaten unabd<strong>in</strong>gbar. H<strong>in</strong>gegen <strong>hat</strong><br />
die EU die Notwendigkeit oder die Mögli<strong>ch</strong>keit, zu Gunsten von Ökonomie, Kommunikation und<br />
Re<strong>ch</strong>tswesen e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitli<strong>ch</strong>e europäis<strong>ch</strong>e Amts- und Verkehrsspra<strong>ch</strong>e offiziell e<strong>in</strong>zuführen, bislang<br />
ni<strong>ch</strong>t gesehen, trotz der offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Probleme mit der Vielspra<strong>ch</strong>igkeit. Mit anderen Worten: Der<br />
wesentli<strong>ch</strong>ste Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en der Spra<strong>ch</strong>enpolitik der EU und der Spra<strong>ch</strong>politik der<br />
Nationalstaaten besteht dar<strong>in</strong>, dass erstere von der Idee der Vielspra<strong>ch</strong>igkeit ausgeht, während letztere<br />
vom Anspru<strong>ch</strong> auf E<strong>in</strong>spra<strong>ch</strong>igkeit geprägt ist.<br />
Ausserdem ist Idee der europäis<strong>ch</strong>en Vielspra<strong>ch</strong>igkeit wie die nationalistis<strong>ch</strong>e Idee<br />
spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er E<strong>in</strong>heit eng mit der Vorstellung e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit von Territorium und Spra<strong>ch</strong>e verknüpft.<br />
Dem Nationalspra<strong>ch</strong>enpr<strong>in</strong>zip zufolge soll <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es bestimmten Territoriums e<strong>in</strong>e bestimmte<br />
Spra<strong>ch</strong>e, die Nationalspra<strong>ch</strong>e, gespro<strong>ch</strong>en werden. Die EU anerkennt diese E<strong>in</strong>heit von Spra<strong>ch</strong>e und<br />
Territorium. Die EU-Vielspra<strong>ch</strong>igkeit ist also <strong>in</strong>sofern territorial gebunden, als die EU ke<strong>in</strong>eswegs die<br />
Vorstellung der E<strong>in</strong>heit von Territorium und Spra<strong>ch</strong>e <strong>in</strong> Frage stellt oder sogar aufzulösen<br />
beabsi<strong>ch</strong>tigt.<br />
Konsequenzen für die Spra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheitenpolitik<br />
Was Spra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheiten (Kap. 2.4.) anbelangt, galten diese den Nationalstaaten lange Zeit als<br />
H<strong>in</strong>dernisse auf dem Weg zur e<strong>in</strong>heitli<strong>ch</strong>en Nationalspra<strong>ch</strong>e. Au<strong>ch</strong> wenn si<strong>ch</strong> <strong>in</strong>sbesondere na<strong>ch</strong> dem<br />
Zweiten Weltkrieg e<strong>in</strong>e deutli<strong>ch</strong> m<strong>in</strong>derheitenfreundli<strong>ch</strong>ere Politik der Nationalstaaten beoba<strong>ch</strong>ten<br />
lässt, ist der Anspru<strong>ch</strong> der Nationalstaaten auf nationalspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e E<strong>in</strong>heit längst ni<strong>ch</strong>t passé. Dies<br />
zeigt si<strong>ch</strong> an immer wiederkehrenden Debatten um die Re<strong>ch</strong>te von M<strong>in</strong>derheiten, an den weitgehend<br />
unverb<strong>in</strong>dli<strong>ch</strong>en völkerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Regelungen, an der spra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheitenpolitis<strong>ch</strong>en Passivität des<br />
Europäis<strong>ch</strong>en Rates als EU-Vertretungsorgan der Staaten und ni<strong>ch</strong>t zuletzt au<strong>ch</strong> an der Tatsa<strong>ch</strong>e, dass<br />
Spra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheiten heute de facto oder de jure dem Zwang zur Mehrspra<strong>ch</strong>igkeit ausgesetzt s<strong>in</strong>d,<br />
dass sie also <strong>in</strong> jedem Fall au<strong>ch</strong> die Nationalspra<strong>ch</strong>e zu beherrs<strong>ch</strong>en haben.<br />
Grenzspra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheiten (Kap. 2.5.) haben den strategis<strong>ch</strong>en Vorteil, die Amtsspra<strong>ch</strong>e des<br />
bena<strong>ch</strong>barten Staates s<strong>ch</strong>on zu spre<strong>ch</strong>en und ni<strong>ch</strong>t erst erlernen zu müssen. Wie im Falle des<br />
Deuts<strong>ch</strong>en <strong>in</strong> Dänemark und des Dänis<strong>ch</strong>en <strong>in</strong> Deuts<strong>ch</strong>land <strong>hat</strong> si<strong>ch</strong> <strong>in</strong> beiden Spra<strong>ch</strong>gebieten<br />
beiderseits der Grenze die jeweilige Nationalspra<strong>ch</strong>e s<strong>ch</strong>on so weit als Erst- und Alltagsspra<strong>ch</strong>e<br />
dur<strong>ch</strong>gesetzt, dass mittelfristig die beiden Grenzm<strong>in</strong>derheitenspra<strong>ch</strong>en als sol<strong>ch</strong>e wohl vers<strong>ch</strong>w<strong>in</strong>den<br />
werden. So werden die Grenzm<strong>in</strong>derheitenspra<strong>ch</strong>en praktis<strong>ch</strong> als EU-Amtsspra<strong>ch</strong>en aufgewertet. E<strong>in</strong><br />
Sonderfall der Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en auto<strong>ch</strong>thonen (Grenz-) Spra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheiten und<br />
Migrationsspra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheiten ist etwa die Situation des Kroatis<strong>ch</strong>en im Burgenland, woh<strong>in</strong> die<br />
Kroatis<strong>ch</strong> Spre<strong>ch</strong>enden vor 500 Jahren e<strong>in</strong>gewandert s<strong>in</strong>d.<br />
Ansonsten betra<strong>ch</strong>ten weder die Nationalstaaten no<strong>ch</strong> die EU Migrationsspra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheiten<br />
und Migrationsm<strong>in</strong>derheitenspra<strong>ch</strong>en (wie z.B. Panjabi, Urdu, Gujarati, arabis<strong>ch</strong>e Dialekte usw.) als<br />
s<strong>ch</strong>ützenswert. Dies widerspri<strong>ch</strong>t im Pr<strong>in</strong>zip der Vorstellung e<strong>in</strong>er europäis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>envielfalt.<br />
Bei der Wiederbelebung untergegangener Spra<strong>ch</strong>en wie im Fall des Kornis<strong>ch</strong>en im<br />
südenglis<strong>ch</strong>en Cornwall geht es mehr um die moralisierende Frage, ob M<strong>in</strong>derheitenre<strong>ch</strong>te gewahrt<br />
werden und die Spra<strong>ch</strong>e überleben kann. Soweit e<strong>in</strong>ige Sonderfälle.<br />
Die Anerkennung der E<strong>in</strong>heit von Spra<strong>ch</strong>e und Territorium dur<strong>ch</strong> die EU <strong>hat</strong> Konsequenzen<br />
für die Anerkennung und Förderung bzw. Ni<strong>ch</strong>tförderung von auto<strong>ch</strong>thonen, Grenz- und<br />
Migrationsspra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheiten. Das Dilemma der Spra<strong>ch</strong>(en)politik <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> besteht laut S<strong>ch</strong>re<strong>in</strong>er<br />
dar<strong>in</strong>, dass die EU-Vielspra<strong>ch</strong>igkeit den nationalstaatli<strong>ch</strong>en Anspru<strong>ch</strong> auf E<strong>in</strong>spra<strong>ch</strong>igkeit zu<br />
2
espektieren <strong>hat</strong> (und dies au<strong>ch</strong> tut). Aus diesem Grund kann die EU nur symbolis<strong>ch</strong>e<br />
M<strong>in</strong>derheitenspra<strong>ch</strong>politik betreiben und muss <strong>in</strong> Fragen der Migrationsspra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheiten<br />
zurückhaltend se<strong>in</strong>.<br />
EU-Spra<strong>ch</strong>enverbreitungspolitik<br />
Die EU-Spra<strong>ch</strong>enverbreitungspolitik ist also Ausdruck des genu<strong>in</strong> europäis<strong>ch</strong>en<br />
Verständnisses von Spra<strong>ch</strong>e und zuglei<strong>ch</strong> die Strategie, um e<strong>in</strong>en europaweiten Wirts<strong>ch</strong>afts- und<br />
Re<strong>ch</strong>tsraum unter den Bed<strong>in</strong>gungen der Vielspra<strong>ch</strong>igkeit zu verwirkli<strong>ch</strong>en. Sie dient sozusagen als<br />
Synonym für die EU-Spra<strong>ch</strong>enpolitik bzw. -Spra<strong>ch</strong>enförderung und ist e<strong>in</strong>er der wi<strong>ch</strong>tigsten, wenn<br />
ni<strong>ch</strong>t der wi<strong>ch</strong>tigste Berei<strong>ch</strong> europäis<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>enpolitik überhaupt, wo die EU de jure über<br />
e<strong>in</strong>deutige spra<strong>ch</strong>enpolitis<strong>ch</strong>e Kompetenzen verfügt. Die Idee europäis<strong>ch</strong>er Vielspra<strong>ch</strong>igkeit, die <strong>in</strong> der<br />
EU-Spra<strong>ch</strong>enverbreitungspolitik zum Ausdruck kommt, ist die ideologis<strong>ch</strong>-normative Reaktion auf<br />
das Bestehen der Mitgliedstaaten auf ihren Nationalspra<strong>ch</strong>en (Kap. 2.3). Die EU-<br />
Spra<strong>ch</strong>enverbreitungspolitik ist ebenso Reaktion auf die europäis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>situation wie die faktis<strong>ch</strong>e<br />
Konzentration auf Englis<strong>ch</strong> und Französis<strong>ch</strong> <strong>in</strong> (<strong>in</strong>ternen) Teilanwendungsberei<strong>ch</strong>en. Sie wird<br />
begleitet von gänzli<strong>ch</strong> pragmatis<strong>ch</strong>en, also wenig idealistis<strong>ch</strong>en Überlegungen. Denn Vielspra<strong>ch</strong>igkeit<br />
wird ni<strong>ch</strong>t nur als Kern e<strong>in</strong>er zu s<strong>ch</strong>affenden – oder längst entwickelten – europäis<strong>ch</strong>en Identität<br />
verstanden, sondern au<strong>ch</strong> als Bed<strong>in</strong>gung etwa für e<strong>in</strong>en funktionierenden B<strong>in</strong>nenmarkt begriffen.<br />
Vielspra<strong>ch</strong>igkeit versus E<strong>in</strong>heitsspra<strong>ch</strong>e<br />
Im politis<strong>ch</strong>-adm<strong>in</strong>istrativen Alltag kann die EU ihrem Anspru<strong>ch</strong> auf Vielspra<strong>ch</strong>igkeit und auf<br />
Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung aller 23 Amtsspra<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t konsequent na<strong>ch</strong>kommen, weil sie kommunikativen<br />
Notwendigkeiten und Zwängen gere<strong>ch</strong>t zu werden <strong>hat</strong>. Deshalb wird der EU-Arbeitsalltag von<br />
Englis<strong>ch</strong> und Französis<strong>ch</strong> dom<strong>in</strong>iert. Hier<strong>in</strong> zeigen si<strong>ch</strong> die praktis<strong>ch</strong>en Grenzen der europäis<strong>ch</strong>en<br />
Vielspra<strong>ch</strong>igkeit. Die EU und ihre Mitgliedstaaten reagieren auf diese Diskrepanz mit<br />
stills<strong>ch</strong>weigender Akzeptanz (es gibt aber ke<strong>in</strong>en Bes<strong>ch</strong>luss, der die Dom<strong>in</strong>anz des Englis<strong>ch</strong>en und<br />
Französis<strong>ch</strong>en vors<strong>ch</strong>reibt). Glei<strong>ch</strong>zeitig werden damit die Grenzen der Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung aller<br />
Amtsspra<strong>ch</strong>en und damit au<strong>ch</strong> die Grenzen des Nationalspra<strong>ch</strong>enpr<strong>in</strong>zips auf europäis<strong>ch</strong>er Ebene<br />
anerkannt, ohne dass dies laut ausgespro<strong>ch</strong>en wird oder dass man dies offiziell bes<strong>ch</strong>liessen wollte<br />
oder könnte. Wissens<strong>ch</strong>aftler, die si<strong>ch</strong> mit der Spra<strong>ch</strong>enpolitik der EU befassen, unterbreiteten<br />
Vors<strong>ch</strong>läge für e<strong>in</strong> künftiges europäis<strong>ch</strong>es Spra<strong>ch</strong>enregime. Hierbei fiel auf, dass die meisten<br />
Vors<strong>ch</strong>läge darauf h<strong>in</strong>ausliefen, die politis<strong>ch</strong> gewüns<strong>ch</strong>te Vielspra<strong>ch</strong>igkeit zu bewahren und<br />
<strong>in</strong>dividuelle Mehrspra<strong>ch</strong>igkeit zur Norm ma<strong>ch</strong>en zu wollen.<br />
Aus dem ganzen Dilemma zwis<strong>ch</strong>en Anspru<strong>ch</strong> der Mitgliedstaaten auf Nationalspra<strong>ch</strong>en und<br />
der europäis<strong>ch</strong>en Vielspra<strong>ch</strong>igkeit ergeben si<strong>ch</strong> auf europäis<strong>ch</strong>er Ebene <strong>in</strong>sofern Probleme, als der<br />
europäis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>ts- und Wirts<strong>ch</strong>aftsraum <strong>in</strong> man<strong>ch</strong>er H<strong>in</strong>si<strong>ch</strong>t spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Vere<strong>in</strong>heitli<strong>ch</strong>ung verlangt,<br />
während wie gesagt die E<strong>in</strong>zelstaaten aber auf ihren Spra<strong>ch</strong>en beharren.<br />
Denno<strong>ch</strong> ist e<strong>in</strong>e offizielle E<strong>in</strong>heitsspra<strong>ch</strong>e <strong>in</strong> der EU ni<strong>ch</strong>t vorgesehen, denn dies<br />
widersprä<strong>ch</strong>e dem föderalen Verständnis der Union, deren Vielspra<strong>ch</strong>igkeit e<strong>in</strong>en Wert an si<strong>ch</strong><br />
darstellt. Aufgrund der oben genannten Motive ist e<strong>in</strong>e europäis<strong>ch</strong>e E<strong>in</strong>heitsspra<strong>ch</strong>e als Symbol der<br />
europäis<strong>ch</strong>en E<strong>in</strong>heit spra<strong>ch</strong>enpolitis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>setzbar, solange für das Gros der EU-<br />
Mitgliedstaaten ihre Nationalspra<strong>ch</strong>en zentrale Symbole ‚nationaler’ E<strong>in</strong>heit und Identität darstellen.<br />
Aus denselben Gründen muss der Europäis<strong>ch</strong>e Wirts<strong>ch</strong>afts- und Re<strong>ch</strong>tsraum au<strong>ch</strong> <strong>in</strong> absehbarer Zeit<br />
auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e verzi<strong>ch</strong>ten.<br />
Rolle der Datenbanken und Spra<strong>ch</strong>verbreitungsprogramme<br />
Im Berei<strong>ch</strong> der Spra<strong>ch</strong>standardisierung (Kap. 2.2.) werden vers<strong>ch</strong>iedene EU-Datenbanken<br />
entwickelt, die auf absehbare Zeit zusammengelegt werden sollen. So wurde etwa e<strong>in</strong>e mehrspra<strong>ch</strong>ige<br />
EU-Fa<strong>ch</strong>term<strong>in</strong>ologie entwickelt, die bei Veröffentli<strong>ch</strong>ungen <strong>in</strong> jeder der 23 Amtsspra<strong>ch</strong>en e<strong>in</strong>en<br />
3
e<strong>in</strong>heitli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> gewährleisten soll. Standardisierte Term<strong>in</strong>ologie- und<br />
Textmusterdatenbanken vere<strong>in</strong>fa<strong>ch</strong>en und vere<strong>in</strong>heitli<strong>ch</strong>en die Kommunikation, heisst es, ohne den<br />
Anspru<strong>ch</strong> auf Vielspra<strong>ch</strong>igkeit aufgeben zu müssen, und tragen dazu bei, Kommunikation auf EUeuropäis<strong>ch</strong>er<br />
Ebene überhaupt erst mögli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en. Sol<strong>ch</strong>e EU-Term<strong>in</strong>ologiedatenbanken sollen<br />
künftig mehr no<strong>ch</strong> als bisher dur<strong>ch</strong> elektronis<strong>ch</strong>e ‚Translation Memories’ ergänzt werden. Diese<br />
Datenbanken sollen die Übersetzer bei der Aufgabe unterstützen, wiederkehrende, stets glei<strong>ch</strong>lautende<br />
Textsegmente und Verwaltungsdokumente zu erkennen und immer glei<strong>ch</strong> <strong>in</strong> die Zielspra<strong>ch</strong>e zu<br />
übertragen. 5<br />
Die ersten s<strong>ch</strong>ul-, lern- und spra<strong>ch</strong>enverbreitungspolitis<strong>ch</strong> relevanten Programme hiessen<br />
Comenius, Erasmus, Grundtvig, M<strong>in</strong>erva. Diese Programme liefen bis Ende 2006 unter dem Titel<br />
Sokrates weiter. 6 Diese Fremdspra<strong>ch</strong>enprogramme umfassen ausser den offiziellen EU-Amtsspra<strong>ch</strong>en<br />
au<strong>ch</strong> Letzeburgis<strong>ch</strong> (bzw. Lëtzebuerges<strong>ch</strong>, Luxemburgis<strong>ch</strong>), ni<strong>ch</strong>t aber sonstige<br />
M<strong>in</strong>derheitenspra<strong>ch</strong>en. Die Förderungsberei<strong>ch</strong>e dieser Programme bezwecken vor allem die<br />
transnationale Zusammenarbeit im s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en und universitären Berei<strong>ch</strong>. Um die faktis<strong>ch</strong>en Vorteile<br />
des Englis<strong>ch</strong>en und Französis<strong>ch</strong>en auszuglei<strong>ch</strong>en, sah das Programm Sokrates vor, kle<strong>in</strong>ere Spra<strong>ch</strong>en<br />
besonders zu fördern. Allerd<strong>in</strong>gs ist nirgendwo festgelegt, dur<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>e Massnahmen die weniger<br />
verbreiteten Unionsspra<strong>ch</strong>en besonders unterstützt werden sollen, es bleibt also bislang bei der<br />
Absi<strong>ch</strong>tserklärung.<br />
Andreas Künzli<br />
Sandra Nissl: Die Spra<strong>ch</strong>enfrage <strong>in</strong> der Europäis<strong>ch</strong>en Union. Mögli<strong>ch</strong>keiten und<br />
Grenzen e<strong>in</strong>er Spra<strong>ch</strong>enpolitik für <strong>Europa</strong>. Herbert Utz Verlag Mün<strong>ch</strong>en 2011. 331 S. 7<br />
Im Allgeme<strong>in</strong>en gilt die Vere<strong>in</strong>igung der europäis<strong>ch</strong>en Staaten zur Europäis<strong>ch</strong>en Union (EU) als<br />
Erfolgsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, so au<strong>ch</strong> für Sandra Nissl, e<strong>in</strong>er Autor<strong>in</strong> aus Bad Tölz, die <strong>in</strong> Mün<strong>ch</strong>en Romanis<strong>ch</strong>e<br />
Philologie, Politis<strong>ch</strong>e Wissens<strong>ch</strong>aft und Europäis<strong>ch</strong>e Ethnologie studierte und e<strong>in</strong>ige<br />
Fors<strong>ch</strong>ungsaufenthalte <strong>in</strong> Belgien, Spanien, Namibia und <strong>in</strong> den USA absolvierte. Ihre Dissertation<br />
war der Spra<strong>ch</strong>enfrage <strong>in</strong> der EU gewidmet, <strong>in</strong> der Me<strong>in</strong>ung, dass ohne Spra<strong>ch</strong>en Kommunikation und<br />
Koexistenz unmögli<strong>ch</strong> wären, besonders <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geographis<strong>ch</strong>en Raum wie <strong>Europa</strong>, der von vielen<br />
vers<strong>ch</strong>iedenen Völkern besiedelt wird. Die aktuelle Situation <strong>in</strong> der EU sei dadur<strong>ch</strong> gekennzei<strong>ch</strong>net,<br />
dass Vielspra<strong>ch</strong>igkeit dur<strong>ch</strong>aus als Konfliktherd gesehen wird. Genannt werden immer wieder die<br />
enorm hohen Kosten der Dolmets<strong>ch</strong>erdienste, die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Behandlung der Spra<strong>ch</strong>en (so die<br />
Diskrepanz zwis<strong>ch</strong>en Amts- und Arbeitsspra<strong>ch</strong>en) oder die unklare Politik gegenüber Regional- und<br />
M<strong>in</strong>derheitenspra<strong>ch</strong>en. Ke<strong>in</strong>e andere <strong>in</strong>ternationale Organisation der Welt verwendet so viele Amtsund<br />
Arbeitsspra<strong>ch</strong>en wie die EU – zurzeit beläuft si<strong>ch</strong> die Zahl offizieller Amts- und Arbeitsspra<strong>ch</strong>en<br />
auf 23 (Katalanis<strong>ch</strong>, Baskis<strong>ch</strong> und Galizis<strong>ch</strong> sowie Letzeburgis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t e<strong>in</strong>ges<strong>ch</strong>lossen) bei 27<br />
Mitgliedstaaten, die rund 500 Millionen Mens<strong>ch</strong>en umfassen. Daher spielt <strong>in</strong> der EU die Übersetzung<br />
e<strong>in</strong>e zentrale Rolle, denn ohne sie fände <strong>in</strong> der EU ke<strong>in</strong>e Kommunikation statt. Dabei kommt man<br />
ohne te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Hilfsmittel wie umfangrei<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>datenbanken (Euramis, Systran, IATE) ni<strong>ch</strong>t aus.<br />
Im Jahr 2008 wurden über 1,8 Millionen Seiten übersetzt. Koord<strong>in</strong>iert wird der Übersetzungsdienst<br />
dur<strong>ch</strong> die Generaldirektion Übersetzung der EU, die rund 1750 fest angestellte und 600 freie<br />
5 EU-Datenbanken na<strong>ch</strong> Themen s. http://europa.eu/documentation/order-publications/databasessubject/<strong>in</strong>dex_de.htm.<br />
6 Das Sokrates-Programm wurde <strong>in</strong>zwis<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong> das ‚Programm für Lebenslanges Lernen’ ersetzt.<br />
7 Inhaltsverzei<strong>ch</strong>nis s. http://www.utzverlag.de/bue<strong>ch</strong>er/44078dbl.pdf.<br />
4
Mitarbeiter bes<strong>ch</strong>äftigt. Die bereits jetzt grosse Arbeitsbelastung der Übersetzer wird <strong>in</strong> Zukunft no<strong>ch</strong><br />
zunehmen, da no<strong>ch</strong> mehr Beitrittskandidaten zur EU stossen werden.<br />
Spra<strong>ch</strong>en als Erfolgss<strong>ch</strong>lüssel der EU<br />
Weil die vielen Spra<strong>ch</strong>en der EU für die Zukunft e<strong>in</strong>e S<strong>ch</strong>lüsselfunktion hätten – e<strong>in</strong>erseits<br />
seien sie als kulturelles Erbe und als Rei<strong>ch</strong>tum zu betra<strong>ch</strong>ten, andererseits als H<strong>in</strong>dernis für den Erfolg<br />
der Verständigung zu für<strong>ch</strong>ten – sei der allseitige Erfolg der europäis<strong>ch</strong>en Vere<strong>in</strong>igung, ni<strong>ch</strong>t zuletzt<br />
au<strong>ch</strong> der wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e, massgebli<strong>ch</strong> von e<strong>in</strong>er erfolgrei<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>enpolitik abhängig. Mit e<strong>in</strong>er gut<br />
dur<strong>ch</strong>da<strong>ch</strong>ten Spra<strong>ch</strong>enpolitik sollen die Wettbewerbsfähigkeit und Mobilität gesteigert, die Wirts<strong>ch</strong>aft<br />
angekurbelt, die soziale Dimension gestärkt und e<strong>in</strong> kultureller Zusammenhalt (geme<strong>in</strong>same<br />
europäis<strong>ch</strong>e Identität) ges<strong>ch</strong>affen werden. E<strong>in</strong>e komplexe Aufgabenstellung, bei der es an grossen<br />
Herausforderungen ni<strong>ch</strong>t mangelt. Nissl glaubt, dass gerade die Spra<strong>ch</strong>enförderung <strong>in</strong> der EU absolute<br />
Priorität als S<strong>ch</strong>lüssel zum Erfolg <strong>hat</strong>, was etwa <strong>in</strong> der ‚Rahmenstrategie für Mehrspra<strong>ch</strong>igkeit’ der<br />
Kommission der Europäis<strong>ch</strong>en Geme<strong>in</strong>s<strong>ch</strong>aften von 2005 Verankerung gefunden <strong>hat</strong>.<br />
In Bezug auf die Spra<strong>ch</strong>enfrage bef<strong>in</strong>de si<strong>ch</strong> die EU aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er s<strong>ch</strong>wierigen Ausgangslage,<br />
gibt Nissl zu bedenken, denn e<strong>in</strong>erseits „soll der Spra<strong>ch</strong>engebrau<strong>ch</strong> <strong>in</strong> den politis<strong>ch</strong>en Organen und<br />
Institutionen der Europäis<strong>ch</strong>en Union effizient und kostengünstig gehandhabt“, andererseits „e<strong>in</strong>e<br />
Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung aller Amts- und Arbeitsspra<strong>ch</strong>en gewährleistet werden“. Die glei<strong>ch</strong>mässige<br />
Förderung aller EU-Spra<strong>ch</strong>en stelle für die EU-Spra<strong>ch</strong>enpolitik jedo<strong>ch</strong> e<strong>in</strong>e grosse Herausforderung<br />
dar. Spra<strong>ch</strong>engebrau<strong>ch</strong> und Spra<strong>ch</strong>enpolitik hängen also unmittelbar mite<strong>in</strong>ander zusammen. Dabei<br />
soll Spra<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t isoliert betra<strong>ch</strong>tet werden, sondern mit Politik, Jurisprudenz und Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te e<strong>in</strong><br />
enges Wirkungsgefle<strong>ch</strong>t bilden.<br />
Spra<strong>ch</strong>enfrage <strong>in</strong> den EU-Verträgen<br />
Obwohl die Spra<strong>ch</strong>enpolitik <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> aus der Si<strong>ch</strong>t Nissls also von em<strong>in</strong>ent grosser<br />
Bedeutung ist oder zu se<strong>in</strong> s<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>t, ist sie davon überras<strong>ch</strong>t, wel<strong>ch</strong> ger<strong>in</strong>gen Stellenwert die Spra<strong>ch</strong>en<br />
und die Spra<strong>ch</strong>enpolitik <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>s<strong>ch</strong>lägigen Regelwerken der EU do<strong>ch</strong> geniesst. Dies zeigt die<br />
Autor<strong>in</strong> <strong>in</strong> Kapitel 5 anhand der wi<strong>ch</strong>tigsten Verträge der EU seit 1951 auf. In diesen Verträgen nehme<br />
die Spra<strong>ch</strong>enfrage mit der Zeit an Komplexität zu, <strong>hat</strong> sie beoba<strong>ch</strong>tet, da si<strong>ch</strong> an ihnen immer mehr<br />
Länder beteiligten. Hervorgehoben werde <strong>in</strong> diesen Texten aber meist nur das geme<strong>in</strong>same kulturelle<br />
Erbe, <strong>in</strong> dem die Spra<strong>ch</strong>enfrage e<strong>in</strong>ges<strong>ch</strong>lossen zu se<strong>in</strong> s<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>t. Das Erlernen und Verbreiten der<br />
Spra<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong> die Mitgliedstaaten werde zwar explizit erwähnt, s<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>t aber als<br />
Selbstverständli<strong>ch</strong>keit vorausgesetzt zu werden. Erst mit dem Vertrag von Maastri<strong>ch</strong>t (1992) sei die<br />
Spra<strong>ch</strong>enfrage mit entspre<strong>ch</strong>enden Förderprogrammen konkreter festges<strong>ch</strong>rieben worden. In weiteren<br />
Verträgen werde Spra<strong>ch</strong>e im Katalog ledigli<strong>ch</strong> unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt der Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te genannt,<br />
ohne e<strong>in</strong>e umfangrei<strong>ch</strong>ere Bes<strong>ch</strong>reibung zu erhalten, was etwa unter Spra<strong>ch</strong>re<strong>ch</strong>ten zu verstehen sei.<br />
So heisst es etwa im Vertrag von Lissabon (2007) lakonis<strong>ch</strong>: „Die Union a<strong>ch</strong>tet die Vielfalt der<br />
Kulturen, Religionen und Spra<strong>ch</strong>en“. E<strong>in</strong>e ähnli<strong>ch</strong>e m<strong>in</strong>imalistis<strong>ch</strong>e Haltung der Spra<strong>ch</strong>enfrage<br />
gegenüber kennzei<strong>ch</strong>ne im übrigen au<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>iedene e<strong>in</strong>s<strong>ch</strong>lägige <strong>in</strong>ternationale<br />
Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tserklärungen. Au<strong>ch</strong> sei <strong>in</strong> den europäis<strong>ch</strong>en Regelwerken ni<strong>ch</strong>t geklärt, was unter e<strong>in</strong>er<br />
Amts- und unter e<strong>in</strong>er Arbeitsspra<strong>ch</strong>e genau zu verstehen ist, gibt Nissl zu verstehen.<br />
Summa summarum erhält man also den E<strong>in</strong>druck, dass die Spra<strong>ch</strong>enfrage <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> e<strong>in</strong>e<br />
implizite, natürli<strong>ch</strong>e, selbstverständli<strong>ch</strong>e Angelegenheit darstellt, die ke<strong>in</strong>er expliziten ‚Kodifizierung’<br />
bedarf. Zumal <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> weitgehend Spra<strong>ch</strong>frieden und Spra<strong>ch</strong>stabilität zu herrs<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>en, die<br />
au<strong>ch</strong> unter äusserst heterogenen Bed<strong>in</strong>gungen zu erhalten ist. Wird die Bedeutung des<br />
Spra<strong>ch</strong>en’problems’ <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> also trotz des Gefahrenpotentials, das von ihm auszugehen droht, von<br />
e<strong>in</strong>igen Autoren <strong>in</strong> der Relation übers<strong>ch</strong>ätzt? Und werden <strong>in</strong> der EU die kle<strong>in</strong>eren Spra<strong>ch</strong>en tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
diskrim<strong>in</strong>iert?<br />
5
Widersprü<strong>ch</strong>e <strong>in</strong> der Praxis<br />
Die Umstände der spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unglei<strong>ch</strong>heiten und die Widersprü<strong>ch</strong>e <strong>in</strong> der tägli<strong>ch</strong>en Praxis<br />
des Spra<strong>ch</strong>enregimes <strong>in</strong> der EU weiss Nissl unter 6.4. wie folgt zusammenzufassen: E<strong>in</strong>e Besonderheit<br />
<strong>in</strong> der EU sei, dass ihre Dokumente <strong>in</strong> allen Amts- und Arbeitsspra<strong>ch</strong>en zugängli<strong>ch</strong> s<strong>in</strong>d. Die Bürger<br />
hätten e<strong>in</strong> Re<strong>ch</strong>t darauf, Re<strong>ch</strong>tstexte, Informationen und Verfahren <strong>in</strong> ihrer Mutterspra<strong>ch</strong>e verstehen zu<br />
können. Das erhöhe die Transparenz und die Glaubwürdigkeit der Arbeit der politis<strong>ch</strong>en Organe. Dies<br />
ist <strong>in</strong> Art. 21 des EU-Vertrags verankert, wel<strong>ch</strong>er das Re<strong>ch</strong>t auf Kommunikation mit den Organen und<br />
E<strong>in</strong>ri<strong>ch</strong>tungen der EU <strong>in</strong> der eigenen Mutterspra<strong>ch</strong>e garantiert. Zum Beispiel ers<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>t das Amtsblatt<br />
der Europäis<strong>ch</strong>en Geme<strong>in</strong>s<strong>ch</strong>aften <strong>in</strong> allen Amtsspra<strong>ch</strong>en. Allerd<strong>in</strong>gs würden trotz dieser offiziellen<br />
Glei<strong>ch</strong>stellung der Amts- und Arbeitsspra<strong>ch</strong>en aus Geld- und Zeitmangel ni<strong>ch</strong>t alle S<strong>ch</strong>riftstücke <strong>in</strong><br />
alle diese Spra<strong>ch</strong>en übersetzt, sondern nur Re<strong>ch</strong>tsakte und Dokumente, die für die Allgeme<strong>in</strong>heit von<br />
hoher Bedeutung seien. Au<strong>ch</strong> <strong>in</strong> der Korrespondenz mit Bürgern der Union werde diese Diskrepanz<br />
zwis<strong>ch</strong>en Anspru<strong>ch</strong> und Praxis offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>: Zwar hätten die Unionsbürger Anspru<strong>ch</strong> auf das Re<strong>ch</strong>t,<br />
auf e<strong>in</strong>e s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Anfrage e<strong>in</strong>e Antwort zu erhalten, die <strong>in</strong> der Spra<strong>ch</strong>e abgefasst ist, <strong>in</strong> der die<br />
Anfrage gestellt worden ist, sofern diese Spra<strong>ch</strong>e au<strong>ch</strong> Amts- oder Arbeitsspra<strong>ch</strong>e ist. Die Realität<br />
sehe allerd<strong>in</strong>gs so aus, dass Anfragen, die ni<strong>ch</strong>t auf Englis<strong>ch</strong>, Französis<strong>ch</strong> oder Deuts<strong>ch</strong> gestellt<br />
würden, mit grosser Zeitverzögerung beantwortet werden. Au<strong>ch</strong> <strong>in</strong> der alltägli<strong>ch</strong>en Arbeitspraxis<br />
würden die Spra<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong>mässig verwendet. Die Organe gebräu<strong>ch</strong>ten für ihre <strong>in</strong>ternen<br />
Prozesse, Verhandlungen, Treffen und derglei<strong>ch</strong>en nur bestimmte Arbeitsspra<strong>ch</strong>en. So würde etwa die<br />
Europäis<strong>ch</strong>e Kommission fast auss<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> Englis<strong>ch</strong>, Französis<strong>ch</strong> und Deuts<strong>ch</strong> <strong>in</strong> s<strong>in</strong>kender<br />
Reihenfolge anwenden, und viele Dokumente würden meistens au<strong>ch</strong> nur <strong>in</strong> diese Spra<strong>ch</strong>en übersetzt.<br />
Während au<strong>ch</strong> im Rat der EU vorwiegend Englis<strong>ch</strong>, Französis<strong>ch</strong> und das s<strong>ch</strong>on lange zurückgedrängte<br />
Deuts<strong>ch</strong> mit s<strong>in</strong>kender Häufigkeit praktiziert würden, verwendeten die Ri<strong>ch</strong>ter des Europäis<strong>ch</strong>en<br />
Geri<strong>ch</strong>tshofes <strong>in</strong> ihren ni<strong>ch</strong>t-offiziellen Sitzungen nur das Französis<strong>ch</strong>e, das als Grundlage für die<br />
geme<strong>in</strong>same Arbeit gilt. In anderen Organisationen und E<strong>in</strong>ri<strong>ch</strong>tungen der EU würden wiederum<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>enregelungen gelten, die etwa abhängig von der geographis<strong>ch</strong>en Ansiedelung<br />
dieser E<strong>in</strong>ri<strong>ch</strong>tungen gema<strong>ch</strong>t würden. Auf der anderen Seite bemühe si<strong>ch</strong> etwa das Europäis<strong>ch</strong>e<br />
Parlament, die Mehrspra<strong>ch</strong>enregelung au<strong>ch</strong> wirkli<strong>ch</strong> anzuwenden. Aber au<strong>ch</strong> hier seien im<br />
Arbeitsalltag <strong>in</strong> ni<strong>ch</strong>t-offiziellen Sitzungen vor allem Englis<strong>ch</strong> und Französis<strong>ch</strong> <strong>in</strong> Gebrau<strong>ch</strong>. Als<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung dient jeweils der H<strong>in</strong>weis auf die hohen Kosten, die dur<strong>ch</strong> den Gebrau<strong>ch</strong> vieler<br />
Spra<strong>ch</strong>en entstünden. Die EU-Angestellten hätten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview mit Nissl zugegeben, bei<br />
Erstkontakten (s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong> und mündli<strong>ch</strong>) fast auss<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> auf Englis<strong>ch</strong> oder Französis<strong>ch</strong><br />
zurückzugreifen, weil sie si<strong>ch</strong>er se<strong>in</strong> könnten, dass diese Spra<strong>ch</strong>en allgeme<strong>in</strong> akzeptiert und<br />
verstanden würden.<br />
Englis<strong>ch</strong> also do<strong>ch</strong> die heimli<strong>ch</strong>e L<strong>in</strong>gua franca?<br />
Im Arbeitsalltag der EU-Organe existiert also e<strong>in</strong>e deutli<strong>ch</strong>e Hierar<strong>ch</strong>isierung der Spra<strong>ch</strong>en.<br />
Auf dem ersten Rang bef<strong>in</strong>det si<strong>ch</strong> Englis<strong>ch</strong> und Französis<strong>ch</strong>, wobei das Englis<strong>ch</strong>e deutli<strong>ch</strong> öfter als<br />
das Französis<strong>ch</strong>e verwendet wird. Die Dom<strong>in</strong>anz des Englis<strong>ch</strong>en und Französis<strong>ch</strong>en sei aber <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em<br />
Vertragswerk niedergelegt und werde von den Mitgliedstaaten e<strong>in</strong>fa<strong>ch</strong> stills<strong>ch</strong>weigend toleriert,<br />
s<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>t Nissl zu bemängeln. Vor allem Deuts<strong>ch</strong>land und Österrei<strong>ch</strong> hätten si<strong>ch</strong> immer wieder<br />
vehement gegen das bestehende Spra<strong>ch</strong>enregime gewehrt und die Stärkung des Deuts<strong>ch</strong>en gefordert,<br />
das <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> immerh<strong>in</strong> von 90 Millionen Mens<strong>ch</strong>en gespro<strong>ch</strong>en wird, – prozentual weise das<br />
Deuts<strong>ch</strong>e also deutli<strong>ch</strong> mehr Mutterspra<strong>ch</strong>ler (18%) auf als das Englis<strong>ch</strong>e <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> (13%). In den<br />
deuts<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>igen Ländern wa<strong>ch</strong>se der Unmut gegenüber der Dom<strong>in</strong>anz des Englis<strong>ch</strong>en an, und<br />
Frankrei<strong>ch</strong> helfe ihnen beim Versu<strong>ch</strong>, das Englis<strong>ch</strong>e zu verdrängen, wacker mit.<br />
Trotz se<strong>in</strong>er angebli<strong>ch</strong>en Superiorität wird Englis<strong>ch</strong> als L<strong>in</strong>gua franca von Nissl ni<strong>ch</strong>t als<br />
idealer Ansatz zur Lösung des Spra<strong>ch</strong>enproblems <strong>in</strong> den Organen der EU betra<strong>ch</strong>tet. Zwar werde der<br />
Gebrau<strong>ch</strong> des Englis<strong>ch</strong>en <strong>in</strong> der bedeutungsvollen Funktion als weltumspannendes<br />
Kommunikationsmittel von Experten immer wieder kritis<strong>ch</strong> diskutiert. Wegen der grossen<br />
Verbreitung, ja der globalen Vorherrs<strong>ch</strong>aft des Englis<strong>ch</strong>en werde bereits von Spra<strong>ch</strong>imperialismus<br />
gespro<strong>ch</strong>en. Au<strong>ch</strong> wenn die ‚englis<strong>ch</strong>e’ Lösung bisher ni<strong>ch</strong>t als verb<strong>in</strong>dli<strong>ch</strong> ernsthaft erwogen wurde,<br />
6
sei sie <strong>in</strong> den Medien do<strong>ch</strong> sehr präsent. Aufgrund des Pr<strong>in</strong>zips der Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung könne die<br />
Verwendung e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Spra<strong>ch</strong>e als L<strong>in</strong>gua franca aber ke<strong>in</strong>e gere<strong>ch</strong>te Lösung se<strong>in</strong>.<br />
Mehrspra<strong>ch</strong>igkeit sei eben e<strong>in</strong>e Besonderheit der EU, die es zu bewahren gelte. Die Dom<strong>in</strong>anz e<strong>in</strong>er<br />
e<strong>in</strong>zigen Spra<strong>ch</strong>e wie des Englis<strong>ch</strong>en verstärke zuglei<strong>ch</strong> die Gefahr, dass ni<strong>ch</strong>t nur die Spra<strong>ch</strong>e selbst<br />
gefördert werde, sondern dass au<strong>ch</strong> die mit ihr verbundene anglophone Kultur und die entspre<strong>ch</strong>enden<br />
Werte, Vorstellungen, Ideen transportiert würden. Ni<strong>ch</strong>t zuletzt br<strong>in</strong>ge die starke Verwendung des<br />
Englis<strong>ch</strong>en <strong>in</strong> der EU e<strong>in</strong>en grossen Vorteil für englis<strong>ch</strong>e Mutterspra<strong>ch</strong>ler mit si<strong>ch</strong>. Langfristig<br />
gesehen könne es mit e<strong>in</strong>em englis<strong>ch</strong>en E<strong>in</strong>spra<strong>ch</strong>enmodell zu e<strong>in</strong>er geistigen und kulturellen<br />
Verarmung kommen, au<strong>ch</strong> wenn es andererseits als praktis<strong>ch</strong> und kostengünstig angesehen wird. Die<br />
E<strong>in</strong>führung des Englis<strong>ch</strong>en als L<strong>in</strong>gua franca wäre also denno<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t anzuraten, denn diese Lösung<br />
wäre ‚elitär’ und würde nur e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en ‚Kaste’ von Funktionären dienen.<br />
<strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>, <strong>Esperanto</strong> usw.<br />
Mit diesen Betra<strong>ch</strong>tungen nähert si<strong>ch</strong> die Autor<strong>in</strong> ni<strong>ch</strong>t nur den traditionellen Argumenten der<br />
Anhänger des <strong>Esperanto</strong>, sondern au<strong>ch</strong> der Frage der E<strong>in</strong>führung von <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> an, die sie im<br />
Kapitel 6.8.2. behandelt. Die Verwendung e<strong>in</strong>er Spra<strong>ch</strong>e wie <strong>Esperanto</strong> im alltägli<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> der<br />
politis<strong>ch</strong>en Organe und Institutionen der EU hält Nissl aber für „sehr unwahrs<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>li<strong>ch</strong>“. Ihre<br />
Re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>en <strong>in</strong> der Generaldirektion Bildung und Kultur der Europäis<strong>ch</strong>en Kommission hätten<br />
ergeben, dass diese Diskussion bei den Experten der Europäis<strong>ch</strong>en Kommission, des Europäis<strong>ch</strong>en<br />
Parlaments und des M<strong>in</strong>isterrats „auf wenig Begeisterung“ stösst. Dieser Idee werde <strong>in</strong> der Praxis so<br />
gut wie ke<strong>in</strong>e Bea<strong>ch</strong>tung ges<strong>ch</strong>enkt. An den politis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>altzentralen der EU habe <strong>Esperanto</strong> „ke<strong>in</strong>e<br />
‚Lobby’“. Dort berufe man si<strong>ch</strong> auf die Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung der 23 Amtsspra<strong>ch</strong>en und verharre auf der<br />
Verwendung der drei Arbeitsspra<strong>ch</strong>en Englis<strong>ch</strong>, Französis<strong>ch</strong> und Deuts<strong>ch</strong>. Die E<strong>in</strong>führung des<br />
<strong>Esperanto</strong> wäre ferner „nur als Ersatz der <strong>in</strong>ternen Arbeitsspra<strong>ch</strong>en denkbar“, s<strong>ch</strong>ätzt Nissl, denn die<br />
Re<strong>ch</strong>tstexte müssten no<strong>ch</strong> immer <strong>in</strong> alle 23 Amts- und Arbeitsspra<strong>ch</strong>en übertragen werden, da man<br />
von den knapp 500 Millionen EU-Bürgern ni<strong>ch</strong>t fordern könne, e<strong>in</strong>e „Retortenspra<strong>ch</strong>e“ zu lernen.<br />
Ni<strong>ch</strong>tsdestotrotz könnte die E<strong>in</strong>führung des <strong>Esperanto</strong> als <strong>in</strong>terne Arbeitsspra<strong>ch</strong>e „dur<strong>ch</strong>aus s<strong>in</strong>nvoll“<br />
se<strong>in</strong>, ist Nissl der Ansi<strong>ch</strong>t, da nur so ke<strong>in</strong>e der 23 Amts- und Arbeitsspra<strong>ch</strong>en diskrim<strong>in</strong>iert würde. Bei<br />
ihren Interviews habe Nissl herausgefunden, dass die Debatte um das <strong>Esperanto</strong> jedo<strong>ch</strong> nur<br />
„wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>es Interesse“ (sic) widerspiegelt und <strong>in</strong> den EU-Organisationen wenig E<strong>ch</strong>o auslöst.<br />
Hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> „wegen se<strong>in</strong>er grammatikalis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>werfälligkeit“ (sic), die „vor allem auf die<br />
häufige Verwendung von Affixen zurückgeht“, sei <strong>Esperanto</strong> „Ziels<strong>ch</strong>eibe der Kritik“ geworden.<br />
Ausserdem werde moniert, dass <strong>Esperanto</strong>, das grundsätzli<strong>ch</strong> auf dem Late<strong>in</strong>is<strong>ch</strong>en basiere (sic), die<br />
Gefahr der Diskrim<strong>in</strong>ierung von Spra<strong>ch</strong>en wie Baskis<strong>ch</strong> oder F<strong>in</strong>nis<strong>ch</strong> darstellen könnte. Ferner würde<br />
se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung von den Spre<strong>ch</strong>ern der jetzigen 23 Amts- und Arbeitsspra<strong>ch</strong>en wohl als Angriff auf<br />
die eigene Mutterspra<strong>ch</strong>e gewertet werden. Die Etablierung e<strong>in</strong>er Planspra<strong>ch</strong>e sei au<strong>ch</strong> deshalb<br />
s<strong>ch</strong>wierig, da man si<strong>ch</strong> beim Erlernen „nur kaum für sie motivieren“ (sic) könne, da sie „ke<strong>in</strong><br />
Identifikationspotenzial“ aufweise. Bei der Verwendung des <strong>Esperanto</strong> werde zudem deutli<strong>ch</strong>, dass es<br />
wegen der „fehlenden Nuancen der Spra<strong>ch</strong>e wenig Raum für Fe<strong>in</strong>heiten, <strong>in</strong>dividuelle Verwendung<br />
oder Neuerungen“ (sic) lasse. Diese ziemli<strong>ch</strong> unqualifizierten Me<strong>in</strong>ungsäusserungen weisen m.E.<br />
darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>in</strong> EU-Kreisen das Wissen über <strong>Esperanto</strong> äusserst dünn gesät oder sogar <strong>in</strong>existent<br />
se<strong>in</strong> muss; allenfalls ist es aufgrund fragwürdiger propagandistis<strong>ch</strong>er Bee<strong>in</strong>flussung dur<strong>ch</strong> fanatis<strong>ch</strong>e<br />
Anti-Esperantisten mit Vorurteilen behaftet oder wurde von Aktivitäten <strong>in</strong>kompetenter <strong>Esperanto</strong>-<br />
Befürworter verzerrt. Aber „au<strong>ch</strong> wenn der grosse Erfolg des <strong>Esperanto</strong> ausgeblieben“ sei, werde „es<br />
au<strong>ch</strong> heute no<strong>ch</strong> verwendet“, weiss Nissl zu beri<strong>ch</strong>ten. Es ist unklar, ob die Autor<strong>in</strong> über praktis<strong>ch</strong>e<br />
<strong>Esperanto</strong>-Kenntnisse verfügt. Neben e<strong>in</strong>igen völlig zufälligen Fakten aus der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des<br />
<strong>Esperanto</strong> geht sie no<strong>ch</strong> auf das KOD-Kommunikationssystem e<strong>in</strong>, das vom Eufo-Institut <strong>in</strong><br />
Regensburg seit dem Jahr 2000 entwickelt wird. Der deutli<strong>ch</strong>e Vorteil von KOD sei „se<strong>in</strong>e<br />
regelmässige Grammatik“, während das S<strong>ch</strong>riftbild, das e<strong>in</strong>em Code entspri<strong>ch</strong>t, mit der S<strong>ch</strong>rift<br />
natürli<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>ts geme<strong>in</strong> habe und an e<strong>in</strong>e Computerspra<strong>ch</strong>e er<strong>in</strong>nere, e<strong>in</strong>en Na<strong>ch</strong>teil<br />
darstelle. Wegen der allzu starken Künstli<strong>ch</strong>keit dieser Idiome sei <strong>in</strong> der EU also weder an die<br />
E<strong>in</strong>führung des <strong>Esperanto</strong> no<strong>ch</strong> an KOD zu denken.<br />
7
Trotz aller Bedenken hält Nissl den Gebrau<strong>ch</strong> e<strong>in</strong>er ‚künstli<strong>ch</strong>en’ Spra<strong>ch</strong>e wie <strong>Esperanto</strong> für<br />
die gere<strong>ch</strong>teste Lösung der europäis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>enfrage. Ihr Gebrau<strong>ch</strong> sei aber fragli<strong>ch</strong>, zumal diese<br />
Spra<strong>ch</strong>e ke<strong>in</strong> Identifikationspotenzial biete. Daher sei zu bezweifeln, dass diese Option je wirkli<strong>ch</strong><br />
umgesetzt werden kann.<br />
Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Bildung, Spra<strong>ch</strong>en und Wirts<strong>ch</strong>aft<br />
Im langen Hauptkapitel 7, das si<strong>ch</strong> über 160 Seiten erstreckt, befasst si<strong>ch</strong> die Doktor<strong>in</strong><br />
ausführli<strong>ch</strong> mit allen mögli<strong>ch</strong>en Aspekten der Implementierung der gesamteuropäis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>enund<br />
Mehrspra<strong>ch</strong>igkeitspolitik. Aus Raum- und Relevanzgründen kann <strong>in</strong> dieser Bespre<strong>ch</strong>ung ni<strong>ch</strong>t<br />
ausführli<strong>ch</strong> auf die e<strong>in</strong>zelnen Themen e<strong>in</strong>gegangen werden.<br />
Ni<strong>ch</strong>t zu übersehen bei unserer Bespre<strong>ch</strong>ung ist <strong>in</strong> Nissls Bu<strong>ch</strong> aber die Bots<strong>ch</strong>aft von der<br />
Brisanz des Zusammenhangs zwis<strong>ch</strong>en Bildung, Spra<strong>ch</strong>en und Wirts<strong>ch</strong>aft (Ökonomie). Im ‚Bes<strong>ch</strong>luss<br />
des Rates vom 21. November 2008 über e<strong>in</strong>e europäis<strong>ch</strong>e Strategie für Mehrspra<strong>ch</strong>igkeit’, <strong>in</strong> dem<br />
erklärt wird, warum die Förderung der Spra<strong>ch</strong>en für die Wirts<strong>ch</strong>aft so wi<strong>ch</strong>tig sei, wird offenbar e<strong>in</strong>e<br />
unmittelbare Relation zwis<strong>ch</strong>en Mehrspra<strong>ch</strong>igkeit und Wettbewerbsfähigkeit der europäis<strong>ch</strong>en<br />
Wirts<strong>ch</strong>aft konstruiert. Spra<strong>ch</strong>kenntnisse, Wirts<strong>ch</strong>aft, Mobilität der Bes<strong>ch</strong>äftigten und Bildung stünden<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sehr engen Beziehung zue<strong>in</strong>ander und bed<strong>in</strong>gten e<strong>in</strong>ander. Die We<strong>ch</strong>selwirkung zwis<strong>ch</strong>en<br />
Fremdspra<strong>ch</strong>enkenntnissen und wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>em Erfolg sei also ni<strong>ch</strong>t zu unters<strong>ch</strong>ätzen. Europäis<strong>ch</strong>e<br />
Unternehmen, egal wel<strong>ch</strong>er Grössenordnung, würden dur<strong>ch</strong> den Gebrau<strong>ch</strong> von Fremdspra<strong>ch</strong>en an<br />
Wettbewerbsfähigkeit gew<strong>in</strong>nen; dur<strong>ch</strong> Fremdspra<strong>ch</strong>enkenntnisse würden sie si<strong>ch</strong> gegenüber<br />
Konkurrenten dur<strong>ch</strong>setzen und ihren Marktwert steigern, wird behauptet. Die ELAN-Studie habe<br />
aufgezeigt, dass exportorientierte Unternehmen produktiver als andere seien und dass s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te<br />
Fremdspra<strong>ch</strong>enkenntnisse negative Auswirkungen auf den Gesamtumsatz hätten. Anhand von<br />
Spra<strong>ch</strong>fertigkeiten sowie <strong>in</strong>terkultureller Kompetenz werde ents<strong>ch</strong>ieden, ob neue Kunden im Ausland<br />
zu gew<strong>in</strong>nen seien. Bewerber mit Fremdspra<strong>ch</strong>enkenntnissen würden somit immer<br />
wettbwewerbsfähiger dastehen als sol<strong>ch</strong>e ohne. Mehrspra<strong>ch</strong>igkeit sei also als e<strong>in</strong> S<strong>ch</strong>lüsselfaktor für<br />
ökonomis<strong>ch</strong>en Erfolg aufzufassen, der <strong>in</strong> der EU oberste Priorität no<strong>ch</strong> vor den kulturellen Werten und<br />
der Identitätsfrage zu haben s<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>t. Ausserdem ma<strong>ch</strong>t Nissl darauf aufmerksam, dass Spra<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong><br />
e<strong>in</strong>en eigenständigen Industrie- und Wirts<strong>ch</strong>aftszweig darstellen, der jährli<strong>ch</strong> um ca. 10 Prozent<br />
wä<strong>ch</strong>st und bis 2015 20 Milliarden an Ausgaben generieren wird. Mit ökonomis<strong>ch</strong>en Belangen ist das<br />
‚Programm für Lebenslanges Lernen’ verbunden (Teilvorgänger waren als Comenius, Erasmus,<br />
Grundtvig, L<strong>in</strong>gua, M<strong>in</strong>erva, Sokrates bekannt). Das Spra<strong>ch</strong>enthema soll also no<strong>ch</strong> stärker im<br />
Verbund mit dem Unternehmertum, der Zivilgesells<strong>ch</strong>aft, den Behörden und mit kulturellen<br />
E<strong>in</strong>ri<strong>ch</strong>tungen diskutiert werden. Au<strong>ch</strong> sei die erhöhte Zusammenarbeit zwis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>- und<br />
Bildungspolitik gefragt. Die neue EU-Kommission habe si<strong>ch</strong> damit verstärkt zu befassen. In die<br />
Gesamtdiskussion e<strong>in</strong>fliessen sollen vermehrt au<strong>ch</strong> die Bedürfnisse der Regional- und<br />
M<strong>in</strong>derheitenspra<strong>ch</strong>en, und <strong>in</strong> die Verantwortung e<strong>in</strong>bezogen werden soll diesbezügli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> das<br />
European Bureau for Lesser-Used-Languages (EBLUL). Verwiesen wird auf die Lissabon-Strategie,<br />
deren Hauptziel dar<strong>in</strong> bestehe, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäis<strong>ch</strong>en Union zu erhöhen und die<br />
‚Wissensgesells<strong>ch</strong>aft’ umzusetzen. Bei dieser Strategie verfolgt das ihr zugeordnete Barcelona-Ziel<br />
das Konzept ‚Mutterspra<strong>ch</strong>e + 2 Fremdspra<strong>ch</strong>en’. Der Mehrwert von Fremdspra<strong>ch</strong>enkenntnissen<br />
s<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>t <strong>in</strong> den EU-Ländern jedo<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ganz befriedigend umgesetzt. Im ‚Updated Strategic<br />
Framework for European Cooperation <strong>in</strong> Education und Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g’ wird erklärt, dass <strong>Europa</strong>s Bürger<br />
no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t über ausrei<strong>ch</strong>ende Fertigkeiten verfügten, um die EU zu e<strong>in</strong>er wissensbasierten<br />
Gesells<strong>ch</strong>aft umzuformen.<br />
Subsidiarität bei den Spra<strong>ch</strong>en und die Frage der Identität<br />
Im europäis<strong>ch</strong>en Integrationsprozess spiele au<strong>ch</strong> das Subsidiaritätspr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>e grosse Rolle,<br />
s<strong>ch</strong>reibt Nissl weiter. Es komme dann zur Anwendung, wenn staatli<strong>ch</strong>e E<strong>in</strong>griffe und öffentli<strong>ch</strong>e<br />
Leistungen nur unterstützend dienen können und wenn die jeweils tiefere hierar<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ebene ni<strong>ch</strong>t <strong>in</strong><br />
der Lage ist, die erforderli<strong>ch</strong>e (Eigen-)Leistung zu erbr<strong>in</strong>gen. Auf die Spra<strong>ch</strong>enpolitik bezogen würde<br />
8
die Subsidiarität dazu beitragen, die grosse Vielfalt an Spra<strong>ch</strong>en auf regionaler, nationalstaatli<strong>ch</strong>er und<br />
europäis<strong>ch</strong>er Ebene zu verteilen, damit wirkli<strong>ch</strong> alle Spra<strong>ch</strong>en der Europäis<strong>ch</strong>en Union zum Zuge<br />
kommen und kle<strong>in</strong>e Spra<strong>ch</strong>en auf regionaler Ebene gefördert und <strong>in</strong> ihrem Prestige gestärkt werden<br />
(‚Glokalisierung’ als Reaktion auf die Globalisierung). Die Idee bei diesem Prozess wäre, das<br />
Englis<strong>ch</strong>e zum S<strong>ch</strong>utz anderer Nationalspra<strong>ch</strong>en auf Regional- und Nationalstaatenebene<br />
zurückzudrängen.<br />
Am Ende befasst si<strong>ch</strong> Nissl no<strong>ch</strong> mit dem Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e und Identität.<br />
Die Europäis<strong>ch</strong>e Union sei trotz ihrer fast se<strong>ch</strong>zigjährigen Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te kaum <strong>in</strong> den Köpfen und Herzen<br />
der Mens<strong>ch</strong>en verankert und e<strong>in</strong>e gesamteuropäis<strong>ch</strong>e Identität sei no<strong>ch</strong> wenig ausgebildet, stellt sie<br />
fest. Aber dies verwundere ni<strong>ch</strong>t, denn s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> sei die EU als Wirts<strong>ch</strong>aftsgeme<strong>in</strong>s<strong>ch</strong>aft gegründet<br />
worden. Um die Union langfristig zu e<strong>in</strong>er kulturellen Erfahrungs- und Wertegeme<strong>in</strong>s<strong>ch</strong>aft zu formen<br />
und ihr e<strong>in</strong>e europäis<strong>ch</strong>e Identität zu verpassen, darf na<strong>ch</strong> Me<strong>in</strong>ung der Verfasser<strong>in</strong> der Fokus ni<strong>ch</strong>t<br />
nur auf der Ökonomie liegen. Der Faktor Spra<strong>ch</strong>e könnte Symbol<strong>ch</strong>arakter bekommen und<br />
ents<strong>ch</strong>eidend dazu beitragen, dass die Mens<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> mit <strong>Europa</strong> verbunden fühlen, si<strong>ch</strong> mit ihm<br />
identifizieren können. Spra<strong>ch</strong>e und Identität seien eben viels<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tige Begriffe. Ob Spra<strong>ch</strong>e allerd<strong>in</strong>gs<br />
helfe, e<strong>in</strong>e Identität herauszubilden, sei von vers<strong>ch</strong>iedenen Faktoren abhängig. Von Bedeutung sei<br />
heutzutage die Überzeugung, dass die Kenntnis e<strong>in</strong>er (Fremd-)Spra<strong>ch</strong>e wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Vorteile mit<br />
si<strong>ch</strong> br<strong>in</strong>ge und daher den Wohlstand und die Lebensqualität steigere. Nissl bedauert, dass es <strong>in</strong> der<br />
EU ke<strong>in</strong>e Instanz gibt, die si<strong>ch</strong> mit der S<strong>ch</strong>affung e<strong>in</strong>er europäis<strong>ch</strong>en Identität befasst.<br />
Konsequenzen für <strong>Esperanto</strong><br />
Abs<strong>ch</strong>liessend e<strong>in</strong> paar persönli<strong>ch</strong>e Bemerkungen des Rezensenten, der seit über 30 Jahren<br />
selbst Esperantist und Interl<strong>in</strong>guist ist. Die beiden hier angezeigten Bü<strong>ch</strong>er 8 über die Spra<strong>ch</strong>enfrage <strong>in</strong><br />
der Europäis<strong>ch</strong>en Union vermitteln so e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die viels<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tigen Anforderungen,<br />
Bed<strong>in</strong>gungen und Voraussetzungen, die ni<strong>ch</strong>t nur an die Spra<strong>ch</strong>enpolitik der EU, sondern au<strong>ch</strong> an die<br />
e<strong>in</strong>zelnen Idiome <strong>Europa</strong>s gestellt werden. S<strong>ch</strong>re<strong>in</strong>er und Nissl haben die ents<strong>ch</strong>eidenden formalen<br />
und praktis<strong>ch</strong>en Argumente gegen die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heitsspra<strong>ch</strong>e <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> bzw. <strong>in</strong> der<br />
Europäis<strong>ch</strong>en Union dargestellt (im Unters<strong>ch</strong>ied zu Nissl s<strong>in</strong>d <strong>Esperanto</strong> und Interl<strong>in</strong>guistik <strong>in</strong><br />
S<strong>ch</strong>re<strong>in</strong>ers Bu<strong>ch</strong>, das im Fa<strong>ch</strong>berei<strong>ch</strong> Germanistik verfasst wurde, ke<strong>in</strong> Thema). Die Konsequenzen<br />
dürften aufgrund dieser Darstellung für e<strong>in</strong>e Spra<strong>ch</strong>e wie <strong>Esperanto</strong> aber e<strong>in</strong>deutig se<strong>in</strong>. <strong>Esperanto</strong><br />
verfügt <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em europäis<strong>ch</strong>en Land über e<strong>in</strong>en besonderen offiziellen Status, 9 no<strong>ch</strong> strahlt sie e<strong>in</strong>e<br />
Wirts<strong>ch</strong>aftskraft aus. Au<strong>ch</strong> <strong>in</strong> Bildung, Kultur und <strong>in</strong> den Wissens<strong>ch</strong>aften, drei weiteren<br />
S<strong>ch</strong>lüsseldomänen, spielt <strong>Esperanto</strong> ausserhalb der <strong>Esperanto</strong>-Bewegung ke<strong>in</strong>e Rolle. Es ist<br />
erstaunli<strong>ch</strong>, dass <strong>Esperanto</strong> <strong>in</strong> den 125 Jahren se<strong>in</strong>er Existenz trotz e<strong>in</strong>er lautstarken Propaganda und<br />
viel <strong>in</strong>vestierter Energie es ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>afft <strong>hat</strong>, si<strong>ch</strong> <strong>in</strong> diesen Berei<strong>ch</strong>en zu etablieren und bei den<br />
Völkern allgeme<strong>in</strong>e Akzeptanz zu f<strong>in</strong>den. Die S<strong>ch</strong>werpunkte der <strong>Esperanto</strong>-Bewegung lagen m.E. zu<br />
stark auf e<strong>in</strong>er zu e<strong>in</strong>seitigen Propaganda, auf der Abwehr von Angriffen und Kritik von aussen und<br />
von <strong>in</strong>nen, auf dem Tourismus und auf teilweise belanglosen sozialen Freizeitaktivitäten und<br />
fru<strong>ch</strong>tlosen Diskussionen anspru<strong>ch</strong>sloser und unqualifizierter Mitglieder, während die relevante (d.h.<br />
literaris<strong>ch</strong>e, journalistis<strong>ch</strong>e, wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e, kulturelle) Kreation sträfli<strong>ch</strong> verna<strong>ch</strong>lässigt wurde. So<br />
ist etwa e<strong>in</strong> Grossteil der modernen Literatur ni<strong>ch</strong>t <strong>in</strong>s <strong>Esperanto</strong> übersetzt worden. Dies wäre für die<br />
Existenz, die Prosperität und das Prestige e<strong>in</strong>er Spra<strong>ch</strong>e aber von zentraler Bedeutung. Es gibt wohl<br />
kaum e<strong>in</strong>e Spra<strong>ch</strong>e, die über weniger Prestige verfügt als <strong>Esperanto</strong>. Dies ist im Verglei<strong>ch</strong> mit den<br />
hehren Ambitionen dieses Idioms, Weltspra<strong>ch</strong>e se<strong>in</strong> zu wollen, e<strong>in</strong> Paradoxon hö<strong>ch</strong>sten Grades. In der<br />
Öffentli<strong>ch</strong>keit wird <strong>Esperanto</strong> praktis<strong>ch</strong> kaum wahrgenommen und die Wahrs<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>li<strong>ch</strong>keit, e<strong>in</strong>en<br />
<strong>Esperanto</strong> spre<strong>ch</strong>enden Mens<strong>ch</strong>en anzutreffen, ist äusserst ger<strong>in</strong>g. Die Esperantisten verharrten <strong>in</strong> ihrer<br />
vergebli<strong>ch</strong>en Erwartungshaltung, dass die Spra<strong>ch</strong>e weltweit e<strong>in</strong>geführt wird, was ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>ah. In der<br />
8 Na<strong>ch</strong> der Nieders<strong>ch</strong>rift me<strong>in</strong>es Textes habe i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> diese Bespre<strong>ch</strong>ung von Nissls Bu<strong>ch</strong> gefunden:<br />
http://www1.ku-ei<strong>ch</strong>staett.de/SLF/EngluVglSW/ELiX/stickel-111.pdf.<br />
9 In ehemals kommunistis<strong>ch</strong>en Ländern wie Polen, Ungarn und Bulgarien ist die e<strong>in</strong>st relativ bedeutende<br />
<strong>Esperanto</strong>-Bewegung auf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum an privater Existenz zusammenges<strong>ch</strong>rumpft und wird vom Staat ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr gefördert.<br />
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europäis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>enfamilie fällt <strong>Esperanto</strong> zwis<strong>ch</strong>en Stuhl und Bank, es wird ni<strong>ch</strong>t e<strong>in</strong>mal als<br />
M<strong>in</strong>derheitenspra<strong>ch</strong>e, und die Esperanisten werden ni<strong>ch</strong>t als Spra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheit anerkannt.<br />
Soziologis<strong>ch</strong> gesehen betra<strong>ch</strong>ten die Esperantisten si<strong>ch</strong> selbst gerne als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der Diaspora lebende<br />
(ni<strong>ch</strong>tethnis<strong>ch</strong>e) transnationale Spra<strong>ch</strong>m<strong>in</strong>derheit. Von Seiten der <strong>Esperanto</strong>-Kreise wurde die Eignung<br />
des <strong>Esperanto</strong> als Relaisspra<strong>ch</strong>e der EU zur Prüfung vorges<strong>ch</strong>lagen; die Idee stiess <strong>in</strong> der<br />
Europäis<strong>ch</strong>en Kommission aber auf Ablehnung. 10 Die E<strong>in</strong>führung des <strong>Esperanto</strong> <strong>in</strong> den S<strong>ch</strong>ulen etwa<br />
dur<strong>ch</strong> politis<strong>ch</strong>en Bes<strong>ch</strong>luss (z.B. der UNESCO-Mitgliedstaaten 11 ) wird daher vorläufig<br />
Wuns<strong>ch</strong>denken der Esperantisten bleiben, denn es zei<strong>ch</strong>net si<strong>ch</strong> ke<strong>in</strong>e pro-<strong>Esperanto</strong>-Wende ab.<br />
<strong>Esperanto</strong> war und ist <strong>in</strong> der Soziol<strong>in</strong>guistik (und teilweise <strong>in</strong> der Eurol<strong>in</strong>guistik 12 ) e<strong>in</strong><br />
Fors<strong>ch</strong>ungsgegenstand. Ansonsten werden <strong>Esperanto</strong> und <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> von der etablierten<br />
akademis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft weitgehend ignoriert. Die Interl<strong>in</strong>guistik ist vor allem e<strong>in</strong> privat<br />
betreutes Betätigungsfeld e<strong>in</strong>iger Esperantisten und Planspra<strong>ch</strong>ler geblieben und fand bisher nur an<br />
wenigen Universitäten (und dies im Rahmen fremder Fä<strong>ch</strong>er) Bea<strong>ch</strong>tung. Es bleiben die beiden Fragen<br />
übrig: Wel<strong>ch</strong>e Rolle könnte die Spra<strong>ch</strong>e <strong>Esperanto</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> allenfalls spielen, denn sie <strong>hat</strong> dur<strong>ch</strong>aus<br />
e<strong>in</strong>ige <strong>in</strong>teressante Vorteile vorzuweisen, und wel<strong>ch</strong>en Status sollen die Esperantisten als real<br />
existierende Interessengeme<strong>in</strong>s<strong>ch</strong>aft mit e<strong>in</strong>er neutralen <strong>in</strong>ternationalen Planspra<strong>ch</strong>e und als Vertreter<br />
e<strong>in</strong>es soziol<strong>in</strong>guistis<strong>ch</strong>en Kompetenzzentrums erhalten? Die <strong>Esperanto</strong>-Bewegung steht heute an der<br />
Wegs<strong>ch</strong>eide zwis<strong>ch</strong>en Untergang und Neuanfang. Beim Neuanfang müssten fris<strong>ch</strong>e und s<strong>in</strong>nvolle<br />
Ideen entwickelt und umgesetzt werden. Der Weg zu vermehrter Bedeutung und Bea<strong>ch</strong>tung s<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>t<br />
über die seriösen sozialen, wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en, politis<strong>ch</strong>en und kulturellen Netzwerke, zu gehen. Sie<br />
sollten von den Esperantisten und Interl<strong>in</strong>guisten vermehrt genutzt werden. Mir s<strong>ch</strong>e<strong>in</strong>t, dass das<br />
Interesse, die Kraft, die Diszipl<strong>in</strong> und das Geld dazu fehlen.<br />
Die nützli<strong>ch</strong>en Beiträge der beiden Autoren, die im Pr<strong>in</strong>zip zu den glei<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>lussfolgerungen gelangten, stellen e<strong>in</strong>e geeignete Grundlage dar, au<strong>ch</strong> <strong>in</strong> <strong>Esperanto</strong>-Kreisen die<br />
Diskussion über die angespro<strong>ch</strong>enen Problemfelder zu vertiefen.<br />
Andreas Künzli<br />
10 S. http://www.esperanto.de/gea/leitsaetze.html. Am Donnerstag, 1. April 2004, wurde im Plenum des <strong>Europa</strong>-<br />
Parlaments <strong>in</strong> Strassburg zum ersten Mal über e<strong>in</strong>e mögli<strong>ch</strong>e Rolle der <strong>in</strong>ternationalen Spra<strong>ch</strong>e <strong>Esperanto</strong> als<br />
zusätzli<strong>ch</strong>e Mittlerspra<strong>ch</strong>e im Parlament abgestimmt - der Änderungsantrag mit der Erwähnung e<strong>in</strong>er Rolle für<br />
<strong>Esperanto</strong> wurde abgelehnt. Der Antrag war vorläufiger Höhepunkt der Bemühungen zu <strong>Esperanto</strong> auf<br />
europäis<strong>ch</strong>er Ebene mit bisher etwa zwei Dutzend s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>en Anfragen und e<strong>in</strong>zelnen Anträgen. S.<br />
http://www1.ku-ei<strong>ch</strong>staett.de/SLF/EngluVglSW/ELX-Forum/board_entry.php?id=21 und http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2002:172E:0137:0138:DE:PDF<br />
(s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Anfrage E-<br />
0075/02 und Antwort von Herrn K<strong>in</strong>nock im Namen der Kommission vom 12. März 2002, publiziert im<br />
Amtsblatt der Europäis<strong>ch</strong>en Geme<strong>in</strong>s<strong>ch</strong>aften vom 18.7.2002).<br />
11 Von Seiten der UNESCO wurde s<strong>ch</strong>on zweimal – 1954 und 1985 – e<strong>in</strong>e Resolution zu Gunsten des <strong>Esperanto</strong><br />
verabs<strong>ch</strong>iedet.<br />
12 In dem gewi<strong>ch</strong>tigen Referenzwerk von Uwe H<strong>in</strong>ri<strong>ch</strong>s (Hrsg.): Handbu<strong>ch</strong> der Eurol<strong>in</strong>guistik, Wiesbaden,<br />
Harrassowitz 2010, wurde die Interl<strong>in</strong>guistik aber ni<strong>ch</strong>t berücksi<strong>ch</strong>tigt.<br />
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