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Aufarbeitung der kommunistis<strong>ch</strong>en Vergangenheit:<br />

Zur Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Esperanto-Bewegung und Interlinguistik in der UdSSR 1917-1938<br />

1<br />

„Proletaro de ĉiuj landoj unuiĝu!“<br />

„Proletarier aller Länder vereinigt eu<strong>ch</strong>!“<br />

(Aufruf des Manifests der Kommunistis<strong>ch</strong>en Partei<br />

und Ziel des Bundes der Kommunisten von 1848 auf Esperanto)<br />

„Ein Gespenst geht um in Europa –<br />

das Gespenst des Kommunismus“<br />

(geflügeltes Wort zum Programm von Marx und Engels)<br />

„Der Weg in den Sozialismus führt über die<br />

Ausrottung des Mens<strong>ch</strong>en“<br />

(Worte A. Vyšinskijs abgeändert im Sinne A. Solženicyns)<br />

(Gemäss S<strong>ch</strong>warzbu<strong>ch</strong> des Kommunismus sind unter den kommunistis<strong>ch</strong>en<br />

Regimes im 20. Jahrhundert weltweit etwa<br />

100 Millionen Mens<strong>ch</strong>en zu Tode gekommen)<br />

Dem Stalinismus<br />

hoffnungslos ausgeliefert<br />

Eine KGB-Opferliste<br />

für die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten<br />

Die Tragödie der „bols<strong>ch</strong>ewistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e“<br />

in Sowjetrussland der 1920-30er Jahre<br />

Publiziert anlässli<strong>ch</strong> des 60. Todesjahres Stalins und 75 Jahre na<strong>ch</strong> der Zers<strong>ch</strong>lagung<br />

der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Bewegung dur<strong>ch</strong> die Stalinisten<br />

Dem deuts<strong>ch</strong>en Osteuropahistoriker und Autor von „Moskau 1937 – Terror und Traum“<br />

<strong>Prof</strong>. Dr. Karl S<strong>ch</strong>lögel zum 65. Geburtstag gewidmet<br />

In memoriam Nik Stepanov (+ Februar 2013)<br />

© Interslavica/<strong>An</strong>dreas Künzli. Bern. Unabhängige<br />

S<strong>ch</strong>weizer Interlinguistis<strong>ch</strong>e Studien, Nr. 2/2013<br />

Sowjetis<strong>ch</strong>e Esperanto-Briefmarke mit L.L. Zamenhof, 1927


2<br />

Einführung<br />

Bevor das eigentli<strong>ch</strong>e Thema, die Stalins<strong>ch</strong>en Repressionen gegen die „Volksfeinde“ behandelt wird,<br />

von denen au<strong>ch</strong> die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten betroffen waren, ist es zum Verständnis des allgemeinen<br />

Zusammenhangs von Bedeutung, die Vorges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Esperanto-Bewegung 1 in der Sowjetunion<br />

seit 1917 in ihren wesentli<strong>ch</strong>en Grundzügen zu <strong>ch</strong>arakterisieren. Das doppelte methodologis<strong>ch</strong>e<br />

Hauptanliegen dieser Arbeit 2 war sowohl die kritis<strong>ch</strong>e Rezeption des früher publizierten Materials als<br />

au<strong>ch</strong> seine Ergänzung sowie die Verarbeitung von Internet-Quellen und online-Ressourcen, die bei der<br />

Abhandlung dieses Themas bisher zu kurz kamen oder überhaupt kaum die Berücksi<strong>ch</strong>tigung der<br />

ohnehin ganz wenigen Autoren fanden, die si<strong>ch</strong> mit dieser Thematik befassten. Ausserhalb des Berei<strong>ch</strong>s<br />

der Interlinguistik (Wissens<strong>ch</strong>aft von den <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>) ist die Verfolgung der Esperantisten in<br />

der Sowjetunion (und anderswo) von der akademis<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ung (etwa der Slavistik oder der Osteuropäis<strong>ch</strong>en<br />

Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te) ohnehin ni<strong>ch</strong>t rezipiert worden. So blieb das Thema als übersehener Fors<strong>ch</strong>ungsgegenstand<br />

hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> der Esperanto-Bewegung selbst überlassen, von der es au<strong>ch</strong> zum<br />

propagandistis<strong>ch</strong> verwertbaren Mythos erhoben wurde.<br />

Der Name Stalins ist heutzutage in glei<strong>ch</strong>em Masse wie derjenige Hitlers ein völlig diskreditierter<br />

Metabegriff, der ni<strong>ch</strong>t nur eine historis<strong>ch</strong> einzigartige Unperson bezei<strong>ch</strong>net, sondern au<strong>ch</strong> ein<br />

Synonym für ein ganzes, einmaliges S<strong>ch</strong>reckens- und Unre<strong>ch</strong>tsregime verkörpert, das no<strong>ch</strong> in viel<br />

s<strong>ch</strong>limmerem Ausmass als das Zarenrei<strong>ch</strong>, aber umso fur<strong>ch</strong>tbarer zusammen mit dem deuts<strong>ch</strong>österrei<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>-italienis<strong>ch</strong>en<br />

Nationalfas<strong>ch</strong>ismus eine zwar ephemere aber beispiellose und höllis<strong>ch</strong>e<br />

Episode in der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Mens<strong>ch</strong>heit darstellt. Diese beiden Horrornamen wecken katastrophale<br />

Erinnerungen an heute kaum mehr na<strong>ch</strong>vollziehbare Zeiten und Zustände und lösen, je mehr man über<br />

sie weiss, liest und na<strong>ch</strong>denkt, ni<strong>ch</strong>t nur Gefühle des Grauens, S<strong>ch</strong>auderns und Ekels aus, sondern<br />

versetzen die Zeitgenossen immer wieder in grosses Staunen darüber, wie es mögli<strong>ch</strong> sein konnte, dass<br />

die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Zivilisation in Deuts<strong>ch</strong>land (ni<strong>ch</strong>t zu vergessen sind Österrei<strong>ch</strong> und Italien) und Russland<br />

(bzw. Sowjetunion), also in Europa, von einem Stalin (und Lenin) einerseits und von einem Hitler<br />

andererseits derart verführt, gepeinigt und mit den paranoiden Ideologien, die sie vertraten und verbreiteten,<br />

ins Verderben gestürzt werden konnte. Die zahlrei<strong>ch</strong>en Erklärungsversu<strong>ch</strong>e, die von kompetenten<br />

und engagierten Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ts- und Sozialwissens<strong>ch</strong>aftlern diverser nationaler Provenienz und<br />

politis<strong>ch</strong>er Couleur bisher unternommen wurden, waren zwar allesamt interessant und für das Verständnis<br />

wegweisend, s<strong>ch</strong>ienen aber denno<strong>ch</strong> oft immer wieder etwas hilflos dahergekommen und am<br />

mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unvermögen ges<strong>ch</strong>eitert zu sein, diese Phänome der S<strong>ch</strong>izophrenie und der Paranoia<br />

ri<strong>ch</strong>tig zu verstehen, zu begreifen und zu deuten, ja sie den na<strong>ch</strong>geborenen Generationen überhaupt<br />

erst verständli<strong>ch</strong> und begreifbar zu ma<strong>ch</strong>en.<br />

Trotz des allgemeinen Konsenses über die Verwerfli<strong>ch</strong>keit der in dieser Art beispiellosen Verbre<strong>ch</strong>en<br />

Stalins und Hitlers und über die endgültige Ablehnung ihrer Ideologien werden von gewissen<br />

politis<strong>ch</strong>en und gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Kreisen in vers<strong>ch</strong>iedenen Ländern, so au<strong>ch</strong> in Deuts<strong>ch</strong>land, Österrei<strong>ch</strong>,<br />

Italien einerseits und in Russland und Georgien andererseits, immer wieder unerhörte Versu<strong>ch</strong>e<br />

gewagt, diese mens<strong>ch</strong>enfeindli<strong>ch</strong>en Ideologien, vor allem den Nationalsozialismus und den Kommunismus,<br />

mit Nostalgie zu bedenken, den unleugbar kriminellen Charakter dieser beiden politis<strong>ch</strong>en<br />

Systeme herunterzuspielen, zu relativieren oder sogar zu re<strong>ch</strong>tfertigen und die (ungesühnten) Täter<br />

von damals zu rehabilitieren oder zu reheroisieren. Sol<strong>ch</strong>e Bestrebungen und Ma<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>aften wie die<br />

Verharmlosung des Stalinismus oder die Auslassung des Nationalsozialismus und die Verdrängung<br />

des Holocausts in Artikeln und öffentli<strong>ch</strong>en Vorträgen, wie die Ignorierung und Leugnung von allerlei<br />

Pogromen und Völkermorden der jüngeren Zeit dur<strong>ch</strong> Nationalisten aller Art oder wie die absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />

Ni<strong>ch</strong>terwähnung des Judentums von Personen sind selbstverständli<strong>ch</strong> völlig inakzeptabel und müssen<br />

als Formen des <strong>An</strong>tisemitismus, Rassismus, Nationalismus und der Xenophobie geä<strong>ch</strong>tet werden.<br />

1<br />

Esperanto bedeutet Hoffnung (bzw. der Hoffende).<br />

2<br />

Sie ist Teil eines umfangrei<strong>ch</strong>eren, unabhängigen und privaten Fors<strong>ch</strong>ungsprojekts zur Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Esperanto-Bewegung<br />

in Osteuropa.


3<br />

Die (naturgemäss linksorientierte) Esperanto-Bewegung ´wählte´ in der Sowjetunion (der 20er<br />

und 30er Jahre) mit Ė.K. Drezen an der Spitze notgedrungen und wohl au<strong>ch</strong> mit voller ideologis<strong>ch</strong>er<br />

Überzeugung selbst die Option der Integration in das totalitäre politis<strong>ch</strong>e Herrs<strong>ch</strong>aftssystem Stalins<br />

angebli<strong>ch</strong> mit dem Zweck, die Sa<strong>ch</strong>e des Esperanto unter den Bedingungen des Sozialismus voranzutreiben.<br />

Wohl unerwartet und paradoxerweise gerieten die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten, die das marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>-stalinistis<strong>ch</strong>e<br />

System do<strong>ch</strong> so inbrünstig unterstützten, in den Jahren 1936-38 dann<br />

selbst in den Sog der stalinistis<strong>ch</strong>en Verni<strong>ch</strong>tungsmas<strong>ch</strong>inerie.<br />

Von dieser Materie handelt die vorliegende Studie.<br />

A. Künzli, Juli 2013


4<br />

Teil 1<br />

1. Vorges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te einer unbekanten Tragödie:<br />

Die Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion na<strong>ch</strong> 1917 3<br />

Bis 1905 bzw. 1917 hatte die Esperanto-Bewegung im Zarenrei<strong>ch</strong> einen s<strong>ch</strong>weren Stand. Die Behörden<br />

betra<strong>ch</strong>teten sie (gemäss Ė.K. Drezen) als Organisation von Juden und Freimaurern und erteilten<br />

nur äusserst ungern und selten, wenn überhaupt, die Erlaubnis für die Gründung eines Vereins, die<br />

Herausgabe einer Zeits<strong>ch</strong>rift oder die Dur<strong>ch</strong>führung eines (öffentli<strong>ch</strong>en) Kongresses. Einer ihrer bekannten<br />

Aktivisten, A.A. Postnikov, wurde sogar wegen Spionage zugunsten Österrei<strong>ch</strong>s verfolgt. Ein<br />

weiterer Esperantist, V.V. Majnov, Korrespondent L.N. Tolstojs, soll sogar ein ehemaliger Agent der<br />

zaristis<strong>ch</strong>en Geheimpolizei gewesen sein. 4 Na<strong>ch</strong> dem kommunistis<strong>ch</strong>en Umsturz (bzw. Staatsstrei<strong>ch</strong>)<br />

im November 1917 dur<strong>ch</strong> Lenin und Konsorten, von der Sowjethistoriographie bekanntli<strong>ch</strong> „Grosse<br />

Sozialistis<strong>ch</strong>e Oktoberrevolution“ genannt, gingen die „proletaris<strong>ch</strong>en“ Esperantisten unverzügli<strong>ch</strong><br />

daran, eine neue Esperanto-Bewegung aufzuri<strong>ch</strong>ten, um die Ideen der Kommunistis<strong>ch</strong>en Internationalen<br />

umzusetzen. 5 Zur Programmatik der Esperanto-Bewegung gehörte die Verkündung, dass die<br />

„Vielspra<strong>ch</strong>igkeit“ ein „Hindernis für die Befreiung der Arbeiterklasse“ sei, die nur dur<strong>ch</strong> die „breite<br />

Verbreitung der Spra<strong>ch</strong>e Esperanto unter den Mitgliedern der RKP, des RLKSM und der Gewerks<strong>ch</strong>aften“<br />

als „Waffe des Klassenkampfes gegen die Bourgeoisie zugunsten der sozialistis<strong>ch</strong>en Arbeiterrevolution<br />

im Weltmassstab“ überwunden werden könne. 6 In einem anderen Beitrag wurde aber<br />

darauf hingewiesen, dass Esperanto ledigli<strong>ch</strong> eine „te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Vorri<strong>ch</strong>tung“ (russ. prisposoblenie),<br />

eine „Spra<strong>ch</strong>vereinfa<strong>ch</strong>ung sei und keine ideologis<strong>ch</strong>e Veränderung für die neuen Bedürfnisse des si<strong>ch</strong><br />

internationalisierenden Lebens“ bedeute. Der Widerstand gegen die Verbreitung des Esperanto sei<br />

aber „dieselbe hoffnungslose und reaktionäre Sa<strong>ch</strong>e“ wie der Versu<strong>ch</strong>, die Einführung der Dampfmas<strong>ch</strong>ine<br />

und anderer praktis<strong>ch</strong>er Arbeitsmittel zu verhindern. 7 Zur sozusagen heiligen Aufgabe der Esperantisten<br />

gehörte nun die selbst gewählte Pfli<strong>ch</strong>t, die Arbeiter vom Nutzen des Esperanto zu überzeugen<br />

und ihnen nahezulegen, dass sie es lernen sollten. Die Hoffnung und der <strong>An</strong>spru<strong>ch</strong> der Esperantisten<br />

war somit sehr gross, die Warnung an ihre Gegner war ebenfalls ausgespro<strong>ch</strong>en. Von diesen<br />

vor allem in den „bürgerli<strong>ch</strong>en“ Ländern lebenden Gegnern wurde Esperanto „die bols<strong>ch</strong>ewistis<strong>ch</strong>e<br />

Spra<strong>ch</strong>e“ genannt. 8 Mit diesen Hinweisen waren die Hauptargumente der Esperantisten aber bereits<br />

ers<strong>ch</strong>öpft. Der Rest ihrer künftigen Tätigkeit bestand eigentli<strong>ch</strong> nur no<strong>ch</strong> aus illusoris<strong>ch</strong>er Theorie und<br />

Propaganda sowie aus s<strong>ch</strong>wieriger Vereinsarbeit, die mit der Zeit na<strong>ch</strong> stalinistis<strong>ch</strong>er Raison in eine<br />

selbstzerstöreris<strong>ch</strong>e, zermürbende ideologis<strong>ch</strong>e Auseinandersetzung mit <strong>An</strong>dersdenkenden mündete.<br />

Ausser ein paar belanglosen Zeits<strong>ch</strong>riftenartikel<strong>ch</strong>en, Vereinsberi<strong>ch</strong>ten, kurzen literaris<strong>ch</strong>en Übersetzungsversu<strong>ch</strong>en<br />

und altmodis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>kursen hatte die Esperanto-Bewegung in ihren Publikationen<br />

3<br />

Vorliegender Text – die Kurzfassung eines Teils einer umfangrei<strong>ch</strong>eren wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Arbeit über die Esperanto-<br />

Bewegung Osteuropas – benutzt als Grundlage vor allem die folgenden Quellen und Ressourcen: Nikolaj Stepanov:<br />

www.historio.ru; Oleg Krasnikov: Istorija Sojuza Ėsperantistov Sovetski<strong>ch</strong> Respublik, Moskau 2008; Ė.K. Drezen: Batalo<br />

por SEU, 1932 (http://www.esperanto.org/Ondo/H-drezen.htm; U. Lins: Drezen, Lanti kaj La Nova Epoko. In: Sennacieca<br />

Revuo 115/1987 sowie die Zeits<strong>ch</strong>riften Sovetskij Ėsperantist / Soveta Esperantisto (1925) und Meždunarodnyj jazyk / Internacia<br />

Lingvo (v.a. 1925/26 und 1929-33). Ergänzend: U. Lins: La danĝera lingvo (Esperanto-Version von ‘Die gefährli<strong>ch</strong>e<br />

Spra<strong>ch</strong>e’), Gerlingen 1988 (russis<strong>ch</strong>e Version auf http://www.rusio.ru/dl); Enciklopedio de Esperanto, Budapest 1933 sowie<br />

die in den Fussnoten angegebene Sekundärliteratur.<br />

4<br />

S. http://www.esperanto.org/Ondo/H-drezen.htm. Im Rahmen meiner Lizentiatsarbeit für die Universität Züri<strong>ch</strong> befasste i<strong>ch</strong><br />

mi<strong>ch</strong> mit dem Thema „Interlinguistik und Esperanto im Zarenrei<strong>ch</strong> und in der Sowjetunion“ (unveröffentli<strong>ch</strong>t 1991, 268 S.),<br />

in der vor allem die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te dieser Bewegung bis 1917 aufgearbeitet wurde.<br />

5<br />

Das Manifest der Kommunistis<strong>ch</strong>en Partei von 1872 wurde erstmals 1908 ins Esperanto übersetzt und in Chicago herausgegeben.<br />

Eine weitere Übersetzung ers<strong>ch</strong>ien in den 1920er Jahren in Düsseldorf, und eine Neuübersetzung wurde 1990 (!)<br />

publiziert (Volltext s. unter http://www.marxists.org/esperanto/marx-engels/1848/manifesto/mkp.pdf).<br />

6<br />

Meždunarodnyj jazyk / Internacia Lingvo 1/1925, S. 2. Der Aufruf trug die Unters<strong>ch</strong>rift M. Boguslavskijs, des Vorsitzenden<br />

des Kleinen Sovnarkoms der RSFSR.<br />

7<br />

Ebd. S. 6.<br />

8<br />

Meždunarodnyj jazyk / Internacia Lingvo 1/1925, S. 3. Explizit wurde in dieser Zeits<strong>ch</strong>rift darauf hingewiesen, dass L.L.<br />

Zamenhof kein Marxist gewesen sei und dass er „wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> keine Ahnung vom Marxismus gehabt hat“, dass er aber<br />

eine „geniale“ internationale Spra<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>affen habe.


5<br />

dem Proletariat aber ni<strong>ch</strong>t viel an intellektueller Substanz zu bieten. (1929-33 errei<strong>ch</strong>te die ideologis<strong>ch</strong>-theoretis<strong>ch</strong>e<br />

Diskussion ihren Höhepunkt und endete im stalinistis<strong>ch</strong>en Fundamentalismus).<br />

Wie die ‚Enciklopedio de Esperanto’ (1934) beri<strong>ch</strong>tete, sei die Esperanto-Bewegung in Russland<br />

1917 zwar von den Ketten der Zensur und der Polizei des Zarenregimes befreit worden, denno<strong>ch</strong><br />

hätten der andauernde Bürgerkrieg und die politis<strong>ch</strong>en und sozialen Wirren sowie die wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Probleme die Verbreitung des Esperanto verhindert. 1918-19 existierten auf sowjetis<strong>ch</strong>em Territorium<br />

ni<strong>ch</strong>t weniger als 100 Esperanto-Gesells<strong>ch</strong>aften (in etwa 60 Orts<strong>ch</strong>aften, gemäss Drezen) und es ers<strong>ch</strong>ienen<br />

ebenso viele hektographierte Blätt<strong>ch</strong>en, die das fehlende Zentralorgan ersetzten. In der glei<strong>ch</strong>en<br />

Zeit wurden Versu<strong>ch</strong>e unternommen, einen Allrussis<strong>ch</strong>en kommunistis<strong>ch</strong>en Esperanto-Verband,<br />

eine Allrussis<strong>ch</strong>e Liga Junger Esperantisten und eine Allrussis<strong>ch</strong>e Esperanto-Föderation zu erri<strong>ch</strong>ten.<br />

Diese Bemühungen blieben aber allesamt erfolglos und eigentli<strong>ch</strong>e Totgeburten. Die ganzen widrigen<br />

Rahmenbedingungen im Land hatten im Gegenteil nämli<strong>ch</strong> dazu geführt, dass die Esperanto-<br />

Bewegung von den Bevölkerungsmassen kaum bea<strong>ch</strong>tet wurde. Natürli<strong>ch</strong> hofften die Esperantisten,<br />

dass ihre <strong>An</strong>liegen und ihre Spra<strong>ch</strong>e von den Behörden und den Kommunisten berücksi<strong>ch</strong>tigt würden. 9<br />

Zum Zweck der <strong>An</strong>näherung an den Kommunismus wurden kommunistis<strong>ch</strong>e Esperanto-<br />

Organisationen gegründet, so im November 1919 in Samara die Esperanto-Sektion der Kommunistis<strong>ch</strong>en<br />

Internationalen (Komintern), 10 die in ihrer späteren Moskauer Zeit den Namen Esperantistis<strong>ch</strong>e<br />

Kommunistis<strong>ch</strong>e Internationale (ESKI) erhielt. Die Initiatoren waren Ort Sunnan alias O<strong>ch</strong>itovič<br />

(Trockist), Sergej Gajdovskij (<strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>ist; Pseudonym: Pets<strong>ch</strong>enege) und Ėrnest K. Drezen<br />

(regierungsnah). Mitglied der ESKI konnte werden, wenn eine der Gruppen oder Parteien in der Komintern<br />

war. Als hö<strong>ch</strong>stes Organ der ESKI war der Kongress vorgesehen, und in der Zeit zwis<strong>ch</strong>en den<br />

Kongressen sollte das Ispolkom der ESKI die Arbeit führen. Das Organisationsbüro der Sektion erarbeitete<br />

die Statuten und eine ‚Deklaration über die Internationale Spra<strong>ch</strong>e’ – beides auf Russis<strong>ch</strong>. In<br />

dieser ‚Deklaration’ hiess es unter anderem, dass die Arbeiterklasse der <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t sei, dass ni<strong>ch</strong>t eine<br />

einzelne Nationalspra<strong>ch</strong>e als internationale Spra<strong>ch</strong>e dienen sollte und dass nur eine Spra<strong>ch</strong>e wie Esperanto<br />

für die Verwirkli<strong>ch</strong>ung der Ziele des Proletariats in Frage kommen könne. Ferner empfahl die<br />

‚Deklaration’ dem Proletariat, si<strong>ch</strong> von der Abhängigkeit von Übersetzern zu lösen, denn diese könnten<br />

kraft ihrer Beherrs<strong>ch</strong>ung mehrerer Fremdspra<strong>ch</strong>en die politis<strong>ch</strong>e Führung beanspru<strong>ch</strong>en. Mit der<br />

Frage, den Nutzen der Einführung einer internationalen Spra<strong>ch</strong>e zu diskutieren, sollte si<strong>ch</strong> der Zweite<br />

Kongress der Komintern im Sommer 1920 befassen. 11 Aber statt Esperanto zu unterstützen ents<strong>ch</strong>ied<br />

si<strong>ch</strong> die Komintern für die Reformplanspra<strong>ch</strong>e Ido, die seit 1907 als Gegenvors<strong>ch</strong>lag zum Esperanto<br />

im Gesprä<strong>ch</strong> war.<br />

Ėrnest Drezen – ein vožd´ für die sowjetis<strong>ch</strong>e Esperanto-Bewegung<br />

Für die Idee, die Esperantisten Russlands im Rahmen der Komintern zu vereinigen, spra<strong>ch</strong><br />

si<strong>ch</strong> vor allem Ėrnest K. Drezen aus, der bald zum Führer der frühsowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Bewegung<br />

aufsteigen sollte. Seine Idee erwies si<strong>ch</strong> jedo<strong>ch</strong> als ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>setzbar, weil na<strong>ch</strong> den Statuten der<br />

Komintern kleinere Sektionen wie die ESKI ni<strong>ch</strong>t aufgenommen werden konnten. Na<strong>ch</strong>dem die ESKI<br />

im Herbst 1921 offenbar verboten wurde, sah sie si<strong>ch</strong> gezwungen, ihre Tätigkeit einzustellen. In der<br />

Folge bemühten si<strong>ch</strong> in dieser Phase die <strong>An</strong>hänger der Internationalen Spra<strong>ch</strong>e, die Aufmerksamkeit<br />

der staatli<strong>ch</strong>en Behörden zu erheis<strong>ch</strong>en, um die Frage der Verbreitung des Esperanto im Land zu lösen,<br />

wobei ni<strong>ch</strong>t alle Bemühungen zum Erfolg führten.<br />

9<br />

Enciklopedio de Esperanto 1933, S. 590ff.<br />

10<br />

Die Komintern, au<strong>ch</strong> Dritte Internationale genannt, wurde 1919 in Moskau auf Lenins Initiative gegründet und bestand bis<br />

1943; sie vereinigte in si<strong>ch</strong> kommunistis<strong>ch</strong>e Parteien vers<strong>ch</strong>iedener Länder auf der Grundlage der Ideen der proletaris<strong>ch</strong>en<br />

Weltrevolution und der Taktik der „Einheitsfront“ im Kampf gegen den Kapitalismus. Ihr dritter Chef, der bulgaris<strong>ch</strong>e<br />

Kommunistenführer Georgi Dimitrov, soll eine positive Haltung gegenüber Esperanto eingenommen haben.<br />

11<br />

Dazu s. https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/uploads/pdf-2008/jhk_fayet.pdf.


6<br />

Im Januar 1919 wurde von der S<strong>ch</strong>ulabteilung des Volkskommissariats für das Bildungswesen<br />

(Narkompros) 12 eine Kommission eingeri<strong>ch</strong>tet, deren Zweck darin bestand, die Frage des fakultativen<br />

Unterri<strong>ch</strong>ts der Internationalen Spra<strong>ch</strong>e in den S<strong>ch</strong>ulen zu erörtern. Zu den Mitgliedern dieser<br />

Kommission gehörten Dmitrij M. Ušakov (1873-1942), ein Philologe und späteres korrespondierendes<br />

Mitglied der Akademie der Wissens<strong>ch</strong>aften der UdSSR, Roman F. Brandt (1853-1920), ein Slavist<br />

und <strong>Prof</strong>essor der Moskauer Universität, der si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on zur Zarenzeit für Esperanto interessiert hatte,<br />

Viktor K. Poržezinskij (1870-1929), ein Indogermanist, der an den Universitäten von Moskau, Lublin<br />

und Wars<strong>ch</strong>au lehrte, sowie Nikolaj R. Evstifeev, ein bekannter Esperantist, und A.T. Titov, ein Vertreter<br />

der Reformplanspra<strong>ch</strong>e Ido, die si<strong>ch</strong> als Hauptkonkurrent des Esperanto zwis<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>altete. Obwohl<br />

die Kommission, die übrigens au<strong>ch</strong> von Maksim Gor’kij (alias Aleksej M. Peškov, 1868-1936)<br />

unterstützt wurde, der vom Nutzen des Esperanto überzeugt war, 13 immerhin zur S<strong>ch</strong>lussfolgerung<br />

kam, dass die einzige Spra<strong>ch</strong>e, die die Kraft hat, die Rolle einer Internationalen Spra<strong>ch</strong>e zu spielen,<br />

nur Esperanto sein könne, s<strong>ch</strong>loss sie ihre Akten. Die <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>-Aktivisten nutzen nun alle Mögli<strong>ch</strong>keiten<br />

aus, um Esperanto umso mehr in den S<strong>ch</strong>ulen, Betrieben und Lehranstalten mit der Hilfe<br />

von Jugend- und Gewerks<strong>ch</strong>aftsorganisationen zu propagieren. Inwieweit der Esperanto-<br />

Spra<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t von der sowjetis<strong>ch</strong>en Regierung tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> gefördert wurde, konnte nie wirkli<strong>ch</strong><br />

geklärt werden. 14<br />

In diesem Zusammenhang kam es au<strong>ch</strong> zur Berührung der Esperantisten mit der von dem sowjetrussis<strong>ch</strong>en<br />

Intellektuellen Alexander A. Bogdanov (eigtl. Aleksandr Malinovskij, 1873-1928) erri<strong>ch</strong>teten<br />

kulturrevolutionären Bewegung ‚Proletkul’t’, 15 der au<strong>ch</strong> Lunačarskij selbst angehörte. ‚Proletkul’t’<br />

verfügte über ein landesweit verstreutes Netz von Klubs, Theatern, Studios. So kam es in<br />

zahlrei<strong>ch</strong>en Städten der Sowjetunion zur Dur<strong>ch</strong>führung von Esperanto-Kursen. Bogdanov, der si<strong>ch</strong><br />

1903 den Bols<strong>ch</strong>ewiken anges<strong>ch</strong>lossen hatte, interessierte si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>aus für das Problem der allgemeinen<br />

Spra<strong>ch</strong>e der werktätigen Mens<strong>ch</strong>en der ganzen Welt. Die Frage wurde zunä<strong>ch</strong>st in den Arbeiten<br />

‚Vseobščaja organizacionnaja nauka’ (Bd. 1, 1913), ‚Nauka ob obščestvennom soznanii’ (1914) und<br />

‚Kurs političeskoj ėkonomii’ (1919, mit I. Stepanov) aufgegriffen. Die bei den Nationalspra<strong>ch</strong>en hervorgegangenen<br />

Unters<strong>ch</strong>iede hielt Bogdanov für ein grosses Hindernis. Er war der <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t, dass aus<br />

dem Prozess der Erri<strong>ch</strong>tung einer „allgemeinmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en“ Organisation au<strong>ch</strong> eine Einheitsspra<strong>ch</strong>e<br />

12<br />

Dessen Volkskommissar <strong>An</strong>atolij V. Lunačarskij war.<br />

13<br />

Um 1919 sagte der S<strong>ch</strong>riftsteller Maksim Gor’kij unter anderem über Esperanto, es sei seiner Meinung na<strong>ch</strong> eine gesunde<br />

und vollständig entwicklungsfähige Fru<strong>ch</strong>t der internationalen Spra<strong>ch</strong>e. S<strong>ch</strong>on jetzt habe Esperanto eine ziemli<strong>ch</strong> umfassende<br />

Literatur und werde au<strong>ch</strong> theoretis<strong>ch</strong> überaus erfolgrei<strong>ch</strong> ausgearbeitet. Er war der <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t, dass diese Arbeit bedeutend<br />

erfolgrei<strong>ch</strong>er und s<strong>ch</strong>neller wäre, wenn si<strong>ch</strong> ihr gelehrte Philologen ans<strong>ch</strong>liessen würden, die von der Notwendigkeit der<br />

Vereinigung der Mens<strong>ch</strong>heit überzeugt sind. Eine Spra<strong>ch</strong>e, die allen Mens<strong>ch</strong>en gemeinsam ist, würde den Prozess der kulturellen<br />

Entwicklung stärken. Gor’kij, der unter anderem au<strong>ch</strong> zum Problem der Utopie und zur Künstli<strong>ch</strong>keit der Dinge Stellung<br />

nahm, war davon überzeugt, dass Utopien realisierbar sind, dass die Meinung der Konservativen widerlegt und dass das<br />

„Künstli<strong>ch</strong>e“ ins Natürli<strong>ch</strong>e umgesetzt werden kann. Die ganze Kultur sei im Grunde do<strong>ch</strong> ein künstli<strong>ch</strong>es Phänomen. Daher<br />

sei es ni<strong>ch</strong>t abwegig, zu glauben, au<strong>ch</strong> eine sol<strong>ch</strong>e künstli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e zu s<strong>ch</strong>affen und zu entwickeln. Diese Aussage ers<strong>ch</strong>ien<br />

in: Vestnik Rabotnikov Iskusstv 7-9/1921 (ganzer Text beim Autor). Na<strong>ch</strong>dem Maksim Gor’kij von der Weissrussis<strong>ch</strong>en<br />

Organisation der SĖSR zum Ehrenmitglied ernannt worden war, wiederholte er in einem <strong>An</strong>twortbrief seine positiven <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten<br />

über Esperanto. Die S<strong>ch</strong>affung einer sol<strong>ch</strong>en gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e für alle Leute sei eine kühne Bestrebung, die der<br />

Sa<strong>ch</strong>e des Friedens diene. Die Einheit der Interessen der Werktätigen würde bedeutend s<strong>ch</strong>neller verstanden, wenn sie in<br />

einer Spra<strong>ch</strong>e spre<strong>ch</strong>en würden. Auf der Welt sei im Prinzip alles künstli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>affen worden, und wenn einmal die Notwendigkeit<br />

bestehen werde, in einer Spra<strong>ch</strong>e zu spre<strong>ch</strong>en, werde au<strong>ch</strong> dies dur<strong>ch</strong> unseren Willen, unsere Einbildung und<br />

unseren Verstand getan werden. Dieser Brief wurde veröffentli<strong>ch</strong>t in: Izvestija CK SĖSR 3-5/1928 (Text beim Autor). Na<strong>ch</strong><br />

L.N. Tolstoj und V.G. Korolenko ‚besassen’ die Esperantisten mit Maksim Gor’kij den dritten russis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riftsteller von<br />

Bedeutung, der die Existenz des Esperanto guthiess. Weil M. Gor’kij na<strong>ch</strong> seiner Rückkehr in die Sowjetunion die „te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en<br />

Errungens<strong>ch</strong>aften des Sozialismus“, die vor allem dur<strong>ch</strong> die Zwangsarbeit im GULAG (etwa am Weissmeer-Ostsee-<br />

Kanal, 1933) bewerkstelligt wurden, gemeinsam mit anderen S<strong>ch</strong>riftstellern in einer Sonderpublikation verherrli<strong>ch</strong>te und den<br />

ganzen Terror Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins offenbar völlig übersah, wurde er von Solženicyn in seinem ‚Ar<strong>ch</strong>ipel Gulag’ als<br />

biederer Hofsänger des Despoten sozusagen vers<strong>ch</strong>mäht. Der literaris<strong>ch</strong>e Wert des Werks Gor’kijs blieb bis heute umstritten.<br />

14<br />

Zum Beispiel die Frage, ob der Esperanto-Unterri<strong>ch</strong>t fakultativ oder obligatoris<strong>ch</strong> erfolgte. Eine Absage an die <strong>An</strong>erkennung<br />

des Esperanto als internationale Spra<strong>ch</strong>e wurde aber bald von den Zeitungen Izvestija und Trud erteilt, die Esperanto als<br />

eine <strong>An</strong>gelegenheit von privaten Organisationen betra<strong>ch</strong>teten (Lins, LDL, S. 193, gemäss Sennacieca Revuo 3, Nr. 5/1921-<br />

22).<br />

15<br />

Einführend s. http://en.wikipedia.org/wiki/Proletkult. Ausführli<strong>ch</strong> s. G. Gorzka: A. Bogdanov und der russis<strong>ch</strong>e Proletkult.<br />

Theorie und Praxis einer sozialistis<strong>ch</strong>en Kulturrevolution. Frankfurt/Main, New York 1980.


7<br />

hervorgehen würde. Die Herausbildung einer sol<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e hielt er unter den Bedingungen des<br />

Kapitalismus aber für unmögli<strong>ch</strong>. 16 Die Frage der internationalen Spra<strong>ch</strong>e sollte in der klassenlosen<br />

proletaris<strong>ch</strong>en Kultur dur<strong>ch</strong>aus ein wi<strong>ch</strong>tiges Thema sein, zumal vorgesehen war, dass sie si<strong>ch</strong> weltweit<br />

ausbreitet. Als 1919 seine Thesen unter dem Titel ‚Proletarskaja kul’tura i meždunarodnyj jazyk’<br />

ers<strong>ch</strong>ien, liess Malinovskij-Bogdanov seine eindeutige Neigung zu Gunsten der anglophilen Konzeption<br />

erkennen, die vor ihm s<strong>ch</strong>on Kautsky offenbart hatte. Von Spra<strong>ch</strong>en wie Volapük, Esperanto, Ido<br />

usw. hielt Bogdanov wenig. Er bezei<strong>ch</strong>nete sol<strong>ch</strong>e Versu<strong>ch</strong>e als „naiv-s<strong>ch</strong>ablonenhaft“ und konnte<br />

si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vorstellen, dass man in Esperanto komplizierte soziale Sa<strong>ch</strong>verhalte ausdrücken kann. 17<br />

Zwar drückte Bogdanov in einem Artikel für die Esperanto-Zeits<strong>ch</strong>rift Sennacieca Revuo die Überzeugung<br />

aus, dass die Versu<strong>ch</strong>e, eine internationale Kunstspra<strong>ch</strong>e zu s<strong>ch</strong>affen, einem „vitalen Bedürfnis<br />

der Mens<strong>ch</strong>heit“ entspre<strong>ch</strong>e, dass die Verwirkli<strong>ch</strong>ung dieser Idee aber „auf anderem, weniger<br />

künstli<strong>ch</strong>em und vielmehr spontanem Wege“ zustande kommen sollte. 18 Diejenige Spra<strong>ch</strong>e, die si<strong>ch</strong> in<br />

der internationalen Konkurrenz als die lebendigste von allen erweist, sollte au<strong>ch</strong> die Vorherrs<strong>ch</strong>aft<br />

über die anderen Spra<strong>ch</strong>en erhalten und vorteilhafterweise internationale Spra<strong>ch</strong>e werden.“ 19<br />

Ein weiterer prominenter Befürworter des Esperanto war der Begründer der modernen Kosmonautik,<br />

Konstantin Ė. Ciolkovskij (1879-1935). Der berühmte sowjetis<strong>ch</strong>e Wissens<strong>ch</strong>aftler besass<br />

einen Brief von L.L. Zamenhof, den er persönli<strong>ch</strong> bewunderte; sein Esperanto befand er für die beste<br />

Lösung der internationalen Kunstspra<strong>ch</strong>en, ausserdem war er ein Mitglied der SĖSR. 20<br />

Gründung einer sowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Organisation<br />

Ende 1920 sollte der III. Allrussis<strong>ch</strong>e Esperanto-Kongress unter der Leitung V. Varankins in<br />

Nižnyj-Novgorod stattfinden. Der Einladung folgten aber nur sehr wenige Esperantisten. Weitere Versu<strong>ch</strong>e,<br />

einen Esperanto-Kongress dur<strong>ch</strong>zuführen, wurden <strong>An</strong>fang 1921 in Petrograd und Kronštadt<br />

unternommen. Endli<strong>ch</strong> konnte der III. Allrussis<strong>ch</strong>e Esperanto-Kongress im Juni 1921 in Petrograd<br />

eröffnet werden. Am Kongress ers<strong>ch</strong>ienen ca. 170 Delegierte, 21 die ungefähr hundert Esperanto-<br />

Gruppen und -Vereine Russlands vertraten. Bespro<strong>ch</strong>en wurde in erster Linie die Neuorganisation der<br />

Esperanto-Bewegung unter dem Sowjetregime. Bei den Diskussionen zei<strong>ch</strong>nete si<strong>ch</strong> ab, dass Ė.K.<br />

Drezen die SĖSR als alleinige Repräsentanz der Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion etablieren<br />

wollte, ideologis<strong>ch</strong> auf offizieller marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>er Basis. Ni<strong>ch</strong>t ohne heftigen Streit ging die<br />

Veranstaltung über die Bühne. Während ältere Esperantisten aus der vorsowjetis<strong>ch</strong>en Zeit darauf bestanden,<br />

dass die ideologis<strong>ch</strong>e und politis<strong>ch</strong>e Neutralität der Esperanto-Bewegung zu bewahren sei,<br />

spra<strong>ch</strong>en die Kommunisten von der führenden Rolle der Partei und die <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten forderten die volle<br />

Freiheit der Arbeitsformen ohne jegli<strong>ch</strong>e Zentralisierung der Führung. Der <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>ist Natan Futerfas,<br />

Präsident des Organisationskomitees der Allrussis<strong>ch</strong>en Esperanto-Föderation (OKTEF), war sogar der<br />

<strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t, dass die Zeit für die Gründung einer gesamtsowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Vereinigung gar no<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t gekommen sei. Als „Föderalisten“ präsentierten si<strong>ch</strong> Grigorij Demidjuk, Nikolaj Nekrasov, Valentin<br />

Poljakov und Sergej Gajdovskij (Hajdovskij). Aus diesen Diskussionen ging am 4. Juni eine<br />

16<br />

Die bizarre <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t, dass die Idee einer internationalen neutralen Planspra<strong>ch</strong>e wie Esperanto nur in einer sozialistis<strong>ch</strong>en<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft alle objektiven Bedingungen für ihren Sieg erfülle, vertrat später au<strong>ch</strong> S. Podkaminer (Paco, DDR-Ausgabe<br />

1977, der esperantist 83/1977).<br />

17<br />

S. A. Bogdanov: O proletarskoj kul’ture, 1924, S. 329 (s. Lins, LDL, S. 197; Ė. Svadost/Istomin): Kak vozniknet vseobščij<br />

jazyk? Moskau 1968, S. 280).<br />

18<br />

S. Bogdanov, A.: De la filozofio al la organiza scienco. In: Sennacieca Revuo 1924, Nr. 5/13 (dazu s. au<strong>ch</strong>:<br />

http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>e/biblio/88.EDS8.html). Über die eins<strong>ch</strong>lägig negative Meinung der Krupskaja in<br />

Bezug auf Esperanto s. weiter unten in Kap. 2.<br />

19<br />

Meždunarodnyj jazyk 14/1926, S. 7, na<strong>ch</strong>: A. Bogdanov: O proletarskoj kul’ture. 1925. Englis<strong>ch</strong>, das als Spra<strong>ch</strong>e des „imperialistis<strong>ch</strong>en<br />

England und der imperialistis<strong>ch</strong>en USA“ bezei<strong>ch</strong>et wurde, sollte na<strong>ch</strong> der Meinung Bogdanovs die Rolle einer<br />

„Übergangsform der internationalen Spra<strong>ch</strong>e“ spielen. Von den ultralinken Esprantisten wird das Englis<strong>ch</strong>e bis heute als<br />

Instrument des „US-Imperialismus“ und „Kapitalismus“ vers<strong>ch</strong>mäht.<br />

20<br />

S. http://miresperanto.com/eminentuloj/ciolkovskij.htm.<br />

21<br />

Davon waren 34 Kommunisten, 10 Sozialisten, 2 <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten und 117 Parteilose (s. Lins 1987, S. 3., gemäss Esperantista<br />

Laboristo 2/1921).


8<br />

‚Deklaration über die Bildung der „Vereinigung der Esperantisten der Sowjetländer (SĖSS)“ 22 mit<br />

folgenden grundlegenden Prinzipien hervor:<br />

- Zentralisierung der örtli<strong>ch</strong>en Organisationen im Rahmen der SĖSS;<br />

- Bekämpfung der Fraktionsbildung innerhalb der SĖSS;<br />

- Erri<strong>ch</strong>tung von Kontakten mit ausländis<strong>ch</strong>en Esperanto-Organisationen. 23<br />

Es ist ni<strong>ch</strong>t zu übersehen, dass Drezen aus der SĖSS eine Organisation s<strong>ch</strong>mieden wollte, die<br />

ideell und struktruell mit derjenigen der Partei der Bols<strong>ch</strong>ewiken identis<strong>ch</strong> sein und si<strong>ch</strong> von der „bürgerli<strong>ch</strong>en“<br />

Esperanto-Bewegung abgrenzen sollte. Zentralisierung bedeutete au<strong>ch</strong>, dass die übrigen<br />

Esperanto-Vereinigungen in der Sowjetunion der SĖSS anges<strong>ch</strong>lossen werden mussten, wollten sie<br />

von den Behörden anerkannt werden können.<br />

Trotz dieses Gründungserfolgs hatte die Esperanto-Bewegung mit äusserst s<strong>ch</strong>wierigen Rahmenbedingungen<br />

zu kämpfen, die die komplexe politis<strong>ch</strong>e und militäris<strong>ch</strong>e Lage des Landes mit si<strong>ch</strong><br />

bra<strong>ch</strong>te. Zu nennen sind ausser des Bürgerkriegs au<strong>ch</strong> der politis<strong>ch</strong>e Terror, die Deportationen ganzer<br />

Bevölkerungsgruppen, die Hungersnot, innere Unruhen, Wirts<strong>ch</strong>afts<strong>ch</strong>aos (1921 wurde die Neue<br />

Ökonomis<strong>ch</strong>e Politik dur<strong>ch</strong>gesetzt), Seu<strong>ch</strong>en usw. usf. Den Werktätigen sollte Esperanto ni<strong>ch</strong>t zum<br />

Selbstzweck, sondern mit der Absi<strong>ch</strong>t beigebra<strong>ch</strong>t werden, dass diese mit der Hilfe dieser Spra<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong><br />

für die Propaganda des Sozialismus und für die Errungens<strong>ch</strong>aften der Revolution einsetzten. Ausgegeben<br />

wurde daher ni<strong>ch</strong>t die Losung „Arbeit für Esperanto“, sondern „Arbeit mittels Esperanto“. Das<br />

grosse Problem dabei war, dass die Arbeiters<strong>ch</strong>aft für die SĖSS aber nur s<strong>ch</strong>wer zu gewinnen war. Die<br />

besten Persönli<strong>ch</strong>keiten der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Bewegung, allen voran Drezen, Devjatnin, Nekrasov,<br />

Varankin und Sa<strong>ch</strong>arov, sollten si<strong>ch</strong> für diese Herausforderung s<strong>ch</strong>lagkräftig zur Verfügung<br />

stellen. Vor allem Drezen mit seiner berufli<strong>ch</strong>en Nähe zu den Behörden erwies si<strong>ch</strong> als auserkoren, die<br />

federführende Rolle zu spielen.<br />

S<strong>ch</strong>wierige Zusammenarbeit mit den westli<strong>ch</strong>en Linken<br />

Als <strong>An</strong>fang der 1920er Jahre in Frankrei<strong>ch</strong> ein gewisser Eugène Adam, genannt Lanti, die<br />

Szene der Esperanto-Bewegung betrat, 24 1921 mit anderen Gesinnungsgenossen während des 13. Esperanto-Weltkongresses<br />

in Prag die Sennacieca Asocio Tutmonda (SAT), die Organisation der <strong>An</strong>ationalen<br />

(oder Nationslosen) Esperantisten gründete 25 und begann, die Zeits<strong>ch</strong>rift Sennaciulo (Der <strong>An</strong>ationale<br />

bzw. Der Nationsloser) herauszugeben, wurde ein neues Kapitel in der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der internationalen<br />

Esperanto-Bewegung aufges<strong>ch</strong>lagen, das au<strong>ch</strong> die Interessen der Sowjetunion tangierte. Praktis<strong>ch</strong><br />

begriff si<strong>ch</strong> diese neue Organisation als ni<strong>ch</strong>tneutraler Verband der werktätigen und linken Esperantisten,<br />

erri<strong>ch</strong>tet sozusagen als Alternative (oder Ergänzung) zum neutralen Esperanto-Weltbund<br />

(UEA), der 1908 in Genf von Hector Hodler und seinen Freunden gegründet wurde. 26 Die Losung der<br />

22<br />

Russ. Sojuz Ėsperantistov Sovetski<strong>ch</strong> Stran (SĖSS); Esperanto: Sovetlanda Esperantista Unio (SEU). Die Vereinigung<br />

erhielt die Bezei<strong>ch</strong>nung ‚Sowjetländer’, weil bis zur Gründung der Union der Sowjetis<strong>ch</strong>en Sozialistis<strong>ch</strong>en Sowjetrepubliken<br />

(UdSSR) am 30. Oktober 1922 der neue Staat aus den folgenden integralen Entitäten bestand: Russland (RSFSR) mit 27<br />

Gouvernements sowie den Einheiten Leningrad, Ural, Sibirien, Ferner Osten und Nordkaukasus sowie aus 16 Autonomen<br />

Republiken und Kreisen, ferner aus der Ukraine (USSR), aus Weissrussland (BSSR) und der Transkaukasis<strong>ch</strong>en SFSR.<br />

23<br />

Krasnikov S. 18.<br />

24<br />

Eugène Adam-Lanti kam am 19. Juli 1879 im Departement Man<strong>ch</strong>e als Sohn einfa<strong>ch</strong>er Landwirte zur Welt. Zunä<strong>ch</strong>st<br />

betätigte er si<strong>ch</strong> als Bauer, Tis<strong>ch</strong>ler, S<strong>ch</strong>reiner und Möbeldesigner. Esperanto lernte er zu Beginn des Ersten Weltkriegs an<br />

der Front, wo er als Sanitäter abkommandiert war. Na<strong>ch</strong> seinem Militärdienst widmete er si<strong>ch</strong> der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>-Bewegung,<br />

s<strong>ch</strong>wankte aber no<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en Esperanto und Ido, einer Reformplanspra<strong>ch</strong>e, die damals eine gewisse Verbreitung erlangt<br />

hatte. Eine ausführli<strong>ch</strong>e Biographie Lantis auf Esperanto s<strong>ch</strong>rieb Ed Borsboom: Vivo de Lanti. SAT Paris 1976. Lanti (eigtl.<br />

L’anti) erhielt diesen Namen wegen seiner ständigen Opposition in politis<strong>ch</strong>en Zusammenkünften.<br />

25<br />

Sein ‘Manifesto de la Sennaciistoj’ publizierte Lanti 1931 (Dokumente auf Esperanto dazu s. unter<br />

http://eo.wikipedia.org/wiki/Manifesto_de_la_Sennaciistoj.<br />

26<br />

Hector Hodler war der Sohn des S<strong>ch</strong>weizer Malers Ferdinand Hodler. Sein Mitarbeiter René de Saussure war der Bruder<br />

des Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftlers Ferdinand de Saussure.


9<br />

SAT lautete „Weg mit dem Neutralismus!“ Aus der Sowjetunion waren am Gründungskongress keine<br />

Esperantisten anwesend. Das SAT-Jahrbu<strong>ch</strong> verzei<strong>ch</strong>nete 1922 nur 6 sowjetis<strong>ch</strong>e Mitglieder; 1923<br />

waren es aber s<strong>ch</strong>on 70 und 1924 278 Mitglieder. Lanti interessierte si<strong>ch</strong> persönli<strong>ch</strong> sehr für die neue<br />

politis<strong>ch</strong>e Entwicklung in Russland und sympathisierte anfängli<strong>ch</strong> sogar mit dem Sowjetkommunismus.<br />

Die Zielsetzungen der SAT lauteten ähnli<strong>ch</strong> wie bei der SĖSS: Benutzung des Esperanto zugunsten<br />

der Interessen der internationalen Arbeiterklasse, Verstärkung des Gefühls einer Solidarität unter<br />

den Mens<strong>ch</strong>en, Bildungs- und Aufklärungstätigkeit unter den eigenen Mitgliedern und deren Erziehung<br />

zu Internationalisten. Statt Neutralität oder Parteigehorsam wurde die Überparteili<strong>ch</strong>keit der<br />

Organisation verkündet. Demna<strong>ch</strong> waren in den Reihen der SAT alle Tendenzen des sozialistis<strong>ch</strong>en<br />

Lagers willkommen, so die Kommunisten, Sozialdemokraten, <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten, Trockisten usw. Der <strong>An</strong>ationalismus<br />

widerspra<strong>ch</strong> zunä<strong>ch</strong>st no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t der marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>en Doktrin von der proletaris<strong>ch</strong>en<br />

Bewegung im Kampf für eine klassen- und nationslose Gesells<strong>ch</strong>aft. 27 Aber der Internationalismus<br />

der Esperantisten traf si<strong>ch</strong> mit demjenigen der Kommunisten irgendwie auf ideale Weise.<br />

Um die guten gegenseitigen Beziehungen zu fördern, unterhielt Lanti mit Drezen eine Korrespondenz,<br />

die anfängli<strong>ch</strong> in sehr freundli<strong>ch</strong>em Ton verlief.<br />

Lanti, der am 1. August 1922 von Stettin aus auf einem S<strong>ch</strong>iff und mit einer Sondereinreisegenehmigung<br />

mit anderen Kommunisten und Russlandbegeisterten ins Rei<strong>ch</strong> der Proletarier fuhr, war<br />

bei seiner <strong>An</strong>kunft in Petrograd s<strong>ch</strong>ockiert über das, was er dort alles zu sehen bekam und erlebte: Im<br />

Hotel und auf den Strassen traf er auf Bettler und Prostituierte, eine allgemeine Misere und eine umfassende<br />

Bürokratie, auf s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tes Essen, und überall war S<strong>ch</strong>mutz und Langsamkeit zu beklagen. In<br />

Moskau war es ni<strong>ch</strong>t anders. So erhielt Lanti einen katastrophalen Eindruck von Russland, der seine<br />

weitere Haltung gegenüber der Sowjetunion na<strong>ch</strong>haltig negativ beeinflussen sollte! 28<br />

In Moskau traf Lanti si<strong>ch</strong> mit dem Vorsitzenden der SĖSS, Ėrnest Drezen. Dieser war als Vizedirektor<br />

des Allrussis<strong>ch</strong>en Zentralexekutivrates der Sowjets tätig und hatte sein Büro im Kreml.<br />

Obwohl Lanti von Drezen freundli<strong>ch</strong> empfangen wurde, stiess er in der Sowjethauptstadt offenbar<br />

denno<strong>ch</strong> auf unerwartet harten Granit, denn Drezen gab ihm zu verstehen, dass er die Ideologie der<br />

SAT als für ni<strong>ch</strong>t genug kommunistis<strong>ch</strong> halte, zumal si<strong>ch</strong> in der SAT au<strong>ch</strong> Sozialdemokraten, <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten<br />

und Trockisten tummelten, die den Sowjet- und Kominternführern suspekt vorkamen und mit<br />

denen zusammenzuarbeiten Drezen si<strong>ch</strong> weigerte. Ausserdem tobte in der Führungsmanns<strong>ch</strong>aft der<br />

SĖSS ein Fraktionskampf zwis<strong>ch</strong>en Drezen einerseits und der Gruppe um Demidjuk, Nekrasov und<br />

Futerfas, die die im Juni 1922 gegründete Zeits<strong>ch</strong>rift La nova epoko (Die neue Epo<strong>ch</strong>e) herausgab 29<br />

und si<strong>ch</strong> gegen „die bürgerli<strong>ch</strong>e und bürokratis<strong>ch</strong>e Physiognomie“ der SĖSS ausspra<strong>ch</strong>, andererseits.<br />

Zwis<strong>ch</strong>en dieser Gruppe und Lanti bahnten si<strong>ch</strong> freunds<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Kontakte an, die au<strong>ch</strong> in den folgenden<br />

Jahren ni<strong>ch</strong>t abbra<strong>ch</strong>en. Immerhin konnte eine Vereinbarung getroffen werden, wona<strong>ch</strong> die<br />

Redaktion der Zeits<strong>ch</strong>rift La nova epoko bereit war, Abonnementsbeiträge von den sowjetis<strong>ch</strong>en SAT-<br />

Mitgliedern entgegenzunehmen. Infolge dieser Vereinbarung wurde es für sowjetis<strong>ch</strong>e Esperantisten<br />

lei<strong>ch</strong>ter, Kontakte mit ausländis<strong>ch</strong>en Gesinnungsgenossen zu unterhalten. Dies entspra<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>aus den<br />

Absi<strong>ch</strong>ten der Komintern, die si<strong>ch</strong> für eine „Einheitsfront der Werktätigen“ ausspra<strong>ch</strong>, sodass si<strong>ch</strong> bei<br />

dieser Strategie au<strong>ch</strong> die Zusammenarbeit zwis<strong>ch</strong>en SĖSS und SAT ab 1923 eng entfalten konnte.<br />

27<br />

Zum Selbstverständnis des „Arbeiter-Esperantismus“ Lantis s. http://satesperanto.org/-LA-LABORISTA-<br />

ESPERANTISMO-.html.<br />

28<br />

Lantis lesenswerter Reiseberi<strong>ch</strong>t ‚Tri semajnojn en Rusio’ (Drei Wo<strong>ch</strong>en in Russland) ers<strong>ch</strong>ien als Serie in Sennacieca<br />

Revuo, Nov. 1922 bis Juli 1923. 1982 wurde er von SAT als Sonderausgabe na<strong>ch</strong>gedruckt (Exemplar beim Autor). Vgl.<br />

Lantis Eindrücke mit denen Arthur Koestlers, <strong>An</strong>dré Gides, Louis Fis<strong>ch</strong>ers u.a. in: Ein Gott der keiner war. dtv 1962.<br />

29<br />

Weitere Mitarbeiter waren V. Poljakov, G. Deškin, A. Fišer, S. Gajdovskij, A. Jodko, E. Mi<strong>ch</strong>al‘skij, I.I. Zil‘berfarb,<br />

Rozenblat, u.a. (Borsboom 1976, S. 38). Na<strong>ch</strong> sieben Ausgaben wurde La nova epoko 1923 eingestellt. Die Zeits<strong>ch</strong>rift ers<strong>ch</strong>ien<br />

erneut vom Oktober 1928 bis Februar 1933 und vers<strong>ch</strong>wand dana<strong>ch</strong> endgültig. Grigorij Rozenblat hatte in seiner<br />

Jugend die Gelegenheit, in die S<strong>ch</strong>weiz, na<strong>ch</strong> Deuts<strong>ch</strong>land und Frankrei<strong>ch</strong> zu reisen. In der Heimat erwies er si<strong>ch</strong> als glühender<br />

<strong>An</strong>hänger des Kommunismus und des Esperanto (s. http://historio.ru/rozenbla.htm).


10<br />

Interne Opposition und Fraktionsbildung<br />

In den Reihen der SĖSS dauerte die Opposition von Seiten der Gruppe um La nova epoko<br />

zwar an. La nova epoko verstand si<strong>ch</strong> als eine unabhängig von der SĖSS konzipierte „internationale<br />

literaris<strong>ch</strong>-gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Revue“, die die Interessen sämtli<strong>ch</strong>er historis<strong>ch</strong> gewa<strong>ch</strong>sener soziopolitis<strong>ch</strong>er<br />

Gruppen miteinbeziehen wollte, so au<strong>ch</strong> die „aufständis<strong>ch</strong>en, fris<strong>ch</strong>en, aktiven unter der alten<br />

Gesells<strong>ch</strong>aftsordnung verfolgten und unterdrückten“. Vor allem kritisierte sie Drezen wegen seines<br />

bürokratis<strong>ch</strong>en Führungsstils, wegen seines kruden Zentralismus in der SĖSS, aber au<strong>ch</strong> wegen seiner<br />

Idee, die SAT der Komintern zuzuführen. Am Ende erwies si<strong>ch</strong> die Position Drezens als die stärkere.<br />

Das Volkskommissariat für Innere <strong>An</strong>gelegenheiten fällte Ents<strong>ch</strong>eide zugunsten der Absi<strong>ch</strong>ten Drezens,<br />

ausserdem zei<strong>ch</strong>nete es si<strong>ch</strong> ab, dass Drezens Desinteresse an der Zusammenarbeit mit der SAT<br />

si<strong>ch</strong> festigte. Alle Tendenzen, die von Drezens Linie abwi<strong>ch</strong>en und ihn mit Kritik konfrontierten, wurden<br />

von diesem als antisowjetis<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tet und entspre<strong>ch</strong>end bekämpft. Drezen verdä<strong>ch</strong>tigte Demidjuk<br />

und andere Mitglieder von La nova epoko, dass diese si<strong>ch</strong> auf Lantis Rats<strong>ch</strong>lag hin in die<br />

SĖSS eins<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>en wollten, um einmal die Führung dieser Organisation übernehmen zu können. Bald<br />

erfuhr La nova epoko grosse Probleme mit der Zensur, 30 sodass sie ab August 1923 als Beilage der<br />

SAT-Zeits<strong>ch</strong>rift Sennacieca revuo herauskam, mit Ers<strong>ch</strong>einungsort Leipzig, während die Redaktion in<br />

Moskau verblieb. <strong>An</strong>dererseits ers<strong>ch</strong>ien neu das Bjulleten’ CK SĖSS, das für den internen Gebrau<strong>ch</strong><br />

bestimmt war. Kam dazu, dass Drezen bei der ideologis<strong>ch</strong>en Debatte von den ‚e<strong>ch</strong>ten Kommunisten’<br />

als „bürgerli<strong>ch</strong>er Philister“ und als „Laie in Sa<strong>ch</strong>en Kommunismus und Marxismus“ vers<strong>ch</strong>rien war.<br />

So spitzte si<strong>ch</strong> die Feinds<strong>ch</strong>aft zwis<strong>ch</strong>en den SAT-<strong>An</strong>hängern Demidjuk und Nekrasov einerseits und<br />

dem SĖSS-Chef Drezen andererseits allmähli<strong>ch</strong> zu. Demidjuk s<strong>ch</strong>rieb Lanti in einem Brief, dass man<br />

„gegen die Häresien von Drezen“ ankämpfen müsse. 31 Als diese „Wölfe“ es au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> wagten, den<br />

Moskauer Esperanto-Klub aus der SĖSR herauszulösen, war Drezens Geduld ers<strong>ch</strong>öpft. Kraft seiner<br />

Position als Apparats<strong>ch</strong>ik in der mä<strong>ch</strong>tigen Staatsverwaltung erwies si<strong>ch</strong> Drezens Taktik als klüger<br />

und erfolgrei<strong>ch</strong>er. 32<br />

Im Juni 1923 fand der I. Kongress der SĖSS in Moskau statt. Vertreten waren 23 lokale Organisationen,<br />

die mit der SĖSS verbunden waren, und die insgesamt 2300 einges<strong>ch</strong>riebenen Verbandsmitglieder<br />

vertraten. Während das Hauptziel, Esperanto bei den breiten S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten des Proletariats zu<br />

verbreiten, bestätigt wurde, wurde auf die s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e finanzielle Basis der SĖSS hingewiesen; ledigli<strong>ch</strong><br />

ein Viertel der Mitglieder zahlten den Beitrag. Dies wirkte si<strong>ch</strong> negativ auf die editoris<strong>ch</strong>e Tätigkeit<br />

aus. Als Führungspersonen der SĖSS wurden ausser Ėrnest Drezen Adam Jodko, Boris Breslau, Nikolaj<br />

Incertov und Vladimir Varankin, gewählt.<br />

Robert Guihéneuf, ein Lanti-Vertrauter und in Moskau lebender französis<strong>ch</strong>er SAT-Informant,<br />

rapportierte an Lanti, Drezen habe an diesem Kongress die Mitglieder seiner Organisation, die gegenüber<br />

ihrem Chef einen blinden Gehorsam an den Tag gelegt hätten, wie in einer Militärabteilung behandelt<br />

und alle Künste der opportunistis<strong>ch</strong>en Rhetorik angewendet, um zum Ziel zu gelangen. Wäre<br />

Drezen als Führer aber weggefallen, wäre die SĖSS kollabiert, meinte andererseits Hermann Konovalov<br />

aus Nižnyj-Novgorod.<br />

30<br />

So reagierte Drezen gereizt auf eine kritis<strong>ch</strong>e Rezension seines Bu<strong>ch</strong>es zur Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Weltspra<strong>ch</strong>e, dem man vorhielt,<br />

die <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>frage aus dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt des historis<strong>ch</strong>en Materialismus re<strong>ch</strong>tfertigen zu wollen. Drezen wandte si<strong>ch</strong><br />

unverzügli<strong>ch</strong> an die Hauptverwaltung für Literatur (Glavlit) und setzte dur<strong>ch</strong>, dass die Zensur einen Teil des Inhalts der<br />

Rezension stri<strong>ch</strong>. Aus Protest gegen dieses Vorgehen traten vier wi<strong>ch</strong>tige Mitglieder, unter ihnen Demidjuk, aus dem Moskauer<br />

Esperanto-Klub aus, der eine Filiale der SĖSR war. (Ausführli<strong>ch</strong> s. Lins 1987, S. 11f.)<br />

31<br />

Lins, ebd. Vgl. au<strong>ch</strong> die Eins<strong>ch</strong>ätzung dieser Positionen dur<strong>ch</strong> Drezen 1932 selbst.<br />

32<br />

N. Stepanov vermerkte in seinem Beri<strong>ch</strong>t zu den NKDV-Akten über Demidjuk (s. historio.ru), dass Drezen einen Draht zu<br />

Feliks Dzeržinskij, dem allmä<strong>ch</strong>tigen Chef der OGPU, und anderen hohen Funktionären gehabt haben soll, deren Unterstützung<br />

er si<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>er sein konnte. Während seiner Tätigkeit für das VCIK soll Drezen regelmässig mit Kalinin verkehrt haben.<br />

<strong>An</strong>lässli<strong>ch</strong> des Banketts zum 200. Jahrestags der Gründung der Akademie der Wissens<strong>ch</strong>aften im Jahr 1925 soll Kalinin<br />

bedauert haben, dass es keine „allgemein anerkannte Spra<strong>ch</strong>e“ gibt, die „von allen Völkern verstanden“ würde (s. Svadost<br />

1968, S. 20f.).


11<br />

Am III. SAT-Kongress in Kassel (Deuts<strong>ch</strong>land) des Jahres 1923 nahm erstmals eine SĖSS-<br />

Delegation mit Drezen, Nekrasov, Demidjuk und Futerfas teil. Dabei wurde der Versu<strong>ch</strong> gema<strong>ch</strong>t, die<br />

SAT an die Komintern heranzuführen. Lanti zog jedo<strong>ch</strong> die Unabhängigkeit seiner Organisation vor.<br />

In seiner Abs<strong>ch</strong>lussrede lenkte Drezen ein und gestattete den Mitgliedern seiner Organisation do<strong>ch</strong><br />

no<strong>ch</strong>, mit den Kommunisten, <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten und Mitgliedern anderer Parteien die gemeinsame Esperanto-Tätigkeit<br />

fortzusetzen. 33 Denno<strong>ch</strong> fand Ende 1923 bei Demidjuk und Nekrasov aufgrund einer <strong>An</strong>frage<br />

der Hauptverwaltung für Literatur eine Hausdur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ung statt, um den Verda<strong>ch</strong>t auf anar<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>e<br />

Tendenzen der Zeits<strong>ch</strong>rift La nova epoko zu überprüfen. <strong>An</strong>fang 1924 wurde Drezen selbst aus<br />

der RKP(b) auges<strong>ch</strong>lossen, na<strong>ch</strong> offizieller Lesart aufgrund seiner früheren <strong>An</strong>gehörigkeit (bis August<br />

1918) zur Partei der linken Sozialrevolutionäre (esery), wegen seines „bürgerli<strong>ch</strong>en“ Lebensstils und<br />

wegen der angebli<strong>ch</strong>en Verna<strong>ch</strong>lässigung der Parteiaktivität dur<strong>ch</strong> ihn. Drezen s<strong>ch</strong>rieb diese Intrigen<br />

den Idisten zu, von denen es in der Komintern einige gab (Stepanov vermutete, dass aber au<strong>ch</strong> Demidjuk<br />

dahintergestanden haben könnte). Na<strong>ch</strong>dem Drezen si<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>wert hatte, wurde er s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong><br />

wieder in die Partei aufgenommen.<br />

A. Lunačarskij über Esperanto<br />

Am 26. Juli 1925 wurde von Adam Iodko der II. Kongress der SĖSS im Namen des ZK der<br />

SĖSS eröffnet. <strong>An</strong> ihm nahmen 83 Delegierte teil, die 64 lokale Organisationen vertraten. <strong>An</strong>gereist<br />

kamen 50 Delegierte aus vers<strong>ch</strong>iedenen Regionen der RSFSR, der Ukraine sowie aus Weissrussland,<br />

Sibirien und Zentralasien. Unter den Delegierten befanden si<strong>ch</strong> 6 Arbeiter, 48 Werktätige, 23 Studenten,<br />

3 Armeeangehörige, 21 Mitglieder der Kommunistis<strong>ch</strong>en Partei (Bols<strong>ch</strong>ewiki), 4 <strong>An</strong>gehörige des<br />

Komsomol und 58 Parteilose. Als Vertreter der Nationalitäten waren 64 Russen, 7 Juden, 4 Weissrussen,<br />

3 Polen, 2 Letten, und je 1 Ukrainer und Armenier zugegen. Bei der Eröffnung des Kongresses<br />

zählte die SĖSS 3500 Mitglieder aus 254 Orts<strong>ch</strong>aften des Landes, von denen 1852 den Beitrag eingezahlt<br />

hatten. 34 Zum Gedenken an den inzwis<strong>ch</strong>en verstorbenen V.I. Lenin (am 21. Januar 1924) erhoben<br />

si<strong>ch</strong> die Delegierten und stimmten ein Trauerlied an. Später unterbra<strong>ch</strong>en sie eine Arbeitssitzung<br />

und begaben si<strong>ch</strong> zum Leninmausoleum auf dem Roten Platz. 35 Als Ehrenvorsitzende des Kongresses<br />

wurden <strong>An</strong>atolij Lunačarskij, Henri Barbusse und der japanis<strong>ch</strong>e Vertreter im Exekutivkomitee der<br />

Komintern, Sen-Katajama, alles Befürworter des Esperanto, gewählt. 36 Während seines Besu<strong>ch</strong>s der<br />

Stadt Kazan’ <strong>An</strong>fang Oktober 1925 hatte Lunačarskij über Esperanto gesagt, dass die Haltung des<br />

Narkompros gegenüber der internationalen Spra<strong>ch</strong>e Esperanto freundli<strong>ch</strong> (russ. družestvennoe) sei,<br />

dass die Spra<strong>ch</strong>e Esperanto an den Arbeiters<strong>ch</strong>ulen als fakultatives Fa<strong>ch</strong> zugelassen worden sei und<br />

dass die Esperanto-Kurse ni<strong>ch</strong>t behindert würden. Ferner sagte der Volkskommissar, dem eine gute<br />

gegenseitige Verständigung zwis<strong>ch</strong>en den Völkern offenbar am Herzen lag: „I<strong>ch</strong> wüns<strong>ch</strong>e von Herzen,<br />

dass die Arbeit der Esperantisten diesen Prozess erlei<strong>ch</strong>tern.“ 37<br />

In seiner kurzen Kongressanspra<strong>ch</strong>e erinnerte Drezen daran, dass „Russland“ die Heimat des<br />

Esperanto sei, denn als 1887 das allererste Esperanto-Bü<strong>ch</strong>lein Zamenhofs ers<strong>ch</strong>ien, seien es vor allem<br />

33<br />

Drezen verdä<strong>ch</strong>tigte Lanti, dass er Nekrasovs und Demidjuks Integration in die SĖSS nur deshalb unterstützte, weil er<br />

damit geplant habe, die Führung der SĖSS zu übernehmen. (s. Drezen 1932).<br />

34<br />

Krasnikov, S. 29. Im September 1923 zählte die SĖSS 2436 Mitglieder, von denen fast niemand den Mitgliedsbeitrag<br />

bezahlt hatte. Im September wurden bereits 1453 und per 25. Juli 1925 1852 Beitragszahlende registriert.<br />

35<br />

Sovetskij Ėsperantist, Nr. 9-10/1925, S. 25. Das Bjulleten’ CK SĖSS wurde Ende 1924 in Sovetskij Ėsperantist umbenannt.<br />

Davon ers<strong>ch</strong>ienen 1925 neun Ausgaben. Seit Oktober 1925 wurde die Zeits<strong>ch</strong>rift Meždunarodnyj jazyk / Internacia Lingvo<br />

das Organ der SĖSR. Im Oktober 1926 begann das Organ Izvestija CK SĖSR zu ers<strong>ch</strong>einen. In den Jahren 1926-37 hatten die<br />

Periodika der SĖSR bereits Ers<strong>ch</strong>einungsengpässe zu verkraften und wurden mit grosser Verspätung ausgeliefert.<br />

36<br />

Sovetskij Ėsperantist, Nr. 9-10/1925, S. 6.<br />

37<br />

Sovetskij Ėsperantist, Nr. 9-10/1925, S. 11. Lunačarskij begrüsste die Einführung des Lateinalphabets bei den Spra<strong>ch</strong>en<br />

des Ostens und diskutierte die Frage der Reform au<strong>ch</strong> bezogen auf die russis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e, denn er hielt die Einführung der<br />

Lateins<strong>ch</strong>rift für das Russis<strong>ch</strong>e für unumgängli<strong>ch</strong> (s. http://miresperanto.com/o_russkom_jazyke/ luna<strong>ch</strong>arskij.htm. Das<br />

Thema wurde au<strong>ch</strong> in Meždunarodnyj jazyk abgehandelt (s. http://an no.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=e2b&datum=19300101&seite=33&zoom=33.).


12<br />

Mens<strong>ch</strong>en aus Russland gewesen, die si<strong>ch</strong> dem Esperanto anges<strong>ch</strong>lossen hatten. 38 Zwar sei die Esperanto-Bewegung<br />

zahlenmässig no<strong>ch</strong> gering in einem kulturell unterenwickelten Land wie Russland<br />

vertreten, das si<strong>ch</strong> im Existenzkampf befinde und wo es in allererster Linie darum gehe, das <strong>An</strong>alphabetentum<br />

zu beseitigen. Die regionalen Delegierten spra<strong>ch</strong>en immer wieder von der Notwendigkeit,<br />

die Arbeitermassen, den Komsomol, die Parteiorganisationen, die Gewerks<strong>ch</strong>aften und die Presse an<br />

die SĖSS heranzuführen. In der S<strong>ch</strong>lussresolution wurde die bisherige Linie des ZK bestätigt, der<br />

Kampf gegen den „Neutralismus“ bekräftigt und die „aktive Unterstützung der revolutionären Esperanto-Bewegung“<br />

betont. In der Resolution konnte der obligate Seitenhieb an die Adresse des Westens<br />

ni<strong>ch</strong>t fehlen, dass der „Vormars<strong>ch</strong> des Kapitals und der k/r Kräfte“ si<strong>ch</strong> negativ auf die „allgemeine<br />

Politik der internationalen Esperanto-Bewegung ausgewirkt“ habe, insbesondere auf die SAT. Der<br />

Kongress gab die Empfehlung heraus, den „linken Flügel“ der SAT zu stärken. Die Führungsleistung<br />

wurde als „ungenügend“ bezei<strong>ch</strong>net – leise Kritik an Drezen persönli<strong>ch</strong> wurde laut. 39 Adam Iodko<br />

bestätigte eine Publikumsfrage na<strong>ch</strong> dem Interesse von Seiten der Sowjetbehörden und der Kommunistis<strong>ch</strong>en<br />

Partei dem Esperanto gegenüber dahingehend, dass man si<strong>ch</strong> mit einer gewissen Glei<strong>ch</strong>gültigkeit<br />

seitens der Behörden konfrontiert sehe. Ferner wurde an dem Kongress allgemein bekannt, dass<br />

Drezen im Rahmen einer „Parteisäuberung“ im Jahr 1924 aus der RKP(B) ausges<strong>ch</strong>lossen worden<br />

bzw. seine Mitglieds<strong>ch</strong>aft suspendiert worden war. Um die SĖSS ni<strong>ch</strong>t zu s<strong>ch</strong>ädigen (oder zu kompromittieren),<br />

wurde der Verbandspräsident dur<strong>ch</strong> einen gewissen Jakovlev ersetzt. Dieser trat na<strong>ch</strong><br />

einiger Zeit aber von seinem Amt wieder zurück, sodass das Amt überhaupt abges<strong>ch</strong>afft wurde, um<br />

Drezen na<strong>ch</strong> seiner Rehabilitierung als Generalsekretär des ZK der SĖSS einzusetzen. Die Opposition<br />

dur<strong>ch</strong> Demidjuk und Nekrasov wurde aufgegeben, die Herausgabe des unabhängigen Periodikums La<br />

nova epoko eingestellt 40 und die beiden Vertreter dieser Zeits<strong>ch</strong>rift, Futerfas und Zil’berfarb, wurden<br />

zur Zusammenarbeit aufgerufen. Demidjuk, der wegen Verbindungen zum <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>ismus verdä<strong>ch</strong>tigt<br />

wurde, musste für drei Wo<strong>ch</strong>en ins Gefängnis, und gegen die <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten wurde eine Hetzkampagne<br />

eingeleitet. 41<br />

Im Mai 1926 konnte Drezen in der Zeits<strong>ch</strong>rift Meždunarodnyj jazyk (Nr. 15/41) verkünden,<br />

dass die Trägheit der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten habe überwunden und die Veteranen zur aktiven Arbeit<br />

bewogen werden können. Etwa 120 Lokalgruppen existierten nun in der Sowjetunion und es gab<br />

ni<strong>ch</strong>t weniger als 500 Zellen der SĖSS in 350 Orts<strong>ch</strong>aften des Landes. Die seit Oktober 1925 ers<strong>ch</strong>einende<br />

Zeits<strong>ch</strong>rift des ZK der SĖSS, Meždunarodnyj jazyk, wurde in einer Auflage von 4500 Exemplaren<br />

herausgegeben und zweimal im Monat vertrieben. 42 Dies und die Sendungen im Radio, die Kurse<br />

in den S<strong>ch</strong>ulen, die internationale Korrespondenz (s. unten) und die Kontakte mit der SAT waren alles<br />

Dinge der praktis<strong>ch</strong>en Arbeit, die der Leader der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Bewegung, Drezen, als einzigartig<br />

für Esperanto in Russland qualifizierte. Inzwis<strong>ch</strong>en zählte die SĖSS 6000 Mitglieder in 425<br />

Orts<strong>ch</strong>aften des Landes. 3500 Personen bezahlten den Mitgliedsbeitrag.<br />

38<br />

Da Esperanto in Wars<strong>ch</strong>au publiziert wurde, beanspru<strong>ch</strong>ten die Polen ihr Land als Heimat L.L. Zamenhofs und des Esperanto<br />

und betra<strong>ch</strong>teten Zamenhof als einen Polen, der diese Identität jedo<strong>ch</strong> bestritt. Aber au<strong>ch</strong> die Litauer hatten einen gewissen<br />

<strong>An</strong>spru<strong>ch</strong> ihres Landes als Heimat L.L. Zamenhofs angemeldet, da die Zamenhofs den ‚Litwaken’ angehörten und die<br />

S<strong>ch</strong>wiegereltern L.L. Zamenhofs aus Kaunas (Kovno) stammten, dem Zamenhof si<strong>ch</strong> sehr verbunden fühlte. Zamenhof, der<br />

si<strong>ch</strong> selbst als einen „russis<strong>ch</strong>en Juden“ bezei<strong>ch</strong>nete (deuts<strong>ch</strong>e Entspre<strong>ch</strong>ung von „ruslanda hebreo“ auf Esperanto und<br />

„russkij“ bzw. „rossijskij evrej“ auf Russis<strong>ch</strong>), hatte si<strong>ch</strong> von all diesen Vereinnahmungsversu<strong>ch</strong>en vehement distanziert und<br />

si<strong>ch</strong> unmissverständli<strong>ch</strong> zum Judentum bekannt, was in Zeiten des <strong>An</strong>tisemitismus für die Esperanto-Bewegung von Frankrei<strong>ch</strong><br />

bis Russland offenbar ein ni<strong>ch</strong>t unwesentli<strong>ch</strong>es Problem darstellte, das in der Esperanto-Bewegung bis heute na<strong>ch</strong>zuwirken<br />

s<strong>ch</strong>eint.<br />

39<br />

Der Text der Resolution und die Voten pro und contra und der Volltext vers<strong>ch</strong>iedener anderer Resolutionen wurden in<br />

Sovetskij Ėsperantist, Nr. 9-10/1925, ab S. 24, abgedruckt.<br />

40<br />

Die Zeits<strong>ch</strong>rift ers<strong>ch</strong>ien erneut vom Oktober 1928 bis Februar 1933, um dana<strong>ch</strong> endgültig zu vers<strong>ch</strong>winden.<br />

41<br />

S. Lins, LDL, S. 213f. Bei der Kampagne gegen die <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten landete au<strong>ch</strong> Sergej Hajdovskij, Redaktionsmitglied von<br />

La nova epoko, samt Ehegattin im Gefängnis und dann in der Verbannung in den „Steppen des fernen Südostens“ für drei<br />

Jahre. Die <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten verloren das Vertrauen in die SAT und gründeten eine eigene Organisation unter dem Namen Tutmonda<br />

Ligo de Esperantistaj Senŝtatanoj (TLES).<br />

42<br />

Verantwortli<strong>ch</strong>e Redaktoren waren Iodko, Demidjuk und Lidin, in späteren Jahren Drezen, Nekrasov, Kirjušin, Incertov,<br />

Spiridovič, Demidjuk, Nikol’skij, Sazonova.


Übers<strong>ch</strong>wängli<strong>ch</strong>er Optimismus mit der Arbeiter-Korrespondenz<br />

13<br />

<strong>An</strong>fang August 1926 fand in Leningrad der III. Kongress der SĖSS statt. Den Kongress bildeten<br />

135 Delegierte, von denen 66 stimmbere<strong>ch</strong>tigt waren. Der Optimismus der <strong>An</strong>wesenden war kaum<br />

aufzuhalten, die Feststellungen, Erklärungen und Losungen entspre<strong>ch</strong>end übers<strong>ch</strong>wängli<strong>ch</strong>. Esperanto<br />

wurde gefeiert als Instrument der Verwirkli<strong>ch</strong>ung der praktis<strong>ch</strong>en Ziele des Klassenkampfes und der<br />

Vereinigung dieser Kämpfer, als Mittel der internationalen Solidarität der Volksmassen und Arbeiter-<br />

Korrespondenten. 43 Nun s<strong>ch</strong>ienen die SĖSS und die Spra<strong>ch</strong>e Esperanto endli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> von den Parteiorganen<br />

und den kulturell-bildenden Organisationen für den dringend benötigten Informationsaustaus<strong>ch</strong><br />

in den Berei<strong>ch</strong>en der Wissens<strong>ch</strong>aft, Te<strong>ch</strong>nik und Kultur und für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland<br />

zur Kenntnis genommen worden zu sein, denn ni<strong>ch</strong>t einmal die bedeutendsten sowjetis<strong>ch</strong>en Zeits<strong>ch</strong>riften<br />

verfügten über eigene Korrespondenten im kapitalistis<strong>ch</strong>en Ausland. Au<strong>ch</strong> die Pravda und<br />

die Izvestija bemerkten die Nutzung des Esperanto. Tausende von Briefen wurden zwis<strong>ch</strong>en Sowjetbürgern<br />

und Ausländern ausgetaus<strong>ch</strong>t, und das SAT-Organ Sennaciulo bot zahlrei<strong>ch</strong>e Korrespondenzadressen<br />

an. In SAT-Kreisen wurde diese Arbeiterkorrespondenz als Ende der internationalen Beziehungen<br />

„privilegierter Mä<strong>ch</strong>tiger und Rei<strong>ch</strong>er“ gefeiert. 44 Lev Kopelev (1912-1997), Sohn eines jüdis<strong>ch</strong>en<br />

Agronomen, begeisterter Kommunist mit Nähe zum Trockismus, später als Germanist, prominenter<br />

Sowjetdissident und S<strong>ch</strong>riftsteller im Westen bekannt geworden, lernte um 1926 Esperanto,<br />

dessen angebli<strong>ch</strong>e pazifistis<strong>ch</strong>e Bots<strong>ch</strong>aft er rühmte, um es dann wieder zu verlassen, weil er Zamenhofs<br />

Idee für eine Utopie hielt. Au<strong>ch</strong> dieser Kopelev war damals ein SAT-Mitglied gewesen. 45 Au<strong>ch</strong><br />

Il’ja G. Ėrenburg (1891-1967) nahm zur Frage der neutralen Universalspra<strong>ch</strong>e Stellung, 46 und der<br />

Di<strong>ch</strong>ter Sergej A. Esenin (1895-1925) träumte davon, dass die Mens<strong>ch</strong>heit irgendwann einmal in den<br />

Besitz einer gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e kommen wird. 47<br />

Von besonderer Brisanz bei der gemeinsamen Korrespondenz war, dass die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten<br />

über die Verhältnisse in der Sowjetunion beri<strong>ch</strong>teten, auf Propaganda verzi<strong>ch</strong>teten und<br />

damit bei ihren Brieffreunden im Westen Staunen auslösten. Daher waren in der Sowjetunion die Briefe<br />

aus dem kapitalistis<strong>ch</strong>en Ausland ni<strong>ch</strong>t überall willkommen. Die SĖSS mis<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> in die Korrespondenz<br />

ihrer Mitglieder ein und ermahnte die Korrespondenten, die ideologis<strong>ch</strong> ‚ri<strong>ch</strong>tigen’ Informationen<br />

über das Leben in der Sowjetunion zu geben. Vor allem Demidjuk soll als Kontrolleur dieser<br />

Korrespondenzen fungiert und sowjetis<strong>ch</strong>e Korrespondenten der systematis<strong>ch</strong>en Fals<strong>ch</strong>information<br />

bezi<strong>ch</strong>tigt haben. Auf der anderen Seite bes<strong>ch</strong>werte si<strong>ch</strong> etwa ein deuts<strong>ch</strong>es SAT-Mitglied darüber,<br />

dass es den Eindruck gewonnen habe, die sowjetis<strong>ch</strong>en Kollegen würden Artikel, die im Sennaciulo<br />

ers<strong>ch</strong>ienen, na<strong>ch</strong> Vorgabe der sowjetis<strong>ch</strong>en Regierung s<strong>ch</strong>reiben und plädierte für eine realistis<strong>ch</strong>ere<br />

und wahrheitsgetreuere Beri<strong>ch</strong>terstattung über die Zustände in der UdSSR. Korrespondiert wurde zum<br />

Beispiel über den Skandal mit Trockij, Zinov’ev und Kamenev, die aus der Partei ausges<strong>ch</strong>lossen<br />

wurden, was von einem Korrespondenten aus Bayern missbilligt wurde. So wurde den sowjetis<strong>ch</strong>en<br />

Kollegen von westli<strong>ch</strong>er Seite klargema<strong>ch</strong>t, dass die Korrespondenz eingestellt werde, falls man von<br />

sowjetis<strong>ch</strong>er Seite betrogen und belogen werde und die Wahrheit über die Sowjetunion ni<strong>ch</strong>t erfahren<br />

könne. Ausländis<strong>ch</strong>e Korrespondenten legten in ihren Ums<strong>ch</strong>lägen an sowjetis<strong>ch</strong>e Brieffreunde au<strong>ch</strong><br />

43<br />

Für diese wurde ein eigenes russis<strong>ch</strong>es Wort kreiert: esperkor(y) bzw. rabkor(y).<br />

44<br />

Lins, LDL, S. 224f., gemäss Historio de S.A.T., 1921-1952, Paris 1953, S. 40.<br />

45<br />

Lins, LDL, Ss. 225f., 269, 403. Die entspre<strong>ch</strong>enden Volltexte sind zu finden in: Lew Kopelew: Und s<strong>ch</strong>uf mir einen Götzen.<br />

Lehrjahre eines Kommunisten. 1982. S. 125-165. (Russ. auf http://www.belousenko.com/books/kopelev/ kopelev_kumir.htm#06)<br />

und Lew Kopelew: Aufbewahren für alle Zeit! 1979, S. 234f. Kopelev s<strong>ch</strong>rieb in seinem Bü<strong>ch</strong>lein<br />

‚Russland – eine s<strong>ch</strong>wierige Heimat’ (1995), dass er selbst aufri<strong>ch</strong>tig an Stalin glaubte, bei dessen Tod er Tränen vergoss,<br />

und dass er seinen Glauben an das Gute des Sozialismus behielt, obwohl er gegen Ende des 2. Weltkriegs von den Stalins<strong>ch</strong>en<br />

Repressalien erfasst wurde.<br />

46<br />

1926 s<strong>ch</strong>rieb er: „I<strong>ch</strong> für<strong>ch</strong>te mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t davor, der erste russis<strong>ch</strong>e Di<strong>ch</strong>ter zu sein, der si<strong>ch</strong> gegenüber Esperanto ni<strong>ch</strong>t mit<br />

einer spottenden Vera<strong>ch</strong>tung, sondern mit Respekt und Hoffnung artikuliert.“ (s. Svadost 1968, S. 240; Vdovin, A.I.: Русские<br />

в XX веке. Olma-Press, Moskau 2004. S. 62).<br />

47<br />

„In den Mühlen der Jahrhunderte vergehen die Tage, und das mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Idiom wird in eine einzige Spra<strong>ch</strong>e vers<strong>ch</strong>melzen.“<br />

S. Informcionnyj bjulleten’ ASĖ 5/1984, S. 32. Weitere russis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>riftsteller, die in Berührung mit Esperanto kamen,<br />

waren A.R. Beljaev, K.G. Paustovskij, M. Isakovskij sowie die Weissrussen Janka Kupala und Jakub Kolas. Als ‚Parteigänger’<br />

der Esperantisten war au<strong>ch</strong> A.P. Če<strong>ch</strong>ov im Gesprä<strong>ch</strong>. (s. meine Lizentiatsarbeit, 1991, S. 110-113).


14<br />

oppositionelle Flugblätter bei. Als si<strong>ch</strong> diese Fälle häuften, zog die SĖSS die Notbremse und bezei<strong>ch</strong>nete<br />

dieses Material als „s<strong>ch</strong>amlose verleumderis<strong>ch</strong>e Lügen.“ Im Bjulleten’ CK SĖSR (28/1927) wurden<br />

die Sowjetkorrespondenten von der SĖSS angemahnt, Esperanto nur für revolutionäre, te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e<br />

und Klasseninteressen einzusetzen. In der Folge s<strong>ch</strong>alteten die Sowjets von der individuellen auf die<br />

kollektive Korrespondenz um, die besser zu kontrollieren war. 48<br />

Den vorläufigen Höhepunkt dieser Zeitspanne bildete die Dur<strong>ch</strong>führung des 6. SAT-<br />

Kongresses im Tauris<strong>ch</strong>en Palais zu Leningrad, der etwa zeitglei<strong>ch</strong> zum III. SĖSS-Kongress im August<br />

1926 stattfand. <strong>An</strong> diesem Kongress nahmen ungefähr 400 Delegierte teil, davon stammten etwa<br />

150 aus dem Ausland. Das Motto dieses Kongresses lautete „Esperanto im Dienst des Proletariats“. In<br />

der s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>en Grussbots<strong>ch</strong>aft von <strong>An</strong>atolij V. Lunačarskij, dem Ehrenpräsidenten der Veranstaltung,<br />

hiess es, die Esperantisten leisteten einen Beitrag zu den forts<strong>ch</strong>rittli<strong>ch</strong>sten Formen der internationalen<br />

Verständigung und spürten die Nähe zur grossen kommunistis<strong>ch</strong>en Bewegung. In den Kongressresolutionen<br />

wurde auf die führende Rolle des Esperanto bei der Aufdeckung der Wahrheit der<br />

Lage der Arbeiter in den vers<strong>ch</strong>iedenen Ländern hingewiesen und erneut zur Verstärkung der internationalen<br />

Arbeiter-Korrespondenz aufgerufen. Zum Kongress wurde sogar eine Sonderbriefmarke herausgegeben.<br />

Norbert Barthelmess, der deuts<strong>ch</strong>e Redaktor des Sennacieca Revuo, lobte die Sowjetunion<br />

pathetis<strong>ch</strong> als „das Paradies für Esperantisten und Mens<strong>ch</strong>en mit freien Ideen“ und bezei<strong>ch</strong>nete die<br />

Freiheit des Sowjetbürgers als unverglei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> höher als in irgend einem demokratis<strong>ch</strong>en Land. 49 Na<strong>ch</strong><br />

dieser Veranstaltung errei<strong>ch</strong>te die Zahl der sowjetis<strong>ch</strong>en SAT-Mitglieder 2000 Personen.<br />

Aus SĖSS wird SĖSR<br />

Ende 1926 wurde die SĖSS in Union der Esperantisten der Sowjetrepubliken (russ. Sojuz Ėsperantistov<br />

Sovetski<strong>ch</strong> Respublik, SĖSR) umbenannt. Der 1. Allrussis<strong>ch</strong>e Kongress der SĖSR fand<br />

Ende Dezember in Ivanovo-Voznesensk statt. Die sowjetis<strong>ch</strong>e Esperanto-Bewegung s<strong>ch</strong>ien si<strong>ch</strong> dem<br />

Höhepunkt zuzubewegen. Immer öfter wurden die regionalen Gewerks<strong>ch</strong>aftsorgane auf die Aktivitäten<br />

der Esperantisten aufmerksam und bekundeten ihre Unterstützung, au<strong>ch</strong> in der Ukraine. Weil die<br />

SĖSR im Rahmen der Allsowjetis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft für Kulturbeziehungen mit dem Ausland (VOKS)<br />

tätig war, wurde in deren Informationsbulletin, das auf Russis<strong>ch</strong>, Englis<strong>ch</strong> und Deuts<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>ien, im<br />

September 1927 eine Zusammenfassung einzelner Artikel und eine Chronik des wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

und kulturellen Lebens in der UdSSR auf Esperanto veröffentli<strong>ch</strong>t. <strong>An</strong>lässli<strong>ch</strong> des 10. Jahrestags der<br />

Oktoberrevolution erhielt die SĖSS sogar das Vorre<strong>ch</strong>t, eine Gruppe ausländis<strong>ch</strong>er Esperantisten einzuladen.<br />

So nahmen an dem Jubiläumsanlass 23 Esperantisten aus 12 Ländern teil, die aus S<strong>ch</strong>weden,<br />

Deuts<strong>ch</strong>land, Frankrei<strong>ch</strong>, Österrei<strong>ch</strong>, Norwegen, Finnland, Lettland, und Estland anreisten. Zugegen<br />

waren weitere 12 Esperantisten aus Japan, Belgien und Südamerika, die im Rahmen anderer Delegationen<br />

in der Sowjetunion weilten. 1927 s<strong>ch</strong>ickten 24 Organisationen der SĖSR 16’500 Briefe ins Ausland,<br />

und in etwa 80 sowjetis<strong>ch</strong>en Zeitungen ers<strong>ch</strong>ienen über 2000 Artikel, während etwa 100 ausländis<strong>ch</strong>e<br />

Zeitungen in 16 Ländern aus der Sowjetunion erhaltene Materialien abdruckten. 50<br />

Den kollektiven Briefwe<strong>ch</strong>sel zwis<strong>ch</strong>en den Proletariern aller Länder weiterzuführen und die<br />

internationalen Kontakte mit der Unterstützung der VOKS und mittels der Radiostationen zu vertiefen,<br />

s<strong>ch</strong>rieb si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> der IV. SĖSR-Kongress auf die Fahne, der Ende Juli 1928 in Moskau mit 1156 Delegierten<br />

aus 42 Städten stattfand. 51 Das Bedürfnis, die Beziehungen mit dem Ausland zu verstärken,<br />

48<br />

Lins, LDL, S. 233f.<br />

49<br />

Lins, LDL, S. 223. Über N. Barthelmess s. http://esperanto.net/literaturo/autor/barthelmess.html.<br />

50<br />

Beri<strong>ch</strong>te s. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19290301&seite=22&zoom=33,<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19290301&seite=26&zoom=33 und<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19291001&seite=61&zoom=33<br />

51<br />

Erstmals wies die Teilnehmerstatistik Zahlen na<strong>ch</strong> Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tern aus. Davon waren 31 Arbeiter, 71 Bedienstete, 5 Armeeangehörige<br />

und 6 Studenten. Das Alter betreffend waren 13 Delegierte ni<strong>ch</strong>t älter als 20 Jahre alt, 31 waren 20-25-jährig, 25<br />

25-30-jährig, 19 30-35-jährig, 13 35-40-jährig und 14 Delegierte waren zwis<strong>ch</strong>en 40 und 50. Das Übergewi<strong>ch</strong>t von 100


15<br />

wurde in den Zielsetzungen S<strong>ch</strong>ritt für S<strong>ch</strong>ritt verankert. Insgesamt vereinigte die SĖSR im Jahr 1928<br />

3196 Mitglieder (dejstvitel’nye členy) und 680 „Freunde der internationalen Spra<strong>ch</strong>e“ (russ. DMS) in<br />

si<strong>ch</strong>, ein grosser Forts<strong>ch</strong>ritt gegenüber dem Jahr 1926, in dem no<strong>ch</strong> 1645 Mitglieder gezählt wurden. 52<br />

1928 gelang es der SĖSR, die Esperanto-Lehrbü<strong>ch</strong>er von Rubljov und Svistunov und die Wörterbü<strong>ch</strong>er<br />

von Sutkovoj und E.F. Spiridovič in einer stattli<strong>ch</strong>en Auflage von 68’000 Exemplaren herauszugeben.<br />

Ausserdem wurden Bü<strong>ch</strong>er und Drucksa<strong>ch</strong>en mit einer Auflage von 12’500 Stück veröffentli<strong>ch</strong>t.<br />

Das Bjulleten’ ZK SĖSR errei<strong>ch</strong>te eine Auflage von 18’000 Exemplaren und die Izvestija CK<br />

SĖSR 7000. 53<br />

Ni<strong>ch</strong>tsdestotrotz wurde auf dem Kongress eine Disproportion zwis<strong>ch</strong>en Quantität und Qualität<br />

des Mitgliederbestands, zwis<strong>ch</strong>en dem Lerninteresse für Esperanto und dem Mitgliederzuwa<strong>ch</strong>s festgestellt.<br />

Es standen viel zu wenig erfahrene Esperantisten zur Verfügung, die Kurse, Gruppen und<br />

lokale Komitees leiten konnten. Dies war au<strong>ch</strong> ein Grund, wieso einige Esperanto-Zirkel wieder zerfielen,<br />

denn es war überaus s<strong>ch</strong>wierig, neue Aktivisten und Mitglieder zu gewinnen, ein Problem, das<br />

die Esperanto-Bewegung bis heute ständig begleitet, in allen Ländern. So wurde vor allem versu<strong>ch</strong>t,<br />

statt der vielen Einzelkomitees in erster Linie die Moskauer Organisation zu stärken.<br />

Der Komsomol unterstützt Esperanto<br />

Trotz dieser S<strong>ch</strong>wierigkeiten war der Elan der Esperanto-Organsationen ungebro<strong>ch</strong>en. Die<br />

Entwicklung zeigte in den folgenden Jahren im Gegenteil sogar eine Steilkurve na<strong>ch</strong> oben. Ungehindert<br />

einiger praktis<strong>ch</strong>er Hindernisse, die offenbar überwunden werden konnten, wu<strong>ch</strong>s der Mitgliederbestand<br />

der SĖSR unaufhörli<strong>ch</strong> an: Am 1. Mai 1930 verzei<strong>ch</strong>nete die SĖSR 5137 individuelle (dejstvitel’nye)<br />

Mitglieder in 582 Orts<strong>ch</strong>aften des Landes und bis zu 18’000 „Freunde“ in 240 Orts<strong>ch</strong>aften.<br />

Inzwis<strong>ch</strong>en hatte si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die soziale Zusammensetzung der Organisation stark verändert: 21% waren<br />

jetzt Arbeiter, 5% Bauern, 45% Bedienstete, 24% Studierende, 5% Übrige. Von ihnen waren wiederum<br />

12% Mitglieder und Kandidaten der VKP(B), 17% Komsomolzen, sowie 71% Parteilose. Es gab<br />

regionale Unters<strong>ch</strong>iede: So setze si<strong>ch</strong> etwa die Esperanto-Organisation in Odessa aus 62% Arbeitern<br />

zusammen. 54 Der VIII. Kongress der Komsomolzen (VLKSM) verabs<strong>ch</strong>iedete 1928 einen Ents<strong>ch</strong>luss,<br />

Esperanto für internationale Zwecke zu verwenden. Viel s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>er war hingegen die Dur<strong>ch</strong>dringung<br />

des Esperanto in den Parteiorganisationen. Denno<strong>ch</strong> spra<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> das Narkompros der RSFSR dafür<br />

aus, dass Esperanto in den S<strong>ch</strong>ulen als fakultatives Fa<strong>ch</strong> unterri<strong>ch</strong>tet werden darf. Dieser Empfehlung<br />

folgte au<strong>ch</strong> das ukrainis<strong>ch</strong>e Narkompros. Demna<strong>ch</strong> wurden 1929 in etwa 80 S<strong>ch</strong>ulen von 24 Städten<br />

denjenigen S<strong>ch</strong>ülern Esperanto angeboten, die dies wüns<strong>ch</strong>ten. Als obligatoris<strong>ch</strong>es Fa<strong>ch</strong> wurde Esperanto<br />

sogar in den S<strong>ch</strong>ulen und pädagogis<strong>ch</strong>en Te<strong>ch</strong>nika von Kremenčug, Tver’ und Krivoj Rog eingeführt.<br />

Ein Esperanto-Kurs wurde in den Komsomol-Zeitungen von Rostov am Don, Lugansk,<br />

Dnepropetrovsk und Barnaul dur<strong>ch</strong>geführt, Radiokurse wurden in Moskau, Odessa, Kiev, Krivoj Rog,<br />

Rostov am Don, Minsk, Dnepropetrovsk, Lugansk, Krasnodar und Barnaul ausgestrahlt, und Informationen<br />

über Esperanto wurden von den Radiostationen in Char’kov, Leningrad, Minsk, Kiev und Mos-<br />

Männern gegenüber 15 <strong>Frau</strong>en war offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>. 26 Personen waren Mitglieder der VKP(B), 14 waren Komsomolzen und<br />

75 parteilos. (Krasnikov S. 39f.).<br />

52<br />

Der Grossteil stammte aus der RSFSR (1928: 2531 Mitglieder), gefolgt von der Ukraine (483), Weissrussland (110),<br />

Transkaukasien (49), der Usbekis<strong>ch</strong>en und Turkmenis<strong>ch</strong>en SSR (18 und 5). Aus Moskau kamen 548 Esperantisten, aus<br />

Leningrad 283. Von der Statistik erfasst wurden ferner die Esperanto-Gruppen aus Smolensk (245), Astra<strong>ch</strong>an’ (11), Samara<br />

(92) und Tver’ (83) (Krasnikov S. 40f.). 1932 waren in der SĖSR die folgenden hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Nationalitäten vertreten:<br />

Russen (1780, 50,23%), Ukrainer (786, 22,18%), Juden (410, 11,57%), Georgier (136, 3,84%), Armenier (84, 2,37%),<br />

Weissrussen (76, 2,14%), Deuts<strong>ch</strong>e (48, 1,35), Ts<strong>ch</strong>uwas<strong>ch</strong>en (33, 0,93%), Polen (31, 0,87%), Tataren (25, 0,71%), Letten<br />

(19, 0,54%), Litauer (12, 0,34%), Grie<strong>ch</strong>en (11, 0,31%) sowie Vertreter von 29 weiteren nationalen Minderheiten (Krasnikov,<br />

S. 100).<br />

53<br />

Das Bjulleten’ erhielten die Mitglieder gratis, während die Izvestija abonniert werden mussten.<br />

54<br />

Krasnikov, S. 44.


16<br />

kau gesendet. Au<strong>ch</strong> begannen die Esperantisten, S<strong>ch</strong>riften Lenins, Stalins, Jaroslavskijs, Molotovs und<br />

anderer Autoren ins Esperanto zu übersetzen. 55<br />

Ende 1929 wurde im Rahmen des Personenkults, dem au<strong>ch</strong> die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten<br />

verfielen und erlagen, auf den Seiten von Meždunarodnjy jazyk Stalin zum 50. Geburtstag öffentli<strong>ch</strong><br />

gratuliert. 56<br />

Verstärkung des Klassenkampfes<br />

Die „Vers<strong>ch</strong>ärfung des Klassenkampfes“ in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre in der<br />

Sowjetunion wirkte si<strong>ch</strong> unmittelbar au<strong>ch</strong> auf die Tätigkeit und die Atmosphäre in der SĖSR aus. Als<br />

strammer kommunistis<strong>ch</strong>er Parteisoldat, der die Vorgaben der Partei au<strong>ch</strong> in den Reihen seiner Organisationen<br />

kompromisslos dur<strong>ch</strong>zusetzen hatte, legte Ė.K. Drezen in seinen „Thesen zum IV. Kongress<br />

der SĖSR“, die im Bjulleten CK SĖSR, Nr. 6, 1927-28, unter dem Titel „Aktuelle gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e-politis<strong>ch</strong>e<br />

Situation und die Aufgaben der SĖSR“ veröffentli<strong>ch</strong>t wurden, die anstehenden Ziele<br />

dar. Als Hauptaufgabe der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Bewegung wurde jetzt ni<strong>ch</strong>t mehr der Kampf gegen<br />

den Neutralismus, sondern gegen die „opportunistis<strong>ch</strong>en Tendenzen der ausländis<strong>ch</strong>en Führer der<br />

Arbeiterklasse unter den Bedingungen des vers<strong>ch</strong>ärften Klassenkampfes“ auf die Tagesordnung gesetzt.<br />

Der (das) Virus des zerstöreris<strong>ch</strong>en ideologis<strong>ch</strong>en Ma<strong>ch</strong>tkampfs innerhalb des Zentralkomitees<br />

und des Politbüros der KPdSU sollte si<strong>ch</strong> nunmehr jetzt endli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> auf die gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Organisationen,<br />

die Esperanto-Bewegung einges<strong>ch</strong>lossen, übertragen.<br />

Die <strong>An</strong>griffe der sowjetis<strong>ch</strong>en Seite gegen die SAT liessen ni<strong>ch</strong>t lange auf si<strong>ch</strong> warten. Die<br />

rhetoris<strong>ch</strong>en Ausfälle Drezens gegen Lanti häuften si<strong>ch</strong>, na<strong>ch</strong>dem dieser immer wieder Artikel und<br />

Texte veröffentli<strong>ch</strong>t hatte, die ni<strong>ch</strong>t im Sinne Drezens verfasst waren. 57 So wurde Lanti von Drezen<br />

etwa als „ideologis<strong>ch</strong>er Opportunist“ bes<strong>ch</strong>impft, weil er den Kampf gegen den Imperialismus als<br />

vergebli<strong>ch</strong> bezei<strong>ch</strong>net hatte. 58 Während des VIII. SAT-Kongresses, der 1928 in Göteborg (S<strong>ch</strong>weden)<br />

stattfand und an dem 436 Delegierte aus 24 Ländern zugegen waren, kritisierten Vertreter der aus 12<br />

Personen bestehenden Delegation aus der Sowjetunion 59 einige in der letzten Zeit ers<strong>ch</strong>ienenen Artikel<br />

im SAT-Organ Sennaciulo und warfen Lanti vor, si<strong>ch</strong> von der „Position des Klassenkampfes des Proletariats<br />

gegen den Kapitalismus“ entfernt zu haben. Diese Position habe für die Kommunisten den<br />

Beginn des Kampfes des „Revisionismus der SAT-Führung“ bedeutet, sie habe der Führung der SĖSR<br />

aber no<strong>ch</strong> keinen <strong>An</strong>lass zur Konfrontation gegeben, s<strong>ch</strong>rieb Krasnikov. 60 Drezen bra<strong>ch</strong>te unmissverständli<strong>ch</strong><br />

zum Ausdruck, dass die SĖSR mit der SAT au<strong>ch</strong> weiterhin zusammenarbeiten mö<strong>ch</strong>te, aber<br />

nur falls die Ziele und Aufgaben der beiden Organisationen glei<strong>ch</strong>lautend úbereinstimmten. Unverhohlen<br />

drohte er, dass es au<strong>ch</strong> passieren könne, dass die sowjetis<strong>ch</strong>en Mitglieder aus der SAT abgezogen<br />

und dass die Gegner der von der SĖSR verfolgten ideologis<strong>ch</strong>en Linie aus ihr ausges<strong>ch</strong>lossen<br />

würden. Die Polemik war damit ni<strong>ch</strong>t beendet. In einem Brief vom 18. Mai 1929, der im Sennaciulo<br />

(Nr.5, 1928/29) veröffentli<strong>ch</strong>t wurde, wiederholte Drezen seine während des Kongresses geäusserte<br />

Kritik und bezi<strong>ch</strong>tigte Lanti erneut der Unvers<strong>ch</strong>ämtheit seines Appells, von der Position des Klassenkampfs<br />

des Proletariats gegen den Kapitalismus abrücken zu wollen. Die Direktion der SAT reagierte<br />

darauf mit einer Deklaration, die no<strong>ch</strong> in derselben Ausgabe des Sennaciulo ers<strong>ch</strong>ien. Darin wurde<br />

Drezen als „hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Revisionist“ gebrandmarkt, der, na<strong>ch</strong> der Meinung der Direktion, das<br />

wi<strong>ch</strong>tigste Prinzip der SAT, nämli<strong>ch</strong> die Unabhängigkeit von der Ideologie beliebiger Parteien, reformieren<br />

und die Vereinigung in eine Organisation der Einheitsfront verwandeln wolle, die auf den<br />

Prinzipien der Komintern gebaut sei. Die Direktion wies die „Revisionisten“ au<strong>ch</strong> darauf hin, dass sie<br />

55<br />

Krasnikov, S. 39-46.<br />

56<br />

S. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19291201&seite=5&zoom=33.<br />

57<br />

Lins, LDL, 245.<br />

58<br />

Lins, LDL, S. 261.<br />

59<br />

Drezen, Nekrasov, Varankin, Urban, Podkaminer, Rubljov, Spiridovič u.a.<br />

60<br />

Krasnikov, S. 49f.


17<br />

vor der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te die volle Verantwortung zu tragen hätten, falls es in der SAT zum S<strong>ch</strong>isma kommen<br />

sollte und sie die Ideale des Proletariats verraten würden. Den Vorwurf des S<strong>ch</strong>ismas wies das<br />

ZK der SĖSR als haltlos zurück.<br />

Als Lanti 1928 aus der KPF austrat, änderte si<strong>ch</strong> alles und er geriet selbst in Verlegenheit,<br />

musste er sein Abrücken von früheren Positionen do<strong>ch</strong> irgendwie re<strong>ch</strong>tfertigen; ja er beabsi<strong>ch</strong>tigte<br />

sogar, aus dem <strong>An</strong>ationalismus eine eigene Doktrin zu fertigen. 61 Die Kommunisten verliessen deswegen<br />

aber die SAT no<strong>ch</strong> lange ni<strong>ch</strong>t, da sie in der „anationalen“ Idee eine organisatoris<strong>ch</strong>e Kraft vorfanden,<br />

62 die ihnen erlaubte, der Arbeit der „neutralen bürgerli<strong>ch</strong>en“ Esperantisten zu widerspre<strong>ch</strong>en.<br />

Personelle Auswirkungen hatten die ideologis<strong>ch</strong>en Grabenkämpfe bereits am folgenden IX.<br />

SAT-Kongress in Leipzig von 1929, an dem unter den 650 Teilnehmern aus 22 Ländern nur no<strong>ch</strong> zwei<br />

Delegierte aus der Sowjetunion anreisten, nämli<strong>ch</strong> Drezen und Demidjuk. Erneut ri<strong>ch</strong>tete Drezen in<br />

seinen Auftritten laute Vorwürfe an die Adresse der SAT-Führung, sie wolle den marxistis<strong>ch</strong>en Internationalismus<br />

dur<strong>ch</strong> den <strong>An</strong>ationalismus ersetzen und drohte damit, dass die sowjetis<strong>ch</strong>en Genossen<br />

die SAT verstärkt dem kommunistis<strong>ch</strong>en Einfluss aussetzen würden. S<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> einigte man si<strong>ch</strong><br />

wieder einmal auf eine ideologis<strong>ch</strong>en Kompromiss: Die Herausgabe der S<strong>ch</strong>riften Lantis wurde als<br />

Fehler era<strong>ch</strong>tet und der SAT-Direktion wurde das Vertrauen ausgespro<strong>ch</strong>en. Der Beri<strong>ch</strong>t in<br />

Meždunarodnyj jazyk (Nr. 4-5, 1929 63 ) hielt einseitig fest, dass die SAT eine Organisation der Einheitsfront,<br />

basierend auf der Plattform des Klassenkampfes, bleiben und jegli<strong>ch</strong>en Versu<strong>ch</strong> des Revisionismus<br />

vereiteln werde. Aber Lanti s<strong>ch</strong>lug rhetoris<strong>ch</strong> zurück und warf den Kommunisten aus der<br />

SĖSR vor, sie wollten die SAT entzweien.<br />

Die Sowjets wenden si<strong>ch</strong> vom Ausland ab<br />

Bald sah das ZK der SĖSR keine Mögli<strong>ch</strong>keiten mehr, die Zusammenarbeit mit der Führung<br />

der SAT fortzusetzen, und so ents<strong>ch</strong>ieden si<strong>ch</strong> die Sowjetesperantisten, dem X. SAT-Kongress in<br />

London (August 1930) fernzubleiben. 64 Die Opposition versu<strong>ch</strong>te, die SAT-Führung zu stürzen und<br />

dur<strong>ch</strong> neue Leute zu ersetzen. Aber Lanti konnte eine Mehrheit behalten und seinen Sturz vermeiden.<br />

Erstmals erklangen an diesem Kongress au<strong>ch</strong> kritis<strong>ch</strong>e Töne über das Sowjetregime und dass Drezen<br />

in der Heimat ni<strong>ch</strong>t nur Freunde hatte. <strong>An</strong> einer August-Sitzung kam das ZK der SĖSR zum S<strong>ch</strong>luss,<br />

dass der Kongress ni<strong>ch</strong>t in der Lage war, die Positionen der beiden Organisationen zu vereinen. Der<br />

Londoner Kongress ents<strong>ch</strong>ied si<strong>ch</strong> denno<strong>ch</strong> für die Dur<strong>ch</strong>führung des nä<strong>ch</strong>sten SAT-Kongresses in<br />

Moskau, was das ZK SĖSR dazu veranlasste, eine Reihe von Massnahmen zu treffen, um diesen Ents<strong>ch</strong>eid<br />

in die Tat umzusetzen, in der Hoffnung, eine neue revolutionäre Organisation zu s<strong>ch</strong>affen.<br />

Während die SĖSR eine neue Kampagne gegen Lanti startete, revan<strong>ch</strong>ierte si<strong>ch</strong> der SAT-Vorstand mit<br />

einer Kompromittierungsaktion gegen Drezen, Demidjuk und Nekrasov, die in dem Vors<strong>ch</strong>lag bestand,<br />

diese Genossen aus der SAT auszus<strong>ch</strong>liessen. Ferner wurde die Gründung eines neuen Bulletins<br />

mit dem Titel Internaciisto bekanntgegeben, das si<strong>ch</strong> als „Organ der klassenkämpferis<strong>ch</strong>en Esperantistens<strong>ch</strong>aft<br />

und deren Opposition in der SAT“ 65 bezei<strong>ch</strong>nete und in Berlin ers<strong>ch</strong>ien. Und in Leipzig<br />

61<br />

Lins, LDL, S. 259.<br />

62<br />

Vor allem sowjetis<strong>ch</strong>e Esperantisten liessen si<strong>ch</strong> von der Idee des <strong>An</strong>ationalismus begeistern, weniger aber die österrei<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en<br />

und deuts<strong>ch</strong>en Sozialdemokraten. (Lins, LDL, S. 260).<br />

63<br />

Online s. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19291001&seite=5&zoom=33 und<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19291201&seite=3&zoom=33.<br />

64<br />

Den Bru<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en der SAT und der SĖSR beeinflussten wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine Reihe anderer, ganz praktis<strong>ch</strong>er Faktoren,<br />

so die Bes<strong>ch</strong>ränkung der Ausgabe von sowjetis<strong>ch</strong>en Auslandspässen, die Verweigerung der sowjetis<strong>ch</strong>en Behörden,<br />

den Reisenden ausländis<strong>ch</strong>e Valuta zur Verfügung zu stellen und die S<strong>ch</strong>wierigkeit für Sowjetbürger, von westli<strong>ch</strong>en Staaten<br />

Einreisevisa zu erhalten. Ferner bestanden Probleme mit der Überweisung der Mitgliedsbeiträge von 2000 sowjetis<strong>ch</strong>en<br />

SAT-Mitgliedern aus der Sowjetunion. Offenbar wurde das Geld in Moskau zurückgehalten, weil man die SAT jetzt neu<br />

einstufte. Diese S<strong>ch</strong>ikane löste in der SAT Verärgerung aus. Für die Geldüberweisung war Demidjuk verantwortli<strong>ch</strong>. (Lins,<br />

LDL, S. 264f.).<br />

65<br />

Organo de la klasbatala Esperantistaro kaj ties opozicio en la Sennacieca Asocio Tutmonda. Diese Zeits<strong>ch</strong>rift ers<strong>ch</strong>eint<br />

no<strong>ch</strong> heute als Organ des Komunista Esperantista Kolektivo (KEK).


18<br />

nahm ein Verlag mit dem Namen EKRELO (Eldon-Kooperativo por Revolucia Esperanto-Literaturo)<br />

seinen Betrieb auf, der die Aktivitäten der SAT-Opposition bedienen sollte. Die Kooperative verstand<br />

si<strong>ch</strong> als unabhängig, stand aber der SĖSR nahe. 66<br />

Auf beiden Seiten wurde die Rhetorik vers<strong>ch</strong>ärft. Während Lanti, der den Glauben an die proletaris<strong>ch</strong>e<br />

Revolution in der Sowjetunion zu verlieren begann 67 und seinerseits „antisowjetis<strong>ch</strong>e“ Artikel<br />

veröffentli<strong>ch</strong>te, empfahl das ZK den Mitgliedern der SĖSR zwar in den Reihen der SAT zu verbleiben,<br />

die Beitragsgebühren über die ausländis<strong>ch</strong>en Korrespondenten einzuzahlen, aber eine organisierte<br />

Kampagne gegen die Führung der SAT mit dem Ziel zu führen, einen Führungswe<strong>ch</strong>sel herbeizuführen.<br />

Statt des Organs Sennaciulo, das boykottiert werden sollte, sollte nun der Internaciisto<br />

abonniert werden. In der Korrespondenz mit den ausländis<strong>ch</strong>en Esperantisten sollten das „k/r“ und<br />

unmarxistis<strong>ch</strong>e Wesen der SAT-Führung „entlarvt“ und die Verleumdungen gegen die Sowjetunion<br />

aufgedeckt werden, und die <strong>An</strong>hänger Lantis wollte man ebenfalls aus den Reihen der SĖSR ausges<strong>ch</strong>lossen<br />

wissen. In weiteren Runds<strong>ch</strong>reiben und Resolutionen an die Organisationen der SĖSR leistete<br />

si<strong>ch</strong> das ZK der SĖSR einen immer s<strong>ch</strong>ärferen Ton. Der „Opportunismus“ Lantis wurde als „antisowjetis<strong>ch</strong>“<br />

gebrandmarkt und die Mitglieder auf die „si<strong>ch</strong> vertiefende Krise in allen kapitalistis<strong>ch</strong>en<br />

Ländern“ aufgeklärt, die die Sowjetunion „verleumdeten“ und si<strong>ch</strong> auf eine „Intervention“ gegen die<br />

Sowjetunion vorbereiteten. Die Kriegsgefahr von Seiten des „internationalen Imperialismus“ und der<br />

„internationalen Bourgeoisie“ wa<strong>ch</strong>se tägli<strong>ch</strong> an. Die Aufgabe aller sowjetis<strong>ch</strong>en und proletaris<strong>ch</strong>en<br />

Esperantisten der ganzen Welt sei es, den Aufbau und den Fünfjahresplan des Sozialismus ni<strong>ch</strong>t nur<br />

mit Worten, sondern mit Taten zu verteidigen. Ferner war von der „Säuberung“ der Organisationen<br />

von „antiproletaris<strong>ch</strong>en und antisowjetis<strong>ch</strong>en Elementen“ die Rede.<br />

Ferner warf Drezen der SAT vor, dass sie in Bezug auf die „nationale Frage“ „linke, sozialdemokratis<strong>ch</strong>e<br />

und trockistis<strong>ch</strong>e“ <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten, später in sämtli<strong>ch</strong>en Fragen eine „sozial-fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>e“<br />

und eine „antisowjetis<strong>ch</strong>e“ Position vertreten hätte. Daher habe die SĖSR von allerlei „Hasardeuren“<br />

und „<strong>An</strong>kleber“ gesäubert werden müssen.<br />

So wurden Lanti ni<strong>ch</strong>t nur „antisowjetis<strong>ch</strong>e Ausfälle“, sondern au<strong>ch</strong> „fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>e Methoden“<br />

vorgeworfen, denn er habe aus den Reihen seiner Organisation die „oppositionellen revolutionären<br />

Genossen“ ausges<strong>ch</strong>lossen, die die „wahre proletaris<strong>ch</strong>e Linie“ verfolgt hätten. Ferner enthielt die<br />

Resolution einen Protest der Moskauer Mitglieder der SĖSR gegen die „<strong>An</strong>s<strong>ch</strong>uldigungen“ gegen<br />

Drezen fest und drückte ihm das „volle Vertrauen und die Unterstützung“ aus.<br />

Nationalismusdebatte<br />

Die si<strong>ch</strong> ab 1930/31 abzei<strong>ch</strong>nende Kursänderung in der sowjetis<strong>ch</strong>en Nationalitätenpolitik –<br />

das „Grossrussis<strong>ch</strong>e“ hatte inzwis<strong>ch</strong>en die Rolle einer die sowjetis<strong>ch</strong>en Völker verbindenden Spra<strong>ch</strong>e<br />

eingenommen – wirkte si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> auf die Diskussion innerhalb der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Bewegung<br />

aus. Am Beispiel der Ukraine wurde eine neue Stufe der Kontroverse eingeleitet, als die Zeits<strong>ch</strong>rift<br />

Kommunist im Juni 1930 den Text eines Referats von Mykola (Nikolaj) Skrypnyk, 68 veröffentli<strong>ch</strong>t<br />

hatte, in dem der ukrainis<strong>ch</strong>e Volkskommissar für Bildung Forts<strong>ch</strong>ritte der ukrainis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e in<br />

der Ukraine behandelte und als Sieg über die Russifizierung lobte. Als Politiker kämpfte Skyrpynk<br />

gegen den ‚grossrussis<strong>ch</strong>en Chauvinismus’. Esperanto als Alternative für die Ukrainisierung lehnte er<br />

66<br />

Der Sitz von EKRELO befand si<strong>ch</strong> bis 1933 in Leipzig, dana<strong>ch</strong> in Amsterdam und s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> in Moskau, wo er 1936<br />

liquidiert wurde. Über EKRELO s.: Blanke, D. (1996): Bibliographie der EKRELO-Titel. In: Kolbe, Ino: Zur Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des<br />

Deuts<strong>ch</strong>en Arbeiter-Esperanto-Bundes in Leipzig, Bd. II., S. 74-78; Blanke, D. (2008): Istorija rabočego Esperanto-dviženija.<br />

In: Krasnikov/Blanke, 2008, S. 115-164; Haupenthal, R. (2010): Eldon-Kooperativo por Revolucia Esperanto-Literaturo. Ein<br />

Verlag, seine Bü<strong>ch</strong>er und ihr Standort / Eldonejo, ties libroj kaj ilia trov-loko. Mit einer Bibliographie. Bad Bellingen. 37 S.<br />

67<br />

Lins, LDL, S. 417.<br />

68<br />

Ausführli<strong>ch</strong> über N.A. Skrypnyk s. http://ru.wikipedia.org/wiki/Скрипник,_Николай_Алексеевич.


19<br />

aber ab. Eigentli<strong>ch</strong> hatte Skrypnyk ni<strong>ch</strong>ts gegen die Spra<strong>ch</strong>e Esperanto (sein Sekretär soll selbst ein<br />

Esperantist gewesen sein), dessen Verdienste bei der Propaganda er dur<strong>ch</strong>aus anerkannte (er verspra<strong>ch</strong><br />

sogar, die Esperanto-Bewegung zu unterstützen), aber von dem von den Esperantisten propagierten<br />

<strong>An</strong>ationalismus hielt er ni<strong>ch</strong>ts. 69 Im Namen des Internationalismus würde die Bedeutung der nationalen<br />

Kulturen heruntergestuft und die Existenz der Mutterspra<strong>ch</strong>e von Millionen ignoriert. Diejenigen,<br />

die für die Einführung des Esperanto in den S<strong>ch</strong>ulen plädierten, hätten den Wuns<strong>ch</strong>, die Ukrainisierung<br />

zu verhindern. Wenn die Esperantisten ni<strong>ch</strong>t zu Gunsten der nationalen Kultur für eine anationale<br />

Kultur für die Völker plädierten, müsse diese Haltung zurückges<strong>ch</strong>lagen werden, denn sie sei weder<br />

proletaris<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> kommunistis<strong>ch</strong> und au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t internationalistis<strong>ch</strong>, sondern reaktionär und fals<strong>ch</strong>.<br />

Die SĖSR reagierte auf diesen <strong>An</strong>griff mit einer verlegenen Selbstkritik: Man habe den <strong>An</strong>ationalismus<br />

dem eigenen Publikum zu wenig gut erklärt, dass man den <strong>An</strong>ationalismus ledigli<strong>ch</strong> als Mittel<br />

gegen Nationalismus, Chauvinismus und Sozial<strong>ch</strong>auvinismus einzusetzen tra<strong>ch</strong>te und dass man Esperanto<br />

aber ni<strong>ch</strong>t dazu verwenden wolle, um eine eigene Esperanto-Kultur zu s<strong>ch</strong>affen, sondern um die<br />

Leute in einem internationalen proletaris<strong>ch</strong>en Geist zu erziehen und dur<strong>ch</strong> ihn den engen nationalen<br />

und nationalistis<strong>ch</strong>en Geist zu ersetzen. Im SAT-Organ Sennaciulo wurde Skrypnyks Ausfall mit einem<br />

ironis<strong>ch</strong>en Artikel<strong>ch</strong>en quittiert. 70<br />

Unter diesen ideologis<strong>ch</strong> völlig zerfur<strong>ch</strong>ten und feindseligen Bedingungen konnte trotz der<br />

Bemühungen, die die Führung der SĖSR offenbar no<strong>ch</strong> unternahm, selbstverständli<strong>ch</strong> kein XI. SAT-<br />

Kongress in der Sowjetunion zustande kommen, wie dies geplant war. <strong>An</strong>statt in Moskau fand er,<br />

freili<strong>ch</strong> erneut ohne Sowjetdelegation, in Amsterdam statt. Obwohl die Opposition erneut die Entfernung<br />

Lantis forderte, behielt der SAT-Chef no<strong>ch</strong> einmal die Mehrheit, was die linke Opposition dazu<br />

veranlasste, aus Protest die Sitzungen zu verlassen und einen eigenen Kongress der „revolutionären“<br />

Esperantisten abzuhalten. Dabei wurde von ihnen ein „Internationales Vereinigendes Komitee“ mit<br />

dem Ziel gegründet, die „proletaris<strong>ch</strong>e“ Esperanto-Bewegung zu reorganisieren. Der Bru<strong>ch</strong> in der<br />

internationalen proletaris<strong>ch</strong>en Esperanto-Bewegung war somit vollzogen. 71<br />

Am V. Kongress der SĖSR, der Ende November 1931 stattfand, nahmen 119 Delegierte aus<br />

45 Orts<strong>ch</strong>aften des Landes teil. Auf der Traktandenliste stand die Verabs<strong>ch</strong>iedung neuer Statuten. Was<br />

69<br />

Lins, LDL, S. 358.<br />

70<br />

Lins, ebd., S. 269ff. Skrypnyk über Esperanto s. http://anno.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=e2b&datum=19311001&seite=10&zoom=33.<br />

Was ukrainis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>riftsteller von Esperanto hielten s.<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19301001&seite=104&zoom=33.<br />

71<br />

Krasnikov, S. 46-60. Die s<strong>ch</strong>ismatis<strong>ch</strong>en Tendenzen waren aber no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t beendet. Na<strong>ch</strong>dem die österrei<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en SAT-<br />

Mitglieder einen letzten Versu<strong>ch</strong> unternahmen, die Struktur der SAT zu ändern und auf den <strong>An</strong>ationalismus zu verzi<strong>ch</strong>ten,<br />

ihre Bemühungen aber s<strong>ch</strong>eiterten, wurde im August 1932 in Berlin die „Internationale der proletaris<strong>ch</strong>en Esperantisten“<br />

(IPE; Internacio de Proleta Esperantistaro) gegründet, wel<strong>ch</strong>er si<strong>ch</strong> Sektionen aus 14 Ländern ans<strong>ch</strong>lossen. Dann überda<strong>ch</strong>ten<br />

au<strong>ch</strong> die Sozialisten ihre Haltung und kamen zum S<strong>ch</strong>luss, dass es besser wäre, eine eigene Organisation zu gründen. Diese<br />

Absi<strong>ch</strong>t wurde unter der Federführung der österrei<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Arbeiter-Esperantisten, die in der Österrei<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Arbeiter Esperanto-Liga<br />

(ALLE) vereinigt waren, im Juni 1933 verwirkli<strong>ch</strong>t. In der ALLE spielte au<strong>ch</strong> Franz Jonas (1899-1974), SPÖ-<br />

Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien (1951-65) und österrei<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>er Bundespräsident (1965-74), eine Rolle. <strong>An</strong><br />

Pfingsten 1933 wurde in Wien die „Internationale der sozialistis<strong>ch</strong>en Esperantisten“ (Internacio de Socialistaj Esperantistoj,<br />

ISE) aus der Taufe gehoben, der si<strong>ch</strong> vor allem Esperantisten aus Österrei<strong>ch</strong>, Frankrei<strong>ch</strong>, Ungarn und der Ts<strong>ch</strong>e<strong>ch</strong>oslowakei<br />

ans<strong>ch</strong>lossen. Ihre Tätigkeit dauerte allerdings ni<strong>ch</strong>t lange. Im Februar 1934 wurden die Aktivitäten von Organisationen wie<br />

der ISE und der ALLE von Kanzler Dollfuss verboten, während die französis<strong>ch</strong>e und niederländis<strong>ch</strong>e Sektion der IPE no<strong>ch</strong><br />

bis September 1939 existierten. Au<strong>ch</strong> die SAT war na<strong>ch</strong> diesen Ers<strong>ch</strong>ütterungen mehr oder weniger ruiniert und verblieb mit<br />

2000 Mitgliedern ein relativ kleiner Verband. Die weiteren regulären SAT-Kongresse wurden 1932 in Stuttgart, 1933 erneut<br />

in Stockholm, 1934 in Valencia, 1935 in Paris, 1936 in Man<strong>ch</strong>ester, 1937 in Rotterdam, 1938 in Brüssel und 1939 in Kopenhagen<br />

abgehalten. Lanti erklärte seinen Rückzug aus der führenden Position in der SAT und nahm na<strong>ch</strong> 1933 an keinem<br />

SAT-Kongress mehr teil. 1936 verliess er Europa, reiste über Japan, Australien, Neuseeland und Südamerika na<strong>ch</strong> Mexiko<br />

ein, wo er si<strong>ch</strong> im Januar 1947 das Leben nahm. (Lins, LDL, S. 277). Au<strong>ch</strong> die „neutrale“ Esperanto-Bewegung (UEA)<br />

spaltete si<strong>ch</strong> 1936 mit der Bildung einer „Internacia Esperanto-Ligo“ (IEL), während das Büro der UEA in Genf verblieb (die<br />

Wiedervereinigung beider Organisationen wurde 1947 vollzogen).


20<br />

die Klassenangehörigkeit der Mitglieder der SĖSR betrifft, soll um 1931 in der SĖSR bereits ein <strong>An</strong>teil<br />

von 40% und in einigen Organisationen sogar 60% Arbeitern registriert worden sein. 72<br />

<strong>An</strong>zei<strong>ch</strong>en einer Stagnation<br />

Über die allgemeine Verfassung der SĖSR in den Jahren 1932-33 sind widersprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>gaben<br />

überliefert worden. Auf der einen Seite wurden <strong>An</strong>zei<strong>ch</strong>en einer Stagnation beoba<strong>ch</strong>tet, deren<br />

Gründe auf den Bru<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en der SAT und der SĖSR, auf die komplizierten allgemeinen Rahmenbedingungen<br />

sowie auf die Trägheit und das na<strong>ch</strong>lassende Interesse bei den lokalen Organisationen an<br />

der Esperanto-Bewegung zurückgehen mo<strong>ch</strong>ten. <strong>An</strong>dererseits gab es immer wieder Grund zur Freude,<br />

die diesmal ein Brief des Allrussis<strong>ch</strong>en Zentralrats der Gewerks<strong>ch</strong>aften (VCSPS) vom 27. Juli 1934 an<br />

sämtli<strong>ch</strong>e Gewerks<strong>ch</strong>afts-Sowjets in den Republiken, Regionen und Gebietseinheiten auslöste. Zum<br />

ersten Mal hatte in der langen Periode der Tätigkeit der SĖSR ein führendes Organ der sowjetis<strong>ch</strong>en<br />

Gewerks<strong>ch</strong>aften der Esperanto-Organisation Aufmerksamkeit gezollt. Das S<strong>ch</strong>reiben würdigte den<br />

Einbezug der Esperantisten in die Arbeit der gewerks<strong>ch</strong>aftsnahen Organisationen, die Förderung der<br />

Korrespondenz in Esperanto neben derjenigen in Englis<strong>ch</strong>, Deuts<strong>ch</strong> und anderen Fremdspra<strong>ch</strong>en, 73 die<br />

Erri<strong>ch</strong>tung von Esperanto-Zirkeln und die Dur<strong>ch</strong>führung von Esperanto-Kursen. Der Brief trug die<br />

Unters<strong>ch</strong>rift eines gewissen D. Marčenko, des Leiters der Abteilung ‚Kul’tmassovyj otdel’ des<br />

VCSPS.<br />

Während die Gewerks<strong>ch</strong>aften ho<strong>ch</strong>erfreuli<strong>ch</strong>e Signale zur Zusammenarbeit mit den Esperantisten<br />

aussendeten, die zu nutzen waren, bahnte si<strong>ch</strong> im ZK der SĖSR eine neue Runde kritis<strong>ch</strong>er<br />

Äusserungen gegen Ėrnest Drezen an, die diesmal von Nikolaj Nekrasov, Grigorij Demidjuk und<br />

Šamil’ Usmanov stammten, der 1930-32 dem Moskauer Komitee der SĖSR vorstand und seit 1931<br />

Mitglied des ZK der SĖSR war. Drezen wurde ni<strong>ch</strong>t nur der Untätigkeit und der bürokratis<strong>ch</strong>en Führung<br />

der Organisation bezi<strong>ch</strong>tigt, sondern es wurde ihm au<strong>ch</strong> ein Mangel an Arbeitsplanung in der<br />

SĖSR vorgeworfen. Aber die Kritik traf au<strong>ch</strong> andere. So wurden auf einer ZK-Sitzung vom 24. Dezember<br />

1934 das Sverdlovsker Komitee der SĖSR aufgehoben, und der Redaktor des Meždunarodnyj<br />

jazyk, Nikolaj Nekrasov, der es wagte, Drezen zu kritisieren, wurde dur<strong>ch</strong> einen anderen Redaktor (N.<br />

Modenov) ersetzt.<br />

Ideologis<strong>ch</strong>e Glei<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>altung<br />

Von dem gereizten Klima des „verstärken Klassenkampfes“, der totalen ideologis<strong>ch</strong>en Glei<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>altung,<br />

der kompromisslosen Intoleranz gegenüber <strong>An</strong>dersdenkenden und der Verfolgung von<br />

„Volksfeinden“, ausgelöst in der Partei dur<strong>ch</strong> harte innerparteili<strong>ch</strong>e Flügelkämpfe zwis<strong>ch</strong>en<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin einerseits und der „linken“ und „re<strong>ch</strong>ten“ Opposition 74 andererseits, wurde<br />

au<strong>ch</strong> die Tätigkeit der SĖSR erfasst; so fiel dieser totalitären Atmosphäre zunä<strong>ch</strong>st einmal die „freiwillige<br />

individuelle“ internationale Korrespondenz zum Opfer. Es s<strong>ch</strong>ien, als wussten die ausländis<strong>ch</strong>en<br />

(westli<strong>ch</strong>en) Korrespondenten inzwis<strong>ch</strong>en ziemli<strong>ch</strong> gut über die Wirkli<strong>ch</strong>keit und die Vorgänge in der<br />

Sowjetunion Bes<strong>ch</strong>eid, ebenso über die Arbeitsbedingungen in Lagern der GULAG, über die Folgen<br />

der Zwangskollektivierung der Landwirts<strong>ch</strong>aft, über die Lage der Religionen, usw. In der Mitte der<br />

30er Jahre wurde es für die Sowjetmens<strong>ch</strong>en immer gefährli<strong>ch</strong>er, individuell mit dem Ausland Briefwe<strong>ch</strong>sel<br />

zu pflegen. Die SĖSR liess offiziell nur no<strong>ch</strong> die „kollektive Korrespondenz“ zu, und neue<br />

72<br />

Drezen 1932. Die Thesen zum V. Kongress s. http://anno.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=e2b&datum=19300501&seite=5&zoom=33.<br />

73<br />

<strong>An</strong>fang der 1930er Jahre befand si<strong>ch</strong> Esperanto an vierter Stelle der unterri<strong>ch</strong>teten Fremdspra<strong>ch</strong>en im Land – es wurde an<br />

80 Lehranstalten in 24 Städten der UdSSR gelehrt.<br />

74<br />

S<strong>ch</strong>nellüberblick dazu s. http://de.wikipedia.org/wiki/Moskauer_Prozesse,<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Großer_Terror_(Sowjetunion)#Moskauer_S<strong>ch</strong>auprozesse,<br />

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/1907511.


21<br />

Korrespondenzadressen wurden den Esperantisten vorenthalten, um ihren Briefwe<strong>ch</strong>sel mit dem Ausland<br />

zu unterbinden. Bald erhielten au<strong>ch</strong> die sowjetis<strong>ch</strong>en Abonnenten des Sennaciulo keine Ausgabe<br />

dieser Zeits<strong>ch</strong>rift mehr zugestellt. Bekannt wurden au<strong>ch</strong> Fälle, in denen Mitglieder aus der SĖSR ausges<strong>ch</strong>lossen<br />

wurden, so etwa Z. Sta<strong>ch</strong>eeva aus Kujbyšev, der man vorwarf, zur „trockistis<strong>ch</strong>zinov’evs<strong>ch</strong>en<br />

Konterrevolution“ zu gehören. Sol<strong>ch</strong>e Leute verloren deswegen ni<strong>ch</strong>t nur ihre Arbeitsstelle,<br />

sondern wurden sogar überhaupt aus der Partei verjagt.<br />

<strong>An</strong>dererseits wurde den Esperantisten gestattet, in der Sowjetunion Filialen des sogenannten<br />

‚Proletaris<strong>ch</strong>en Esperanto-Korrespondenten’ (PEK) zu eröffnen, der im September 1929 in Leipzig<br />

von deuts<strong>ch</strong>en Esperanto-Kommunisten gegründet wurde. Die Gründung sol<strong>ch</strong>er Filialen wurden von<br />

der SĖSR in Leningrad, Char’kov, Vladivostok, Čita, Ar<strong>ch</strong>angel’sk, Baku, Moskau und anderen Städten<br />

empfohlen. Einmal in Mode geraten, erhielt in den folgenden Jahren nun der Unterhalt und die<br />

Neugründung sol<strong>ch</strong>er PEK-Filialen an den Sitzungen des CK der SĖSR grosse Aufmerksamkeit.<br />

Trotz wiederholten Rücks<strong>ch</strong>lägen s<strong>ch</strong>ien 1935 die sowjetis<strong>ch</strong>e Esperanto-Bewegung auf dem<br />

Höhepunkt angelangt zu sein, denn s<strong>ch</strong>on im folgenden Jahr sank die Mitgliederzahl der SĖSR drastis<strong>ch</strong><br />

ab. No<strong>ch</strong> Mitte 1935 besu<strong>ch</strong>te Henri Barbusse, der französis<strong>ch</strong>e sozialistis<strong>ch</strong>e Politiker, S<strong>ch</strong>riftsteller<br />

und Pazifist, Moskau und verspra<strong>ch</strong> den beiden SĖSR-Vertretern Herbert Muravkin und Vladimir<br />

Varankin, die er dort traf, den Genossen bei der Überwindung von Hindernissen zu helfen, aber<br />

im August verstarb der Franzose plötzli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> während seiner Sowjetunion-Reise. 75<br />

Der „Grosse Terror“ 1937 - Drezen wird entfernt<br />

<strong>An</strong> einer SĖSR-Sitzung vom 6. April 1935 wurde festgestellt, dass die Mitgliederzahl auf das<br />

Niveau von 11’316 gefallen war (Esperantisten 3714, DMS 76 4901, Junge DMS 2701). Das für 1937<br />

geplante Niveau von 20’000 Mitgliedern (inkl. 7000 Esperantisten) wurde ni<strong>ch</strong>t mehr errei<strong>ch</strong>t. Im<br />

Gegenteil gingen immer mehr Mitglieder verloren, so 2300 allein auf der Krym und in Weissrussland.<br />

Die lokalen Komitees bauten ihre Arbeit ab und verloren ihren Kontakt mit dem ZK der SĖSR, die<br />

Komitees von Ivanovo und Gor’kij wurden ges<strong>ch</strong>lossen. Am meisten Mitglieder hatte die SĖSR in der<br />

Ukraine (3960), gefolgt von Stalingrad (1080), Leningrad (874), dem Nordkaukasus (603), dem Gebiet<br />

am Asovs<strong>ch</strong>en und S<strong>ch</strong>warzen Meer (538), Voronež (340), Ivanovo (185) und Karelien (80).<br />

Stark verändert hatte si<strong>ch</strong> die soziale Zusammensetzung der SĖSR: Während die Arbeiter im Jahr<br />

1935 no<strong>ch</strong> 52,9% betrug, fiel diese Zahl im Folgejahr auf 42%, der Prozentsatz der Studenten erhöhte<br />

si<strong>ch</strong> hingegen von 8,6% auf 16,9%. In der Leningrader Organisation, die 1936 833 Mitglieder umfasste,<br />

betrug der <strong>An</strong>teil an Arbeitern 61%, Parteimitgliedern 35%, Komsomolzen 18%. 77 Die allgemeinen<br />

Rahmenbedingungen wurden für die SĖSR ab 1936 nun do<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> prekärer, unter anderem weil<br />

eine prinzipielle <strong>An</strong>twort von Seiten der staatli<strong>ch</strong>en Instanzen bezügli<strong>ch</strong> einer finanziellen Unterstützung<br />

ausblieb. Die von Stagnation bedrohten Komitees in Leningrad, Kiev, Mičurinsk, Char’kov,<br />

Nikolaev, Doneck und Stalingrad wurden aufgefordert, ihre Arbeit zu verbessern. Au<strong>ch</strong> die Herausgabe<br />

von Zeits<strong>ch</strong>riften und Bü<strong>ch</strong>ern stockte. Am 25. August 1936 wurde Drezen (auf dessen Gesu<strong>ch</strong>)<br />

wegen „anderweitiger Arbeitsüberlastung“ dur<strong>ch</strong> Pavel Nestorovič Šumilov (1897-1972) im Amt des<br />

Generalsekretärs abgelöst, er blieb jedo<strong>ch</strong> ZK-Mitglied und Leiter der linguistis<strong>ch</strong>en Sektion. Šumilov<br />

war 1935 Mitglied einer von der VKP(B) eingesetzten Kommission geworden, die die Arbeit des ZK<br />

der SĖSR untersu<strong>ch</strong>en sollte.<br />

1937 absolvierten nur no<strong>ch</strong> 214 Personen die Esperanto-Kurse, 1934 waren es no<strong>ch</strong> 1530 gewesen.<br />

Die Verantwortung für die Misere wurde in der entspre<strong>ch</strong>enden Verordnung, deren Wortlaut<br />

si<strong>ch</strong> wie eine drohende stalinistis<strong>ch</strong>e Kulisse aufbaute, vom August 1936 an alle mögli<strong>ch</strong>en Adressaten<br />

verteilt: Die S<strong>ch</strong>uld wurde vor allem den „führenden Arbeitern“ zugewiesen, die „zu wenig Ehre“<br />

75<br />

Lins, LDL, S. 401. 1924 ers<strong>ch</strong>ienen in La Nova Epoko die ‚Briefe über eine internationale Spra<strong>ch</strong>e’ von Henri Barbusse.<br />

76<br />

„Freunde des internationalen Kontakts dur<strong>ch</strong> Esperanto“ (russ. „druz’ja mežrabsvjazi“), abgekürzt DMS.ö<br />

77<br />

Krasnikov Ss. 76, 88.


22<br />

bei ihren internationalen Kontakten gezeigt hätten und die Tätigkeiten zuliessen, die mit einem Verbleiben<br />

in einer sowjetis<strong>ch</strong>en Organisation ni<strong>ch</strong>t in Einklang stünden. Die gebührende Wa<strong>ch</strong>samkeit in<br />

den Reihen der Organisationen, die bei den internationalen Kontakten vorausgesetzt würden, liesse zu<br />

wüns<strong>ch</strong>en übrig. Zu den Drohgebärden gehörte ausserdem die <strong>An</strong>kündigung, dass im „sowjetis<strong>ch</strong>en<br />

Esperanto-Haus Ordnung ges<strong>ch</strong>affen“ und eine „genaue Kontrolle in den Reihen der SĖSR dur<strong>ch</strong>geführt“<br />

werden müsse. Einmal mehr gehörte zur Routine, au<strong>ch</strong> die „theoretis<strong>ch</strong>en Verrenkungen“ des<br />

Lantis<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>ationalismus als „k/r“ ausdrückli<strong>ch</strong> an den Pranger zu stellen. 1935-36 liess Lanti die<br />

Esperanto-Zeits<strong>ch</strong>rift Herezulo (dt. Häretiker) als dreimonatli<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>einendes unabhängiges Organ<br />

der ‚Sennaciista Frakcio’ ers<strong>ch</strong>einen, die sämtli<strong>ch</strong>e sowjetis<strong>ch</strong>en Dogmen und die Situation in der<br />

Sowjetunion no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ärfer kritisierte, als dies vorher Sennaciulo getan hatte. 78 Dies alles hatte Konsequenzen.<br />

In der Bibliothek des Herezulo ers<strong>ch</strong>ien 1935 zum Beispiel Lantis Pamphlet ‚Ĉu socialismo<br />

konstruiĝas en Sovetio?’ (Wird der Sozialismus in der Sowjetunion aufgebaut?), in dem er mit dem<br />

Sowjetregime, das er als „roten Fas<strong>ch</strong>ismus“ bezei<strong>ch</strong>nete, s<strong>ch</strong>onungslos abre<strong>ch</strong>nete. 79<br />

Mit dem Auss<strong>ch</strong>luss zweier Esperantisten (I. Izgur und V. Kolčinskij) aus der SĖSR, die die<br />

Statuten der Organisation missa<strong>ch</strong>tet und die Organisation in Verruf gebra<strong>ch</strong>t haben sollen, blieben die<br />

Drohungen in der Tat ni<strong>ch</strong>t lange nur leere Worte. So wurde etwa au<strong>ch</strong> das Char’kover SĖSR-<br />

Komitees aufgehoben und seine Tätigkeit na<strong>ch</strong> Kiev verlegt.<br />

In einem an sämtli<strong>ch</strong>e SĖSR-Organisationen vers<strong>ch</strong>ickten „Informationsbrief“ vom Dezember<br />

1936 wurde den Aktivisten befohlen, genaue Kontrollen dur<strong>ch</strong>zuführen, wer mit wem in Esperanto<br />

Korrespondenz führt, die Länder zu benennen, die Adresse des Korrespondenten anzugeben und eine<br />

kurze Bes<strong>ch</strong>reibung des Korrespondenten abzuliefern, das Niveau der Spra<strong>ch</strong>kenntnisse anzugeben,<br />

über seine Interessen Auskunft zu erteilen und darüber, ob es si<strong>ch</strong> um eine private oder kollektive Korrespondenz<br />

handelt, ferner wie viele Briefe ins Ausland ges<strong>ch</strong>ickt und wie viele Briefe aus dem Ausland<br />

erhalten wurden, wer im Rahmen der DMS angeworben wurde und wen von den „alten Esperantisten“<br />

und von den „Fernstudenten“ man sonst no<strong>ch</strong> so kenne (Namen und Adressen, Arbeitsplatz<br />

waren mitzuteilen).<br />

In der Verordnung wurden erstmals Wörter wie „s<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>e dekadente Gesprä<strong>ch</strong>e zwis<strong>ch</strong>en<br />

Esperantisten“, „Spione und Volksfeinde“ benutzt, gewarnt wurde vor der „Spionage- und S<strong>ch</strong>ädlings-<br />

Arbeit“, die si<strong>ch</strong> in die internationale Korrespondenz eins<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>en könne, usw. Diese Verdä<strong>ch</strong>tigungen<br />

bedeuteten automatis<strong>ch</strong> das Ende der Kontakte der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten mit dem Ausland<br />

und 1937/38 au<strong>ch</strong> der Korrespondenz zwis<strong>ch</strong>en westli<strong>ch</strong>en und sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten. Westli<strong>ch</strong>e<br />

Korrespondenten hatten den sowjetis<strong>ch</strong>en Kollegen immer wieder kritis<strong>ch</strong>e und provokative Fragen<br />

zur Lage in der Sowjetunion gestellt und si<strong>ch</strong> gewundert, warum die <strong>An</strong>tworten darauf ausblieben.<br />

Drezens Aufruf an die Mitglieder seiner Organisation, si<strong>ch</strong> bei der Korrespondenz mit dem Westen<br />

ni<strong>ch</strong>t provozieren und missbrau<strong>ch</strong>en zu lassen, half wohl au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr, das S<strong>ch</strong>limmste zu verhindern.<br />

80<br />

78<br />

Für 1935-36 ist ferner ein hektographiertes Bulletin unter dem Titel La permanenta revolucio als „Organ der Bols<strong>ch</strong>ewisten-Leninisten,<br />

einziges theoretis<strong>ch</strong>es marxistis<strong>ch</strong>es Organ in Esperanto, das die IV. Internationale propagiert“, na<strong>ch</strong>gewiesen.<br />

Es wurde in Kopenhagen produziert. Die 4. Internationale war ein internationaler Parteienbund, der im September 1938<br />

entstand und auf Trockijs Linke Opposition gegen den Stalinismus in der UdSSR zurückging. (s.<br />

http://www.marxists.org/esperanto/laperm/ index.htm.)<br />

79<br />

S. http://www.nodo50.org/esperanto/Libroservo/SocialismoenSovetio.htm. 1931 wurde Lantis „Lehre“ au<strong>ch</strong> als „mens<strong>ch</strong>ewistis<strong>ch</strong>-anar<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>“,<br />

„sozial-fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>“, „konterrevolutionär“, „opportunistis<strong>ch</strong>“, anar<strong>ch</strong>odyndikalistis<strong>ch</strong>“ usw.<br />

bezei<strong>ch</strong>net. (s. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19310301&seite=5&zoom=33,<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19310301&seite=11&zoom=33 und http://anno.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=e2b&datum=19310301&seite=15&zoom=33),<br />

um Lanti s<strong>ch</strong>lussendli<strong>ch</strong> für einen „Klassenfeind“ zu halten<br />

(s. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19310501&seite=15&zoom=33). In späterem Jahren polemisierte<br />

Meždunarodnyj jazyk au<strong>ch</strong> gegen sämtli<strong>ch</strong>e Abwei<strong>ch</strong>ungen des reinen Stalinismus wie den „Esperanto-Chvylevismus in der<br />

Ukraine“ (1931), den „fehlerhaften [Rosa-],,Luxemburgismus im <strong>An</strong>ationalismus“, den „krie<strong>ch</strong>enden Empirismus in der<br />

Linguisitik“ (1932) usw.<br />

80<br />

Dazu ausführli<strong>ch</strong> bei Lins, LDL, S. 410-33.


23<br />

Wie oben erwähnt, wurde Drezen am 25. August 1936 wegen „anderweitiger Arbeitsüberlastung“<br />

dur<strong>ch</strong> Pavel N. Šumilov im Amt des Generalsekretärs abgelöst. Es folgten no<strong>ch</strong> ein paar weitere<br />

Sitzungen: Am 24. Januar 1937 wurden die Statuten der SĖSR geändert, am 6. März wurden die Esperantisten<br />

aufgerufen, si<strong>ch</strong> um die Kommunistis<strong>ch</strong>e Partei zu s<strong>ch</strong>aren, um „die trockistis<strong>ch</strong>fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>e<br />

Bande zu zers<strong>ch</strong>lagen“. Am 24. März wurde der Termin für das 50. Jubiläum des Esperanto<br />

(26. Juli 1937) festgelegt und am 6. April stellte man fest, dass die Werbekampagne für die<br />

SĖSR im Grunde erfolglos gewesen war. Diese Sitzung war die letzte, an der Drezen teilnahm. Am<br />

17. April 1937 wurde er verhaftet, aber dies hinderte die Komiteemitglieder ni<strong>ch</strong>t daran, am 18. Mai<br />

an einer weiteren Sitzung die Herausgabe eines Flugblattes gegen die „trockistis<strong>ch</strong>en Saboteure“ zu<br />

bespre<strong>ch</strong>en. Am 11. September 1937 wurde von Šumilov bekanntgegeben, dass die Verbreitung der<br />

Bü<strong>ch</strong>er Drezens eingestellt worden sei. 81 Drezen vers<strong>ch</strong>wand plötzli<strong>ch</strong> von der Bühne, um wie viele<br />

andere von den Stalins<strong>ch</strong>en Säuberungen vers<strong>ch</strong>lungen zu werden.<br />

2. Spra<strong>ch</strong>e im Marxismus - Lenin und Esperanto<br />

Spra<strong>ch</strong>e bei Marx und Engels<br />

Na<strong>ch</strong> marx(isti)s<strong>ch</strong>er Auffassung ist die „Spra<strong>ch</strong>e so alt wie das Bewusstsein; die Spra<strong>ch</strong>e ist das praktis<strong>ch</strong>e,<br />

au<strong>ch</strong> für andere Mens<strong>ch</strong>en existierende, also au<strong>ch</strong> für mi<strong>ch</strong> existierende wirkli<strong>ch</strong>e Bewusstsein,<br />

und die Spra<strong>ch</strong>e entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem Bedürfnis und der Notdurft des Verkehrs<br />

mit anderen Mens<strong>ch</strong>en.“ (Deuts<strong>ch</strong>e Ideologie, 1846. Ausg. 1971, S. 31). Die Aussagen, die Marx und<br />

Engels in ihren Werken zur Spra<strong>ch</strong>enfrage hinterlassen haben, belegen, dass die beiden Klassiker des<br />

Kommunismus das aufkommende gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Zusammenleben der Mens<strong>ch</strong>en als Voraussetzung<br />

für die Entstehung der Spra<strong>ch</strong>e betra<strong>ch</strong>teten, und es s<strong>ch</strong>eint, dass sie in der Spra<strong>ch</strong>enfrage vor allem<br />

von Jacob Grimms und Herders Gedankenweltt beeinflusst wurden. Die Erklärung des „<strong>An</strong>teils der<br />

Arbeit“ an der spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Entwicklung beim Mens<strong>ch</strong>en bzw. des Zusammenhangs zwis<strong>ch</strong>en Arbeit<br />

und Spra<strong>ch</strong>e lieferte Engels um 1876. Dabei entstand die These, dass nur der Mens<strong>ch</strong> die Spra<strong>ch</strong>e<br />

hevorbringen und mit seinen spezifis<strong>ch</strong>en Gehör- und Spre<strong>ch</strong>organen entspre<strong>ch</strong>end verfeinern konnte,<br />

weil er im Unters<strong>ch</strong>ied zum Tier mit seinem aufre<strong>ch</strong>ten Gang und den freiwerdenden Händen in der<br />

Lage gewesen war, seine Lebensmittel dur<strong>ch</strong> Arbeit zu produzieren. Die Arbeit habe au<strong>ch</strong> das gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />

Kommunikationsbedürfnis hervorgerufen. Die Spra<strong>ch</strong>e habe also erst dur<strong>ch</strong> das soziale<br />

Zusamenwirken der Mens<strong>ch</strong>en angestossen werden können, ohne wel<strong>ch</strong>es die gemeinsame Jagd und<br />

andere kooperative Tätigkeiten ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong> gewesen wären, denn „Spra<strong>ch</strong>e als das Produkt enes<br />

einzelnen“ sei „ein Unding“. Na<strong>ch</strong> Engels waren also Arbeit und Spra<strong>ch</strong>e die beiden wesentli<strong>ch</strong>en<br />

<strong>An</strong>triebe, die den Mens<strong>ch</strong>en von der Tierwelt, konkret vom Gehirn eines Affen, unters<strong>ch</strong>ieden hätten.<br />

Au<strong>ch</strong> Marx ging mit Engels davon aus, dass die Spra<strong>ch</strong>e nur mit der Arbeit entstehen konnte. Marxens<br />

Eins<strong>ch</strong>ätzungen legen au<strong>ch</strong> nahe, dass die Entstehung der Spra<strong>ch</strong>e mit der Benennung der „Dinge der<br />

Aussenwelt“ anfängt, die von den Mens<strong>ch</strong>en bearbeitet werden. Im Unters<strong>ch</strong>ied zu Engels, der si<strong>ch</strong><br />

au<strong>ch</strong> ein wenig als Philologie befasste und ni<strong>ch</strong>t wenige Spra<strong>ch</strong>en kannte, betra<strong>ch</strong>tete Marx als eigentli<strong>ch</strong>en<br />

spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>stoss den Stoffwe<strong>ch</strong>sel zwis<strong>ch</strong>en arbeitenden Mens<strong>ch</strong>en und bearbeiteten Gegenständen<br />

und weniger den Prozess der gemeins<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Arbeit an si<strong>ch</strong>. Für neide war die Spra<strong>ch</strong>e<br />

aber dur<strong>ch</strong>aus keine mystis<strong>ch</strong>e Ers<strong>ch</strong>einung, sondern ihre Existenz basiere auf einer stoffli<strong>ch</strong>en Grundlage,<br />

die dur<strong>ch</strong> die Physik bzw. dur<strong>ch</strong> ihre Teildisziplin der Phonetik bes<strong>ch</strong>rieben werden könne. Ausserdem<br />

bildeten „weder die Gedanken no<strong>ch</strong> die Spra<strong>ch</strong>e für si<strong>ch</strong> ein eignes Rei<strong>ch</strong>“, sondern seien ledigli<strong>ch</strong><br />

„Äusserungen des wirkli<strong>ch</strong>en Lebens“. Obwohl Marx die Spra<strong>ch</strong>e, die er als „Dasein des Gemeinwesens“<br />

bezei<strong>ch</strong>nete, als ein wi<strong>ch</strong>tiges Verhältnis innerhalb der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft ansah,<br />

rangierte sie bei ihm innerhalb des gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Gefüges nur unter anderen Kategorien und wur-<br />

81<br />

Krasnikov, S. 79-94. Mit dieser Information bri<strong>ch</strong>t Krasnikovs Beri<strong>ch</strong>t mangels weiterer Protokolle abrupt ab.


24<br />

de explizit als weniger wi<strong>ch</strong>tig als die Klassenverhältnisse betra<strong>ch</strong>tet. Die grundlegenden Verhältnisse<br />

der Gesells<strong>ch</strong>aft, die ökonmis<strong>ch</strong>en, bezei<strong>ch</strong>nete Marx bekanntli<strong>ch</strong> als die „Basis“. Da die Spra<strong>ch</strong>e in<br />

ihr jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t enthalten war, s<strong>ch</strong>eint dies zu bedeuten, dass Marx die Spra<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t für wesentli<strong>ch</strong>er<br />

als andere soziale Beziehungen gehalten haben muss. In den diesbezügli<strong>ch</strong>en eins<strong>ch</strong>lägigen Marx-<br />

Texten ist der Begriff der Spra<strong>ch</strong>e der grosse Abwesende. Die krampfhafte Aufgabe, die Spra<strong>ch</strong>e innerhalb<br />

des Basis-Überbau-S<strong>ch</strong>emas (ri<strong>ch</strong>tig) zu verorten, wurde den Theoretikern na<strong>ch</strong> Marx überlassen.<br />

Immerhin betra<strong>ch</strong>teten Marx/Engels in der „Deuts<strong>ch</strong>en Ideologie“ die Spra<strong>ch</strong>e als „die unmittelbare<br />

Wirkli<strong>ch</strong>keit des Gedankens“ und dass „die Ideen ni<strong>ch</strong>t getrennt von der Spra<strong>ch</strong>e existieren“. Die<br />

hier zitierten Stellen weisen darauf hin, dass Marx und Engels der Spra<strong>ch</strong>e als Medium des Denkens<br />

zweifellos eine herausragende Funktion und Bedeutung zuges<strong>ch</strong>rieben haben, obwohl sie ni<strong>ch</strong>t behaupteten,<br />

dass die Formen des Denkens ohne Spra<strong>ch</strong>e ganz unmögli<strong>ch</strong> wären. Erckenbre<strong>ch</strong>t zog aus<br />

den vorhandenen – und ni<strong>ch</strong>t vorhandenen – Aussagen von Marx und Engels die S<strong>ch</strong>lussfolgerung,<br />

dass „der wesentli<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>satzpunkt für die Tätigkeit des Mens<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>tspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ist – was eine<br />

spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Vermittlung ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>liesst.“<br />

Da si<strong>ch</strong> Marx und Engels au<strong>ch</strong> mit dem Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e und Klassenverhältnisse<br />

befassten, gelangten sie in der „Deuts<strong>ch</strong>en Ideologie“ zur Auffassung, dass „Spra<strong>ch</strong>e selbst<br />

ein Produkt der Bourgeoisie“ sei „und daher wie in der Wirkli<strong>ch</strong>keit, so in der Spra<strong>ch</strong>e die Verhältnisse<br />

des S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>ers zur Grundlage aller anderen gema<strong>ch</strong>t worden“ seien. Von der Grammatik nahm<br />

Marx jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an, dass sie weltans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>e oder klassenbedingte Spuren trage, oder wie er si<strong>ch</strong><br />

selbst ausdrückte, dass „die grammatis<strong>ch</strong>en Regeln (…) si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verändern, glei<strong>ch</strong>, ob sie von einem<br />

religiösen Tory oder einem Freidenker erklärt werden.“ In anderen Kontexten existieren no<strong>ch</strong> weitere<br />

Marx-Engels-Zitate zur Spra<strong>ch</strong>enfrage, aber es würde zu weit führen, sie an dieser Stelle näher zu<br />

bes<strong>ch</strong>reiben. Eine gewisse Relevanz für unseren Kontext hatten viellei<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> einige Äusserungen<br />

von Marx und Engels zur Spra<strong>ch</strong>enfrage im Zusammenhang mit Nation und Nationalität (s. Wur<strong>ch</strong>e,<br />

S. 44-49). Da erst na<strong>ch</strong> der sozialialistis<strong>ch</strong>en Revolution, wenn der Kapitalismus umgeworfen und alle<br />

gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Verhältnisse neu geregelt sein würden, wie es in der „Deuts<strong>ch</strong>en Ideologie“ heisst,<br />

werde letzteres au<strong>ch</strong> mit der Spra<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>ehen. 82 Bei diesem Punkt lässt si<strong>ch</strong> das Thema wieder an<br />

die <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>frage anknüpfen.<br />

Spra<strong>ch</strong>e bei Lenin<br />

Der Begriff der Spra<strong>ch</strong>e wird im Werk Vladimir I. Lenin (1870-1924) etwa fünfzigmal erwähnt.<br />

Die Erwähnung dieses Wortes bezieht si<strong>ch</strong> vor allem auf einige philosophis<strong>ch</strong>e Aspekte von<br />

Spra<strong>ch</strong>e, auf die Frage der Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung der Völker, der Spra<strong>ch</strong>enfrage im Russis<strong>ch</strong>en Rei<strong>ch</strong><br />

(z.B. Polen und Kaukasus) und auf die Rolle der russis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e beim Zusammenhalt der Völker<br />

der Sowjetunion. 83 Lenins banaler, aber berühmt gewordener Satz, dass „die Spra<strong>ch</strong>e das wi<strong>ch</strong>tigste<br />

Mittel der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Kommunikation“ sei, 84 mussten alle Sowjets<strong>ch</strong>üler auswendig lernen.<br />

In den ehemals sozialistis<strong>ch</strong>en Ländern des Ostblocks wurde fieberhaft na<strong>ch</strong> Zitaten von marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>en<br />

Klassikern gesu<strong>ch</strong>t, die die Idee der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> im Allgemeinen und das Esperanto<br />

im Besondern kommentieren oder sogar unterstützen könnten. Eine dokumentable positive<br />

Eins<strong>ch</strong>ätzung der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> oder des Esperanto dur<strong>ch</strong> Lenin hätte den sowjetis<strong>ch</strong>en Interlinguisten<br />

und Esperantisten bei ihrer Tätigkeit mitunter geholfen. So entbrannte in der Esperanto-Bewegung des<br />

Ostblocks eine Diskussion darüber, ob Lenin ein <strong>An</strong>hänger oder ein Gegner des Esperanto gewesen<br />

sei. Diese Erörterung erlangte aus <strong>An</strong>lass seines 100. Geburtstages um das Jahr 1970 neue Brisanz.<br />

82<br />

Ausführli<strong>ch</strong> bei: J. Wur<strong>ch</strong>e, der die eins<strong>ch</strong>lägigen Zitate aus den MEW zusammengestellt und kommentiert hat: Marx und<br />

Engels in der DDR-Linguistik. Zur Herausbildung einer „marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>theorie“. Frankfurt/M. 1999. S.<br />

13-29. Weiterführend zur marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>theorie s. U. Erckenbre<strong>ch</strong>t: Marx’ Materialistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>theorie. Kronberg/Ts.<br />

1973.<br />

83<br />

V.I. Tokarev: Lenin pri lingvoj. In: Paco (DDR-Ausgabe 1986, S. 28). Über die russis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e und die Staatsspra<strong>ch</strong>e<br />

bei Lenin s. http://www.marxists.org/deuts<strong>ch</strong>/ar<strong>ch</strong>iv/lenin/1914/01/spra<strong>ch</strong>e.htm.<br />

84<br />

S. Lenin, Werke, Bd. XVII, S. 428.


25<br />

Diejenigen, die si<strong>ch</strong> mit dem Thema befassten, vertraten zwei si<strong>ch</strong> völlig widerspre<strong>ch</strong>ende <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten.<br />

Während die einen behaupteten, Lenin sei ein überzeugter Gegner des Esperanto gewesen, waren andere<br />

der Meinung, dass dieser ein eifriger <strong>An</strong>hänger desselben gewesen sei. Einige weitere waren sogar<br />

der Überzeugung, dass Lenin hö<strong>ch</strong>st persönli<strong>ch</strong> ein Esperantist gewesen ist, der in Esperanto-<br />

Kreisen angebli<strong>ch</strong> mit Vorträgen auftrat.<br />

Lenin musste selbstverständli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> von den Esperantisten der Sowjetunion und des Ostblocks<br />

angebetet werden. So war von ihnen geplant worden, die Werke Lenins im Rahmen einer 16-<br />

bändigen Werkausgabe ins Esperanto zu übersetzen – das Projekt wurde nie realisiert.<br />

Semjon N. Podkaminer (1901-82), ein ho<strong>ch</strong> angesehener sowjetis<strong>ch</strong>er Esperantist jüdis<strong>ch</strong>er<br />

Herkunft, der in Leningrad lebte, hatte si<strong>ch</strong> mit diesem etwas mysteriösen Thema über angebli<strong>ch</strong>e<br />

Meinungsäusserungen Lenins bezügli<strong>ch</strong> Esperanto befasst und in einer ausführli<strong>ch</strong>en Studie versu<strong>ch</strong>t,<br />

die Phantasien und Mär<strong>ch</strong>en von den Tatsa<strong>ch</strong>en, den Spreu vom Weizen zu trennen. 85<br />

Die einen oder anderen Spekulationen über Lenins mögli<strong>ch</strong>en Bezug zu Esperanto wurden beflügelt,<br />

als in einer sowjetis<strong>ch</strong>en Jugendzeits<strong>ch</strong>rift ein gewisser E. Didrikil zitiert wurde, der na<strong>ch</strong><br />

eigenen <strong>An</strong>gaben im Jahr 1913 einen Vortrag Lenins gehört haben will, in dem dieser angebli<strong>ch</strong> das<br />

Thema der Spra<strong>ch</strong>e der Zukunftsgesells<strong>ch</strong>aft berührt und dabei ni<strong>ch</strong>t einer künstli<strong>ch</strong>en, sondern einer<br />

natürli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e die Chance eingeräumt hatte, die Rolle der Weltspra<strong>ch</strong>e zu übernehmen. Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong><br />

handelte es si<strong>ch</strong> um eine Phantasie oder eine Verwe<strong>ch</strong>slung der Daten. 86 In Lenins Werken<br />

ist die Frage der Weltspra<strong>ch</strong>e nur ein einziges Mal erwähnt, nämli<strong>ch</strong> 1914 mit dem Satz: „Die Weltspra<strong>ch</strong>e<br />

wird viellei<strong>ch</strong>t Englis<strong>ch</strong> plus viellei<strong>ch</strong>t Russis<strong>ch</strong> sein.“ In einem Artikel von <strong>An</strong>fang 1933<br />

hatte Ė.K. Drezen darauf hingewiesen, dass Lenin die internationale Spra<strong>ch</strong>e und ihre Bewegung ni<strong>ch</strong>t<br />

gekannt hat. Er habe si<strong>ch</strong> aber au<strong>ch</strong> niemals negativ über Esperanto geäussert. Drezen su<strong>ch</strong>te – und<br />

fand – in Lenins Werken aber Zitate, die si<strong>ch</strong> als entspre<strong>ch</strong>ende Äusserungen nutzen liessen, um idealistis<strong>ch</strong>e<br />

Projekte wie Esperanto in <strong>An</strong>alogie zum revolutionären Projekt zu bejahen. Dazu diente etwa<br />

ein Ausspru<strong>ch</strong> Lenins am VIII. Kongress der RKP(B), wo er gesagt hatte, dass man si<strong>ch</strong> davor hüten<br />

sollte, das Existierende ni<strong>ch</strong>t anzuerkennen, denn es werde von selbst anerkannt werden. Das Wi<strong>ch</strong>tigste<br />

beim Ganzen sei, unterstri<strong>ch</strong> Drezen, dass Lenin si<strong>ch</strong> für die nationale Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung und<br />

gegen Privilegien für einzelne Nationen und Spra<strong>ch</strong>gemeins<strong>ch</strong>aften ausgespro<strong>ch</strong>en habe. Drezen rief<br />

die „proletaris<strong>ch</strong>en“ Esperantisten dazu auf, von Lenin zu lernen und aus seiner Lehre „für ihr<br />

spezifis<strong>ch</strong>es Gebiet“, gemeint war die Verwendung des Esperanto, für den proletaris<strong>ch</strong>en Kampf zu<br />

s<strong>ch</strong>öpfen. 87<br />

Für weit mehr Aufsehen als die rudimentäre Behauptung Didrikils sorgte in Esperanto-Kreisen<br />

die bizarre Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des lettis<strong>ch</strong>en Esperantisten Ints Čače (1895-1986), der allen Ernstes darüber<br />

beri<strong>ch</strong>tete, am 13. April 1918 zusammen mit V.N. Devjatnin als Vertreter des Petersburger Esperanto-<br />

Vereins ‚Espero’ von Lenin im Smolnyj empfangen worden zu sein. Zugegen seien au<strong>ch</strong> Ė.K. Drezen,<br />

der „persönli<strong>ch</strong>e Sekretär Lenins“ (sic! 88 ) und A.V. Lunačarskij, der Volksbildungskommissar, gewesen.<br />

Dort seien sie von Lenin gefragt worden, wie viele Esperantisten es in Russland gäbe und mit<br />

wel<strong>ch</strong>en Mitteln diese beabsi<strong>ch</strong>tigten, der neuen Sowjetregierung zu helfen. Lenin habe vorges<strong>ch</strong>lagen,<br />

dass man einen allrussis<strong>ch</strong>en Esperanto-Kongress in Petrograd einberufen sollte. Ferner habe er<br />

bestätigt, dass er während seiner Emigrationsjahre au<strong>ch</strong> die Bekannts<strong>ch</strong>aft mit der Spra<strong>ch</strong>e Esperanto<br />

85<br />

Podkaminers Beri<strong>ch</strong>t dazu ers<strong>ch</strong>ien in der DDR-Zeits<strong>ch</strong>rift der esperantist im August 1970. Glei<strong>ch</strong>zeitig wurde in der<br />

Zeits<strong>ch</strong>rift Esperanto (UEA) ein ähnli<strong>ch</strong>er Artikel über Lenin und Esperanto von U. Lins abgedruckt, der im Gegensatz zur<br />

unmissverständli<strong>ch</strong>en Präsentation Podkaminers die Mythenbildung rund um dieses Thema eher no<strong>ch</strong> verstärkte, indem no<strong>ch</strong><br />

weitere angebli<strong>ch</strong> authentis<strong>ch</strong>e ‚Zeitzeugen’ zitiert wurden.<br />

86<br />

Russis<strong>ch</strong>er Originaltext Didrikils beim Autor.<br />

87<br />

Drezen, Ė.: Učenie Lenina v praktike dviženija za meždunarodnyj jazyk. In Meždunarodnyj jayk 1/1933, S.20-25 (online:<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19330101&seite=22&zoom=33). In diesem Artikel ging Drezen<br />

sogar soweit, von den „proletaris<strong>ch</strong>en Esperantisten“ zu fordern, gegen die angebli<strong>ch</strong>e Verhunzung der russis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e<br />

dur<strong>ch</strong> den französis<strong>ch</strong>en Einfluss vorzugehen.<br />

88<br />

Drezen war nie persönli<strong>ch</strong>er Sekretär Lenins gewesen.


26<br />

selbst gema<strong>ch</strong>t habe. Ein zweites Mal habe Čače Lenin getroffen, als es darum ging, einen Aufruf zu<br />

versenden. Das dritte und letzte Mal habe Čače Lenin am 25. Juli 1921 im Moskauer Kreml besu<strong>ch</strong>t,<br />

um ihn zu bitten, seine 6000 Bü<strong>ch</strong>er umfassende Bibliothek aus Lettland na<strong>ch</strong> Petrograd überführen zu<br />

können. Der Artikel von Čače wurde am 23.8.1958 von der Agentur Novosti verbreitet. 89 Die Abklärungen<br />

Podkaminers beim Marx-Engels-Lenin-Institut (IMEL) in Moskau ergaben jedo<strong>ch</strong>, dass die<br />

<strong>An</strong>gaben Ints Čačes ni<strong>ch</strong>t nur hö<strong>ch</strong>st zweifelhaft waren, sondern au<strong>ch</strong> fals<strong>ch</strong> gewesen sein müssen. 90<br />

Auf alle <strong>An</strong>fragen, die in den 60 Jahren in drei Fällen an das Marx-Engels-Lenin-Institut (I-<br />

MEL) in Moskau geri<strong>ch</strong>tet wurden, teilte das Institut mit, dass man in der umfangrei<strong>ch</strong>en Sammlung<br />

von Lenin-Zitaten keine Äusserung Lenins über Esperanto, weder eine positive, no<strong>ch</strong> eine negative<br />

gefunden habe.<br />

Da von Lenin selbst zu Esperanto also keine Stellungnahme überliefert ist, sind Aussagen umso<br />

mehr von Bedeutung, die von Personen seines nä<strong>ch</strong>sten Umfelds zu diesem Thema hinterlassen<br />

wurden. So geht zum Beispiel aus einem Artikel im Organ der Arbeiter- und Bauernkorrespondenten<br />

Raboče-krestjanskij korrespondent, Nr. 21 von 1928, der von Lenins S<strong>ch</strong>wester Marija I. Ul’janova<br />

verfasst wurde, hervor, dass Lenin eine ungünstige Haltung gegenüber Esperanto an den Tag gelegt<br />

habe, indem er es angebli<strong>ch</strong> zu künstli<strong>ch</strong>, zu vereinfa<strong>ch</strong>t, zu unlebendig bezei<strong>ch</strong>net haben soll. In dem<br />

besagten Artikel s<strong>ch</strong>rieb Ul’janova, dass dem Esperanto trotz gewisser Erfolge und „trotz der Lobeshymnen<br />

seiner <strong>An</strong>hänger“ keine Zukunft bes<strong>ch</strong>ieden sei, weil diese Spra<strong>ch</strong>e zu wenig Verbreitung<br />

gefunden habe und über eine ungenügende Fähigkeit, Gedanken auszudrücken, verfüge. Ausserdem<br />

gäbe es Gelegenheiten, bei denen Esperanto zum Na<strong>ch</strong>teil der Sowjetunion benutzt werde. Der Arbeiter<br />

sollte besser eine ethnis<strong>ch</strong>e Fremdspra<strong>ch</strong>e lernen, war sie der Überzeugung. Ein gewisser V. Fin<br />

doppelte in der glei<strong>ch</strong>en Ausgabe na<strong>ch</strong> und redete von „Fakten, die bestätigen, dass Esperanto von<br />

Feinden der Arbeiterklasse zur Verbreitung von Lügen und unglaubwürdigen Informationen über die<br />

Lage der Arbeiterklasse in der UdSSR in den kapitalistis<strong>ch</strong>en Ländern benutzt“ werde. Und es kam<br />

no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>limmer: Als Ende November 1928 in Moskau die 4. Konferenz der Arbeiter- und Bauern-<br />

Korrespondenten stattfand, wurde in einem Resolutionsprojekt die Esperanto-Bewegung plötzli<strong>ch</strong> als<br />

kleinbürgerli<strong>ch</strong> diffamiert. Ausserdem wurden die Esperantisten der Prahlerei bezi<strong>ch</strong>tigt. Na<strong>ch</strong>dem<br />

si<strong>ch</strong> einige Redner für Esperanto stark gema<strong>ch</strong>t hatten, wurde das Wort ‚kleinbürgerli<strong>ch</strong>’ aus der Resolution<br />

wieder entfernt und mit dem Passus ersetzt, dass für die Korrespondenz in Parallelität zu den<br />

Nationalspra<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> Esperanto zu verwenden sei. 91<br />

Ni<strong>ch</strong>t weniger s<strong>ch</strong>wer wogen vor allem die Worte Nadežda K. Krupskajas (1869-1939), der<br />

Kampfgefährtin und Ehegattin V.I. Lenins, einer <strong>Frau</strong>, die ein verheerendes Verdikt über Esperanto<br />

hinterliess. Drei Stellen in Krupskajas ‚Pädagogis<strong>ch</strong>en Werken‘ wurden gefunden, die ihre ablehnende<br />

Haltung gegenüber einer Kunstspra<strong>ch</strong>e wie Esperanto offenbarte. In einem Artikel von 1923 über den<br />

Fremdspra<strong>ch</strong>enunterri<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>rieb sie, dass man an die Frage der internationalen Spra<strong>ch</strong>e Esperanto mit<br />

„grosser Vorsi<strong>ch</strong>t“ herangehen müsse. Eine internationale Spra<strong>ch</strong>e sei etwas Bu<strong>ch</strong>gelehrtes (russ.<br />

89<br />

Die Erzählung stammt von Karlis Dzintars na<strong>ch</strong> den Einnerungen von Ints Čače im Artikel: Rememoroj de Esperantisto<br />

Ints Čače pri la Oktobra Revolucio kaj Lenin. Quelle: Pola Esperantisto 1-2/1968, S. 5f.<br />

90<br />

So konnte das fragli<strong>ch</strong>e Treffen vom April 1918 im Smolnyj kaum mögli<strong>ch</strong> gewesen sein, denn zu diesem Zeitpunkt habe<br />

si<strong>ch</strong> die sowjetis<strong>ch</strong>e Regierung mit Lenin in Moskau befunden. Podkaminer, der 1921 selbst ein aktives Führungsmitglied der<br />

SĖSR gewesen war, konnte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t daran erinnern, dass er jemals von Ints Čače persönli<strong>ch</strong> oder von Devjatnin, G.N.<br />

Teterin oder A.N. Pilev, zwei damals ins Ges<strong>ch</strong>ehen involvierten Petersburger Esperantisten, über Lenins Absi<strong>ch</strong>ten oder<br />

sogar über ein Treffen mit ihm informiert worden wäre. Au<strong>ch</strong> Čačes Behauptung, Lenin habe während des Brüsseler Kongresses<br />

der Komintern auf Esperanto gespro<strong>ch</strong>en, wurde vom IMEL als unglaubwürdig zurückgewiesen. Lenin habe weder<br />

an diesem Kongress teilgenommen, no<strong>ch</strong> sei er zur fragli<strong>ch</strong>en Zeit in Brüssel gewesen, wurde vom Institut ri<strong>ch</strong>tig gestellt.<br />

Als unwahr muss s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> ebenfalls Čačes Aussage betra<strong>ch</strong>tet werden, Lenin sei 1912 während des 8. Esperanto-<br />

Weltkongresses in Krakau aufgetreten und habe „der ganzen Welt verkündet“, dass Esperanto „das Latein des Proletariats“<br />

sei. Hatte Čače geblufft, phantasiert und gelogen oder allenfalls versu<strong>ch</strong>t, seine ‚Informationen’ vor den Esperanto-Genossen<br />

geheim zu halten? Au<strong>ch</strong> wenn die ganze Story des Ints Čače als wenig plausibel ers<strong>ch</strong>eint, ist ni<strong>ch</strong>t auszus<strong>ch</strong>liessen, dass<br />

Lenin bei vers<strong>ch</strong>iedenen Gelegenheiten von Esperanto gehört haben könnte, zumal das Thema an Kongressen und in der<br />

Komintern bespro<strong>ch</strong>en wurde.<br />

91<br />

Lins, LDL, S. 252, gemäss Bulteno de CK SEU 1929.


27<br />

knižnoe), Künstli<strong>ch</strong>es. Eine lebendige Spra<strong>ch</strong>e bilde si<strong>ch</strong> im Verlauf von Hunderten von Jahren heraus,<br />

sie habe eine Masse von Nuancen, von rei<strong>ch</strong>haltigen Ausdrücken und Seiten, wie au<strong>ch</strong> immer<br />

man sie drehe. Je kultivierter eine Nation, umso leu<strong>ch</strong>tender sei ihre Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, umso vollständiger<br />

ihr Leben, umso rei<strong>ch</strong>er ihre Spra<strong>ch</strong>e, umso besser könne sie die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gefühle und Gedanken<br />

wiedergeben. Eine künstli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e sei um einiges ärmer, hölzerner, trockener. Jegli<strong>ch</strong>e Handelsbeziehungen<br />

und natürli<strong>ch</strong>e Kommunikation zwis<strong>ch</strong>en den Mens<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedener Nationen würden<br />

stets in einer der lebenden Spra<strong>ch</strong>en geführt, eine künstli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e hingegen bleibe das Eigentum<br />

einer kleinen Gruppe von Personen. Selbst wenn man Esperanto in den S<strong>ch</strong>ulen einführen würde, hätte<br />

dies wenig Sinn, meinte die Krupskaja, denn aus Mangel an Praxis wäre das in der S<strong>ch</strong>ule gelernte<br />

Esperanto s<strong>ch</strong>nell wieder vergessen, und bei der Konfrontation mit der Wirkli<strong>ch</strong>keit wäre jedes Mal<br />

die Kenntnis einer lebenden Spra<strong>ch</strong>e vonnöten. Daher habe es keinen Sinn, wenn die Kinder in der<br />

S<strong>ch</strong>ule ihre Zeit mit dem Lernen des Esperanto vers<strong>ch</strong>wendeten. Es sollten besser die führenden und<br />

auf der Erde verbreitetsten Spra<strong>ch</strong>en gelernt werden, diejenigen Spra<strong>ch</strong>en, die die rei<strong>ch</strong>ste wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />

und sozialistis<strong>ch</strong>e Literatur hervorgebra<strong>ch</strong>t haben. Sol<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>en seien Englis<strong>ch</strong>,<br />

Deuts<strong>ch</strong> und Französis<strong>ch</strong>. 92 In dieser Beziehung deckte si<strong>ch</strong> Krupskajas Meinung mit der Überzeugung<br />

Malinovskij-Bogdanovs.<br />

In einem Artikel über die internationale und nationale Kultur von 1927 behauptete Krupskaja,<br />

dass die S<strong>ch</strong>affung einer internationalen Kunstspra<strong>ch</strong>e eine „äusserst naive“ Idee sei und ein „äusserst<br />

oberflä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Verständnis“ dessen erkennen lasse, was Kultur bedeute. Eine internationale Kultur<br />

könne nur dur<strong>ch</strong> die Synthese der nationalen Kulturen entstehen. 93<br />

Das dritte Zitat stammt aus dem Jahr 1929. In einem Artikel über ‚Kleine Kinder’ s<strong>ch</strong>rieb<br />

Krupskaja, dass es aus Gründen des „Überlebens der Mens<strong>ch</strong>en, ihrer Lebensweise und Weltans<strong>ch</strong>auungen<br />

s<strong>ch</strong>wierig“ sei, eine künstli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e wie Esperanto zu „s<strong>ch</strong>affen“. Diese im Studierzimmer<br />

ausgeda<strong>ch</strong>te Spra<strong>ch</strong>e, die si<strong>ch</strong> im Alltag ni<strong>ch</strong>t eingebürgert habe und ni<strong>ch</strong>t mit Leben erfüllt sei (russ.<br />

ne vyrosšij v žizn), werde stets etwas Armseliges, Totes, Kaltes, Dürftiges und Klägli<strong>ch</strong>es (russ. nišč,<br />

mërtv, <strong>ch</strong>oloden, beden i žalok) bleiben. Im besten Fall werde es für Kontakte brau<strong>ch</strong>bar sein,<br />

hingegen könne man si<strong>ch</strong> nur s<strong>ch</strong>werli<strong>ch</strong> vorstellen, dass irgendwel<strong>ch</strong>e Leute andere überzeugen<br />

könnten, dass es mögli<strong>ch</strong> sei, dass ein Jüngling seine ersten Liebesworte an seine Geliebte auf<br />

Esperanto ri<strong>ch</strong>tet, dass eine Mutter ihrem Kind ein Wiegenlied auf Esperanto singt. Die internationale<br />

Brüderli<strong>ch</strong>keit zwis<strong>ch</strong>en den Völkern werde dur<strong>ch</strong> den Kampf und ni<strong>ch</strong>t mit einer internationalen<br />

Spra<strong>ch</strong>e geformt. 94 In einigen Punkte hatte Krupskaja wohl re<strong>ch</strong>t, obwohl man bereits zu ihrer Zeit<br />

ni<strong>ch</strong>t abstreiten konnte, dass es eine Esperanto-Spra<strong>ch</strong>bewegung gab und das Esperanto als lebendige<br />

92<br />

Aus dem Artikel ‚O prepodavanii inostranny<strong>ch</strong> jazykov’, 1923. In Krupskaja, N.K.: Pedagogičeskie sočinenija. Bd. III, S.<br />

69f. Die Esperantisten bezweifelten aber, dass Englis<strong>ch</strong> eine lei<strong>ch</strong>te und geeignete Spra<strong>ch</strong>e ist (s. z.B. Meždunarodnyj jazyk<br />

5/1925, S. 3). Zur <strong>An</strong>glophobie, die in der Esperanto-Bewegung eine gewisse Tradition hat und politis<strong>ch</strong>-ideolgis<strong>ch</strong> wohl mit<br />

dem <strong>An</strong>tiamerikanismus in Verbindung zu bringen ist, ist zu bemerken, dass L.L. Zamenhof als Lieber der Spra<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong><br />

niemals gegen eine bestimmte ethnis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e ausgespro<strong>ch</strong>en hatte. Er hätte zu seinen Lebzeiten aber allen Grund dazu<br />

gehabt, si<strong>ch</strong> etwa gegen die dominante Stellung des Russis<strong>ch</strong>en im Zarenrei<strong>ch</strong> auszuspre<strong>ch</strong>en, was er jedo<strong>ch</strong> vermied (am 2.<br />

Esperanto-Weltkongress in Genf 1905 prangerte er v.a. die fehlende Freiheit, die unterdrückten Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te sowie den<br />

zwis<strong>ch</strong>enethnis<strong>ch</strong>en Zwist und die Feinds<strong>ch</strong>aft zwis<strong>ch</strong>en den Nationen in seiner Heimat an).<br />

93<br />

Aus dem Artikel ‚Ob internacional’noj i nacional’noj kul’ture’, 1927. In Krupskaja, N.K.: Pedagogičeskie sočinenija. Bd.<br />

II., S. 251f.<br />

94<br />

Aus dem Artikel ‚Malenkie deti’, 1929. In Krupskaja, N.K.: Pedagogičeskie sočinenija. Bd. VI, S. 119f. Diese Sätze<br />

wurden in einem Artikel Krupskajas über den Kampf und die Siege der Arbeitermassen in der Komsomolskaja Pravda Nr. 24<br />

(1412) vom 30. Januar 1930 wiederholt und lösten den Offenen Brief Ė.K. Drezens an N.K. Krupskaja aus.


28<br />

Spra<strong>ch</strong>e praktiziert wurde. 95 Gegen die Voreingenommenheit der Krupskaja gegenüber einer Kunstspra<strong>ch</strong>e<br />

s<strong>ch</strong>ien also kein Kraut gewa<strong>ch</strong>sen. 96<br />

Krupskajas Kompetenz in Sa<strong>ch</strong>en Esperanto wurde natürli<strong>ch</strong> von den Esperantisten bestritten.<br />

Während das SAT-Mitglied A. Nikitin in Sennaciulo Nr. 282 vom 27.2.1930 im Fall des Krupskaja-<br />

Artikels von einem „Ausfall gegen Esperanto“ spra<strong>ch</strong>, nahm G. Demidjuk in Sennaciulo (Nr. 286 vom<br />

27.3.1930) Krupskajas Worte etwas gelassener und sah in ihnen sogar eine Art <strong>An</strong>erkennung des Esperanto,<br />

was jedo<strong>ch</strong> kaum na<strong>ch</strong>vollziehbar ist. Demidjuk versu<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> der Abneigung Krupskajas<br />

gegen Esperanto mit der abs<strong>ch</strong>ätzigen Bemerkung zu erwehren, dass der kleinste praktis<strong>ch</strong>e Erfolg des<br />

Esperanto für die Esperantisten wi<strong>ch</strong>tiger sei als die Meinung irgendeiner Autorität.<br />

Mit einem Offenen Brief an N.K. Krupskaja ereiferte si<strong>ch</strong> Ė.K. Drezen in seiner Funktion als<br />

Generalsekretär des ZK SĖSR in der Zeits<strong>ch</strong>rift Meždunarodnyj jazyk, die <strong>An</strong>griffe der Krupskaja<br />

zurückzuweisen, indem er ihr Missverständnisse und Unwissen vorwarf. Zwar sei Esperanto von<br />

einem einzigen Autor auf der Grundlage von 16 grammatis<strong>ch</strong>en Regeln ers<strong>ch</strong>affen worden. Die<br />

Spra<strong>ch</strong>e bestehe aus einem Worts<strong>ch</strong>atz, der aus den europäis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en ges<strong>ch</strong>öpft wurde. Was die<br />

Grammatik anbelange, habe Zamenhof sogar einige „moderne Ideen von marxistis<strong>ch</strong> denkenden<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftlern wie des Akademiemitglieds Marr vorweggenommen“ (s. Kap. 4 weiter unten),<br />

indem er die Grammatik des Esperanto so kombiniert habe, dass in der Struktur der Spra<strong>ch</strong>e<br />

automatis<strong>ch</strong> eine Reihe historis<strong>ch</strong> gewa<strong>ch</strong>sener Unsinnigkeiten der europäis<strong>ch</strong>en flektierenden<br />

Spra<strong>ch</strong>en beseitigt worden seien und der Wortbildung ein beispielloser Rei<strong>ch</strong>tum verliehen worden<br />

sei, um alle ‚natürli<strong>ch</strong>en‘ Nationalspra<strong>ch</strong>en längst hinter si<strong>ch</strong> zu lassen (eine Übertreibung der<br />

Esperanto-Propaganda, aK). S<strong>ch</strong>on Leibniz habe ges<strong>ch</strong>rieben, dass der Rei<strong>ch</strong>tum einer Spra<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t<br />

im Überfluss an Wörtern bestehe, sondern in der Lei<strong>ch</strong>tigkeit, von einer begrenzten <strong>An</strong>zahl<br />

Grundwörtern und Wurzeln alle notwendigen neuen Wörter, Begriffe und Nuancen des Denkens<br />

abzuleiten. Dass Esperanto eine lebendige Spra<strong>ch</strong>e ist, versu<strong>ch</strong>te Drezen mit Zahlen zu belegen: Seit<br />

40 Jahren werde Esperanto von Hunderttausenden von Mens<strong>ch</strong>en angewendet (die Zahl dürfte übertrieben<br />

sein, aK). Esperanto sei in drei Monaten zu erlernen (ni<strong>ch</strong>t bei allen, aK), und nun verfüge<br />

Esperanto ni<strong>ch</strong>t nur über 800 Wörter wie zur Zeit, als es ges<strong>ch</strong>affen wurde, sondern umfasse 16’000<br />

Wörter, die dur<strong>ch</strong> den kollektiven Nutzungsprozess entstanden seien und in ihrer Mehrheit aus den<br />

Spra<strong>ch</strong>en der europäis<strong>ch</strong>en Kulturnationen stammten. In Esperanto existierten einige Tausend Bü<strong>ch</strong>er,<br />

es kämen etwa Hundert Zeitungen und Zeits<strong>ch</strong>riften heraus, internationale Kongresse würden abgehalten,<br />

au<strong>ch</strong> für Arbeiter, die ohne Dolmets<strong>ch</strong>er auskämen. Dies sei halt unvorstellbar für Leute, die die<br />

Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, Literatur und Entwicklung des Esperanto ni<strong>ch</strong>t kennten. Dann nahm Drezen no<strong>ch</strong> zu anderen<br />

Aussagen Krupskajas Stellung. Esperanto sei aus einer Notwendigkeit heraus entstanden, damit<br />

die Arbeiter vers<strong>ch</strong>iedener Länder si<strong>ch</strong> im Kampf vereinen könnten. Diese Bemühung sei zu unterstützen<br />

und ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> eine Beurteilung abzuwürgen, die aus Unkenntnis der Wirkli<strong>ch</strong>keit der Sa<strong>ch</strong>e<br />

vorgenommen wurde. Am Ende ri<strong>ch</strong>tete Drezen an Krupskaja die Hoffnung, die Mögli<strong>ch</strong>keit wahrzunehmen,<br />

ihre Haltung gegenüber der Internationalen Spra<strong>ch</strong>e zu überprüfen. Na<strong>ch</strong> diesem Brief folgte<br />

ein Kommentar, in dem die Verfasser si<strong>ch</strong> über die ablehnende Haltung der Krupskaja verwundert<br />

zeigten, zumal es genug Gelegenheit dazu gegeben habe, Esperanto kennenzulernen. Aber mit der<br />

Krupskaja zu streiten wurde eine Absage erteilt. Es sei nützli<strong>ch</strong>er, die Sa<strong>ch</strong>e des Esperanto im Sinne<br />

95<br />

Weil Esperanto in der <strong>An</strong>fangszeit seiner Existenz no<strong>ch</strong> von einer relativ geringen Zahl Mens<strong>ch</strong>en, die ausserdem in der<br />

riesigen Sowjetunion als einzeln verstreute Esperantisten ein ziemli<strong>ch</strong> isoliertes Leben führten und wenige Kontakte unter<br />

si<strong>ch</strong> pflegen konnten, no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t so fliessend und eloquent angewendet wurde wie dies viellei<strong>ch</strong>t in späteren Jahrzehnten der<br />

Fall war, ist es dur<strong>ch</strong>aus mögli<strong>ch</strong>, dass bei damaligen Beoba<strong>ch</strong>tern des Esperanto der Eindruck entstand, dass es si<strong>ch</strong> bei<br />

dieser Spra<strong>ch</strong>e eher um ein theoretis<strong>ch</strong>es Konstrukt als um ein praktis<strong>ch</strong>es und voll funktionsfähiges Kommunikationsmittel<br />

handelt. (aK)<br />

96<br />

Amüsant ist die dazu passende <strong>An</strong>ekdote, wona<strong>ch</strong> N.K. Krupskaja, als sie si<strong>ch</strong> 1914 mit Lenin in Bern (S<strong>ch</strong>weiz) niederliess,<br />

si<strong>ch</strong> unter dem Namen „Edelfrau Esperantia Uljanow, geb. Krupski“ bei den Behörden anmelden liess. (s. W. Gauts<strong>ch</strong>i:<br />

Lenin als Emigrant in der S<strong>ch</strong>weiz. Züri<strong>ch</strong> 1975. S. 99).


29<br />

Lenins zu Gunsten des Proletariats, des Aufbaus des Sozialismus und der Verteidigung der Sowjetunion<br />

voranzutreiben. 97<br />

3. Stalin und die Frage der gemeinsamen Einheitsspra<strong>ch</strong>e der Zukunft<br />

Im Verlauf seines Lebens und seiner Karriere als Berufsrevolutionär kam Iosif V. Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-<br />

Stalin (1878-1953) im Zusammenhang mit der marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>en Nationskonzeption nolens<br />

volens au<strong>ch</strong> mit Fragen der Spra<strong>ch</strong>e in Berührung. Ausser Georgis<strong>ch</strong> und Russis<strong>ch</strong> kannte der ges<strong>ch</strong>eiterte<br />

Theologiestudent zwar kaum andere Spra<strong>ch</strong>en, und das Erlernen von Fremdspra<strong>ch</strong>en bereitete<br />

ihm offenbar grosse Mühe. Einen s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten und s<strong>ch</strong>reibfaulen Theoretiker wie Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin<br />

interessierten ho<strong>ch</strong>stehende Fragen der Wissens<strong>ch</strong>aft wenig. Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin, von seinen<br />

Freunden Koba genannt, war ein Praktiker. Seine öffentli<strong>ch</strong>e und offizielle Rhetorik war auf die wi<strong>ch</strong>tigsten<br />

Aussagen bes<strong>ch</strong>ränkt, sein mündli<strong>ch</strong>es und s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>es Ausdrucksrepertoir war begrenzt, inhaltli<strong>ch</strong><br />

banal und s<strong>ch</strong>emenhaft, sein Stil abstrakt, grob, anmassend, pseudowissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> aber verpfli<strong>ch</strong>tend<br />

und passten ni<strong>ch</strong>t so re<strong>ch</strong>t zu seinem primitiven und vulgären Habitus (man lese nur seine<br />

offiziellen Reden und Artikel, von wem au<strong>ch</strong> immer sie ges<strong>ch</strong>rieben wurden). Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin,<br />

ein aussergewöhnli<strong>ch</strong> misstrauis<strong>ch</strong>er, vers<strong>ch</strong>lossener und vers<strong>ch</strong>robener Mens<strong>ch</strong>, konnte kaum als<br />

Intellektueller bezei<strong>ch</strong>net werden. 98 Trotzdem gibt es in der Stalins<strong>ch</strong>en Literatur einige Hinweise auf<br />

Äusserungen Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins zu Fragen der Spra<strong>ch</strong>e und Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft, von denen sein<br />

Pravda-Artikel des Jahres 1950 wohl der bedeutendste Beitrag war (s. Kap. 7). Es gibt sogar <strong>An</strong>haltspunkte,<br />

die besagen, dass der Georgier selbst Esperanto gelernt hat. Eine groteske Imagination!<br />

Bei der Betra<strong>ch</strong>tung der Haltung Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins gegenüber der Frage der Weltspra<strong>ch</strong>e<br />

(bzw. Welt/Einheitsspra<strong>ch</strong>e, Spra<strong>ch</strong>e der Zukunft usw.) müssen im Wesentli<strong>ch</strong>en se<strong>ch</strong>s aufeinanderfolgende<br />

Episoden unters<strong>ch</strong>ieden werden. Die erste Episode betrifft das Jahr 1910, in der der georgis<strong>ch</strong>e<br />

Häftling im Bakuer Bailov-Gefängnis Esperanto gelernt haben soll. 99 Die zweite Episode fällt in<br />

das Jahr 1913, als in der Zeitung Prosveščenie Nr. 35 (März bis Mai) ein Beitrag über „Marxismus<br />

und nationale Frage“ ers<strong>ch</strong>ien, der die Unters<strong>ch</strong>rift I.V. Stalins trug und Bemerkungen über die Spra<strong>ch</strong>e<br />

enthielt. 100 Die dritte Episode bezieht si<strong>ch</strong> auf eine Rede Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins an einer Versammlung<br />

der Studenten der Kommunistis<strong>ch</strong>en Universität der Werktätigen des Ostens am 18. Mai<br />

1925, in der die S<strong>ch</strong>affung einer „allgemeinmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Einheitsspra<strong>ch</strong>e“ im Rahmen einer „allgemeinmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />

proletaris<strong>ch</strong>en Kultur“ erwähnt wurde. Die vierte Episode geht auf das Jahr 1929<br />

97<br />

Meždunarodnyj jazyk 1/1930, S. 45ff. (online: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19300101&seite=<br />

47&zoom=33). Um Lenins vermuteten Glauben an eine Einheitsspra<strong>ch</strong>e der Zukunft herbei zu bes<strong>ch</strong>wören, wurde von Seiten<br />

sowjetis<strong>ch</strong>er Interlinguisten in der Na<strong>ch</strong>stalinära immer wieder auf Lenin-Zitate verwiesen. So bemühte si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> Ė.<br />

Svadost erneut in seinem 1968 ers<strong>ch</strong>ienenen Bu<strong>ch</strong> ‚Kak vozniknet vseobščij jazyk’, Lenins Haltung zugunsten einer sol<strong>ch</strong>en<br />

Spra<strong>ch</strong>e abzuleiten (S. 251). <strong>An</strong>dererseits gab es immer wieder au<strong>ch</strong> einflussrei<strong>ch</strong>e Gegner wie <strong>Prof</strong>essor Mi<strong>ch</strong>ail D.<br />

Kammari, der in der Zeits<strong>ch</strong>rift Kommunist Ėstonii (Nr. 7/1964) einen entspre<strong>ch</strong>enden Beitrag abdrucken liess, in dem er<br />

unmissverständli<strong>ch</strong> die <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t vertrat, dass es neben einer Reihe von Nationalspra<strong>ch</strong>en wie Französis<strong>ch</strong>, Englis<strong>ch</strong>, Deuts<strong>ch</strong>,<br />

Russis<strong>ch</strong> eine internationale „Hilfsspra<strong>ch</strong>e“ gar ni<strong>ch</strong>t mehr brau<strong>ch</strong>e, denn diese Nationalspra<strong>ch</strong>en würden diese Rolle s<strong>ch</strong>on<br />

längst erfüllen, zumal die Massen sol<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>en und ni<strong>ch</strong>t Esperanto sprä<strong>ch</strong>en. (Originaltext beim Autor).<br />

98<br />

Wel<strong>ch</strong>e verblüffend ‚geistrei<strong>ch</strong>en’ S<strong>ch</strong>erze und ominösen <strong>An</strong>spielungen Stalin bei üppigen Tafelrunden mit seinesglei<strong>ch</strong>en<br />

zu ma<strong>ch</strong>en pflegte kann man etwa bei M. Djilas, ‚Gesprä<strong>ch</strong>e mit Stalin’ na<strong>ch</strong>lesen. Denno<strong>ch</strong> soll dieser Sowjetführer, um<br />

informiert zu sein, ein unermüdli<strong>ch</strong>er Bü<strong>ch</strong>er- und Zeits<strong>ch</strong>riftenleser gewesen sein, der sein Wissen als e<strong>ch</strong>ter Autodidakt<br />

erwarb (Was Stalin las s. http://www.elitarium.ru/2005/05/26/<strong>ch</strong>to_<strong>ch</strong>ital_stalin.html).<br />

99<br />

Volltext s. http://www.marxists.org/ar<strong>ch</strong>ive/trotsky/1940/xx/stalin/<strong>ch</strong>04.htm. Zu dieser Episode gehört der Hinweis des<br />

russis<strong>ch</strong>en Historikers D.A. Volkogonov, der in seiner zweibändigen Stalin-Biographie von 1989 (dt. ‚Triumph und Tragödie.<br />

Politis<strong>ch</strong>es Porträt des J.W. Stalin’, Berlin 1990) si<strong>ch</strong> auf die Memoiren Ja.M. Sverdlovs stützend festhielt, dass Stalin in<br />

seiner sibiris<strong>ch</strong>en Verbannung (in Kurejka) <strong>An</strong>fang 1914 si<strong>ch</strong> mit dem Lernen des Esperanto befasst habe. (Russ. Volltext s.<br />

http://www.tinlib.ru/istorija/stalin/p1.php, Su<strong>ch</strong>e ‚Эсперанто’). (S. au<strong>ch</strong> den Artikel ‚Stalin und Esperanto’ von U. Lins in<br />

Monato 12/1994, S. 16f.).<br />

100<br />

Volltext s. http://www.marxists.org/deuts<strong>ch</strong>/referenz/stalin/1913/natfrage/index.htm.


30<br />

zurück, als in den Artikeln ‚Nationale Frage und der Leninismus’ und Zukunft der Nationen und der<br />

Nationalspra<strong>ch</strong>en’ 101 Stalin si<strong>ch</strong> über die Mögli<strong>ch</strong>keit einer Einheitsspra<strong>ch</strong>e ausliess, deren S<strong>ch</strong>affung<br />

und Einführung er aber in eine ferne Zeit verlegte. Die fünfte Episode fällt in das Jahr 1930, als<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin am XVI. Kongress der VKP(B) zum Thema der künftigen Spra<strong>ch</strong>e Stellung<br />

nahm. In den 30er Jahren ri<strong>ch</strong>teten si<strong>ch</strong> die psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en und physis<strong>ch</strong>en Repressionen Stalins sowohl<br />

gegen die sowjetis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler wie au<strong>ch</strong> gegen die Slavisten, die Finnugristen, Japanologen<br />

und Orientalisten, die der Spionage und antisowjetis<strong>ch</strong>en Agitation bezi<strong>ch</strong>tigt wurden, und dann<br />

mitten im ‚Grossen Terror’ au<strong>ch</strong> gegen die Interlinguisten und Esperantisten, die als Volksfeinde,<br />

„Spione“, und „Mitglieder einer trockistis<strong>ch</strong>en und terroristis<strong>ch</strong>en Vereinigung“ verhetzt und disqualifiziert,<br />

inhaftiert oder sogar physis<strong>ch</strong> liquidiert wurden. S<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> ist als se<strong>ch</strong>ste Episode no<strong>ch</strong> das<br />

Jahr 1950 zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, als Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin in der Pravda seine Aufsehen erregende Stellungnahme<br />

zu Fragen der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft darlegte und die Lehren Marrs für ungültig erklärte. In<br />

all diesen Artikeln und Reden Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins zur Einheitsspra<strong>ch</strong>e der Zukunft ist Esperanto<br />

selbst ni<strong>ch</strong>t erwähnt, sodass davon ausgegangen werden kann, dass es bei den Überlegungen des Verfassers<br />

(oder der Verfasser) dieser Beiträge wohl keine Rolle spielte und keine Bedeutung hatte. Hatte<br />

Stalin Esperanto vergessen oder es vermieden, es zu erwähnen? Man weiss es ni<strong>ch</strong>t. Denno<strong>ch</strong> ist es<br />

ni<strong>ch</strong>t ohne Interesse, den Inhalt dieser einzelnen Episoden etwas genauer zu beleu<strong>ch</strong>ten.<br />

Was das Esperanto bei Stalin betrifft, ist also zunä<strong>ch</strong>st Leo Trockij zu zitieren. Demna<strong>ch</strong> soll<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin um 1910 im Bakuer Bailov-Gefängnis Esperanto gelernt haben. 102 Da dies von<br />

dritten Zeugen beri<strong>ch</strong>tet wurde, ist es ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>lossen, obwohl es völlig unglaubwürdig anmutet.<br />

Darüber gab der persönli<strong>ch</strong>e und parteili<strong>ch</strong>e Rivale in seiner Stalin-Biographie an drei Stellen Auskunft,<br />

so im Kapitel ‚Periode der Reaktion’, die von Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins Aufenthalt in diesem<br />

Gefängnis handelt. <strong>An</strong> dieser Stelle heisst es:<br />

„(…) Unter den Gefangenen waren au<strong>ch</strong> kürzli<strong>ch</strong> oder s<strong>ch</strong>on vor längerer Zeit zum Tode Verurteilte,<br />

die ständig der Besiegelung ihres S<strong>ch</strong>icksals entgegensahen, Sie assen und s<strong>ch</strong>liefen mit den<br />

anderen zusammen. Unter den Augen ihrer Mitgefangenen wurden sie na<strong>ch</strong>ts herausgeholt und im<br />

Gefängnishof gehängt; ‚in den Zellen hörte man ihr Weinen und S<strong>ch</strong>reien’. Die Nerven aller Gefangenen<br />

waren aufs äusserste gespannt, ‚Koba s<strong>ch</strong>lief fest’, sagte Vereščak, ‚oder lernte ruhig Esperanto’<br />

(er war überzeugt, dass Esperanto die internationale Spra<strong>ch</strong>e der Zukunft sei). Es wäre absurd zu denken,<br />

dass die Hinri<strong>ch</strong>tungen Koba glei<strong>ch</strong>gültig liessen. Aber er hatte starke Nerven. Er empfand ni<strong>ch</strong>t<br />

na<strong>ch</strong>, was andere fühlten. Allein sol<strong>ch</strong>e Nerven waren s<strong>ch</strong>on ein grosses Kapital.“ (…) 103<br />

Auf der nä<strong>ch</strong>sten Seite heisst es bei Trockij weiter:<br />

„Im Gefängnis von Baku wandte er si<strong>ch</strong> dem Esperanto als der ‚Spra<strong>ch</strong>e der Zukunft’ zu. Dieser<br />

Zug zeigt deutli<strong>ch</strong>, von wel<strong>ch</strong>er Art die geistige Ausrüstung Kobas war, dessen Lerneifer si<strong>ch</strong> immer<br />

auf der Linie des geringsten Widerstandes voran bewegte. Obwohl er a<strong>ch</strong>t Jahre in Gefängnissen<br />

und in der Verbannung zubra<strong>ch</strong>te, hat er ni<strong>ch</strong>t eine einzige fremde Spra<strong>ch</strong>e wirkli<strong>ch</strong> erlernt, sein unglückseliges<br />

Esperanto ni<strong>ch</strong>t ausgenommen.“ 104<br />

Na<strong>ch</strong> Trockijs <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t handelt es si<strong>ch</strong> bei dem Georgier aus Gori also ni<strong>ch</strong>t nur um einen<br />

Mens<strong>ch</strong>en, dessen geistige Ausrüstung bes<strong>ch</strong>eiden gewesen war und dass die Spra<strong>ch</strong>e Esperanto ein<br />

Mittel des geringsten Widerstandes sei. Ein paar Seiten später wird Esperanto ein drittes Mal erwähnt:<br />

101<br />

Volltext beider Beiträge s. http://www.marxists.org/reference/ar<strong>ch</strong>ive/stalin/works/1929/03/18.htm.<br />

102<br />

Als erster s<strong>ch</strong>eint Herbert Muravkin im Jahr 1928 darauf hingewiesen zu haben. In der Enciklopedio de Esperanto (Budapest<br />

1933/34) fehlte ein Sti<strong>ch</strong>wort zu ‚Stalin’. Die Esperanto-Historiographie vermied es, diese legendäre Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te an die<br />

grosse Glocke zu hängen und erwähnte sie nur kurz (z.B.: Lapenna/Lins: Esperanto en perspektivoj 1974, S. 729, Lins: LDL<br />

1988, S. 359 (Fn. 1) als „Gerü<strong>ch</strong>t“ und „unglaubwürdig“.<br />

103<br />

Trotzki, Stalin, Bd. I, S. 181. Die deuts<strong>ch</strong>e Übersetzung von Trockijs Stalin-Biographie ers<strong>ch</strong>ien erst 1952 in Deuts<strong>ch</strong>land.<br />

104<br />

Ebd., S. 182.


31<br />

„(…) Man s<strong>ch</strong>rieb 1910. Die Reaktion war auf der ganzen Linie siegrei<strong>ch</strong>. Ni<strong>ch</strong>t nur die Massenbewegung,<br />

au<strong>ch</strong> die Expropriationen, die Terrorakte, die individuellen Verzweiflungstaten waren<br />

auf dem Tiefpunkt angelangt. Das Gefängnis war weniger lärmend und viel strenger geworden. Von<br />

gemeins<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Diskussionen war keine Rede mehr. Koba hatte Zeit genug, Esperanto zu lernen,<br />

sofern er ni<strong>ch</strong>t inzwis<strong>ch</strong>en seine Begeisterung für die Spra<strong>ch</strong>e der Zukunft verloren hatte. Am 27. August<br />

wurde auf <strong>An</strong>ordnung des kaukasis<strong>ch</strong>en Generalgouverneurs Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili der Aufenthalt in<br />

Transkaukasien für fünf Jahre untersagt. (…) Koba wurde in die Provinz Vologda zurückges<strong>ch</strong>ickt,<br />

um dort die unterbro<strong>ch</strong>ene zweijährige Verbannung zu beenden. (…). 105<br />

Bei der Beantwortung der Frage „Was ist eine Nation ?“ sind in Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins Artikel<br />

„Marxismus und nationale Frage“ von 1913 einige Sätze über die Rolle der Spra<strong>ch</strong>e zu lesen. 106<br />

Wie Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin über ‚Die Zukunft der Nationen und Nationalspra<strong>ch</strong>en’ da<strong>ch</strong>te,<br />

gibt uns ein Traktat mit dem Titel ‚Nationale Frage und der Leninismus’ Auskunft. 107 Dort werden<br />

au<strong>ch</strong> die Probleme der <strong>An</strong>näherung und weiteren Vers<strong>ch</strong>melzung aller Nationen behandelt.<br />

Während einer Rede an einer Versammlung der Studenten der Kommunistis<strong>ch</strong>en Universität<br />

der Werktätigen des Ostens am 18. Mai 1925 sagte Stalin:<br />

„Man redet davon (wie das zum Beispiel Kautsky tut), dass in der Periode des Sozialismus eine<br />

allgemeinmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Einheitsspra<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>affen werden wird und alle anderen Spra<strong>ch</strong>en absterben<br />

werden. I<strong>ch</strong> glaube ni<strong>ch</strong>t so re<strong>ch</strong>t an diese Theorie einer allumfassenden Einheitsspra<strong>ch</strong>e. Die<br />

Erfahrung jedenfalls spri<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t für, sondern gegen diese Theorie. Bis jetzt ist es so gewesen, dass<br />

die sozialistis<strong>ch</strong>e Revolution die Zahl der Spra<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t vermindert, sondern vermehrt hat, denn<br />

dadur<strong>ch</strong>, dass sie die tiefsten Tiefen der Mens<strong>ch</strong>heit aufrüttelt und auf die politis<strong>ch</strong>e Arena bringt,<br />

erweckt sie eine ganze Reihe neuer, früher gar ni<strong>ch</strong>t oder wenig bekannter Nationalitäten zu neuem<br />

Leben. (...).“ 108 In diesem Text war au<strong>ch</strong> die Rede von der anzustrebenden „allgemeinmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />

proletaris<strong>ch</strong>en Kultur“. 109<br />

Auf dem 16. Kongress der VKP(B) des Jahres 1930 hielt Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin ein Referat<br />

zum Thema ‚Nationale und internationale Kultur’. Aufsehen erregend in diesem Referat war<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins Verurteilung des „grossrussis<strong>ch</strong>en Chauvinismus“ und des „lokalen Nationalismus“<br />

als „linke“ und „re<strong>ch</strong>te“ ideologis<strong>ch</strong>e „Abwei<strong>ch</strong>ungen“ (uklony). Der grossrussis<strong>ch</strong>e Chauvinismus<br />

ziele darauf hin, die nationalen Unters<strong>ch</strong>iede der Spra<strong>ch</strong>e und Kultur zu umgehen, die nationalen<br />

Republiken abzus<strong>ch</strong>affen und den Parteiapparat, die Presse, die S<strong>ch</strong>ulen und andere staatli<strong>ch</strong>e und<br />

gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Organisationen zu „nationalisieren“. Die Abwei<strong>ch</strong>ler dieses Typs würden davon ausgehen,<br />

dass beim Sieg des Sozialismus die Nationen in eine einzige Nation miteinander vers<strong>ch</strong>melzen<br />

würden, die nationalen Spra<strong>ch</strong>en würden in eine „einheitli<strong>ch</strong>e gemeinsame Spra<strong>ch</strong>e“ transformiert.<br />

Das Ziel dieser Politik sei, die nationalen Unters<strong>ch</strong>iede und die Unters<strong>ch</strong>iede der nationalen Kulturen<br />

abzus<strong>ch</strong>affen. Dabei würden sie si<strong>ch</strong> auf Lenin beziehen, obwohl Lenin etwas ganz anderes gemeint<br />

und gesagt habe. Lenin habe niemals gesagt, dass die nationalen Unters<strong>ch</strong>iede vers<strong>ch</strong>winden und dass<br />

die Nationalspra<strong>ch</strong>en in eine gemeinsame Spra<strong>ch</strong>e „innerhalb eines Staates bis zum Sieg des Sozialismus<br />

im Weltmassstab abges<strong>ch</strong>afft“ werden sollten. Im Gegenteil habe dieser gesagt, dass diese Unters<strong>ch</strong>iede<br />

si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> sehr lange halten werden, sogar na<strong>ch</strong> der Verwirkli<strong>ch</strong>ung der Diktatur des Proletari-<br />

105<br />

Ebd., S. 192.<br />

106<br />

Volltext s. http://www.marxists.org/deuts<strong>ch</strong>/referenz/stalin/1913/natfrage/kap1.htm.<br />

107<br />

Volltext s. http://www.marxists.org/deuts<strong>ch</strong>/referenz/stalin/1924/grundlagen/kap6.htm. Zur Vers<strong>ch</strong>melzung der Nationen<br />

s. etwa http://www.marxists.org/deuts<strong>ch</strong>/ar<strong>ch</strong>iv/lenin/1916/01/nationen.html.<br />

108<br />

Volltext s. http://www.stalinwerke.de/band07/b07-027.html.<br />

109<br />

Die entspre<strong>ch</strong>ende Stelle wurde au<strong>ch</strong> in Meždunarodnyj jazyk 14/1926, S. 8, abgedruckt (s. http://anno.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=e2b&datum=19260415&seite=8&zoom=33).<br />

Der Kommentator des Artikels hielt dazu die Bemerkung<br />

fest, dass Genosse Stalin, der zwar ni<strong>ch</strong>t für die Sa<strong>ch</strong>e der internationalen Spra<strong>ch</strong>e arbeite, aber genau diejenige Linie verfolgte,<br />

auf wel<strong>ch</strong>er si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die proletaris<strong>ch</strong>e Esperanto-Bewegung entwickelt.


32<br />

ats im Weltmassstab. 110 Und ebenso habe Lenin den grossrussis<strong>ch</strong>en Nationalismus als Gefahr bezei<strong>ch</strong>net.<br />

Zum Thema nationale Frage, Nationalspra<strong>ch</strong>en und gemeinsame Spra<strong>ch</strong>e der Zukunft hiess<br />

es im zweiten Teil dieser Rede: Bekanntli<strong>ch</strong> spra<strong>ch</strong> Lenin von der Vers<strong>ch</strong>melzung der Nationen in<br />

einer höheren Einheit. (Kursive Hervorhebung von AK).<br />

Weiter hiess es in diesem Stalin-Text:<br />

„Die zweite Gruppe von <strong>An</strong>fragen betrifft die nationale Frage. In einer dieser <strong>An</strong>fragen, die<br />

i<strong>ch</strong> für die interessanteste halte, wird ein Verglei<strong>ch</strong> gezogen zwis<strong>ch</strong>en der Behandlung des Problems<br />

der Nationalspra<strong>ch</strong>en in meinem Beri<strong>ch</strong>t an den XVI. Parteitag und der Behandlung der Frage in meinem<br />

Vortrag an der Universität der Völker des Ostens im Jahre 1925 und zwar wird behauptet, hier<br />

bestehe eine gewisse Unklarheit, die behoben werden müsse. „Sie haben si<strong>ch</strong> damals“, so heisst es in<br />

der <strong>An</strong>frage, „gegen die Theorie (Kautskys) vom Absterben der Nationalspra<strong>ch</strong>en und von der S<strong>ch</strong>affung<br />

einer einzigen, gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e in der Periode des Sozialismus (in einem Lande) gewandt;<br />

in Ihrem Beri<strong>ch</strong>t an den XVI. Parteitag, erklären Sie, die Kommunisten seien <strong>An</strong>hänger der Vers<strong>ch</strong>melzung<br />

der nationalen Kulturen und der nationalen Spra<strong>ch</strong>en zu einer gemeinsamen Kultur mit<br />

einer gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e (in der Periode des Sieges des Sozialismus im Weltmassstab) - besteht<br />

hier ni<strong>ch</strong>t eine Unklarheit? I<strong>ch</strong> glaube, dass hier weder eine Unklarheit no<strong>ch</strong> irgendein Widerspru<strong>ch</strong><br />

besteht. In meinem Vortrag von 1925 wandte i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> gegen die national-<strong>ch</strong>auvinistis<strong>ch</strong>e Theorie<br />

Kautskys, na<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>er ein Sieg der proletaris<strong>ch</strong>en Revolution Mitte des vorigen Jahrhunderts in einem<br />

vereinigten österrei<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>-deuts<strong>ch</strong>en Staat zum Aufgehen der Nationen in einer einheitli<strong>ch</strong>en<br />

deuts<strong>ch</strong>en Nation mit einer deuts<strong>ch</strong>en Einheitsspra<strong>ch</strong>e und zur Germanisierung der Ts<strong>ch</strong>e<strong>ch</strong>en hätte<br />

führen müssen. I<strong>ch</strong> lehnte diese Theorie als eine antimarxistis<strong>ch</strong>e, antileninistis<strong>ch</strong>e Theorie ab und<br />

berief mi<strong>ch</strong> dabei auf die Tatsa<strong>ch</strong>en aus dem Leben unseres Landes na<strong>ch</strong> dem Siege des Sozialismus<br />

in der UdSSR, die diese Theorie widerlegen. Diese Theorie lehne i<strong>ch</strong>, wie aus meinem Re<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>aftsberi<strong>ch</strong>t<br />

an diesen unseren XVI. Parteitag zu ersehen ist, au<strong>ch</strong> heute ab. I<strong>ch</strong> lehne sie ab, weil die Theorie<br />

des Aufgehens aller Nationen, sagen wir der UdSSR, in einer einheitli<strong>ch</strong>en grossrussis<strong>ch</strong>en Nation<br />

mit einer grossrussis<strong>ch</strong>en Einheitsspra<strong>ch</strong>e eine national-<strong>ch</strong>auvinistis<strong>ch</strong>e Theorie, eine antileninistis<strong>ch</strong>e<br />

Theorie ist, die einer Grundthese des Leninismus widerspri<strong>ch</strong>t, nämli<strong>ch</strong> der These, dass die nationalen<br />

Unters<strong>ch</strong>iede in der nä<strong>ch</strong>sten Periode ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>winden können, dass sie no<strong>ch</strong> lange Zeit sogar na<strong>ch</strong><br />

dem Siege der proletaris<strong>ch</strong>en Revolution im Weltmassstab bestehen bleiben müssen. Was eine entferntere<br />

Perspektive der nationalen Kulturen und nationalen Spra<strong>ch</strong>en anbetrifft, so vertrat i<strong>ch</strong> immer<br />

und vertrete au<strong>ch</strong> weiter die Lenins<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t, dass in der Periode des Sieges des Sozialismus im<br />

Weltmassstab, wenn der Sozialismus bereits erstarkt sein und si<strong>ch</strong> im Leben eingebürgert haben wird,<br />

die Nationalspra<strong>ch</strong>en unweigerli<strong>ch</strong> zu einer gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e vers<strong>ch</strong>melzen müssen, die natürli<strong>ch</strong><br />

weder das Grossrussis<strong>ch</strong>e no<strong>ch</strong> das Deuts<strong>ch</strong>e, sondern etwas Neues sein wird. Das habe i<strong>ch</strong> ebenfalls<br />

unzweideutig in meinem Beri<strong>ch</strong>t an den XVI. Parteitag erklärt. Wo ist denn da eine Unklarheit,<br />

und was bedarf hier eigentli<strong>ch</strong> der Klärung? Offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> sind si<strong>ch</strong> die Fragesteller mindestens über<br />

zwei Dinge ni<strong>ch</strong>t ganz klar geworden. Vor allem sind sie si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t über die Tatsa<strong>ch</strong>e klar geworden,<br />

dass wir in der UdSSR bereits in die Periode des Sozialismus eingetreten sind, wobei die Nationen,<br />

obglei<strong>ch</strong> wir in diese Periode eingetreten sind, ni<strong>ch</strong>t etwa absterben, sondern im Gegenteil, si<strong>ch</strong> entwickeln<br />

und aufblühen. In der Tat, sind wir bereits in die Periode des Sozialismus eingetreten? Unsere<br />

Periode wird gewöhnli<strong>ch</strong> als Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus bezei<strong>ch</strong>net. (...)<br />

Es ist klar, dass wir bereits in die Periode des Sozialismus eingetreten sind, denn der sozialistis<strong>ch</strong>e<br />

Sektor hält jetzt alle wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Hebel der gesamten Volkswirts<strong>ch</strong>aft in seinen Händen, obwohl<br />

es no<strong>ch</strong> weit ist bis zur Vollendung der sozialistis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft und bis zur Beseitigung der Klassenunters<strong>ch</strong>iede.<br />

Und denno<strong>ch</strong>, dessen ungea<strong>ch</strong>tet sterben die Nationalspra<strong>ch</strong>en keineswegs ab und<br />

vers<strong>ch</strong>melzen ni<strong>ch</strong>t zu einer gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e, ganz im Gegenteil, die nationalen Kulturen und<br />

die nationalen Spra<strong>ch</strong>en entwickeln si<strong>ch</strong> und blühen auf. Ist es ni<strong>ch</strong>t klar, dass die Theorie des Abster-<br />

110<br />

Leninwerke, Bd. XVII, S. 178. Dieser Stalin-Text wurde unter dem Titel ‚Kulturo Nacia kaj Internacia’ von V. Demidjuk<br />

ins Esperanto übersetzt und ers<strong>ch</strong>ien 1930. Weitere Esperanto-Übersetzungen aus dieser Zeit: Fundamentoj de Leninismo’<br />

(übers. V. Stelly<strong>ch</strong>, 1931), ‚Nia Gvidanto - Skizoj pri Lenin’ (1931), ‚Oktobra Revolucio kaj Taktiko de Rusaj Komunistoj’<br />

(1932).


33<br />

bens der Nationalspra<strong>ch</strong>en und ihrer Vers<strong>ch</strong>melzung zu einer gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e im Rahmen eines<br />

Staates in der Periode des entfalteten sozialistis<strong>ch</strong>en Aufbaus, in der Periode des Sozialismus in einem<br />

Lande, eine fals<strong>ch</strong>e, antimarxistis<strong>ch</strong>e, antileninistis<strong>ch</strong>e Theorie ist? Die Fragesteller sind si<strong>ch</strong> zweitens<br />

ni<strong>ch</strong>t darüber klar geworden, dass die Frage des Absterbens der Nationalspra<strong>ch</strong>en und ihrer Vers<strong>ch</strong>melzung<br />

zu einer gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e keine innerstaatli<strong>ch</strong>e Frage, keine Frage des Sieges des<br />

Sozialismus in einem Lande ist, sondern eine internationale Frage, eine Frage des Sieges des Sozialismus<br />

im internationalen Massstab. Die Fragesteller haben ni<strong>ch</strong>t begriffen, dass man den Sieg des<br />

Sozialismus in einem Lande ni<strong>ch</strong>t mit dem Sieg des Sozialismus im internationalen Massstab verwe<strong>ch</strong>seln<br />

darf. Ni<strong>ch</strong>t umsonst sagte Lenin, dass die nationalen Unters<strong>ch</strong>iede no<strong>ch</strong> lange Zeit sogar<br />

na<strong>ch</strong> dem Siege der Diktatur des Proletariats im internationalen Massstab bestehen bleiben werden.<br />

(...) Ist es ni<strong>ch</strong>t klar, dass alle diese und ähnli<strong>ch</strong>e Fragen, die mit dem Problem der nationalen Kulturen<br />

und der nationalen Spra<strong>ch</strong>en zusammenhängen, ni<strong>ch</strong>t im Rahmen eines Staates, im Rahmen der<br />

UdSSR, gelöst werden können? (...)“ (Kursive Hervorhebungen von AK).<br />

Der Wortlaut der Rede wurde in Meždunarodnyj jazyk 2-3/1930 abgedruckt. 111<br />

Drezen hatte wohl begriffen, dass die Esperanto-Frage bei den Überlegungen Stalins ausser<br />

Betra<strong>ch</strong>t steht. Das Referat Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins kommentierte er in Meždunarodnyj jazyk mit einer<br />

eigenen lei<strong>ch</strong>t optimistis<strong>ch</strong>en Überinterpretation wie folgt:<br />

„Die Formulierung des Genossen Stalin über die künftige allgemeine Spra<strong>ch</strong>e, die er am XVI.<br />

Parteitag abgab, bra<strong>ch</strong>te Klarheit zur Position, dass Esperanto in der Gegenwart auss<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> als<br />

te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>es Kommunikationsmittel betra<strong>ch</strong>tet werden kann, ni<strong>ch</strong>t mehr. Aber glei<strong>ch</strong>zeitig wurde klar,<br />

dass bei der weiteren Entwicklung der Nationalspra<strong>ch</strong>en vom Kapitalismus zum Sozialismus au<strong>ch</strong><br />

Wege der Berei<strong>ch</strong>erung und Entwicklung des Esperanto in Betra<strong>ch</strong>t gezogen und angewendet werden<br />

können.“ 112 Aber Drezen hoffte dies vergebli<strong>ch</strong>.<br />

4. Die Frage der „Einheitsspra<strong>ch</strong>e der Zukunft“ bei N. Ja. Marr<br />

In den 1920-30er Jahren gab es in der Sowjetunion Bemühungen einiger Esperantisten und<br />

Interlinguisten um Ė.K. Drezen und E.F. Spiridovič, die von Lenin und Stalin vertretene Auffassung<br />

von der Vers<strong>ch</strong>melzung der Nationen und der S<strong>ch</strong>affung einer gemeinsamen proletaris<strong>ch</strong>en<br />

Einheitsspra<strong>ch</strong>e der Zukunft mit der Frage der internationalen neutralen Planspra<strong>ch</strong>e zu verbinden.<br />

Dabei da<strong>ch</strong>te man wohl weniger an die groteske kommunistis<strong>ch</strong>e Vision vom Absterben und<br />

Vers<strong>ch</strong>melzen der ethnis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en, sondern sympathisierte vielmehr mit dem Gedanken,<br />

Esperanto als mögli<strong>ch</strong>e Lösung des Spra<strong>ch</strong>enproblems im Kommunismus in Betra<strong>ch</strong>t zu ziehen. So<br />

fand die <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>-Debatte unter dem Einfluss des kuriosen georgis<strong>ch</strong>en Linguisten,<br />

Kaukasologen, Ar<strong>ch</strong>äologen und Orientalisten Nikolaj Ja. Marr (1864-1934) 113 neuen Auftrieb.<br />

111<br />

S. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19300501&seite=16&zoom=33, ab S. 78. (Zum Verglei<strong>ch</strong> mit<br />

Deuts<strong>ch</strong>land ist es interessant darauf hinzuweisen, dass im Organ der deuts<strong>ch</strong>en Esperanto-Vereinigung 1933 eine Hitlerrede<br />

abgedruckt wurde: s. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoplus?apm=0&aid=e1a&datum=19330004&zoom=2&seite=00000154&x=9&y=7).<br />

112<br />

S. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19320401&seite=15&zoom=33. Dieser Artikel enthielt glei<strong>ch</strong>zeitig<br />

eine rudimentäre Retrospektive der Esperanto-Bewegung seit 1917 aus der Si<strong>ch</strong>t Drezens. Der Beitrag wurde als <strong>An</strong>fang<br />

einer grösseren Studie über die sowjetis<strong>ch</strong>e Esperanto-Bewegung angekündigt (die in der beabsi<strong>ch</strong>tigten Form nie ers<strong>ch</strong>ien.<br />

Die grossen Werke Drezens zur Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> entstanden vor 1931).<br />

113<br />

Nikolaj Jakovlevič Marr, georg. Nikolos (Niko) Iakobis dse Mari, wurde 1864 in Kutaissi, Georgien, als Sohn eines s<strong>ch</strong>ottis<strong>ch</strong>en<br />

Gärtners und einer georgis<strong>ch</strong>en Mutter geboren. Seine Mutterspra<strong>ch</strong>e war Georgis<strong>ch</strong>, in der Familie wurden jedo<strong>ch</strong>


34<br />

Es würde zu weit führen, an dieser Stelle die umstrittenen (jafetitis<strong>ch</strong>en bzw. japhetitis<strong>ch</strong>en)<br />

Theorien Marrs ausführli<strong>ch</strong> darzustellen. 114 Wir können uns hier nur auf die weniger bekannten <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten<br />

Marrs zum Thema der Welteinheitsspra<strong>ch</strong>e bes<strong>ch</strong>ränken und einige Zitate spre<strong>ch</strong>en lassen.<br />

Gemäss N.Ja. Marr sollte die „künftige Welteinheitsspra<strong>ch</strong>e eine Spra<strong>ch</strong>e neuen Typs werden, die es<br />

bisher no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gab, wie die künftige Wirts<strong>ch</strong>aft mit ihrer Te<strong>ch</strong>nik, die künftige Öffentli<strong>ch</strong>keit und<br />

die künftige Kultur, die ausserhalb der Klassen stehen werden“. Na<strong>ch</strong> Marr „müssen in der künftigen<br />

kommunistis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft alle Nationalkulturen in eine einheitli<strong>ch</strong>e Kultur mit einer einheitli<strong>ch</strong>en<br />

Weltspra<strong>ch</strong>e vers<strong>ch</strong>melzen.“ Usw. 115<br />

Marrs Vision von der Notwendigkeit einer „Einheitsweltspra<strong>ch</strong>e“ wurde von ihm öffentli<strong>ch</strong><br />

1927 an der Aserbaids<strong>ch</strong>anis<strong>ch</strong>en Lenin-Universität von Baku mit einem einführenden Referat zum<br />

Kursus der Allgemeinen Lehre von der Spra<strong>ch</strong>e entwickelt, in dem er auf das Thema dieser „Einheitsweltspra<strong>ch</strong>e“<br />

im Zusammenhang mit dem Problem der internationalen Kommunikation einging<br />

und in guter Absi<strong>ch</strong>t die folgenden Worte verlor:<br />

„Da uns alle das Leben unerbittli<strong>ch</strong> mit der Frage des lebendigen Werkzeugs internationaler<br />

Kommunikation konfrontiert, zwingt uns die überaus wi<strong>ch</strong>tige, für keine einzige Minute abwendbare<br />

Frage des neuen internationalen gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Aufbaus, uns von den unzulängli<strong>ch</strong>en Perspektiven<br />

der Gegenwart zu lösen, loszukommen von den bes<strong>ch</strong>ränkten, glei<strong>ch</strong>sam natürli<strong>ch</strong>en Mitteln, die wir<br />

zur Verfügung haben, oder den Mögli<strong>ch</strong>keiten des internationalen spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Verkehrs und ni<strong>ch</strong>t<br />

von zahlrei<strong>ch</strong>en internationalen, lebenden und toten, traditionellen, immer an eine Klassenkultur gebundenen,<br />

und immer unvermeidli<strong>ch</strong> imperialistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en zu reden, sondern von einer einzigen<br />

künstli<strong>ch</strong>en allgemeinmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e zu spre<strong>ch</strong>en und ni<strong>ch</strong>t utopis<strong>ch</strong> von ihr zu reden und ni<strong>ch</strong>t<br />

bastlerhaft na<strong>ch</strong> dem Ges<strong>ch</strong>mack und mit Unterstützung des europäis<strong>ch</strong>en Imperialismus, sondern in<br />

e<strong>ch</strong>tem Weltmassstab mit Erfassung der Spra<strong>ch</strong>gewohnheiten und Interessen ni<strong>ch</strong>t nur der dünnen<br />

Obers<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, sondern der werktätigen Massen aller Spra<strong>ch</strong>en und Länder, ihnen die sogen. Orientalis<strong>ch</strong>en<br />

Völker und jene Länder auszus<strong>ch</strong>liessen, die bisher als Verbannungsorte gebrandmarkt oder<br />

dazu verdammt waren, als Kolonial- und ‚Eingeborenen’-Gebiete das Material für die Bauten der Metropolen<br />

zu liefern, eine eigene Art Kanonenfutter bei der S<strong>ch</strong>affung der künftigen Kultur zu sein, wie<br />

das vor der Oktoberrevolution geplant war und gema<strong>ch</strong>t wurde. Mit diesen neuen Gedanken, die<br />

dur<strong>ch</strong>aus keine Träume, sondern ernsthafte, vollkommen nü<strong>ch</strong>terne Gedanken zur künftigen Einheitsweltspra<strong>ch</strong>e<br />

sind, kehren wir wieder zur jafetitis<strong>ch</strong>en Theorie zurück, zur wesenhaften Notwendigkeit,<br />

ihre allgemeine Lehre von der Spra<strong>ch</strong>e zu kennen. Das bedeutet gewiss ni<strong>ch</strong>t, dass wir die frühen Versu<strong>ch</strong>e<br />

zur S<strong>ch</strong>affung künstli<strong>ch</strong>er internationaler Spra<strong>ch</strong>en, die Existenz einer künstli<strong>ch</strong>en internationalen<br />

Spra<strong>ch</strong>e, wie das weithin erfolgrei<strong>ch</strong>e Esperanto und wie die Spra<strong>ch</strong>e Ido, obwohl diese erst in den<br />

letzten Jahren grosses Interesse der Fors<strong>ch</strong>ung geweckt hat, vergessen. Das heisst ni<strong>ch</strong>t, dass wir uns<br />

von ihnen wie von einer quantité négligeable, von Ers<strong>ch</strong>einungen, die keine Aufmerksamkeit verdienen,<br />

abwenden. Im Gegenteil, wir werden zu gegebener Zeit auf diese Spra<strong>ch</strong>en zurückkommen, sie<br />

werden gesondert behandelt.“ 116 (Kursive Hervorhebungen von AK).<br />

Etwas weiter unten fuhr er wie folgt fort:<br />

vers<strong>ch</strong>iedene Spra<strong>ch</strong>en, ni<strong>ch</strong>t aber Russis<strong>ch</strong> gespro<strong>ch</strong>en. Na<strong>ch</strong> dem Klassis<strong>ch</strong>en Gymnasium in Kutaissi, wo seine besondere<br />

Spra<strong>ch</strong>begabung festgestellt wurde, immatrikulierte si<strong>ch</strong> Marr 1884 an der Fakultät für orientalis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>en an der Sankt<br />

Petersburger Universität und studierte dort Georgis<strong>ch</strong>, Armenis<strong>ch</strong>, Semitistik und kaukasis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>en. 1901 wurde er<br />

<strong>Prof</strong>essor an der Universität Sankt Petersburg, 1911 Dekan der Orientalis<strong>ch</strong>en Fakultät, 1912 ordentli<strong>ch</strong>es Mitglied<br />

der Russis<strong>ch</strong>en Akademie der Wissens<strong>ch</strong>aften. Na<strong>ch</strong> 1917 legte Marr mit seiner Jafetitentheorie eine einzigartige Karriere im<br />

Sowjetstaat hin. Marr lebte in St. Petersburg bis zu seinem Tod (Herzinfarkt) am 20.12.1934.<br />

114<br />

Dazu s. die weiterführenden Literaturangaben auf http://de.wikipedia.org/wiki/Nikolai_Jakowlewits<strong>ch</strong>_Marr, insbesondere<br />

N.Ja. Marr: Izbrannye trudy. Moskau-Leningrad 1936, Teil II; I.I. Meščaninov: Vvedenie v jafetidologiju. Leningrad 1929;<br />

T. Borbé: Kritik der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>theorie N. Ja. Marr's. Kronberg/Ts. 1974; V.M. Alpatov: Istorija odnogo mifa:<br />

Marr i marrizm. Moskva 2004.<br />

115<br />

Gemäss: Marr: Po ėtapam razvitija jafetičeskoj teorii. Moskau 1926. S. 62.<br />

116<br />

Zitiert na<strong>ch</strong> der dt. Übersetzung von T. Borbé 1974, S. 87f.


35<br />

„Es ist klar, dass die künftige Einheitsweltspra<strong>ch</strong>e eine Spra<strong>ch</strong>e eines neuen Systems sein wird,<br />

eines besonderen, das bisher ni<strong>ch</strong>t existiert hat, so wie die künftige Wirts<strong>ch</strong>aft mit ihrer Te<strong>ch</strong>nik, die<br />

künftige klassenlose Gesells<strong>ch</strong>aft und die künftige klassenlose Kultur. Eine sol<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e kann natürli<strong>ch</strong><br />

keine der verbreitetsten lebenden Spra<strong>ch</strong>en der Welt sein, die unweigerli<strong>ch</strong> eine bürgerli<strong>ch</strong>e<br />

Kulturspra<strong>ch</strong>e und eine bürgerli<strong>ch</strong>e Klassenspra<strong>ch</strong>e sein muss, wie au<strong>ch</strong> keine der toten Spra<strong>ch</strong>en zur<br />

internationalen Spra<strong>ch</strong>e der neuen Welt vor der Oktoberrevolution werden konnte, und wie au<strong>ch</strong> in<br />

jener vergangenen Welt keine von ihnen als internationale Spra<strong>ch</strong>e auf Massenbasis hervortrat.“ 117<br />

(Kursive Hervorhebung von AK).<br />

Na<strong>ch</strong> Marrs Auffassung existierten in der Welt keine natürli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en, denn alle Spra<strong>ch</strong>en<br />

seien künstli<strong>ch</strong> und von der Mens<strong>ch</strong>heit unter bestimmten stadialen Entwicklungen und gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Bedingungen mit dem Aufkommen neuer sozialer Formen und neuem Denken ges<strong>ch</strong>affen,<br />

und sie würden ni<strong>ch</strong>t aufhören, ihrer Herkunft na<strong>ch</strong> künstli<strong>ch</strong> zu sein. <strong>An</strong>gesi<strong>ch</strong>ts dieser Lage<br />

könne die Jafetitologie die künftige Spra<strong>ch</strong>e der Mens<strong>ch</strong>heit nur als künstli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>affene Spra<strong>ch</strong>e<br />

betra<strong>ch</strong>ten. Bei dieser Arbeit an der Ausprägung einer künftigen Einheits-Weltspra<strong>ch</strong>e könne keine<br />

einzige nationale Spra<strong>ch</strong>e, keine Stammesspra<strong>ch</strong>e übergangen werden. Denno<strong>ch</strong> werden in der Zukunft,<br />

na<strong>ch</strong> dem Sieg der Diktatur des Proletariats auf der ganzen Welt, wenn sozusagen alle nationalen<br />

und mit ihnen die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>iede vers<strong>ch</strong>winden sollen, da alle Spra<strong>ch</strong>en in eine Einheitsweltspra<strong>ch</strong>e<br />

neuer Struktur vers<strong>ch</strong>molzen sind, diese nationalen und spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>iede<br />

no<strong>ch</strong> während einer ziemli<strong>ch</strong> langen Zeit erhalten bleiben, so wie au<strong>ch</strong> die Struktur jeder Spra<strong>ch</strong>e kraft<br />

der Kontinuität der Kultur im Grunde die vormalige bleibt. 118 Man stellt fest, dass Marrs Meinung zur<br />

Weltspra<strong>ch</strong>enfrage mit derjenigen Maksim Gor’kijs übereinstimmte (was etwa die Künstli<strong>ch</strong>keit betrifft),<br />

jedo<strong>ch</strong> denjenigen Malinovskij-Bogdanovs und Krupskajas widerspra<strong>ch</strong> (die für diesen Zweck<br />

eine natürli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e vorzogen). Denno<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ien Marr – wie ni<strong>ch</strong>t unerwartet bei eigensinnigen<br />

akademis<strong>ch</strong>en Theoretikern – im Grunde eine eigene Vision von der künftigen Welteinheitsspra<strong>ch</strong>e<br />

gehabt zu haben.<br />

Im Rahmen des Jafetitis<strong>ch</strong>en Instituts wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, die mit der Aufgabe<br />

betraut wurde, „theoretis<strong>ch</strong>e Normen für die künftige allgemeinmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e“ zu erstellen. 119<br />

Ė.K. Drezen – um diese Zeit arbeitete er als Direktor des Polyte<strong>ch</strong>nikums und Instituts für<br />

Kommunikation – gelang es, für sein Bu<strong>ch</strong> ‚Za vseobščim jazykom. Tri veka iskanij‘, das 1928<br />

ers<strong>ch</strong>ien 120 und die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> abhandelte, ein von Marr verfasstes Vorwort zu<br />

erhalten. Dieser Text war insofern von Bedeutung, als er wiederum Marrs <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten zur künftigen<br />

Einheitsspra<strong>ch</strong>e zum Ausdruck bra<strong>ch</strong>te. Darin offenbarte der Erfinder der jafetitis<strong>ch</strong>en Theorie ni<strong>ch</strong>t<br />

nur persönli<strong>ch</strong> seine skeptis<strong>ch</strong>e Haltung gegenüber der Indogermanistik, wie es si<strong>ch</strong> für einen<br />

marxistis<strong>ch</strong>en Linguisten ziemte, sondern benutzte au<strong>ch</strong> die Gelegenheit, für seine neue Lehre zu<br />

werben und seine volle Sympathie für künstli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>en neuen Typs zu demonstrieren, die von der<br />

indogermanis<strong>ch</strong>en (bzw. Indoeuropäis<strong>ch</strong>en) Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft abgelehnt wurden (insbes. von<br />

Brugmann/Leskien). Die Spra<strong>ch</strong>en seien alle künstli<strong>ch</strong>, von der Mens<strong>ch</strong>heit ges<strong>ch</strong>affen, „und au<strong>ch</strong><br />

damit, dass sie als etwas Ges<strong>ch</strong>affenes wie eine Gabe der Natur, die gewissermassen im Kindesalter<br />

mit der Muttermil<strong>ch</strong> eingesogen wird, von Generation zu Generation weiter vererbt werden, hören sie<br />

ni<strong>ch</strong>t auf, künstli<strong>ch</strong> zu sein,“ s<strong>ch</strong>rieb Marr in seinem Vorwort. Die künftige Einheitsspra<strong>ch</strong>e könne<br />

also keine der verbreitetsten lebenden Spra<strong>ch</strong>en der Welt sein, da sie unausbleibli<strong>ch</strong> der bürgerli<strong>ch</strong>en<br />

Kultur dienten und bürgerli<strong>ch</strong> klassengebunden seien, führte er weiter aus. Für die jafetitis<strong>ch</strong>e Theorie<br />

könne die künftige Spra<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>ts anderes sein als eine künstli<strong>ch</strong> zu s<strong>ch</strong>affende Spra<strong>ch</strong>e. Marr s<strong>ch</strong>rieb,<br />

dass die indoeuropäis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft, die si<strong>ch</strong> auf eine natürli<strong>ch</strong>-historis<strong>ch</strong>e und auf jeden Fall<br />

117<br />

Ebd. S. 89.<br />

118<br />

Marr: K voprosu ob istoričeskom processe. 1930. S. 25.<br />

119<br />

V.M. Alpatov: Marr, marrizm i stalinizm. In: Filozofskie issledovanija 4/1993, S. 271-288 (gemäss L.G. Bašindžagjan:<br />

Institut jazyka i myšlenija imeni I.Ja. Marra. In: Vestnik AN SSSR 10-11/1937, S. 258). (Online: http://www.ihst.ru/projects/<br />

sohist/papers/alp93sp.htm).<br />

120<br />

Neuauflage 2004 (http://katalogo.uea.org/katalogo.php?inf=3757). Ob dieses Bu<strong>ch</strong> die „beste Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>“<br />

ist, wie im Katalog vermerkt wird, bleibe dahingestellt).


36<br />

naturgegebene Entstehung und Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e berufe, jeden Versu<strong>ch</strong> habe ablehnen müssen,<br />

die Mens<strong>ch</strong>heit dur<strong>ch</strong> eine einheitli<strong>ch</strong>e – no<strong>ch</strong> dazu künstli<strong>ch</strong>e – Spra<strong>ch</strong>e verbinden zu wollen. Ihr<br />

sei dies als Utopie ers<strong>ch</strong>ienen, zumal die indoeuropäis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft von der Lehre ausging,<br />

dass es eine einheitli<strong>ch</strong>e Urspra<strong>ch</strong>e gegeben hat. Die internationalen, lebenden und traditionellen toten<br />

Spra<strong>ch</strong>en seien bisher alle als elitäre klassengebundene Spra<strong>ch</strong>en in Ers<strong>ch</strong>einung getreten. Die neuen<br />

Spra<strong>ch</strong>en, die als gesamtnationales Allgemeingut vor allem in der UdSSR entstünden, würden auf<br />

neuen Wegen ges<strong>ch</strong>affen, nämli<strong>ch</strong> auf denen der sowjetis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft, und vor allem die unteren<br />

Volkss<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, d.h. die Bauern und die breiten Massen, seien von ihnen abgedeckt. Ni<strong>ch</strong>t von einer<br />

Utopie sollte man bei dieser neuen Spra<strong>ch</strong>e spre<strong>ch</strong>en, au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t von einem handwerkli<strong>ch</strong>selbstgebastelten<br />

Produkt na<strong>ch</strong> dem Ges<strong>ch</strong>mack und zur Unterstützung des europäis<strong>ch</strong>en Imperialismus,<br />

sondern als Spra<strong>ch</strong>e im Weltmassstab, die ni<strong>ch</strong>t allein die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gewohnheiten und Interessen<br />

dünner Obers<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, sondern die der werktätigen Massen aller Länder erfasst. Dem Esperanto<br />

(und au<strong>ch</strong> dem Ido) attestierte Marr, international erfolgrei<strong>ch</strong> zu sein und wies die „wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />

Haltlosigkeit der Voreingenommenheit“ der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler gegenüber der Frage der Internationalen<br />

Spra<strong>ch</strong>e zurück.<br />

Marrs Plädoyer für die Künstli<strong>ch</strong>keit der künftigen Weltspra<strong>ch</strong>e und die Ablehnung der Mögli<strong>ch</strong>keit,<br />

dass irgendeine natürli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e die Rolle der Einheitsspra<strong>ch</strong>e in der klassenlosen Gesells<strong>ch</strong>aft<br />

der Zukunft spielen sollte, verführte einen Teil der Esperantisten zu der (wohl irrigen) Meinung,<br />

in Marr einen Verbündeten der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> und des Esperanto zu sehen. Einige von ihnen s<strong>ch</strong>ienen<br />

übersehen zu haben, dass für Marr im Vorwort zu Drezens Bu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Esperanto oder Ido als Einheitsspra<strong>ch</strong>e<br />

der Zukunft in Frage kam, sondern dass vielmehr davon die Rede war, dass die künftige Einheitsspra<strong>ch</strong>e<br />

no<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>miedet werden müsse, und zwar in Form des Übergangs von vers<strong>ch</strong>iedenen<br />

Einzelspra<strong>ch</strong>en zu einer Einheitsspra<strong>ch</strong>e.<br />

Im Übrigen vertrat Marr, der si<strong>ch</strong> vor 1917 kaum für den Marxismus interessierte, die <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t,<br />

dass au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Sieg der Diktatur des Proletariats auf der ganzen Welt, wenn sozusagen alle nationalen<br />

und mit ihnen die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>iede vers<strong>ch</strong>wunden und wenn alle Spra<strong>ch</strong>en in eine<br />

Einheitsweltspra<strong>ch</strong>e neuer Struktur vers<strong>ch</strong>molzen sein werden, die nationalen und spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>iede<br />

no<strong>ch</strong> während einer ziemli<strong>ch</strong> langen Zeitspanne erhalten bleiben, so wie au<strong>ch</strong> die Struktur<br />

jeder Spra<strong>ch</strong>e kraft der Kontinuität der Kultur im Grunde die vormalige bleibt. 121<br />

Als Marr si<strong>ch</strong> immer stärker der Kommunistis<strong>ch</strong>en Partei (spri<strong>ch</strong> Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin persönli<strong>ch</strong>)<br />

verpfli<strong>ch</strong>tet zu fühlen begann und hohe Parteiämter annahm, distanzierte er si<strong>ch</strong> zunehmend<br />

von seinen früheren <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten. So soll Marr au<strong>ch</strong> zum ents<strong>ch</strong>iedenen Gegner des Esperanto entwickelt<br />

haben. 1933 s<strong>ch</strong>rieb er, dass „Esperanto ohne die notwendige Berücksi<strong>ch</strong>tigung des revolutionären<br />

und Übergangs<strong>ch</strong>arakters der Spra<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>affen worden“ sei. Von einem Surrogat war die Rede. 122<br />

Diese Feinds<strong>ch</strong>aft war wohl mit zwei neuen Entwicklungen verbunden: Mit der Kritik einiger Esperantisten<br />

am Marrismus und mit dem Aufkommen der rebellis<strong>ch</strong>-radikalen ‚Jazykovednyj front’, in<br />

der Drezen Mitglied war.<br />

4.1. Propaganda und Kritik des Marrismus dur<strong>ch</strong> die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten und<br />

Interlinguisten<br />

Die Loyalitätsbekundung in Bezug auf die jafetitis<strong>ch</strong>e Lehre Marrs und das Bedürfnis für deren propagandistis<strong>ch</strong>e<br />

Wiedergabe kannte bei den Esperantisten keine Grenzen. Dazu diente eine eigens von<br />

der Spra<strong>ch</strong>kommission der SĖSR veröffentli<strong>ch</strong>ten Bros<strong>ch</strong>üre in russis<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>e, die die wi<strong>ch</strong>tigsten<br />

121<br />

Marr: K voprosu ob istoričeskom precesse. 1930. S. 25.<br />

122<br />

S. W. Solzba<strong>ch</strong>er: Ĉarlatana lingvoscienco. Marr-Drezen-Stalin-Čikobava-Lapenna. In: American Esperanto-Magazine.<br />

Nov.-Dez. 1957, S. 152 (gemäss J. Ku<strong>ch</strong>era: Linguistic Policy of the Soviet Union, Dissertation der Harvard-Universität<br />

1950, S. 240).


37<br />

Theoreme der bizarren jafetitis<strong>ch</strong>en Doktrin in populärwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Form festhielt. 123 Als Verfasser<br />

des Textes zei<strong>ch</strong>nete ein gewisser <strong>An</strong>drej P. <strong>An</strong>dreev (1864-?). 124 Dieser hatte Esperanto im<br />

Jahr 1910 gelernt und befasste si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem bols<strong>ch</strong>ewistis<strong>ch</strong>en Umsturz vor allem mit linguistis<strong>ch</strong>en<br />

Themen. Wohl kein anderer Kreis von Personen sei an der Verbreitung der von Marr formulierten<br />

materialistis<strong>ch</strong>en Ideen über die Spra<strong>ch</strong>e mehr interessiert als die Esperantisten, die Vertreter der der<br />

„bourgeoisen s<strong>ch</strong>olastis<strong>ch</strong>en Linguistik so sehr verhassten ‚künstli<strong>ch</strong>en‘ internationalen Spra<strong>ch</strong>e“, 125<br />

hiess es im Vorwort grossspurig. Daher habe die SĖSR die Aufgabe übernommen, die Ideen Marrs zu<br />

popularisieren. Das Hauptziel dieser Arbeit und der SĖSR sei die Verneinung der indoeuropäis<strong>ch</strong>en<br />

S<strong>ch</strong>olastik und die <strong>An</strong>erkennung der Mögli<strong>ch</strong>keit der bewussten Einmis<strong>ch</strong>ung des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />

Verstandes auf dem Gebiet der Spra<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>öpfung. Die S<strong>ch</strong>lüssigkeit der Logik der jafetitis<strong>ch</strong>en<br />

Theorie war für <strong>An</strong>dreev klar: Aus der Ablehnung der Lehre der Indogermanisten vom Ursprung der<br />

Lautspra<strong>ch</strong>e, die <strong>An</strong>dreev als eine einzige Phantasie bezei<strong>ch</strong>nete, ergab si<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>lussfolgerung,<br />

dass im Rahmen der jafetitis<strong>ch</strong>en Lehre die künftige Welteinheitsspra<strong>ch</strong>e eine Spra<strong>ch</strong>e neuen Typs<br />

sein würde, wobei die Spra<strong>ch</strong>e Esperanto an oberster Stelle der in Frage kommenden internationalen<br />

Kunstspra<strong>ch</strong>en besonderes Interesse erhalte. Den Marrismus für die Linguistik vergli<strong>ch</strong> <strong>An</strong>dreev mit<br />

dem Marxismus für die Philosophie und Soziologie. Die Spra<strong>ch</strong>enfrage gehöre zu den ersten<br />

Werkzeugen beim Aufbau des Sozialismus und des Kommunismus. Am Ende seines pathetis<strong>ch</strong>en<br />

S<strong>ch</strong>lussworts wies <strong>An</strong>dreev no<strong>ch</strong> auf Drezens Bu<strong>ch</strong> ‚Za vseobščim jazykom. Tri veka iskanij.‘ hin, das<br />

von Marr so gelobt worden war, und der Kreis hatte si<strong>ch</strong> für <strong>An</strong>dreev ges<strong>ch</strong>lossen. Am Ende des<br />

Prozesses der „stadialen Entwicklung der natürli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en“ stünde die Welteinheitsspra<strong>ch</strong>e, und<br />

am Ende der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> stünde die Spra<strong>ch</strong>e Esperanto, gab er seine naive<br />

Überzeugung zum Ausdruck.<br />

Im hartnäckigen Bemühen der Kommunisten und ‚marxistis<strong>ch</strong>en Sowjetesperantisten‘ um eine<br />

Re<strong>ch</strong>tfertigung der Verunglimpfung und Verneinung der alten „bürgerli<strong>ch</strong>en“ Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft, die<br />

man auf plumpe ideologis<strong>ch</strong>e Art und Weise als Lehre „toter Bu<strong>ch</strong>staben“ und „toter Phrasen“ sowie<br />

als Wissens<strong>ch</strong>aft der „konkurrierenden kapitalistis<strong>ch</strong>en Staaten“ denunzierte und diskreditierte, die<br />

den Völkern das Englis<strong>ch</strong>e, Französi<strong>ch</strong>e und Deuts<strong>ch</strong>e als internationale Spra<strong>ch</strong>en aufzwingen<br />

wollten, leisteten au<strong>ch</strong> die Ausführungen Adam Iodkos (1893-1938) zum Thema „Esperanto vor dem<br />

Urteil der Wissens<strong>ch</strong>aft“ keine s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten Dienste. Ein entspre<strong>ch</strong>ender Artikel dazu wurde 1926 in<br />

Drezens Publikation ‚Na putja<strong>ch</strong> k meždunarodnomu jazyku‘ abgedruckt, die im Verlag<br />

‚Gosudarstvennnoe Izdatel’stvo‘ ers<strong>ch</strong>ien und s<strong>ch</strong>on dadur<strong>ch</strong> eine gewisse Relevanz für die Debatte<br />

erhalten sollte, bei der si<strong>ch</strong> die Sowjetesperantisten ereiferten, eine plausible ‚interlinguistis<strong>ch</strong>e‘<br />

Theorie für den Sozialismus zu formulieren. Die proletaris<strong>ch</strong>e Revolution in Russland habe „dem<br />

Imperialismus einen starken S<strong>ch</strong>lag“ versetzt, wurde behauptet, und seine Illusion endgültig<br />

zers<strong>ch</strong>lagen, dass eine seiner Nationalspra<strong>ch</strong>en internationale Spra<strong>ch</strong>e werden könnte. Ni<strong>ch</strong>t die<br />

„imperialistis<strong>ch</strong>e bürgerli<strong>ch</strong>e Wissens<strong>ch</strong>aft“ werde die Frage der internationalen Spra<strong>ch</strong>e ents<strong>ch</strong>eiden,<br />

sondern allein dur<strong>ch</strong> die proletaris<strong>ch</strong>e Revolution, die von der „marxistis<strong>ch</strong>en Soziologie“ unterstützt<br />

werde, werde es mögli<strong>ch</strong> werden, das Projekt der Einführung einer internationalen Kunstspra<strong>ch</strong>e zu<br />

verwirkli<strong>ch</strong>en. Veränderungen in der Spra<strong>ch</strong>e, die den Veränderungen der wirts<strong>ch</strong>afli<strong>ch</strong>en<br />

123<br />

S. A.P. <strong>An</strong>dreev: Revolucija jazykoznanija. Jafetičeskaja teorija akademika N.Ja. Marra. C.K. SĖSR. Moskau 1929. 40 S.<br />

(online: http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/ANDREEV29/<strong>An</strong>dreev29.html). Bereits in Meždunarodnyj jazyk 1/1929 ers<strong>ch</strong>ien<br />

sein ähnli<strong>ch</strong> lautender Beitrag ‚Meždunarodnyj jazyk i nauka o jazyke’, in dem er die jafetitis<strong>ch</strong>e Theorie in der<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft erklärte (online: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19290101&seite=3&zoom=33).<br />

Sein Beitrag über die „Göttli<strong>ch</strong>e Überwissens<strong>ch</strong>aft“ folgte in der nä<strong>ch</strong>sten Nummer (online: http://anno.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=e2b&datum=19290301&seite=3&zoom=33,<br />

vgl. au<strong>ch</strong> einen weiteren Artikel <strong>An</strong>dreevs unter<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19301001&seite=17&zoom=33).<br />

124<br />

<strong>An</strong>dreev stammte aus Poltava und war <strong>An</strong>gehöriger der Familie eines Forstbeamten. Er arbeitete als Kriegsri<strong>ch</strong>ter im<br />

Kaukasus, in Wars<strong>ch</strong>au und Moskau. (s. Enciklopedio de Esperanto, S. 19f.).<br />

125<br />

Vor allem die Junggrammatiker um August Leskien und Hugo Brugmann hatten die Idee der Planspra<strong>ch</strong>e und das Esperanto<br />

abgelehnt, während ihre S<strong>ch</strong>üler wie Jan Baudouin de Courtenay, aber au<strong>ch</strong> Hugo S<strong>ch</strong>u<strong>ch</strong>ardt, Troubetzkoy, Jušmanov,<br />

Sapir, Pei oder der Bulgare Ivan Šišmanov die Existenzbere<strong>ch</strong>tigung künstli<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong>aus anerkannten. Obwohl<br />

Baudouin de Courtenay die „soziale Tatsa<strong>ch</strong>e“ der Spra<strong>ch</strong>e dur<strong>ch</strong>aus akzeptierte, aber den Kommunismus ablehnte, wurde er<br />

von fanatis<strong>ch</strong>en sowjetkommunistis<strong>ch</strong>en Ideologen als „subjektivistis<strong>ch</strong>er Idealist“, „naiver Materialist“ und „Lakai der<br />

westli<strong>ch</strong>en Linguistik“ verteufelt. Mit seiner linguistis<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>alyse des Esperanto der Jahre 1907-9 hatte Baudouin de Courtenay<br />

das Esperanto als beste Planspra<strong>ch</strong>e gerühmt (einen entspre<strong>ch</strong>enen Artikel s. auf http://www.planspra<strong>ch</strong>en.<strong>ch</strong>).


38<br />

Entwicklung der Gesells<strong>ch</strong>aft hintenna<strong>ch</strong>hinkten, würden somit ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> Evolution, sondern auf<br />

künstli<strong>ch</strong>em, revolutionärem Weg bewerkstelligt. Dies habe die Reform der russis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e<br />

gezeigt, die nur dank der Oktoberrevolution zustande gekommen sei. Ausserdem ma<strong>ch</strong>e es s<strong>ch</strong>on der<br />

aktuelle Stand der Wirts<strong>ch</strong>aftsbeziehungen der Völker der Welt notwendig und dringli<strong>ch</strong>, eine<br />

internationale Spra<strong>ch</strong>e auf revolutionärem Weg einzuführen. 126<br />

Dass Verdienst Iodkos s<strong>ch</strong>ien darin zu bestehen, dass er mit seinen Traktaten wohl den in si<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>lüssigsten Beitrag zur Formulierung einer marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>-kommunistis<strong>ch</strong>en Theorie der<br />

Interlinguistik aus der Si<strong>ch</strong>t des Proletariats vorlegte, die no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>arfsi<strong>ch</strong>tiger, klarer und<br />

verständli<strong>ch</strong>er verfasst waren als diejenigen etwas gar nebulösen Abhandlungen anderer<br />

glei<strong>ch</strong>gesinnter Autoren. So können seine Aufsätze zweiffelos zu den ‚klassis<strong>ch</strong>en‘ Texten desselben<br />

Genres gezählt werden, die den Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Bourgeoisie, Kapitalismus und Ökonomie<br />

auf der einen und dem ‚Spra<strong>ch</strong>enproblem‘ auf der anderen Seite thematisierten, die angebli<strong>ch</strong>e<br />

Ni<strong>ch</strong>tübereinstimmung zwis<strong>ch</strong>en der „Evolution der Spra<strong>ch</strong>e“ und der „Evolution der Ökonomie“<br />

bemerkten und als These zur Diskussion stellten. Ob seine Behauptungen plausibel und ri<strong>ch</strong>tig waren,<br />

steht auf einem anderen Blatt und kann hier ni<strong>ch</strong>t Gegenstand der <strong>An</strong>alyse sein. Der ideologis<strong>ch</strong>e Hass<br />

der sowjetis<strong>ch</strong>en Marxisten und Kommunisten gegenüber der Bourgeoisie, den Kapitalisten und<br />

Westlern, die dur<strong>ch</strong> die Kenntnis vieler Fremdspra<strong>ch</strong>en gegenüber dem ausgebeuteten Proletariat, das<br />

keine Fremdspra<strong>ch</strong>enkenntnisse hat, einen Vorteil habe und gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>, politis<strong>ch</strong> und ökonomis<strong>ch</strong><br />

privilegiert sei, s<strong>ch</strong>ien die Vernunft zu überwiegen. Immerhin hat Iodko, der den Eindruck eines<br />

ziemli<strong>ch</strong> aufri<strong>ch</strong>tigen Mens<strong>ch</strong>en ma<strong>ch</strong>te (und der au<strong>ch</strong> das Judentum Zamenhofs ni<strong>ch</strong>t unters<strong>ch</strong>lug),<br />

mit seinen Ausführungen eine ziemli<strong>ch</strong> moderate und realistis<strong>ch</strong>e Haltung an den Tag gelegt. Na<strong>ch</strong><br />

seiner Meinung hatte die Bourgeoisie, die si<strong>ch</strong> des Englis<strong>ch</strong>en, Französis<strong>ch</strong>en und Deuts<strong>ch</strong>en bediente,<br />

kein Interesse an einer internationalen Spra<strong>ch</strong>e (wie Esperanto); glei<strong>ch</strong>zeitig war er davon überzeugt,<br />

dass die Arbeiterklasse einer sol<strong>ch</strong>en aber dringend bedurfte, um die Ziele des Proletariats zu<br />

verwirkli<strong>ch</strong>en und die internationalen Beziehungen der Werktätigen zu pflegen. Das Studium und die<br />

Kenntnis einer internationalen Spra<strong>ch</strong>e s<strong>ch</strong>liesse die Notwendigkeit des Erlernens von natürli<strong>ch</strong>en<br />

Fremdspra<strong>ch</strong>en aber ganz und gar ni<strong>ch</strong>t aus, unterstri<strong>ch</strong> er. Iodko hatte au<strong>ch</strong> klare Vorstellungen, wie<br />

eine sol<strong>ch</strong>e internationale Planspra<strong>ch</strong>e bes<strong>ch</strong>affen sein sollte, indem er si<strong>ch</strong> auf das Esperanto bezog,<br />

dem er eine mehrseitige Präsentation widmete. 127<br />

Ein anderer, viel radikalerer Gegner des Indogermanismus unter den Esperantisten, Efim F.<br />

Spiridovič (1891-1958), 128 versu<strong>ch</strong>te mit einer längeren Bespre<strong>ch</strong>ung die jafetitis<strong>ch</strong>e Lehre vor allem<br />

in Hinsi<strong>ch</strong>t auf die Frage der künftigen Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e differenziert zu sehen. Als<br />

vehementer Protagonist einer neuen marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft, in der die Frage der künftigen<br />

Einheitsspra<strong>ch</strong>e berücksi<strong>ch</strong>tigt werden soll, s<strong>ch</strong>ob er die S<strong>ch</strong>uld für die Krise und die Stagnation in der<br />

indogermanistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft na<strong>ch</strong> Marrs<strong>ch</strong>er Manier und wie <strong>An</strong>dreev es getan hatte<br />

ebenfalls den „bürgerli<strong>ch</strong>en“ Linguisten zu, denn diese hätten kein Verständnis für die Frage der<br />

internationalen neutralen Planspra<strong>ch</strong>e gezeigt. Die Wissens<strong>ch</strong>aft diene immer nur den Interessen der<br />

126<br />

Online s. http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/IODKO26/1.html und<br />

http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/IODKO26/2.html. Diskutiert wurden in diesem Artikel au<strong>ch</strong> die gegensätzli<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten<br />

„bourgeoiser“ Linguisten wie Jan Baudouin de Courtenay und Roman Brandt, die dem Esperanto wohlgesinnt waren,<br />

einerseits, sowie der Kunstspra<strong>ch</strong>en-Skeptiker <strong>Prof</strong>. Hermann Diels und <strong>Prof</strong>. S. Bulič andererseits. Zamenhof wurde als<br />

„Ausnahme-Genius“ gepriesen, dessen Spra<strong>ch</strong>e „vielmals vollkommener als jede beliebige Nationalspra<strong>ch</strong>e“ sei.<br />

127<br />

S. http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/IODKO23/txt.html und http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/Iodko25.html<br />

128<br />

Efim Feofanovič Spiridovič, geb. 1891, war ein weissrussis<strong>ch</strong>-sowjetis<strong>ch</strong>er Esperantist, Journalist und Lehrer für<br />

politis<strong>ch</strong>e Ökonomie und Wirts<strong>ch</strong>aftsgeographie. Ab 1931 war er wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Mitarbeiter in spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Fors<strong>ch</strong>ungsinstituten Moskaus und Char’kovs. Autor eines Wörterbu<strong>ch</strong>s Russis<strong>ch</strong>-Esperanto (1926 und 1928) und Verfasser<br />

von Artikeln für vers<strong>ch</strong>iedene Esperanto-Zeits<strong>ch</strong>riften, in denen er meist einen harten marxistis<strong>ch</strong>en Standpunkt vertrat und<br />

seine Thesen mit Zitaten von Marx und Engels, Lenins und Bu<strong>ch</strong>arins untermauerte. Na<strong>ch</strong> <strong>An</strong>gaben N. Stepanovs starb<br />

Spiridovič, der viele Jahren im Arbeitslager verbra<strong>ch</strong>te, 1958 in einem sibiris<strong>ch</strong>en Altenheim. Seine Si<strong>ch</strong>t der<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft legte er in dem umfassen Artikel ‚Očerki teorii vspomogatel’nogo meždunarodnogo jazyka‘ dar. Online:<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19300101&seite=24&zoom=33 (1. Teil),<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19300501&seite=33&zoom=33 (2. Teil),<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19301001&seite=27&zoom=33 (3. Teil),<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19301201&seite=19&zoom=33 (4. Teil).


39<br />

von ihr hervorgerufenen Klasse und reflektiere deren Ideologie. Die Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft stelle in<br />

dieser Beziehung keine Ausnahme dar. Charakteristis<strong>ch</strong> für das bourgeoise Denken in der<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft sei der Individualismus und der Fetis<strong>ch</strong>ismus. Der Spra<strong>ch</strong>fetis<strong>ch</strong>ismus, 129 der die<br />

Spra<strong>ch</strong>e als „Ding an si<strong>ch</strong>“ verstehe, dur<strong>ch</strong>dringe die gesamte Lehre der bourgeoisen Klasse über die<br />

Spra<strong>ch</strong>e und überhaupt die gesamte bourgeoise Ideologie. Die Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft und andere<br />

Wissens<strong>ch</strong>aften seien im Europa des 19. Jahrhunderts entstanden, als der Kolonialismus, der<br />

Kapitalismus und der Imperialismus den Kontinent beherrs<strong>ch</strong>ten. Sie hätten der Festigung der<br />

Ideologie der europäis<strong>ch</strong>en Bourgeoisie gedient. Die Theorie des Primats der indoeuropäis<strong>ch</strong>en<br />

Spra<strong>ch</strong>familie, die die europäis<strong>ch</strong>e Rasse als eine höhere ansehe, habe von der jafetitis<strong>ch</strong>en Lehre<br />

Marrs einen kräftigen S<strong>ch</strong>lag erhalten. Als Wissens<strong>ch</strong>aft der herrs<strong>ch</strong>enden Klasse verfolge die<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft somit ganz klar aggressive Ziele. Die Entlarvung des Spra<strong>ch</strong>fetis<strong>ch</strong>ismus und des<br />

Individualismus auf dem Gebiet der Spra<strong>ch</strong>e sei eine der grundlegenden Aufgaben der neuen<br />

marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft. 130<br />

Im zweiten Teil seines Aufsatzes unternahm Spiridovič den kühnen Versu<strong>ch</strong>, einen<br />

Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en der „proletaris<strong>ch</strong>en Revolution in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft“ und der<br />

„Bewegung für die internationale Spra<strong>ch</strong>e“ herzustellen. Marr wurde als derjenige Genius dargestellt,<br />

der mit seiner jafetitis<strong>ch</strong>en Lehre erstmals die Ri<strong>ch</strong>tung der „nationalen Befreiung“, den Kampf der<br />

Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung der unterdrückten Völker in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft zu Grunde gelegt habe. Die<br />

Errungens<strong>ch</strong>aften der jafetitis<strong>ch</strong>en Lehre und der paleontologis<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ungen seien grossartig und<br />

Marr sei es gelungen, die „Grossma<strong>ch</strong>tstheorien“ der bourgeoisen Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft zu zers<strong>ch</strong>lagen.<br />

Trotz seiner anfängli<strong>ch</strong>en prinzipiellen <strong>An</strong>erkennung der Lehre Marrs zweifelte Spiridovič<br />

denno<strong>ch</strong> an ihrem marxistis<strong>ch</strong>en Charakter. So stellte er si<strong>ch</strong> in seinem Artikel ‚Očerki teorii<br />

vspomogatel’nogo meždunarodnogo jazyka‘ 131 au<strong>ch</strong> die Frage, ob Marr die Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e<br />

und ihre Zukunft denn überhaupt marxistis<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tmässig dargestellt habe. Offenbar war Spiridovič<br />

mit dem Ausmass der Unterstützung der Sa<strong>ch</strong>e der internationalen Hilfsspra<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t ganz zufrieden.<br />

Er warf Marr enthemmt vor, den Weg zur Einheitsspra<strong>ch</strong>e nur in allgemeinen Zügen gezei<strong>ch</strong>net und es<br />

ni<strong>ch</strong>t vermo<strong>ch</strong>t zu haben, die ri<strong>ch</strong>tige Pyramide der Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e zu bauen. Im Idealfall<br />

stehe am <strong>An</strong>fang der Pyramide die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Vielheit der Epo<strong>ch</strong>en der Naturalwirts<strong>ch</strong>aft; es folgten<br />

die Epo<strong>ch</strong>en der nationalen Literaturspra<strong>ch</strong>en und des Taus<strong>ch</strong>handels, weiter oben befinde si<strong>ch</strong> die<br />

internationale Hilfsspra<strong>ch</strong>e (vspomogatel‘nyj meždunarodnyj jazyk), die Spra<strong>ch</strong>e der<br />

Übergangsperiode. Erst die Spitze der Pyramide werde von der Einheitsspra<strong>ch</strong>e (edinyj<br />

obščečelovečskij jazyk) gebildet werden. Spiridovič monierte, dass die Gesetze dieser pyramidalen<br />

Entwicklung von der jafetitis<strong>ch</strong>en Lehre aber kaum wirkli<strong>ch</strong> ausgearbeitet worden seien. Marr sehe die<br />

künftige Entwicklung zu fokussiert alleine in der Kreuzung der Völker und Spra<strong>ch</strong>en. Marr wurde<br />

ferner vorgeworfen, die Absi<strong>ch</strong>ten der Bewegung für die internationale Hilfsspra<strong>ch</strong>e zu übersehen,<br />

Esperanto als ein „Surrogat“ wahrzunehmen und im Galopp direkt zur Einheitsspra<strong>ch</strong>e übergehen zu<br />

wollen. Ferner habe Marr die soziale Bedeutung, das soziale Wesen der internationalen Hilfsspra<strong>ch</strong>e<br />

ni<strong>ch</strong>t verstanden, und in der „Massenhaftigkeit“ der Esperanto-Bewegung habe er deren „kollektive<br />

S<strong>ch</strong>affenskraft“ ni<strong>ch</strong>t bemerkt. Am Ende seiner Ausführungen erteilte Spiridovič der jafetitis<strong>ch</strong>en<br />

Theorie als Grundlage für die neue marxistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft eine Absage. Ausserdem habe<br />

Marxens Paläontologie ihre hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Aufmerksamkeit der Entstehung der Spra<strong>ch</strong>e und weniger<br />

der künftigen Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>enkt. Die Aufgabe der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft<br />

sei es, die Gesetze der Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e zu formulieren, ohne die Erfahrungen der historis<strong>ch</strong>en<br />

Vergangenheit zu verna<strong>ch</strong>lässigen. Bei diesem Prozess seien ni<strong>ch</strong>t zuletzt au<strong>ch</strong> die Erfahrungen der<br />

internationalen Hilfsspra<strong>ch</strong>e zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, die zur Zeit im vollen Gang gema<strong>ch</strong>t würden und<br />

129<br />

Im Marxismus bedeutet Fetis<strong>ch</strong>ismus die Verkehrung eines gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Verhältnisses von Mens<strong>ch</strong>en in ein Verhältnis<br />

von Waren. Marx bezei<strong>ch</strong>nete im ‚Kapital’ (1867) den Warenfetis<strong>ch</strong> als einen bestimmten ideologis<strong>ch</strong>en<br />

Zustand gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Beziehungen im Kapitalismus.<br />

130<br />

S. etwa eine in diesem Sinn von Spiridovič verfasste Rezension (‚Akademik Marr i vsemirnyj jazyk buduščego’) in<br />

Meždunarodnyj jazyk 10/1932.<br />

(online http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19320501&seite=9&zoom=33).<br />

131<br />

Meždunarodnyj jazyk 4-5/1930, S. 189-205.


40<br />

ni<strong>ch</strong>t übersehen werden dürften, so wie die marxistis<strong>ch</strong>e Theorie ni<strong>ch</strong>t von der Praxis abgekoppelt<br />

operieren kann. Darin bestehe das Wesen in der doppelten Revolution der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft,<br />

derjenigen der nationalen Befreiung und derjenigen des Proletariats.<br />

Ins glei<strong>ch</strong>e Horn der junggrammatis<strong>ch</strong>en Kritik stiess au<strong>ch</strong> der damals etwa 25-jährige Esperantist<br />

und Interlinguist Evgenij A. Bokarjov (1904-71). Dieser angehende sowjetis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler<br />

(der den Stalins<strong>ch</strong>en Terror überlebte und in den 50-60er Jahren die Interlinguistik und die<br />

Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion verdienstvoll und unter gewissen Risiken reanimierte 132 )<br />

hatte bereits in der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>presse mit Artikeln über die Internationale Spra<strong>ch</strong>e debütiert. So forderte<br />

er etwa in seinem Beitrag über ‚Die Internationale Spra<strong>ch</strong>e und die Wissens<strong>ch</strong>aft über die Spra<strong>ch</strong>e’,<br />

abgedruckt in Izvestija CK SĖSR, Nr. 5-6/1928, einerseits von der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft mehr<br />

Aufmerksamkeit für die <strong>An</strong>liegen der internationalen Spra<strong>ch</strong>e. <strong>An</strong>dererseits rief er aber au<strong>ch</strong> die Interlinguisten<br />

und Esperantisten auf, der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft mehr Bea<strong>ch</strong>tung zu s<strong>ch</strong>enken. In seinem<br />

neuen Artikel über ‚Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft und Marxismus’, der 1929 in der Zeits<strong>ch</strong>rift Meždunarodnyj<br />

jazyk ers<strong>ch</strong>ien, 133 erklärte Bokarjov die alte junggrammatis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft, die in eine Sackgasse<br />

geraten sei, für tot. Diese nutzlose S<strong>ch</strong>olastik habe die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Wahrnehmung und jegli<strong>ch</strong>en<br />

Zusammenhang mit der Realität und der Wissens<strong>ch</strong>aft selbst verloren. Eigentli<strong>ch</strong> könne man die junggrammatis<strong>ch</strong>e<br />

Linguistik glei<strong>ch</strong> vergessen, denn in der Literatur stosse man kaum no<strong>ch</strong> auf ihre Traditionen.<br />

Die junggrammatis<strong>ch</strong>e Lehre sei nun vielmehr von lebhaften Diskussionen über Fragen der<br />

Philosophie und von der Spra<strong>ch</strong>methodologie ersetzt worden. Im Unters<strong>ch</strong>ied zur alten nehme die<br />

neue, marxistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft si<strong>ch</strong> bei der theoretis<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ung Themen an, die mit gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Bedürfnissen zusammenhängen. Viele Probleme der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft bedürften<br />

einer Lösung, ni<strong>ch</strong>t zuletzt au<strong>ch</strong> die Frage der internationalen Spra<strong>ch</strong>e. Bei aller Werts<strong>ch</strong>ätzung der<br />

Bemühungen Marrs um die Etablierung einer neuen marxistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft setzte Bokarjov<br />

in seinem Beitrag aber au<strong>ch</strong> mutig zur Kritik der jafetitis<strong>ch</strong>en Theorie an, die zwar den Status als eine<br />

Art offizieller sowjetis<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft erhielt, si<strong>ch</strong> früher oder später aber als Pseudowissens<strong>ch</strong>aft<br />

herausgestellt habe. Sie weise zu viele wesentli<strong>ch</strong>e methodologis<strong>ch</strong>e Mängel auf, beargwöhnte<br />

Bokarjov, die für die marxistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft wi<strong>ch</strong>tigsten Abs<strong>ch</strong>nitte würden in den Arbeiten<br />

des Akademie-Mitglieds Marr überhaupt ni<strong>ch</strong>t berührt und in der jafetitis<strong>ch</strong>en Theorie gäbe es keine<br />

strenge Methode der historis<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>alyse, was unabhängige Fors<strong>ch</strong>ung im Geiste der jafetitis<strong>ch</strong>en<br />

Theorie unmögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>e. Ausserdem würden die etymologis<strong>ch</strong>en Konstruktionen Marrs nur mehr<br />

oder weniger s<strong>ch</strong>arfsinnige Vermutungen darstellen und die meisten von ihnen seien sowieso wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong><br />

ungenügend begründet oder gar völlig unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>. Aus diesen Gründen sollte die<br />

marxistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t mit der jafetitis<strong>ch</strong>en Theorie glei<strong>ch</strong>gesetzt werden, befand Bokarjov,<br />

denn die marxistis<strong>ch</strong>e Linguistik könne die Grundsätze der jafetitis<strong>ch</strong>en Theorie nur teilweise<br />

verwenden. Der Aufbau der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft sei eine s<strong>ch</strong>wierige Aufgabe, fuhr Bokarjov<br />

fort, es gäbe sie eigentli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t. Zur Zeit könne man nur in sehr allgemeinen Zügen<br />

die Konturen der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft skizzieren und es sei no<strong>ch</strong> eine grosse Arbeit bei<br />

der Präzisierung der Methodologie zu bewerkstelligen. In der Esperanto-Bewegung sah Bokarjov den<br />

natürli<strong>ch</strong>en Partner der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft. In diesem Sinn rief er die Esperantisten auf,<br />

aktiv an der S<strong>ch</strong>affung der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft mitzuwirken, nur sie sei in der Lage, der<br />

internationalen Spra<strong>ch</strong>e eine dauerhafte theoretis<strong>ch</strong>e Grundlage zu vermitteln.<br />

So spielte si<strong>ch</strong> jeder an der Diskussion beteiligte Autor als der s<strong>ch</strong>einbar wahrere Marxist auf.<br />

Eine Ausahme bestand diesbezügli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> beim nä<strong>ch</strong>sten an dieser Stelle zu präsentierenden Theoretiker<br />

ni<strong>ch</strong>t.<br />

Wenig Begeisterung für die jafetidologis<strong>ch</strong>en Theorien Marrs bekundete au<strong>ch</strong> Jan (Jānis) V.<br />

Loja (1896-1969), wie Drezen ein gebürtiger Lette und Spezialist für allgemeine Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft,<br />

132<br />

No<strong>ch</strong> 1953 rühmte Bokarjov in Voprosy jazykoznanija die Werke Stalins und fiel au<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong> in der Esperanto-Presse als<br />

glühender Sowjetpropagandist auf (s. http://www.planlingvoj.<strong>ch</strong>/Recenzo_BokarevB.pdf).<br />

133<br />

E.A. Bokarjov: Jazykoznanie i marksizm. In: Meždunarodnyj jazyk, 4-5/1929. S. 203-6.<br />

(Volltext s. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19291001&seite=13&zoom=33).


41<br />

engagiert an vers<strong>ch</strong>iedenen pädagogis<strong>ch</strong>en und linguistis<strong>ch</strong>en Instituten in Leningrad, Moskau, Riga,<br />

Gor’kij. Loja verfasste ein grosses russis<strong>ch</strong>-lettis<strong>ch</strong>es Wörterbu<strong>ch</strong>, war in den 1930er Jahren Mitglied<br />

der ‚Jazykovednyj front’, ein Gegner der S<strong>ch</strong>ule Baudouin de Courtenays und glühender <strong>An</strong>hänger der<br />

Lehren Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins. 1934 druckte die Zeits<strong>ch</strong>rift Meždunarodnyj jazyk seinen Artikel über<br />

die ‚Allgemeine Spra<strong>ch</strong>e’ ab 134 und bot ihm damit au<strong>ch</strong> in interlinguistis<strong>ch</strong>en und Esperanto-Kreisen<br />

eine geeignete Plattform, um seine Si<strong>ch</strong>t der Dinge über die Weltspra<strong>ch</strong>e zu äussern. Loja unters<strong>ch</strong>ied<br />

strikt zwis<strong>ch</strong>en einer „allgemeinen Spra<strong>ch</strong>e“ (russ. „obščij jazyk“) und einer „internationalen Spra<strong>ch</strong>e“<br />

(russ. „meždunarodnyj jazyk“), also einer Hilfsspra<strong>ch</strong>e, die der Verständigung zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen<br />

Völkers<strong>ch</strong>aften zweckdienli<strong>ch</strong> sein sollte und in derjenigen Phase zum Einsatz kommt, in der die<br />

nationalen Spra<strong>ch</strong>en no<strong>ch</strong> weiterhin existieren und si<strong>ch</strong> entwickeln. Zu internationalen Spra<strong>ch</strong>en zählte<br />

Loja au<strong>ch</strong> Spra<strong>ch</strong>en eines Vielvölkerstaates, Staatsspra<strong>ch</strong>en eines imperialistis<strong>ch</strong>en (sic) Staates, die<br />

für die Kolonien eine internationale Bedeutung haben (z.B. Englis<strong>ch</strong> und Französis<strong>ch</strong>), Spra<strong>ch</strong>en einer<br />

Kultursphäre wie das Chinesis<strong>ch</strong>e, S<strong>ch</strong>umeris<strong>ch</strong>e, Assyris<strong>ch</strong>e, Sanskrit, Grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e, Arabis<strong>ch</strong>e, Lateinis<strong>ch</strong>e,<br />

Spanis<strong>ch</strong>e, Französis<strong>ch</strong>e, Englis<strong>ch</strong>e - au<strong>ch</strong> das Russis<strong>ch</strong>e seit der Oktoberrevolution von<br />

1917 in der Sowjetunion zählte er zu diesen Spra<strong>ch</strong>en. Die „allgemeine Spra<strong>ch</strong>e“ sah er als Form einer<br />

höheren Stufe der „internationalen Spra<strong>ch</strong>e“ vor. Eine allgemeine Spra<strong>ch</strong>e könne a) entweder dur<strong>ch</strong><br />

die S<strong>ch</strong>affung einer sol<strong>ch</strong>en aufgrund des Sieges im Konkurrenzkampf um eine einzige Spra<strong>ch</strong>e, b)<br />

auf dem Weg der Internationalisierung (d.h. <strong>An</strong>näherung) aller Spra<strong>ch</strong>en oder c) dur<strong>ch</strong> die <strong>An</strong>nahme<br />

einer neutralen Spra<strong>ch</strong>e verwirkli<strong>ch</strong>t werden. Die <strong>An</strong>nahme einer allgemeinen Spra<strong>ch</strong>e dur<strong>ch</strong> ‚natürli<strong>ch</strong>e<br />

Auslese’ sei eine Utopie, denn es würde si<strong>ch</strong> um die Spra<strong>ch</strong>e einer Nation handeln, die als Sieger<br />

aus diesem Kampf hervorgehen würde, dessen Idiom zur allgemeinen Spra<strong>ch</strong>e werden würde. Bei der<br />

zweiten Variante der Verwirkli<strong>ch</strong>ung einer allgemeinen Spra<strong>ch</strong>e müsste aber zuerst der Sieg des Sozialismus<br />

im Weltmassstab na<strong>ch</strong> der Vers<strong>ch</strong>melzung der Spra<strong>ch</strong>en abgewartet werden. Übrig bleibt die<br />

<strong>An</strong>nahme einer neutralen Allgemeinspra<strong>ch</strong>e auf folgende Weise, wobei Loja wiederum drei Fälle unters<strong>ch</strong>ied:<br />

a) Die Frage der allgemeinen Spra<strong>ch</strong>e im Kapitalismus (eine sol<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong> könne nur diejenige<br />

sein, an der keine Nation in stärkerem Masse als andere interessiert sein kann, d.h. keine der existierenden<br />

Spra<strong>ch</strong>en könne im s<strong>ch</strong>arfen kapitalistis<strong>ch</strong>en Konkurrenzkampf als allgemeine Spra<strong>ch</strong>e angenommen<br />

werden 135 ); b) Tote Spra<strong>ch</strong>en (wegen des Fehlens einer modernen Lexik und der s<strong>ch</strong>wierigen<br />

Grammatik sol<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>en kamen sie für Loja kaum in Betra<strong>ch</strong>t), c) Künstli<strong>ch</strong>e Allgemeinspra<strong>ch</strong>en<br />

(am meisten s<strong>ch</strong>wärmte Loja für Esperanto 136 ). Die Frage na<strong>ch</strong> der allgemeinen Spra<strong>ch</strong>e, die<br />

na<strong>ch</strong> der proletaris<strong>ch</strong>en Revolution eingeführt werde, beantwortete Loja im ‚klassis<strong>ch</strong>en’ Sinn Lenins<br />

und Stalins bezügli<strong>ch</strong> der Vers<strong>ch</strong>melzung der Spra<strong>ch</strong>en: Man müsse si<strong>ch</strong> aktiv in den S<strong>ch</strong>öpfungsprozess<br />

einmis<strong>ch</strong>en, wenn es darum gehe, eine allgemeine Spra<strong>ch</strong>e zu s<strong>ch</strong>affen. Vorerst ma<strong>ch</strong>ten die<br />

wa<strong>ch</strong>senden Beziehungen zwis<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>iedenen Berei<strong>ch</strong>en der sozialistis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft die <strong>An</strong>nahme<br />

einer Hilfsspra<strong>ch</strong>e dringend nötig, bis die Spra<strong>ch</strong>en vollständig in eine allgemeine Spra<strong>ch</strong>e<br />

vers<strong>ch</strong>molzen sein würden. Neben der internationalen Hilfsspra<strong>ch</strong>e werde eine Vielzahl von Nationalspra<strong>ch</strong>en<br />

aber no<strong>ch</strong> lange bestehen. Eine internationale Hilfsspra<strong>ch</strong>e zu lernen sei um vieles lei<strong>ch</strong>ter<br />

und weniger zeitaufwendig als einige Fremdspra<strong>ch</strong>en zusammen zu lernen (wie Englis<strong>ch</strong>, Deuts<strong>ch</strong>,<br />

Französis<strong>ch</strong>). Ausserdem könnte man mit einer internationalen Hilfsspra<strong>ch</strong>e, in der si<strong>ch</strong> die ganze<br />

Welt verständigt, einige S<strong>ch</strong>wierigkeiten vermeiden, die sogar im Falle der Kenntnis mehrerer wi<strong>ch</strong>tiger<br />

Spra<strong>ch</strong>en der Welt bestünden. Mit dem Vers<strong>ch</strong>winden der Nationalspra<strong>ch</strong>en und ihrer gegenseitigen<br />

Beeinflussung würde au<strong>ch</strong> das letzte nationale Merkmal und mit ihm würden die Nationen selbst<br />

vers<strong>ch</strong>winden. Es würde dann auf der ganzen Erde eine vereinte Mens<strong>ch</strong>heit geben, die an allen Ecken<br />

und Enden der Welt in einer einheitli<strong>ch</strong>en internationalen Hilfsspra<strong>ch</strong>e spre<strong>ch</strong>en würde. 137 In der letzten<br />

Phase würde die internationale Hilfsspra<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> dann in die allgemeine Einheitsspra<strong>ch</strong>e verwan-<br />

134<br />

Online: http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/Loja34.html.<br />

135<br />

<strong>An</strong> einer anderen Stelle in seinem Artikel hielt Loja explizit fest, dass das Englis<strong>ch</strong>e als allgemeine Spra<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t in Frage<br />

kommen könne, da es die Spra<strong>ch</strong>e zweier der Sowjetunion feindli<strong>ch</strong> gesinnter imperialistis<strong>ch</strong>er Staaten, Englands und der<br />

USA, sei.<br />

136<br />

Das er wegen seiner lei<strong>ch</strong>ten Grammatik, seines internationalen Worts<strong>ch</strong>atzes und seines agglutinierenden Charakters der<br />

Wortbildung ausdrückli<strong>ch</strong> lobte (dies hatte s<strong>ch</strong>on Baudouin de Courtenay getan). Esperanto stehe dem Prozess der <strong>An</strong>näherung<br />

und Vers<strong>ch</strong>melzung der Spra<strong>ch</strong>en überhaupt ni<strong>ch</strong>t im Weg und widerspre<strong>ch</strong>e ihm ni<strong>ch</strong>t.<br />

137<br />

Diese <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t wird von der Esperanto-Bewegung im Grunde bis heute vertreten.


42<br />

deln. Eine sol<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e wäre eine wahre Wohltat für die Mens<strong>ch</strong>heit. 138 Am Ende zitierte Loja einige<br />

Passagen Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins über die S<strong>ch</strong>affung der proletaris<strong>ch</strong>en Kultur 139 und über die Perspektiven<br />

der Vers<strong>ch</strong>melzung der nationalen Kulturen in eine der Form na<strong>ch</strong> sozialistis<strong>ch</strong>en Kultur mit<br />

einer allgemeinen Spra<strong>ch</strong>e. 140<br />

4.2. Die „Jazykovednyj front“ und die Kritik dur<strong>ch</strong> F.P. Filin<br />

In den 1920-30er Jahren waren in der sowjetis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft ausser N. Ja. Marr au<strong>ch</strong> andere<br />

interessante und fru<strong>ch</strong>tbare Linguisten aktiv wie L.V. Ščerba, D.K. Petrov, I.I. Meščaninov (der offizielle<br />

Na<strong>ch</strong>folger Marrs), I.I. Zarubin und F.A. Rozenberg. Hinzu kamen V.V. Struve, V.F. Šišmarev,<br />

M.G. Dolobko, K.D. Dondua, B.V. Ljapunov, D.V. Bubri<strong>ch</strong>, V.V. Vinogradov, D.N. Ušakov, V.M.<br />

Žirmunskij, L.V. Ščerba, B.A. Larin, S.I. Bernštejn, V.I. Černyšёv, N.V. Jušmanov, N.F. Jakovlev,<br />

O.M. Frejdenberg, V.B. Šklovskij, L.S. Berg, V.I. Abaev, M.N. Peterson, E.D. Polivanov, R.O. Šor,<br />

Ja.V. Loja, A.M. Seliščev, V.M. Žirmunskij, L.P. Jakubinskij, V.N. Vološinov, L.A. Bula<strong>ch</strong>ovskij,<br />

L.P. Filin, A.A. Reformatskij, L.I. Žirkov u.a. 141 Au<strong>ch</strong> wenn der/die eine oder andere wie N.Ja. Marr,<br />

N.V. Jušmanov, Ja.V. Loja, L.I. Žirkov 142 und R.O. Šor 143 gewisse Sympathien für das Thema der<br />

internationalen künstli<strong>ch</strong>en Weltspra<strong>ch</strong>e gehabt haben mag, blieb es ein Aussenseiterproblem und<br />

wurde von den sowjetis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftlern, die anderen Interessens<strong>ch</strong>werpunkten na<strong>ch</strong>gingen<br />

oder na<strong>ch</strong>zugehen hatten, im allgemeinen ni<strong>ch</strong>t weiterentwickelt oder zu Ende geda<strong>ch</strong>t.<br />

1930 trat eine Gruppe öffentli<strong>ch</strong> in Ers<strong>ch</strong>einung, die si<strong>ch</strong> dezidiert in Konkurrenz zum Marrismus<br />

aufstellte - die „Jazykovednyj front“ (abgekürzt ‚Jazykfront’). Es handelte si<strong>ch</strong> um eine ad hoc-<br />

Gruppierung von sowjetis<strong>ch</strong>en Linguisten oder linguistis<strong>ch</strong> Interessierten, die die Meinung vertraten,<br />

dass in der theoretis<strong>ch</strong>en und praktis<strong>ch</strong>en Arbeit auf dem Gebiet der Spra<strong>ch</strong>e eine krasse Wende notwendig<br />

sei, um die aktuellen Aufgaben des sozialistis<strong>ch</strong>en Aufbaus zu s<strong>ch</strong>ärfen. Die Haltung kam<br />

glei<strong>ch</strong>zeitig sozusagen einer Kampfansage gegen die herrs<strong>ch</strong>ende Meinung in der westli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft,<br />

d.h. in erster Linie gegen die indo-europäis<strong>ch</strong>e Lehre glei<strong>ch</strong>. Aber au<strong>ch</strong> die jafetitis<strong>ch</strong>e<br />

Lehre, d.h. der Marrismus, wurde von der Kritik der ‚Jazykfront’ ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>ont. Von dem bizarren<br />

ideologis<strong>ch</strong>en Mehrfrontenkrieg, den si<strong>ch</strong> die ‚Jazykfront’ leistete, war au<strong>ch</strong> E.D. Polivanov betroffen,<br />

der zunehmend zwis<strong>ch</strong>en den rivalisierenden akademis<strong>ch</strong>-politis<strong>ch</strong>en Banden zerrieben wurde. 144 Zur<br />

Gruppe gehörten I. Abaev, K. Alaverdov, S. Belevickij, P.S. Kuznecov, M. Gus, G. Danilov, E.<br />

Komšilova, T. Lomtev aus Moskau sowie Ch. Kure und Ja. Loja aus Leningrad. 145 Au<strong>ch</strong> ‚unser’ Ė.K.<br />

138<br />

Diese Vision wird von den heutigen Esperantisten eigentli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t (mehr) vertreten.<br />

139<br />

Aus: Stalin: O političeski<strong>ch</strong> zadača<strong>ch</strong> universiteta narodov Vostoka. In: Voprosy leninizma.<br />

140<br />

Einen Artikel Lojas über die marxistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft s. unter http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/Loja30.html.<br />

141<br />

Mehr über diese Periode s. O. Szemerényi: Ri<strong>ch</strong>tungen der modernen Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft Bd. I: Von Saussure bis Bloomfield<br />

1916-1950; Bd. II: Die fünfziger Jahre 1950-1960. Heidelberg 1971 und 1982; F.M. Berezin: Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Theorien. Leipzig 1980; A.D. Švejcer: Sovremennaja sociolingvistika 1977/1990/2006/2012.<br />

142<br />

Sein Plädoyer für Esperanto ers<strong>ch</strong>ien in Meždunarodnyj jazyk 4/1931<br />

(online: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19310701&seite=16&zoom=33).<br />

143<br />

Einen Beitrag von R. Šor s. unter http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/SHOR31b/txt.html.<br />

144<br />

Au<strong>ch</strong> Polivanov kritisierte den Marrismus. Der Fa<strong>ch</strong>mann für Japanis<strong>ch</strong> wurde im August 1937 verhaftet und wegen<br />

Spionage zugunsten Japans angeklagt Im Januar 1938 wurde er zum Tod verurteilt und in der Kommunarka bei Moskau<br />

ers<strong>ch</strong>ossen und bestattet. Sein Todesurteil hatten Stalin und Molotov persönli<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>rieben<br />

(http://stalin.memo.ru/spiski/pg04139.htm). 1963 wurde er rehabilitiert. (Sein S<strong>ch</strong>icksal erinnert in verblüffender <strong>An</strong>alogie zu<br />

demjenigen Drezens mit seinem Esperanto!)<br />

145<br />

Später s<strong>ch</strong>lossen si<strong>ch</strong> der Gruppe weitere Mitglieder an, so Bragina, Dobrovol’skij, Ivanov, Karpjuk, Maškin und Špakov<br />

(Moskau) sowie Žuravljov, Kohonen, Koškin, Ljutikov, Maksimov, Pegel’man, Sokolov (Leningrad) und Del’skij (Smolensk).<br />

Während bekannte Sowjetlinguisten wie Polivanov (der eine eigene Opposition gegen Marr anführte, aber daran<br />

klägli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>eiterte), Reformatskij und Vinokur dieser „ungemein kriegeris<strong>ch</strong>en“ (Zvegincev) Gruppe ni<strong>ch</strong>t angehörten, waren<br />

offenbar Vološinov, Rozalia Šor (die den Artikel über die Kunstspra<strong>ch</strong>en für die ‚Grosse Sowjetis<strong>ch</strong>e Enzyklopädie’, 1935,<br />

verfasste) und Jakovlev Sympathisanten der ‚Jazykfront’. In Drezens Bu<strong>ch</strong> ‚Na putja<strong>ch</strong> k meždunarodnomu jazyku’ (1926)<br />

konnte die was<strong>ch</strong>e<strong>ch</strong>te Linguistin und Rezensentin Šor an Theoretis<strong>ch</strong>em ni<strong>ch</strong>ts von Interesse finden. S. au<strong>ch</strong>: A.D. Du-


43<br />

Drezen war ein Mitglied der ‚Jazykfront’. Am 15. September trat die Gruppe mit einer „Erklärung“<br />

(russ. obraščenie) hervor, die eine Einleitung enthielt, die die aktuelle Situation in der Wissens<strong>ch</strong>aft als<br />

äussert unglückli<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>rieb. In den S<strong>ch</strong>ulen herrs<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> wie vor die idealistis<strong>ch</strong>e und formalistis<strong>ch</strong>e<br />

Ri<strong>ch</strong>tung, aus der ein prinzipienloser Eklektizismus der indoeuropäis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ule erwa<strong>ch</strong>se. Die<br />

Existenz der Diktatur des Proletariats sei au<strong>ch</strong> für die Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vorüber. In der<br />

Sowjetunion sei zwar eine neue Lehre von der Spra<strong>ch</strong>e auf materialistis<strong>ch</strong>er Grundlage entstanden, die<br />

jafetitis<strong>ch</strong>e Theorie. Diese Lehre stelle aber no<strong>ch</strong> keine „dialektis<strong>ch</strong>-materialistis<strong>ch</strong>e“ Struktur dar,<br />

sondern sei ledigli<strong>ch</strong> der erste S<strong>ch</strong>ritt dazu. Wegen der s<strong>ch</strong>wierigen Lage an der spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Front sehe man si<strong>ch</strong> gezwungen, einen ents<strong>ch</strong>iedenen Kampf gegen den Indo-Europäismus und<br />

gegen jegli<strong>ch</strong>e Art des Eklektizismus zu führen. <strong>An</strong>gekündigt wurde ein umfassender <strong>An</strong>griff gegen<br />

die „me<strong>ch</strong>anistis<strong>ch</strong>en Tendenzen“ in der aktuellen Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft, denn nur eine sol<strong>ch</strong>e Vorgehensweise<br />

gewährleiste den Sieg über den Idealismus und den Formalismus in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft<br />

und lege den Boden für die S<strong>ch</strong>affung einer wahren „dialektis<strong>ch</strong>-materialistis<strong>ch</strong>en“ Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft<br />

unter Einbezug aller bisherigen Errungens<strong>ch</strong>aften der Linguistik. Na<strong>ch</strong> dem XVI. Parteitag von<br />

1930, dem breiten <strong>An</strong>griff auf die kapitalistis<strong>ch</strong>en Elemente und na<strong>ch</strong> der Liquidierung des Kulakentums<br />

auf der Grundlage der dur<strong>ch</strong>gängigen Kollektivierung seien deutli<strong>ch</strong>e marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>e<br />

Ri<strong>ch</strong>tlinien in Fragen der Spra<strong>ch</strong>e, eine krasse Wende und eine Umgestaltung (russ. perestrojka) der<br />

gesamten wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Arbeit in Ri<strong>ch</strong>tung der unmittelbaren aktuellen Fragen des Aufbaus des<br />

Sozialismus gefordert. Diese sei im Sinne der Erklärung des Zentralkomitees der Partei umzusetzen,<br />

das die s<strong>ch</strong>öpferis<strong>ch</strong>e Energie der Arbeiterklasse zur Erfüllung der produktiven Aufgaben mobilisiert.<br />

In ihrer eigenen Erklärung stellten die Mitglieder der ‚Jazykfront’ zehn Aufgabenberei<strong>ch</strong>e vor, die den<br />

folgenden Inhalt hatten:<br />

1. Ausarbeitung der grundlegenden Probleme der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft für die Gesetzmässigkeiten der<br />

Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e in der Epo<strong>ch</strong>e der Diktatur des Proletariats auf den Grundlagen des Marxismus-Leninismus;<br />

2. Einbezug der Arbeit der ‚Jazykfront’ in den Generalplan des Aufbaus der Kultur<br />

zugunsten des systematis<strong>ch</strong>en und organisierten Studiums der spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Rei<strong>ch</strong>tümer der Sowjetunion;<br />

3. Studium der letzten Etappen der Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e; 4. Studium der Spra<strong>ch</strong>e des Proletariats<br />

und der Kol<strong>ch</strong>osbauern; 5. Aktive Unterstützung des breiten Gebrau<strong>ch</strong>s der Spra<strong>ch</strong>e beim<br />

Aufbau des Sozialismus, der Kulturrevolution und bei der Entwicklung der Nationalkulturen; 6. Verstärkung<br />

der führenden Rolle der wahren marxistis<strong>ch</strong>en Theorie und Praxis in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft<br />

im Kampf für die Kultur des s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>en und mündli<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong>s der Spra<strong>ch</strong>e sowie für die Regulierung<br />

der Spra<strong>ch</strong>e; 7. Marxistis<strong>ch</strong>e Kritik der Methodik des Spra<strong>ch</strong>enlernens und Umgestaltung des<br />

Unterri<strong>ch</strong>ts am <strong>An</strong>fang der polyte<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ule der Arbeiter; 8. Ausführung einer Reihe marxistis<strong>ch</strong>er<br />

Fors<strong>ch</strong>ungen auf den Gebieten der Theorie, Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te und Praxis der Spra<strong>ch</strong>e auf der Grundlage<br />

des sozialistis<strong>ch</strong>en Wettbewerbs und des Bestarbeitertums bis zum Ende des Fünfjahresplans; 9.<br />

Enger Zusammens<strong>ch</strong>luss mit den Marxisten, die auf den Gebieten der Philosophie, Ökonomie, Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

und Literaturwissens<strong>ch</strong>aft zusammenarbeiten, und 10. Breite Selbstkritik in den Reihen der<br />

marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler. Der Aufruf wurde namentli<strong>ch</strong> unterzei<strong>ch</strong>net von Abaev, Alaverdov,<br />

Belevickij, Danilov, Drezen, Komšilova und Lomtev und in der Zeits<strong>ch</strong>rift Literatura i iskusstvo<br />

veröffentli<strong>ch</strong>t. 146 Glei<strong>ch</strong>zeitig wurden von Danilov und Lomtev entspre<strong>ch</strong>ende Vorträge und Diskussionen<br />

in der Kommunistis<strong>ch</strong>en Akademie dur<strong>ch</strong>geführt, bei denen die Thesen der „Erklärung“ vorgestellt<br />

und erörtert wurden.<br />

Das Programm der ‚Jazykfront’ mag auf den ersten Blick mit Esperanto und der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>frage<br />

ni<strong>ch</strong>ts gemein gehabt zu haben. Brisant war aber wie oben vermerkt der Umstand, dass ausgere<strong>ch</strong>net<br />

der Esperantist und SĖSR-Chef Ė.K. Drezen ein Mitglied dieser Gruppierung war. 147 Zwar<br />

unterstützte Drezen na<strong>ch</strong> wie vor Marrs Verurteilung der „bürgerli<strong>ch</strong>en“ Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft und deličenko:<br />

Ideja meždunarodnogo iskusstvennogo jazyka v debrja<strong>ch</strong> rannej sovetskoj sociolingvistiki. In: Russ Linguist<br />

34/2010, S. 143-157.<br />

146<br />

Der Text ers<strong>ch</strong>ien au<strong>ch</strong> in Meždunarodnyj jazyk 4-5/1930 (online s.:<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19301001&seite=15&zoom=33).<br />

147<br />

Vgl. den Artikel ‚SĖSR na jazykovednom fronte’ Meždunarodnyj jazyk 9-10/1932, S. 291-4<br />

(online: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19320901&zoom=33).


44<br />

ren These des Klassen<strong>ch</strong>arakters der Spra<strong>ch</strong>e, kritisierte aber glei<strong>ch</strong>zeitig die „Vulgarisierung“ des<br />

Marxismus“, die Marr angebli<strong>ch</strong> betrieb. Die Aktivisten der ‚Jazykfront’ warfen Marr eine Haltung<br />

des Lippenbekenntnisses zur Frage der internationalen Spra<strong>ch</strong>e vor und forderten von ihm statt nebulöse<br />

(<strong>An</strong>-)Sätze mehr konkrete Aufmerksamkeit für die Lösung praktis<strong>ch</strong>er Aufgaben der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft<br />

wie die Rationalisierung der Spra<strong>ch</strong>e im allgemeinen und die Förderung der internationalen<br />

Spra<strong>ch</strong>e im besonderen.<br />

Im April 1932 ers<strong>ch</strong>ien in Meždunarodnyj jazyk ein von der Redaktion als „historis<strong>ch</strong>“<br />

bezei<strong>ch</strong>netes Dokument, das von einer „Brigade des spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Aufbaus“ des CK SĖSR erarbeitet<br />

und vom Plenum des Moskauer Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ungsinstituts für Spra<strong>ch</strong>e, das beim Volkskommissariat<br />

für Bildung (Narkompros), NIJaZ, angesiedelt war, verabs<strong>ch</strong>iedet wurde. 148 Die „Thesen<br />

zur Frage der internationalen Spra<strong>ch</strong>e“ enthielten eine verblüffende Selbstkritik in Bezug auf die<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft im allgemeinen und die <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>frage und das Esperanto im besonderen.<br />

Diese Selbstreinigungsübung in den Reihen der SĖSR s<strong>ch</strong>ien im Zusammenhang mit einer Rüge<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins vom Oktober 1931 an die Adresse von Parteihistorikern notwendig geworden<br />

zu sein, denen er sinnlose Theorienbildung vorwarf, und von der au<strong>ch</strong> die Esperanto-Bewegung ni<strong>ch</strong>t<br />

vers<strong>ch</strong>ont blieb. 149 Obwohl die „Thesen“ das Esperanto ausdrückli<strong>ch</strong> als die am verbreitetste Hilfsspra<strong>ch</strong>e<br />

anerkannten, enthielten sie im Grunde au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>were Bedenken und Vorwürfe gegen die ‚konkrete<br />

Form’ des Esperanto, das die ‚Spra<strong>ch</strong>-Brigade’ 150 und die NIJaZ offenbar für zu wenig revolutionär,<br />

proletaris<strong>ch</strong>, marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong> hielten. Esperanto sei trotz allem ein Gewä<strong>ch</strong>s des „reaktionären<br />

kleinbürgerli<strong>ch</strong>en Pazifismus“, ein Element der „bürgerli<strong>ch</strong>en pan-europäis<strong>ch</strong>en“ und „imperialistis<strong>ch</strong>en<br />

Spra<strong>ch</strong>politik“, die kolonialistis<strong>ch</strong>, kapitalistis<strong>ch</strong> und imperialistis<strong>ch</strong> sei, sowie das Produkt<br />

eines fals<strong>ch</strong>en „Internationalismus“, ein Erbe der bürgerli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft eben. Alle bisherigen<br />

internationalen Hilfsspra<strong>ch</strong>en seien auf der Grundlage der „entwickelten Spra<strong>ch</strong>en der Grossmä<strong>ch</strong>te“<br />

ges<strong>ch</strong>affen worden; ihre allgemeine freiwillige <strong>An</strong>eignung dur<strong>ch</strong> die Völker würde ni<strong>ch</strong>t die<br />

S<strong>ch</strong>affung einer einheitli<strong>ch</strong>en Weltspra<strong>ch</strong>e bedeuten, sondern wäre ledigli<strong>ch</strong> ein „vorausgehender<br />

S<strong>ch</strong>ritt auf dem Weg der <strong>An</strong>eignung dieser Grossma<strong>ch</strong>tsspra<strong>ch</strong>en“ dur<strong>ch</strong> sie. Der kleinbürgerli<strong>ch</strong>e<br />

Charakter des Esperanto drücke si<strong>ch</strong> ausser in den „kleinbürgerli<strong>ch</strong>en Illusionen“ der „blauäugigen<br />

(russ. prekrasnodušnye) Bemühungen“ L.L. Zamenhofs und der kleinbürgerli<strong>ch</strong>en Esperanto-<br />

Propagandisten zugunsten der „Brüderli<strong>ch</strong>keit der Völker und der weltumspannenden Harmonie“ aus<br />

– wie alle kleinbürgerli<strong>ch</strong>en Illusionen seien sie ein Hilfsmittel des Imperialismus 151 – dies drücke si<strong>ch</strong><br />

au<strong>ch</strong> in der Lexik der Esperanto-Spra<strong>ch</strong>e selbst aus, hiess es. 152 Diese Lexik müsse der proletaris<strong>ch</strong>en<br />

Ideologie entspre<strong>ch</strong>end überarbeitet und an die Benutzers<strong>ch</strong>aft angepasst werden, die keine europäis<strong>ch</strong>en<br />

Spra<strong>ch</strong>en spre<strong>ch</strong>en. Die Grammatik des Esperanto müsse „wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> erarbeitet“ werden,<br />

ferner sollte au<strong>ch</strong> die Erfahrung von internationalen Hilfsspra<strong>ch</strong>en, die mit Esperanto konkurrieren,<br />

genutzt werden. Die „me<strong>ch</strong>anistis<strong>ch</strong>e“ und „formalistis<strong>ch</strong>e“ Theorie des Esperanto als eines „Systems<br />

neutraler te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>er Zei<strong>ch</strong>en“ würde den „Überbau<strong>ch</strong>arakter“ des Esperanto „verwis<strong>ch</strong>en“, sei „prinzipienlos“<br />

und entspre<strong>ch</strong>e dem „re<strong>ch</strong>tsopportunistis<strong>ch</strong>en“ Standpunkt. Die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten<br />

seien aber „Kämpfer gegen Me<strong>ch</strong>anismus und Formalismus“ und „Befürworter der Klassendifferenzierung<br />

sowohl ausserhalb als au<strong>ch</strong> innerhalb der UdSSR“. Die Spra<strong>ch</strong>e Esperanto habe „auf der<br />

Grundlage der Prinzipien des Marxismus-Leninismus und des dialektis<strong>ch</strong>en Materialismus“ im Sinne<br />

des „Überbaus und seiner sozioökonomis<strong>ch</strong>en Basis, als Spra<strong>ch</strong>e des Klassenkampfes „kritis<strong>ch</strong> überarbeitet“<br />

zu werden. Ausserdem habe Esperanto als „Hilfsspra<strong>ch</strong>e zwis<strong>ch</strong>en den Völkern, aber ni<strong>ch</strong>t<br />

zwis<strong>ch</strong>en den Klassen“ zu fungieren. Die Positionen Marrs, Spiridovičs und der „engstirnigen“ (russ.<br />

ce<strong>ch</strong>ovoj) Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler, die Esperanto als einzig mögli<strong>ch</strong>e Form einer Weltspra<strong>ch</strong>e hinstellten,<br />

müssten als „reaktionärer kleinbürgerli<strong>ch</strong>er Utopismus“ bezei<strong>ch</strong>net werden. Sol<strong>ch</strong>e Positionen<br />

seien „aggressiv“ und „fehlerhaft“. <strong>An</strong>dererseits stelle Esperanto dur<strong>ch</strong>aus ein „edles, vornehmes<br />

148<br />

Russ. Tezisy o meždunarodnom jazyke in Meždunarodnyj jazyk 10/1932 (online s.:<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19320401&seite=5&zoom=33.<br />

149<br />

Lins, LDL, S. 371f.<br />

150<br />

Bestehend aus A. Lobačëv, M. Paščenko und G. Burljagov. Man darf aber davon ausgehen, dass Drezen hinter der Abfassung<br />

dieses wi<strong>ch</strong>tigen Thesenpapiers stand.<br />

151<br />

<strong>An</strong> dieser Stelle wurde auf den „Sozialfas<strong>ch</strong>ismus“ der SAT erinnert, ohne die Organisation namentli<strong>ch</strong> zu erwähnen.<br />

152<br />

Als Beispiel für diese Behauptung wurde das Esperanto-Wort konkurado für sorevnovanie (Wettbewerb) angeführt.


45<br />

(russ. blagorodnyj) Material“ dar, um diese „ganzen Probleme vertieft zu untersu<strong>ch</strong>en“. Stalins Thesen,<br />

die am XVI. Parteitag für verbindli<strong>ch</strong> erklärt wurden, wurden von der SĖSR-‚Brigade’ bestätigt<br />

und wiederholt. Von einer Verdrängung der Nationalspra<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong> Esperanto könne ni<strong>ch</strong>t die Rede<br />

sein, hiess es ferner, und die <strong>An</strong>näherung der Nationalspra<strong>ch</strong>en mit dem Ziel der S<strong>ch</strong>affung einer Einheits-Weltspra<strong>ch</strong>e<br />

werde unabhängig vom Esperanto erfolgen. In diesem Sinn wurde zur Unterstützung<br />

der bestehenden Nationalspra<strong>ch</strong>en aufgerufen, obwohl man davon überzeugt war, dass keine der<br />

Spra<strong>ch</strong>en, die in den Kolonien verbreitet sind, zur gemeinsamen internationalen Spra<strong>ch</strong>e werden konnte<br />

und werden könne, weil diese Spra<strong>ch</strong>en von der Politik des jeweiligen Staates getragen würden. Im<br />

Vorspann wurden die Thesen als „historis<strong>ch</strong>er“ „riesiger Sieg“ bejubelt, weil erstmals eine offizielle<br />

spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Instanz in der Sowjetunion ihre Haltung zur <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>-Bewegung aus der<br />

Si<strong>ch</strong>t des Marxismus zum Ausdruck gebra<strong>ch</strong>t hatte. 153<br />

Trotz geäusserter Kritik von Seiten der ‚Jazkyfront’ und anderen war vorläufig aber immer<br />

no<strong>ch</strong> N.Ja. Marr der unantastbare Fürst der sowjetis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft und politis<strong>ch</strong> am längeren<br />

Hebel, zumal der Georgier si<strong>ch</strong> selbst als radikaler Kritiker der alten indoeuropäis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft<br />

aufgeplustert hatte und ins allgemeine Konzept der Stalinisten passte. Er und vor allem seine<br />

Theorien, die ihn lange überlebten, genossen die einspru<strong>ch</strong>slose Unterstützung von Staat und Partei<br />

und hielten jegli<strong>ch</strong>en Einwänden bis na<strong>ch</strong> dem 2. Weltkrieg uners<strong>ch</strong>ütterli<strong>ch</strong> Stand. Es war also nur<br />

eine Frage der Zeit, bis die Marristen zur Zers<strong>ch</strong>lagung ihrer Gegner ansetzten, und das taten sie ohne<br />

Gnade und kompromisslos. Zum s<strong>ch</strong>arfen Wortwe<strong>ch</strong>sel zwis<strong>ch</strong>en Esperantisten und Marristen kam es<br />

s<strong>ch</strong>on im Laufe des Jahres 1932. Marr hatte die Tätigkeit der ‚Jazykfront’ dur<strong>ch</strong>aus zur Kenntnis genommen<br />

und reagierte si<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> gereizt auf die kritis<strong>ch</strong>e Haltung einiger Esperantisten gegenüber seiner<br />

sakrosankten Jafetidologie. So sah der gekränkte sowjetis<strong>ch</strong>e Linguistikpapst si<strong>ch</strong> veranlasst, Stellung<br />

zu beziehen. Er warf den Esperantisten vor, dass ihre „Ausfälle“ gegen die jafetidologis<strong>ch</strong>en<br />

Theorien ihr fehlendes Wissen offenbarten, das aber nötig wäre, um seine Theorien zu begreifen und<br />

dass ihr Esperanto „glei<strong>ch</strong>ermassen von der Basis des aktuellen sozialistis<strong>ch</strong>en Aufbaus losgelöst“ sei<br />

wie die Indogermanistik selbst. 154<br />

Entspre<strong>ch</strong>ende Reaktionen auf die Tätigkeit und das Programm der ‚Jazykfront’ blieben ni<strong>ch</strong>t<br />

aus. Bald wurde der Vorwurf an die Gegner Marrs laut, es würden Versu<strong>ch</strong>e unternommen, die<br />

bürgerli<strong>ch</strong>e Linguistik in der Sowjetunion zu restaurieren. Als profiliertester Kritiker seiner Sorte trat<br />

ein gewisser Fedot P. Filin (1908-82) auf, ein ausgebildeter Linguist und äusserst anpassungsfähiger<br />

ideologis<strong>ch</strong>er Hardliner mit Karriereambitionen, der sein Studium 1931 an der MGU abges<strong>ch</strong>lossen<br />

hatte. 155 Damals erst 24-jährig und überzeugter <strong>An</strong>hänger der „Neuen Lehre“ Marrs, setzte der ho<strong>ch</strong>talentierte<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler in seinem S<strong>ch</strong>riftsatz „‚Der Kampf um eine marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>e<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft und die Gruppe ´Jazykfront´“, der 1932 im Sammelband „Protiv buržuaznoj kontrabandy<br />

v jazykoznanii“ (Gegen den bürgerli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>muggel in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft) ers<strong>ch</strong>ien, mit<br />

einem Rundums<strong>ch</strong>lag gegen all jene Kollegen an, die si<strong>ch</strong> gegenüber dem Marrismus skeptis<strong>ch</strong> verhielten<br />

und innerhalb der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft eine eigene Fraktion bildeten. Dies traf<br />

wohl ni<strong>ch</strong>t unerwartet au<strong>ch</strong> auf die Mitglieder der ‚Jazykfront’, die im Marrismus-Streit zu ho<strong>ch</strong> gepokert<br />

hatten, auf ideale Weise zu. Filin warf „dem Klassenfeind“ unter den Wissens<strong>ch</strong>aftlern vor, den<br />

Forts<strong>ch</strong>ritt der Wissens<strong>ch</strong>aften mit allen Mitteln und mit „muffigem, haltlosem ‚Akademismus‘“ zu<br />

hemmen und si<strong>ch</strong> in sie „getarnt einzus<strong>ch</strong>muggeln“. Vergli<strong>ch</strong>en mit anderen Gesells<strong>ch</strong>aftswissens<strong>ch</strong>aften<br />

wie der Philosophie, der Politökonomie und der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te sei die Linguistik in jeder Hinsi<strong>ch</strong>t<br />

sehr zurückgeblieben. Die Ursa<strong>ch</strong>e für den beispiellosen Rückstand der Linguistik sah Filin im<br />

Verglei<strong>ch</strong> zu den führenden Gesells<strong>ch</strong>aftswissens<strong>ch</strong>aften vor allem darin, dass hier, wie nirgends<br />

sonst, alte, bürgerli<strong>ch</strong>e und sogar vorbürgerli<strong>ch</strong>e Traditionen wirksam wären. Die Grundkader der<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler seien bisher „kaum bols<strong>ch</strong>ewisiert“. Gruppierungen wie die ‚Jazykfront’ seien<br />

typis<strong>ch</strong> dafür, dass Personen wie Vološinov, Šor, Jakovlev, Loja als maskierte Indogermanisten aufträten.<br />

Sol<strong>ch</strong>e Entwicklungen seien besonders gefährli<strong>ch</strong> und müssten bekämpft werden, denn sie würden<br />

153<br />

Online s. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19320401&seite=3&zoom=33.<br />

154<br />

Online s. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19330501&seite=29&zoom=33.<br />

155<br />

Biographis<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>gaben zu Filin s. http://ru.wikipedia.org/wiki/Филин,_Федот_Петрович.


46<br />

die „Konterbande der bürgerli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft eins<strong>ch</strong>muggeln und einges<strong>ch</strong>muggeltes indogermanistis<strong>ch</strong>es<br />

‚Gut’ maskieren“. Hinter all dem Glanz der ‚revolutionären‘ Phrasen werde also das<br />

„reaktionäre Gesi<strong>ch</strong>t einer verbrämten Indogermanistik si<strong>ch</strong>tbar“. Ausserdem seien Gruppierungen<br />

wie die ‚Jazykfront’ „weit davon entfernt“, befähigt zu sein, ihre Resolutionen in die Praxis umzusetzen,<br />

um tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> eine marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft aufzubauen. Ihre Deklarationen,<br />

ihre Thematik usw. dienten eigentli<strong>ch</strong> nur dazu, „reaktionäre indogermanis<strong>ch</strong>e ‚Ideen‘ zu vers<strong>ch</strong>leiern“.<br />

Zwis<strong>ch</strong>en den Taten und den verbalen Beteuerungen der ‚Jazykfront’ läge eine tiefe Kluft. <strong>An</strong>gegriffen<br />

wurde au<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>ule Baudouin de Courtenays. Die ‚Jazykfront’-Leute hätten si<strong>ch</strong> um keinen<br />

Deut von den Indogermanisten und insbesondere vom „Baudouinianertum“ entfernt, dessen methodologis<strong>ch</strong>es<br />

Wesen im subjektiven Idealismus steckengeblieben sei. Die Bewertung linguistis<strong>ch</strong>er<br />

Fakten dur<strong>ch</strong> die ‚Jazykfront’-Leute sei auss<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> „subjektiv-idealistis<strong>ch</strong>“. Danilov wurden<br />

„klassenfeindli<strong>ch</strong>e“ „subjektiv-idealistis<strong>ch</strong>e Phantasmagorien“ unterstellt, Loja wurde als Zyniker<br />

bezei<strong>ch</strong>net. Sein Problem bestand gemäss Filin darin, in seinen Äusserungen den russis<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>hängern<br />

der ‚junggrammatis<strong>ch</strong>en’ S<strong>ch</strong>ule (besonders A.I. Thomson) nahezustehen. Bei der Behandlung<br />

der Spra<strong>ch</strong>e als sozialer Ers<strong>ch</strong>einung verweise er s<strong>ch</strong>amlos auf die ‚Soziologisten’ Meillet und F. de<br />

Saussure. In der ‚Jazykfront’ vermis<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> „auf sonderbare Weise ein vulgärer Me<strong>ch</strong>anismus mit der<br />

subjektiv-idealistis<strong>ch</strong>en Auffassung von Spra<strong>ch</strong>e“. Der ‚Jazykfront’-„Mann“ M. Gus s<strong>ch</strong>leppe sogar<br />

„ganz zynis<strong>ch</strong>“ die „Konterbande des Trockismus und die Prinzipien der bürgerli<strong>ch</strong>en Zeitungswissens<strong>ch</strong>aft<br />

ein“ und „verleumde somit die Arbeiterklasse und die Partei“. Na<strong>ch</strong>dem Filin si<strong>ch</strong> ausgiebig<br />

mit den S<strong>ch</strong>riften Danilovs, Alaverdovs und Lojas befasst hatte und ihnen „gröbste me<strong>ch</strong>anistis<strong>ch</strong>e<br />

Fehler“, die „Kanonisierung der bürgerli<strong>ch</strong>en Ideologie in der proletaris<strong>ch</strong>en Kultur“, „verleumderis<strong>ch</strong>e<br />

Verzerrung des Marxismus-Leninismus“, Verleumdung Lenins selbst, den „k/r Versu<strong>ch</strong>, die<br />

Klassiker des Marxismus-Leninismus in eine Reihe mit den Bürgerli<strong>ch</strong>en zu stellen“, unterstellt hatte<br />

und sie ausserdem des „Grossma<strong>ch</strong>t<strong>ch</strong>auvinismus“ und des Versu<strong>ch</strong>es bezi<strong>ch</strong>tigte, „auf jede Weise<br />

unsere Partei von der Arbeiterklasse ‚trennen’“ zu wollen, warf er au<strong>ch</strong> anderen Mitgliedern der<br />

‚Jazykfront’ „subjektiven Idealismus vor“ und begann, Ė.K. Drezen, den er als „gemeinen <strong>An</strong>hänger“<br />

der ‚Jazykfront’ bezei<strong>ch</strong>nete, anzugreifen. Filin zitierte Stellen aus dem 1928 ers<strong>ch</strong>ienenen Bu<strong>ch</strong> ‚Za<br />

vseobščim jazykom’, um ihm vorwerfen zu können, ein ungebildeter Indogermanist zu sein (was er ja<br />

wohl au<strong>ch</strong> war, AK) und aus dem allers<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>testen indogermanistis<strong>ch</strong>en Lehrbu<strong>ch</strong> abges<strong>ch</strong>rieben zu<br />

haben. Na<strong>ch</strong>dem Filin der ‚Jazykfront’ au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> zur Last gelegt hatte, ausser zu den Re<strong>ch</strong>tsabwei<strong>ch</strong>lern<br />

au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> zu den Linksabwei<strong>ch</strong>lern zu gehören, hatte er alle mögli<strong>ch</strong>en politis<strong>ch</strong>-ideologis<strong>ch</strong>en<br />

Register zur Zerstörung des Gegners gezogen. Gegen Ende seines Artikels holte er zum Aufruf aus,<br />

die ‚Jazykfront’ als einen Feind der marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft zu betra<strong>ch</strong>ten und<br />

sie als „Konterbande der bürgerli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft“ „vollkommen“ zu „liquidieren“. Gegen die<br />

‚Jazykfront’ als „Banner der si<strong>ch</strong> maskierenden Reaktion der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft“ müssten die marxistis<strong>ch</strong>en<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler und au<strong>ch</strong> die breite proletaris<strong>ch</strong>e Öffentli<strong>ch</strong>keit einen ents<strong>ch</strong>lossenen<br />

Kampf führen, sie gnadenlos blossstellen sowohl im theoretis<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong> als au<strong>ch</strong> in der Spra<strong>ch</strong>politik.<br />

156<br />

156<br />

Gierke/Ja<strong>ch</strong>now 1975, S. 24-43. Russis<strong>ch</strong>: http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/Filin32a.html. S. au<strong>ch</strong>:<br />

http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/Filin32.html. Obwohl Filin wie viele andere Autoren si<strong>ch</strong> in den 1930-40er Jahre als<br />

Na<strong>ch</strong>folger Marrs bezei<strong>ch</strong>neten, bes<strong>ch</strong>ränkten sie ihre Loyalität zur ‚Neuen Lehre’ auf Vorworte in wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Publikationen,<br />

folgten jedo<strong>ch</strong> im allgemeinen den Gepflogenheiten der traditionellen Slavistik und verwiesen sogar auf Marr-<br />

Opponenten wie Durnovo oder Il’inskij, die vor Kurzem ers<strong>ch</strong>ossen worden waren. Den ganzen Krieg verbra<strong>ch</strong>te Filin in der<br />

Sowjetarmee. 1947 verteidigte er seine Dissertation über die Lexik der russis<strong>ch</strong>en Literaturspra<strong>ch</strong>e in der Altkiever Periode.<br />

Später wurde herausgefunden, dass Filin fremde Ideen als eigene verkaufte, ohne ihre Quellen zu kennzei<strong>ch</strong>nen, dasser also<br />

Plagiate erstellt hat. Im Zuge der Kosmopolitismus-Kampagne des Jahres 1948 setzte Filin zu einer neuen Entehrung der<br />

Opponenten des Marrismus an, von der au<strong>ch</strong> <strong>An</strong>hänger der ‚Neuen Lehre’ wie I.I. Meščaninov und N.F. Jakovlev ni<strong>ch</strong>t<br />

si<strong>ch</strong>er sein konnten und si<strong>ch</strong> sogar gezwungen sahen, si<strong>ch</strong> selbst der Filin-Kampagne anzus<strong>ch</strong>liessen. Die Zers<strong>ch</strong>lagung des<br />

Marrismus dur<strong>ch</strong> Stalin in der Pravda im Jahr 1950 liess die Filin-Kampagne hinfällig werden, so dass Filin si<strong>ch</strong> genötigt<br />

sah, im Rahmen des damals normalen Rituals, seine „Fehler zu bekennen“ und zu „bereuen“. Eine Zeit lang war es sogar<br />

verboten, si<strong>ch</strong> auf Filin zu beziehen.<br />

158<br />

Online s. http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/Filin32.html.


47<br />

In einem weiteren Beitrag, der im glei<strong>ch</strong>en Band ers<strong>ch</strong>ien, 157 s<strong>ch</strong>lug Filin no<strong>ch</strong> einmal mit der<br />

vollen Härte des stalinistis<strong>ch</strong>en Denunzianten einzeln auf Loja ein. Im entspre<strong>ch</strong>enden Vortrag warf<br />

der Hardliner Loja in mindestens se<strong>ch</strong>s Punkten ungeheuerli<strong>ch</strong>e Taten vor, die er als Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler<br />

begangen haben soll, um Lojas spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Konzeption als „besonders eklektizistis<strong>ch</strong>“,<br />

„reaktionär“, „idealistis<strong>ch</strong>“, „antimarxistis<strong>ch</strong>“ und „antiwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>“ und s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong><br />

ihn selbst wegen seines „physiologis<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>satzes in Bezug auf das Wesen der Spra<strong>ch</strong>e“ als „bourgeoisen<br />

Formalisten“ diskreditieren zu können, der sogar „mens<strong>ch</strong>ewistis<strong>ch</strong>e“ und „antileninistis<strong>ch</strong>e“<br />

Positionen vertrete (etwa in der nationalen Frage), statt den <strong>An</strong>satz der „Gesells<strong>ch</strong>aftpsy<strong>ch</strong>ologie“ zu<br />

vertreten, wie dies im Marxismus übli<strong>ch</strong> sei, der die Spra<strong>ch</strong>e als gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>es Produkt definiere.<br />

Die Konzeption Lojas, die den Zusammenhang zwis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e und Denken verneine, enthalte „leere<br />

Bes<strong>ch</strong>reibungen“, sei ein „Fetis<strong>ch</strong>“ der „streng objektiven“ Phonetik, die den „Empirismus in der<br />

Methode“ verwende, den er bei den Junggrammatikern Berthold Delbrücks als „wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>es<br />

Gepäck“ entlehnt habe. Loja ignoriere die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Spra<strong>ch</strong>e, die er bloss als „Disziplin mit theoretis<strong>ch</strong>em<br />

Interesse“ betra<strong>ch</strong>te, wenn er die Syn<strong>ch</strong>ronie der Dia<strong>ch</strong>ronie entreisse und das „Soziale“ in<br />

der Spra<strong>ch</strong>e im Geist der „soziologis<strong>ch</strong>en“ S<strong>ch</strong>ule F. de Saussures und A. Meillets erkläre. Überhaupt<br />

sei die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te für Loja eine „tote <strong>An</strong>gelegenheit“, die dem „sozialistis<strong>ch</strong>en Aufbau ni<strong>ch</strong>t dienen<br />

kann.“ Na<strong>ch</strong> der Art der Indogermanisten verstehe Loja das System der Spra<strong>ch</strong>e als ein „ges<strong>ch</strong>lossenes“,<br />

das „mit den übrigen Systemen wenig zusammenhängt“. Den „vulgären Materialismus“ bei der<br />

Erklärung des Sozialen im Wesen der Spra<strong>ch</strong>e habe Loja von Akad. Pavlov übernommen. Ausserdem<br />

grenze si<strong>ch</strong> Loja keineswegs von den Positionen Baudouin de Courtenays ab (dem die Stalinisten<br />

ebenfalls „subjektiven Idealismus“ u.ä. vorwarfen) und habe si<strong>ch</strong> keinen S<strong>ch</strong>ritt weg von den „eingefleis<strong>ch</strong>ten“<br />

„Epigonen“ der Indogermanistik (wie Bubri<strong>ch</strong>) bewegt. Die marxistis<strong>ch</strong>e Phraseologie,<br />

derer er si<strong>ch</strong> bediene, diene ihm dazu, um die „bourgeoise Linguistik“ auf der Grundlage der Lehre<br />

N.Ja. Marrs in den Marxismus einzus<strong>ch</strong>muggeln. Dies sei „der ganze Loja“, der in allen Punkten ni<strong>ch</strong>t<br />

nur „bourgeoise <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten“, eine „bourgeoise Methodologie“ und eine „vulgär-materialistis<strong>ch</strong>e Einstellung“<br />

vertrete, obwohl er dies als „hunderprozentigen Marxismus“ verkaufe, sondern au<strong>ch</strong> in Bezug<br />

auf die „Frage der Psy<strong>ch</strong>ologie“ „s<strong>ch</strong>were Fehler begehe“. No<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>limmer befand Filin, dass<br />

Loja in seinem „angebli<strong>ch</strong>en Kampf“ gegen den ´subjektiven Idealismus´ fast nur „bourgeoise Wissens<strong>ch</strong>aftler“,<br />

kaum aber Marx, Engels, Lenin und Stalin zitiere. S<strong>ch</strong>on dieser Umstand ma<strong>ch</strong>te ihn für<br />

Filin hö<strong>ch</strong>st verdä<strong>ch</strong>tig.<br />

1933 sah si<strong>ch</strong> die ‚Jazykfront’ gezwungen, ihre kurzlebige Aktivität wieder einzustellen. Dies<br />

sollte au<strong>ch</strong> der Wendepunkt in Drezens planspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Tätigkeit sein. Au<strong>ch</strong> die Beoba<strong>ch</strong>tung dur<strong>ch</strong><br />

den Geheimdienst s<strong>ch</strong>ien Drezen veranlasst zu haben, keine Artikel mehr über die internationale Spra<strong>ch</strong>e<br />

zu veröffentli<strong>ch</strong>en und si<strong>ch</strong> stattdessen dem Thema der internationalen te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Terminologie<br />

und deren Normierung zuzuwenden. Auf diesem Gebiet setzte er als Mitglied der Kommission für<br />

te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Terminologie bei der Akademie der Wissens<strong>ch</strong>aften der Sowjetunion seine Berufskarriere<br />

fort, die si<strong>ch</strong> mit der Erri<strong>ch</strong>tung eines internationalen terminologis<strong>ch</strong>en Codes befasste. In dieser<br />

Funktion kam Drezen 1934 sogar dazu, der ISO (Internationale Organisation für Normung) und dem<br />

Esperanto-Weltbund (UEA) zu beri<strong>ch</strong>ten. Um Esperanto für die terminologis<strong>ch</strong>e Kodierung zulässig<br />

zu ma<strong>ch</strong>en, s<strong>ch</strong>lug er einige Änderungen in dieser Spra<strong>ch</strong>e vor. Dieser reformeris<strong>ch</strong>e Vorstoss ers<strong>ch</strong>reckte<br />

zwar die UEA-Offiziellen, ermögli<strong>ch</strong>te Drezen aber, seine Kontakte über ideologis<strong>ch</strong>e<br />

Zwänge hinaus mit Esperantisten fortzusetzen. Ja, er da<strong>ch</strong>te sogar an einen <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>luss der SĖSR an<br />

den neutralen Esperanto-Weltbund, aber er wartete vergebli<strong>ch</strong> auf einen entspre<strong>ch</strong>enden Ents<strong>ch</strong>eid<br />

dur<strong>ch</strong> die staatli<strong>ch</strong>en Instanzen der Sowjetunion. 158<br />

158<br />

S. S.N. Kuznecov (Red.) in: E. Drezen: Historio de la mondolingvo. Tri jarcentoj da serĉado. Moskau 1991. S. 24-27.


48<br />

Teil 2<br />

1. Die Opfer des „Grossen Terrors“ in der Esperanto-Bewegung in den<br />

1930er Jahren<br />

Die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te Russlands und der Sowjetunion ist unendli<strong>ch</strong> rei<strong>ch</strong> an Fällen der Repression und<br />

Verfolgung von ho<strong>ch</strong>qualifizierten Personen und namaften Persönli<strong>ch</strong>keiten, die aus irgendeinem<br />

konstruierten Grund zu „Volksfeinden“ erklärt und aus den entspre<strong>ch</strong>enden Gremien ausgestossen<br />

oder sogar physis<strong>ch</strong> liquidiert wurden. Die vers<strong>ch</strong>iedenen Wellen der Repressionen begannen<br />

unmittelbar na<strong>ch</strong> Einführung des Bols<strong>ch</strong>ewismus in Russland. Sie übers<strong>ch</strong>wemmten die Sowjetunion<br />

also von <strong>An</strong>fang ihrer Existenz bis zuletzt und ohne Ende.<br />

Die beispiellose Tragödie des „Grosses Terrors“ in der stalinistis<strong>ch</strong>en Sowjetunion vor allem in der<br />

zweiten Hälfte der Dreissiger Jahre sind sowohl in groben Zügen wie au<strong>ch</strong> in vielen Details bekannt<br />

und brau<strong>ch</strong>en hier ni<strong>ch</strong>t erneut dargestellt zu werden. Seither haben si<strong>ch</strong> zahlrei<strong>ch</strong>e Historiker und<br />

S<strong>ch</strong>riftsteller mit diesem Phänomen der russis<strong>ch</strong>en/sowjetis<strong>ch</strong>en und Mens<strong>ch</strong>heitsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te ausführli<strong>ch</strong><br />

befasst und die Fakten dokumentiert. 159<br />

Spätestens seit Ers<strong>ch</strong>einen von Varlam Šalamovs ‚Erzählungen aus Kolyma’, Evgenija Ginzburgs<br />

‚Mars<strong>ch</strong>route eines Lebens’ und ‚Gratwanderung’ (Krutoj maršrut I und II) sowie Alexander<br />

Solženicyns ‚Ar<strong>ch</strong>ipel Gulag’ hat die Mens<strong>ch</strong>heit also einen s<strong>ch</strong>aurigen Eindruck von demjenigen<br />

Paragraphen des sowjetrussis<strong>ch</strong>en Strafgesetzbu<strong>ch</strong>es erhalten, der als „Artikel 58“ s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>e Berühmtheit<br />

erlangte. Na<strong>ch</strong> diesem berü<strong>ch</strong>tigten Gesetzesartikel, der im Februar 1927 erlassen und in der<br />

Folgezeit mehrere Male revidiert wurde, wurden Hunderttausende von Sowjetbürgern aus ideologis<strong>ch</strong>en<br />

Gründen meist fäls<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>erweise als Verräter, Saboteure, feindli<strong>ch</strong>e Propagandisten, Konterrevolutionäre,<br />

Volksfeinde und Feinde der Arbeiterklasse, Terroristen oder Spione abgeurteilt und in die<br />

Gefängnisse und Lager der GULAG ges<strong>ch</strong>ickt, wo sie oft umkamen oder direkt ers<strong>ch</strong>ossen wurden. 160<br />

Bei der Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> Motiven und Gründen für die Repressionen des ‚Grossen Terrors’ der Jahre<br />

1937-38 kann ni<strong>ch</strong>t genug spekuliert und gefors<strong>ch</strong>t werden. Allgemein wird der Beginn des ‚Grossen<br />

Terrors’ in der Sowjetunion mit der Ermordung des Leningrader Partei<strong>ch</strong>efs Sergej Kirov am 1.<br />

Dezember 1934, für die Ra<strong>ch</strong>e geübt werden sollte, angesetzt. Dieser errei<strong>ch</strong>te mit der Verurteilung<br />

und Hinri<strong>ch</strong>tung von so verdienten Parteifunktionären wie Sinov’ev, Kamenev, Smyrnov,<br />

Mračkovskij, Pjatakov, Radek, Sokol’nikov, Muralov, Serebrjakov, Tu<strong>ch</strong>ačevskij, Rykov, Bu<strong>ch</strong>arin,<br />

Krestinskij, Jagoda, Rakovski und zahlrei<strong>ch</strong>er anderer Sowjetkommunisten in S<strong>ch</strong>auprozessen der<br />

Jahre 1936-38 bekanntli<strong>ch</strong> ihren tragis<strong>ch</strong>en Höhepunkt.<br />

159<br />

S. v.a. Souvarine (Stalin 1939), Koestler (Sonnenfinsternis 1940), Krav<strong>ch</strong>enko (I<strong>ch</strong> wählte die Freiheit 1947), Deuts<strong>ch</strong>er<br />

(Stalin 1949), Margarete Buber-Neumann (Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Eine Welt im Dunkel 1949), Herling (Welt<br />

ohne Erbarmen 1951), Trotzki (Stalin 1952), Chrus<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>ow (Geheimrede 1956), Brzezinski (The Permanent Purge 1956),<br />

S<strong>ch</strong>alamow (Erzählungen aus Kolyma, 1950-70er Jahre), Evgenija Ginzburg (Krutoj maršrut 1967 / Mars<strong>ch</strong>route eines Lebens<br />

I. 1967, Krutoj maršrut II 1975-77 / Gratwanderung 1980 ), Svetlana Allilujewa (20 Briefe an einen Freund 1967, Das<br />

erste Jahr 1969), Solženicyn (Im ersten Kreis 1968, Ar<strong>ch</strong>ipel Gulag 1974), Karlo Stajner (7000 Tage in Sibirien, skroat.<br />

1971, dt. 1975, Esperanto 1983), Conquest (Der grosse Terror 1968, Stalin 1991), R. Medvedev (Die Wahrheit ist unsere<br />

Stärke 1973, Das Urteil der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, Bd. 1-3, 1992); spätere Bearbeitung des Themas dur<strong>ch</strong>: Waksberg (Gnadenlos.<br />

<strong>An</strong>drei Wys<strong>ch</strong>inski – der Handlanger Stalins, 1990, Furet (Das Ende der Illusion 1995), Werth u.a. (Das S<strong>ch</strong>warzbu<strong>ch</strong> des<br />

Kommunismus 1997), Chlewnjuk (Das Politbüro 1998), Beyrau (S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tfeld der Diktatoren 2000), Hedeler (Chronik der<br />

Moskauer S<strong>ch</strong>auprozesse 2002), Baberowski (Der grosse Terror 2003), Applebaum (Der Gulag 2003), A. Jakovlev (Ein<br />

Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland 2002/4), S<strong>ch</strong>lögel (Terror und Traum. Moskau 1937. 2008), Figes (Die Flüsterer<br />

2008), um nur einige prominente Autoren und bedeutende Werke zu nennen. Eine Fors<strong>ch</strong>ungsübersi<strong>ch</strong>t s: J. Baur in ZfG<br />

http://zfa.kgw.tu-berlin.de/zfg/1997-april.htm. Au<strong>ch</strong> unter russis<strong>ch</strong>en Historikern gab es ein paar Versu<strong>ch</strong>e, die Katastrophe<br />

des Stalinismus ‚objektiv’ zu bes<strong>ch</strong>reiben (s. v.a. Jakovlev, Vaksberg, Volkogonov; weitere Literaturangaben, s.<br />

http://ru.wikipedia.org/wiki(Большой_террор und http://ru.wikipedia.org/wiki/Сталинизм, etwas ergiebiger s.<br />

http://ru.wikipedia.org/wiki/Сталин,_Иосиф_Виссарионович).<br />

160<br />

Die Erklärungen zum Artikel 58 sind Bestandteil von Kapitel 2 von ‚Ar<strong>ch</strong>ipel Gulag’. Im Internet s. z.B.<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Artikel_58_des_Strafgesetzbu<strong>ch</strong>es_der_RSFSR.


49<br />

Bei den ans<strong>ch</strong>liessenden, flä<strong>ch</strong>endeckend dur<strong>ch</strong>geführten Säuberungen und Verfolgungen<br />

wurden sämtli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten der Bevölkerung erfasst, vor allem betroffen waren die Parteimitglieder<br />

selbst. Verhaftet wurden Bauern (Kulaken), Geistli<strong>ch</strong>e, Intelligenzler, Wissens<strong>ch</strong>aftler (au<strong>ch</strong> Philologen,<br />

Linguisten und Literaturwissens<strong>ch</strong>aftler), diverse nationale Minderheiten und religiöse Sekten<br />

(wie die Baptisten, Tolstojaner und <strong>An</strong>hänger des Yogi); selbst die eigenen Familienangehörigen und<br />

Verwandten des georgis<strong>ch</strong>en Diktators wurden davon ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>ont. 161 Die Skala der Verfemten ist<br />

also sehr lang. Die Zielpublika und Opferkategorien wurden von A. Solženicyn (in ‚Ar<strong>ch</strong>pel Gulag‘)<br />

wie au<strong>ch</strong> von R. Conquest (in ‚Der Grosse Terror’) und von A. Jakovlev (in „Ein Jahrhundert der Gewalt<br />

in Sowjetrussland“) im Detail präsentiert, untersu<strong>ch</strong>t und analysiert.<br />

Die Verfolgungen, Repressionen und Säuberungen der Stalinzeit wurden von der Historiographie<br />

der sozialistis<strong>ch</strong>en Länder und der kommunistis<strong>ch</strong>en Publizistik vers<strong>ch</strong>wiegen, vernebelt oder<br />

fals<strong>ch</strong> dargestellt und waren im Ostblock im Grunde tabu und ledigli<strong>ch</strong> einer kleinen Gruppe von ‚Bere<strong>ch</strong>tigten’<br />

bekannt. Öffentli<strong>ch</strong> und in den S<strong>ch</strong>ulen konnte darüber kaum diskutiert werden, und in der<br />

Bevölkerung herrs<strong>ch</strong>ten nur vers<strong>ch</strong>wommene Vorstellungen vom ‚Grossen Terror’ der Jahre 1936-38.<br />

Die Politik ma<strong>ch</strong>te diese Ereignisse vergessen und sorgte dafür, dass die Bevölkerung si<strong>ch</strong> für diese<br />

Episode der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t interessierte. Die Ar<strong>ch</strong>ive waren vers<strong>ch</strong>lossen, ledigli<strong>ch</strong> ausserhalb des<br />

Ostblocks gabe es einige wenige Autoren die Aufsehen erregende Bü<strong>ch</strong>er über den Stalinismus publizierten.<br />

Diese Literatur war in den kommunistis<strong>ch</strong>en Ländern unerwüns<strong>ch</strong>t oder verboten. 162<br />

Kaum bekannt ist die kuriose Tatsa<strong>ch</strong>e, dass in der Sowjetunion au<strong>ch</strong> die Esperanto-<br />

Bewegung von den Verfolgungen und Säuberungen betroffen war. Neben den S<strong>ch</strong>utzbündlern, den<br />

Mitgliedern der Freien Philosophis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft, den Lehrern, den Mitarbeitern des Politis<strong>ch</strong>en<br />

Roten Kreuzes, den Dienstverweigerern habe si<strong>ch</strong> Stalin au<strong>ch</strong> die Esperantisten „als übles Völk<strong>ch</strong>en<br />

vorgeknüpft“, steht in ‚Ar<strong>ch</strong>ipel Gulag‘ zu lesen. 163 Karl S<strong>ch</strong>lögel hat in seinem Bu<strong>ch</strong> über das Jahr<br />

1937 die Esperantisten ni<strong>ch</strong>t vergessen und erwähnte den Verein der Esperantisten der Sowjetrepubliken<br />

in einem Zug mit den Organisationen der Freunde der Grünanlagen, den Sportlern, der proletaris<strong>ch</strong>en<br />

Touristikern und der revolutionären Theaterleuten, deren <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>riften er in Moskauer Adressbü<strong>ch</strong>ern<br />

dieser Zeit gefunden hatte. 164<br />

In der späten Gorbačëv-Zeit von Perestrojka und Glasnost (also um 1988/89), als ein Teil der<br />

sowjetis<strong>ch</strong>en Ar<strong>ch</strong>ive geöffnet wurde, gelang es dem Moskauer Esperantisten und Historiker Nikolaj<br />

161<br />

Zur Repression in der Wissens<strong>ch</strong>aft s. http://russcience.euro.ru/hronXX.htm. Verfolgung der Slavisten: Дело славистов<br />

(russ. Wikipedia und http://www.ihst.ru/projects/sohist/material/dela/slavist.htm). Verfolgung der Juden: S.<br />

http://www.ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tein<strong>ch</strong>ronologie.<strong>ch</strong>/SU/Pinkus_judenverfolgung-in-russland-u-SU/03-1930-1939.html. Kulaken, Kriminelle,<br />

antisowjetis<strong>ch</strong>e Elemente s. den „Befehl Nr. 00447 vom 30.7.1937“ (s. http://de.wikipedia.org/wiki/NKWD-<br />

Befehl_Nr._00447).<br />

162<br />

Als 1974 in einem bedeutenden Referenzwerk der Esperanto-Bewegung (‚Esperanto en perspektivoj’, s.<br />

http://www.ivolapenna.org/verkoj/verkoj2.htm bzw. http://www.ivolapenna.org/verkoj/books/persp.pdf) ein Kapitel über die<br />

Verfolgungen in der Sowjetunion veröffentli<strong>ch</strong>t wurde, hagelte es Proteste von Seiten kommunistis<strong>ch</strong>er Hardliner aus dem<br />

Ostblock, und ein regimetreuer Rezensent aus der DDR meinte, als 1988 ein separates Bu<strong>ch</strong> zu diesem Thema ers<strong>ch</strong>ien (‚Die<br />

gefährli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e’), die Studie habe die reale Situation in den sozialistis<strong>ch</strong>en Ländern ni<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tig erfasst und das Thema<br />

sei marxistis<strong>ch</strong> aufzuarbeiten. Na<strong>ch</strong> dem Kollaps des Kommunismus 1989/91 büssten sol<strong>ch</strong>e erratis<strong>ch</strong>e Einwände ihre Plausibilität<br />

und Gültigkeit freili<strong>ch</strong> von selbst ein.<br />

163<br />

Dt. Ausgabe, Bd. 1, S<strong>ch</strong>erz-Verlag, Bern 1974, S. 67. In Bd. 2, Kap. 3, S. 84, werden die Esperantisten no<strong>ch</strong> einmal als<br />

Zwangsarbeiter am Weissmeer-Ostsee-Kanal (eröffnet 1933) in einem Zug mit „Studenten“ erwähnt und so vom grossen<br />

Gulag-Autoren zu einer berühmten Legende im Zusammenhang mit dem Stalin-Terror gema<strong>ch</strong>t. Im Jahr 1974 ers<strong>ch</strong>ien au<strong>ch</strong><br />

in Rotterdam das grosse historiographis<strong>ch</strong>e Referenzwerk der Esperanto-Bewegung, ‚Esperanto en perspektivo’, das ein von<br />

U. Lins bearbeitetes Kapitel über die Verfolgung der Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion und im Ostblock enthielt. Die<br />

offiziellen Esperanto-Vertreter des Ostblocks (v.a. Bulgariens) protestierten offiziell gegen die Veröffentli<strong>ch</strong>ung dieses Kapitels.<br />

Vers<strong>ch</strong>weigen konnte man das Thema seither aber selbst in Esperanto-Kreisen des Ostblock ni<strong>ch</strong>t mehr. Dieses von Ivo<br />

Lapenna lancierte Bu<strong>ch</strong> war viellei<strong>ch</strong>t eines der wenigen grossen publizistis<strong>ch</strong>en Leistungen der Esperanto-Bewegung, die<br />

si<strong>ch</strong> andererseits zwar leider den kommunistis<strong>ch</strong>en Staaten anbiederte, obwohl seine einseitigen Propagandaabsi<strong>ch</strong>ten den<br />

Wert des Bu<strong>ch</strong>es s<strong>ch</strong>mälerten. ‚Esperanto en perspektivo’ wurde später weder neu aufgelegt no<strong>ch</strong> wurde es von einem anderen<br />

Werk übertroffen (online abrufbar unter http://www.ivolapenna.org/verkoj/books/persp.pdf, Verfolgungen der Esperanto-<br />

Bewegung in Osteuropa s. Kap. 21).<br />

164<br />

K. S<strong>ch</strong>lögel: Terror und Traum. Moskau 1937. 2010, S. 92.


50<br />

Stepanov (+Feb. 2013), auf <strong>An</strong>frage beim KGB Einsi<strong>ch</strong>t in die Akten der repressierten sowjetis<strong>ch</strong>en<br />

Esperantisten zu nehmen und so genauere <strong>An</strong>gaben über Verhaftungsgrund, Verhaftungsdatum und<br />

Todestag bzw. Rehabilitierung und sogar über die Zusammensetzung einiger Trojkas zu erhalten. Die<br />

Resultate seiner Na<strong>ch</strong>fors<strong>ch</strong>ungen publizierte Stepanov in der Esperanto-Presse sowie im Internet. 165<br />

So weiss man heute unter anderem, dass bei der Verurteilung der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten eine ganze<br />

Reihe von Paragraphen des berü<strong>ch</strong>tigten Artikels 58 des Strafgesetzes aus dem Jahr 1926 zur <strong>An</strong>wendung<br />

kamen, so die Paragraphen 58-1 (Vaterlandsverrat), 58-6 (Spionage), 58-7 (Untergrabung<br />

der Ökonomie), 58-8 (Terrorismus), 58-10 (antisowjetis<strong>ch</strong>e Propaganda od. Agitation) und 58-11 (Organisation<br />

und Führung einer antisowjetis<strong>ch</strong>en Organisation jegli<strong>ch</strong>er Art). 166<br />

1.1. Ėrnest Karlovič Drezen – Abriss seiner Biographie<br />

ДРЕЗЕН, Эрнест Карлович, geb. (14.).11.1892 in Libava (russ.) bzw. Libau (dt.) und Liepāja (lett.)<br />

im Gouvernement Kurland, Russis<strong>ch</strong>es Rei<strong>ch</strong>. Gest. 27.10.1937 (hingeri<strong>ch</strong>tet) in Moskau.<br />

Familie und Namen: Ė.K. Drezens Vater war Karl (Kārlis Drēziņš), bis 1917 einfa<strong>ch</strong>er Seemann, dana<strong>ch</strong><br />

Leiter eines Baggermas<strong>ch</strong>inenbautrupps; bald dana<strong>ch</strong> starb er. Drezens Mutter Karolina Matveevna<br />

war Hausfrau und starb 1942 an Dystrophie. Drezens Bruder Arvid (lett. Arvīds, *1900) war Linguist<br />

und Historiker, Leiter eines regionalen Zentralar<strong>ch</strong>ivs. 1908 zog die Familie na<strong>ch</strong> Kronštadt um.<br />

Auf Lettis<strong>ch</strong> lautet Drezens Name Ėrnests-Vilhelms Drēziņš, na<strong>ch</strong> russis<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>reibart Ėrnest Karlovič<br />

Drezin. Da lettis<strong>ch</strong>e Namen si<strong>ch</strong> an die deuts<strong>ch</strong>e Phonetik anzupassen pflegten, wurde aus Drezin<br />

Dresen bzw. Drezen – derjenige Name, der ihn dann international bekannt ma<strong>ch</strong>en sollte. Warum Drezin<br />

aber s<strong>ch</strong>lussendli<strong>ch</strong> Drezen genannt werden wollte, ist unbekannt. 167 Na<strong>ch</strong> eigenen <strong>An</strong>gaben war<br />

si<strong>ch</strong> Drezen in seiner Jugend gewohnt, Lettis<strong>ch</strong> und Deuts<strong>ch</strong>, ab dem Alter von 7 Jahren Russis<strong>ch</strong> zu<br />

verwenden. Ferner lernte er Französis<strong>ch</strong>, Englis<strong>ch</strong> und einige andere europäis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>en. Das Russis<strong>ch</strong>e<br />

wurde vor allem in seinem Berufsleben seine Hauptspra<strong>ch</strong>e.<br />

Ausbildung: Ė.K. Drezen besu<strong>ch</strong>te in Libau fünf Klassen der Reals<strong>ch</strong>ule (Mittels<strong>ch</strong>ule ohne Latein<br />

und Grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>). Weil er ni<strong>ch</strong>t das Gymnasium absolvierte, konnte er si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an der Universität<br />

immatrikulieren. Dafür trat Drezen 1911 ins Petersburger Polyte<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Institut ein, das er 1916 (ohne<br />

Diplom) abs<strong>ch</strong>loss. Soglei<strong>ch</strong> trat er in die S<strong>ch</strong>ule für Ingenieure im Rang eines Unteroffiziers ein,<br />

die er im glei<strong>ch</strong>en Jahr abs<strong>ch</strong>loss. Gemäss NKVD-Akten wurde Drezen im Februar 1917 als Offizier<br />

in der Kommandantur des Tauris<strong>ch</strong>en Palais eingesetzt. Im Juni 1917 wurde er in die Union der sozialistis<strong>ch</strong>en<br />

Offiziere der Volksarmee delegiert und betreute den Posten des Leiters des Fa<strong>ch</strong>s für Volksbildung.<br />

Im Oktober wurde er Kommandant des Tauris<strong>ch</strong>en Palais und in der Union der sozialistis<strong>ch</strong>en<br />

Offiziere verantwortli<strong>ch</strong>er Sekretär. Dana<strong>ch</strong> diente er als Kommissär-Inspektor des Petrograder<br />

Militärdistrikts und 1919 als Petrograder Vertreter der Glavsnab (Versorgungsverwaltung) der<br />

RSFSR. Na<strong>ch</strong> einer anderen Quelle arbeitete Drezen während seiner Studienzeit im Hafen von<br />

Kronštadt, wo er die Posten eines Brigadeleiters, Te<strong>ch</strong>nikers und Hilfsingenieurs bekleidete. 1920<br />

165<br />

S. N. Stepanov: ‚Ĉu SAT estis sidejo de germana sekreta polico?“ In: Sennaciulo, 2/1990 und auf historio.ru. Das Thema<br />

der Verfolgung der Esperantisten in der Sowjetunion wurde wie bereits erwähnt in den 1960-80er Jahren von dem westdeuts<strong>ch</strong>en<br />

Historiker U. Lins verdienstvoll aufgearbeitet. Die Fors<strong>ch</strong>ungsresultate wurden in einem Bu<strong>ch</strong> mit dem Titel „Die<br />

gefährli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e“ (Blei<strong>ch</strong>er Verlag 1988) veröffentli<strong>ch</strong>t. Eine Esperanto-spra<strong>ch</strong>ige Version ers<strong>ch</strong>ien glei<strong>ch</strong>zeitig unter<br />

dem Titel „La danĝera lingvo“ (Blei<strong>ch</strong>er 1988), und 1990 wurde das Bu<strong>ch</strong> auf Esperanto in der Sowjetunion und 1999 auf<br />

Russis<strong>ch</strong> in Russland herausgegeben (s. http://www.rusio.ru/dl). Der Titel fehlt in S<strong>ch</strong>lögels Bibliographie zu seinem Bu<strong>ch</strong><br />

‚Moskau 1937’, obwohl er darin die Esperantisten erwähnte. Lins’ Behauptung, dass etwa 10’000 Esperantisten in der Sowjetunion<br />

von den Verfolgungen direkt betroffen waren, s<strong>ch</strong>eint mir zu ho<strong>ch</strong> gegriffen, zumal nur relativ wenige konkrete<br />

Namen von Opfern bekannt sind. Leider erfuhr Lins’ Bu<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> 1988 weder eine Überarbeitung no<strong>ch</strong> eine ergänzte Neuauflage,<br />

sodass die wi<strong>ch</strong>tigen Komplementärerkenntnisse N. Stepanovs ni<strong>ch</strong>t mehr berücksi<strong>ch</strong>tigt werden konnten.<br />

166<br />

Genauer und ausführli<strong>ch</strong>er s. http://de.wikipedia.org/wiki/Artikel_58_des_Strafgesetzbu<strong>ch</strong>es_der_RSFSR.<br />

167<br />

Der Name Ė.K. Drezens ist ni<strong>ch</strong>t zu verwe<strong>ch</strong>seln mit dem ähnli<strong>ch</strong> lautenden Namen einer anderen Protagonistin der Esperanto-Bewegung,<br />

Hilda Dresen, die aus Estland stammte (s. http://eo.wikipedia.org/wiki/Hilda_Dresen).


51<br />

verliess er Petrograd und zog na<strong>ch</strong> Moskau, wo er mehr als ein Jahr als besonderer Vertreter der gesamtstaatli<strong>ch</strong>en<br />

Versorgungsverwaltung der Armee wirkte. Die Frage na<strong>ch</strong> seiner Teilnahme am revolutionären<br />

Ges<strong>ch</strong>ehen vor 1917 bejahte Drezen mit der Aussage, dass er in den Jahren 1911-12 in Arbeiterkreisen<br />

von Kronštadt aktiv gewesen und daher von der Polizei observiert worden sei. <strong>An</strong>fang<br />

1924 wurde Drezen aus der RKP(B) ausges<strong>ch</strong>lossen, na<strong>ch</strong> offizieller Lesart wegen seiner früheren<br />

<strong>An</strong>gehörigkeit (bis August 1918) zur Partei der linken Sozialrevolutionäre (esery), wegen „bürgerli<strong>ch</strong>en“<br />

Lebensstils und wegen Ni<strong>ch</strong>tteilnahme an der Parteiarbeit.<br />

Berufskarriere: 1921-23 erhielt Drezen einen Posten im Kreml – denjenigen eines stellvertretenden<br />

Sa<strong>ch</strong>bearbeiters des Allrussis<strong>ch</strong>en Zentralen Exekutivrats der Sowjets (VCIK) und na<strong>ch</strong> dessen Reorganisation<br />

im CIK der UdSSR. Glei<strong>ch</strong>zeitig war er für das Volkskommissariat für Aussenhandel und<br />

später als Mitarbeiter der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (RKI) sowie für die Aktiengesells<strong>ch</strong>aft<br />

‚Orgstroj’ als höherer Berater und Vorstandsmitglied (5.1924-8.1926) tätig. Bis Dezember 1930 setzte<br />

er seine Karriere als Direktor des Polyte<strong>ch</strong>nikums und Instituts für Kommunikation, bis Juni 1932 als<br />

Dozent der 1. Moskauer Staatli<strong>ch</strong>en Universität des Autome<strong>ch</strong>anis<strong>ch</strong>en Instituts namens ‚Stalin’ sowie<br />

bis Dezember 1932 als stellvertretender Leiter des Trusts ‚Orgenergo’ fort. Dana<strong>ch</strong> arbeitete er als<br />

Mitglied im Allunionskomitee für Standardisierung beim Sowjet für Arbeit und Verteidigung (STO),<br />

ein bedeutendes Koordinationsorgan bei der Regierung der UdSSR in den 30er Jahren. In seiner Funktion<br />

als Ratsmitglied der Sowjetis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland<br />

(VOKS, seit 1958 SSOD) reiste Drezen öfters ins Ausland. Na<strong>ch</strong> einer anderen Quelle war Drezen<br />

au<strong>ch</strong> Leiter der Abteilung des Allsowjetis<strong>ch</strong>en Komitees für ein neues Alphabet des Rates der Nationalitäten<br />

des Zentralen Exekutivrats. Während seiner Berufszeit verfasste Drezen 18 Bü<strong>ch</strong>er über rationelle<br />

Arbeitsorganisation und 29 Bü<strong>ch</strong>er über Linguistik und wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>-te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Terminologie<br />

sowie etwa hundert Fa<strong>ch</strong>artikel. Wi<strong>ch</strong>tigste Bü<strong>ch</strong>er: Standartizacija naučno-te<strong>ch</strong>ničeski<strong>ch</strong> ponjatij,<br />

oboznačenij i terminov (1934, 3. Aufl. 1936 mit anderem Titel), Internacionalizacija naučnote<strong>ch</strong>ničeskoj<br />

terminologii. Istorija, sovremennoe položenie i perspektivy’ (1936).<br />

Interlinguistik/Esperanto: Im Alter von 16 Jahren begann Ė.K. Drezen in Kronštadt Esperanto<br />

zu lernen und Spra<strong>ch</strong>studien zu betreiben (1926 s<strong>ch</strong>rieb er seinem Petersburger bzw. Leningrader<br />

<strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>-Kollegen N.V. Jušmanov, dass er damals der einzige Esperantist in Kronštadt gewesen<br />

sei). Aber da si<strong>ch</strong> Drezen au<strong>ch</strong> für die damals etwas in Mode geratene Planspra<strong>ch</strong>e Ido 168 interessierte,<br />

s<strong>ch</strong>eint si<strong>ch</strong> sein eigentli<strong>ch</strong>er <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>luss an die Esperanto-Bewegung, der si<strong>ch</strong> um 1911 vollzog, verzögert<br />

zu haben. No<strong>ch</strong> 1912 erklärte Drezen in der Ido-Zeits<strong>ch</strong>rift Idealisto seine Absi<strong>ch</strong>t, ein Tolstoj-<br />

Museum zu bauen und darin eine Ido-Abteilung einzuri<strong>ch</strong>ten. Aber na<strong>ch</strong>dem er die Stellung der Ido-<br />

Bewegung als ges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>t ansah, s<strong>ch</strong>ien es, dass er sie um 1913 endgültig verliess, um dem Esperanto<br />

den Vorzug zu geben. So gründete er eine Esperanto-Gruppe am Te<strong>ch</strong>nologis<strong>ch</strong>en Institut, und als<br />

1913 die Gesells<strong>ch</strong>aft ‚Espero’ erri<strong>ch</strong>tet wurde, s<strong>ch</strong>loss er si<strong>ch</strong> ihr als Mitglied an, um sie 1917-19 als<br />

Präsident zu leiten und an vers<strong>ch</strong>iedenen S<strong>ch</strong>ulen Esperanto-Kurse dur<strong>ch</strong>zuführen. Als 1916 in Petrograd<br />

die Gesells<strong>ch</strong>aft Kosmoglot gegründet wurde (später als Kosmoglott neu gegründet), deren<br />

Ehrenpräsident I.A. Baudouin de Courtenay war, gehörte Drezen zu ihren Mitstreitern. Dort lernte er<br />

legendäre Klubmitglieder wie V.K. Rozenberger, V.F. von Szmurlo, P.E. Stojan, V.E. Češi<strong>ch</strong>in, J.I.<br />

Linzba<strong>ch</strong>. E. von Wahl, 169 N.V. Jušmanov (Yushmanov), 170 V.K. Petraševič u.a. kennen. 1921 gehörte<br />

Drezen zu den Gründern der Vereinigung der Esperantisten der Sowjetländer (SĖSS). Als 1921 von E.<br />

Lanti in Prag die Vereinigung Nationsloser Esperantisten (SAT) gegründet wurde, liess si<strong>ch</strong> Drezen in<br />

einen fatalen ideologis<strong>ch</strong>en Konflikt mit ihr hineinziehen. Während die SAT au<strong>ch</strong> Trotzkisten und<br />

<strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten als Mitglieder umfasste, die dem Sowjetregime feindli<strong>ch</strong> gesinnt waren und es ablehnten,<br />

si<strong>ch</strong> dem Diktat der ‚stalinistis<strong>ch</strong>en’ SĖSS/SĖSR zu beugen, warf Drezen der SAT vor, si<strong>ch</strong> antisowjetis<strong>ch</strong><br />

zu verhalten und si<strong>ch</strong> von den Ideen des Klassenkampfes entfernen zu wollen oder entfernt zu<br />

haben. Am 25. August 1936 wurde Drezen im Amt des Generalsekretärs der SĖSR abgelöst und dur<strong>ch</strong><br />

168<br />

Die er 1931 als „sektiereris<strong>ch</strong>e“ „Spra<strong>ch</strong>e der Konterrevolution“ verdammen wird (online s.: http://anno.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=e2b&datum=19310301&seite=19&zoom=33).<br />

169<br />

Erfinder der Planspra<strong>ch</strong>e Occidental (Reval, 1922).<br />

170<br />

S. http://ru.wikipedia.org/wiki/Юшманов,_Николай_Владимирович.


52<br />

P.N. Šumilov ersetzt. Als <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>experte, der die Interlinguistik „Komoglottik“ nannte und 1927<br />

offenbar die Unterstützung des sowjetis<strong>ch</strong>en „Linguistikpapstes‘ N. Ja. Marr genoss, trat Drezen in<br />

den 20-30er Jahren mit wi<strong>ch</strong>tigen theoretis<strong>ch</strong>en und enzyklopädis<strong>ch</strong>en Beiträgen zur Frage und Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> hervor, die no<strong>ch</strong> heute als Standardwerke konsultiert werden. Seine Artikel<br />

publizierte er u.a. in der Zeits<strong>ch</strong>rift Meždunarodnyj jazyk. 171 Ė.K. Drezens wi<strong>ch</strong>tigste Werke zur Interlinguistik:<br />

Očerk istorii idei meždunarodnogo jazyka und Problema meždunarodnogo jazyka (‚opyt<br />

materialističeskogo obosnovanija voprosa), beide 1922 ers<strong>ch</strong>ienen, V poiska<strong>ch</strong> vseobščego jazyka<br />

(ers<strong>ch</strong>ienen im Rahmen der populärwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Bibliothek ‚Čelovek i Vselennaja’, 1925), Na<br />

putja<strong>ch</strong> k meždunarodnomu jazyku (1926), Načal’nyj učebnik meždunarodnogo vspomogatel’nogo<br />

jazyka ėsperanto dlja kursov i samoobrazovanija (1927, 2. Aufl. 1930), Za vseobščim jazykom. Tri<br />

veka izkanij’ (Glavnauka Narkomprosa RSFSR 1928 (Beinhaltet ein Vorwort N. Ja. Marrs unter dem<br />

Titel ‚K voprosu ob edinom jazyke’ vom 26. August 1927 und Ė.K. Drezens Einleitung ‚Opyt materialističeskogo<br />

obosnovanija voprosa’ <strong>ch</strong>ronologis<strong>ch</strong>e Darstellung der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> (die<br />

Esperanto-Version 1928-30 ers<strong>ch</strong>ien in der Zeits<strong>ch</strong>rift La Nova Epoko), Osnovy jazykoznanija, teorii i<br />

istorii meždunarodnogo jazyka (in 3 Teilen), Puti formirovanija i rasprostranenija meždunarodnogo<br />

jazyka (beide 1929), Bioideologis<strong>ch</strong>e Studie über Zamenhof (SAT, Leipzig 1929, Russis<strong>ch</strong> und Esperanto),<br />

172 ‚La vojoj de formiĝo kaj disvastiĝo de la Lingvo Internacia’, Leipzig 1929, Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der<br />

Weltspra<strong>ch</strong>e (Ekrelo, Leipzig 1931, Russis<strong>ch</strong> und Esperanto), Očerki istorii ėsperanto / <strong>An</strong>aliza historio<br />

de Esperanto (Ekrelo, Leipzig, 1931, Russis<strong>ch</strong> und Esperanto), Osnovy teorii i istorii<br />

meždunarodnogo jazyka (3.Aufl. Moskau 1932), Problema meždunarodnogo jazyka na tekuščem etape<br />

eto razvitija’ (1932), Novye problemy jazykoznanija, (1933). 173 Einige Werke und S<strong>ch</strong>riften Drezens<br />

lagen lange Zeit in den Spez<strong>ch</strong>rany der Sowjetunion verborgen.<br />

1929 ers<strong>ch</strong>ien in Leipzig Ė.K. Drezens biographis<strong>ch</strong>-ideologis<strong>ch</strong>e Studie über L.L. Zamenhof.<br />

Während das linguistis<strong>ch</strong>e Werk Zamenhofs befürwortet wurde, stiessen seine Theorien des Hillelismus/Homaranismus<br />

und der ‚interna ideo’ auf ents<strong>ch</strong>iedene Ablehnung Drezens und anderer Kommunisten,<br />

weil man sie als unmarxistis<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tete. Den Hillelismus (Homaranismus) Zamenhofs beurteilte<br />

Drezeh, der zwar erst 1911 zur Esperanto-Bewegung stiess und die Brisanz der Hillelismus-<br />

Diskussion von 1906 selbst ni<strong>ch</strong>t miterlebt hatte, aus dem materialistis<strong>ch</strong>en Gesi<strong>ch</strong>tspunkt eines Marxisten.<br />

Bei den Kommunisten geriet Zamenhof dort in Misskredit, wo er im Entwicklungsprozess der<br />

Mens<strong>ch</strong>heit ni<strong>ch</strong>t die Relevanz der ökonomis<strong>ch</strong>en, politis<strong>ch</strong>en, sozialen und Klassenunters<strong>ch</strong>iede,<br />

sondern nur die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>-ethnis<strong>ch</strong>e und religiös-kulturelle Frage ins Zentrum seines Denkens rückte.<br />

Wirts<strong>ch</strong>aftstheoretis<strong>ch</strong>e Kriterien fehlten bei Zamenhof komplett, monierte Drezen. Die von Widersprü<strong>ch</strong>en<br />

geprägten sozialen Ideen Zamenhofs, die primär auf Spra<strong>ch</strong>e und Religion fokussiert waren,<br />

seien mit aller Kraft als Mystizismus zu verwerfen. 174 Umso mehr wurde Zamenhofs Esperanto von<br />

denselben Kommunisten im glei<strong>ch</strong>en Zug als „genialer“ Wurf gelobt.<br />

171<br />

Quellen: Die authentis<strong>ch</strong>sten biographis<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>gaben zu Ė.K. Drezen dürfte Nik(olaj) Stepanov Ende der 80er/<strong>An</strong>fang<br />

der 90er Jahre zutage gefördert haben, indem er si<strong>ch</strong> auf die Eigenangaben Drezens bezog, die dieser dem NKVD mitgeteilt<br />

hatte (verarbeitet unter http://historio.ru/homode.php , http://historio.ru/tri.php und http://historio.ru/drezen.php). Eine Autobiographie<br />

von Ėrnest Drezen ers<strong>ch</strong>ien in: Meždunarodnyj jazyk 4/1932 (ins Esperanto übersetzt von A. Korženkov und<br />

veröffentli<strong>ch</strong>t in: La Ondo de Esperanto 5-6/1992, online: http://anno.onb.ac.at/cgicontent/anno?aid=e2b&datum=19320401&seite=9&zoom=33<br />

bzw. http://www.esperanto.org/Ondo/H-drezen.htm). Eine<br />

neue Biographie Drezens wurde von S.N. Kuznecov (Red.) in: E. Drezen: Historio de la mondolingvo. Tri jarcentoj da serĉado.<br />

Moskau 1991, verfasst. S. ferner: N. Stepanov: Homo de kontrastoj en kruela epoko. In: Esperanto (UEA), 11/1992, S:<br />

184f.<br />

172<br />

Weitere Artikel Drezens über Zamenhof s.<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19290101&seite=11&zoom=33 und<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19290501&seite=7&zoom=33.<br />

173<br />

Vollständigere Liste s. Katalog Trovanto (http://www.onb.ac.at/kataloge/12185.htm).<br />

174<br />

Dabei hatte Zamenhof in seinem Homaranismus die kommunistis<strong>ch</strong>e Idee der Überwindung der „nationalen Widersprü<strong>ch</strong>e“<br />

do<strong>ch</strong> irgendwie vorweggenommen, die von der sowjetis<strong>ch</strong>en Nationalitätenpolitik (Lenin) allen Ernstes propagiert<br />

wurde, und in der Vorrede des ‚Unua Libro’ von 1887 sowie im Hillelismus von 1901 war sogar von der Vers<strong>ch</strong>melzung der<br />

Völker zu einer grossen Familie der Mens<strong>ch</strong>heit die Rede gewesen. Diese Haltung wurde von den ‚offiziellen’ kommunistis<strong>ch</strong>en<br />

Esperantisten in den Ostblockländern au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> 1945 im Prinzip vertreten. Ausführli<strong>ch</strong> zum Homaranismus s. A.<br />

Künzli: L.L. Zamenhof (1859-1917). Esperanto, Hillelismus (Homaranismus) und die „jüdis<strong>ch</strong>e Frage“ in Ost- und Westeu-


53<br />

Verhaftung und Tod: Drezen s<strong>ch</strong>ien als ‚Modelfall’ (russ. masštabnaja figurka) geradezu<br />

geeignet für die stalins<strong>ch</strong>en Säuberungen: Lette, Kontakte mit dem Ausland und Publikation seiner<br />

Bü<strong>ch</strong>er im Ausland, Karrierebeginn im Zarenrei<strong>ch</strong>, ehemaliger Offizier, Teilnahme an der Oktoberrevolution,<br />

Parteimitglied, hoher Beamter des Kremls, Führer einer sowjetis<strong>ch</strong>en Organisation. Drezen<br />

wurde am 17. April 1937 verhaftet und gemäss Artikel 58 der „Teilnahme an einer antisowjetis<strong>ch</strong>en<br />

Organisation“ (bzw. der „Benutzung der SAT, eines Internationalen Esperantisten-Zentrums, für die<br />

heimli<strong>ch</strong>e antisowjetis<strong>ch</strong>e und antirevolutionäre Arbeit in der UdSSR“, das von L. Trockij gegründet<br />

worden sei), bes<strong>ch</strong>uldigt. Im Detail wurde er „der Erri<strong>ch</strong>tung und Führung einer antisowjetis<strong>ch</strong>en trockistis<strong>ch</strong>en<br />

terroristis<strong>ch</strong>en Organisation (Artikel 58-11) von Esperantisten bezi<strong>ch</strong>tigt, um zugunsten<br />

von Deuts<strong>ch</strong>land und der SAT aus Sabotage, Verrat, Terrorismus, Spionage sowie antisowjetis<strong>ch</strong>e<br />

Propaganda ausgeführt zu haben“ (offizieller Wortlaut der <strong>An</strong>klage). Drezen bekannte si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>uldig.<br />

Die von den Ri<strong>ch</strong>tern V.V. Ul’ri<strong>ch</strong> (Präsident), Rutman und Stel’ma<strong>ch</strong>ovič 175 angeführte Trojka verurteilten<br />

Drezen am 27. Oktober 1937 zum Tode dur<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>iessen. Die Hinri<strong>ch</strong>tung fand no<strong>ch</strong> am glei<strong>ch</strong>en<br />

Tag statt. 176 Die Literatur, die bei seiner Verhaftung bes<strong>ch</strong>lagnahmt wurde, wurde wegen ihres<br />

„nutzlosen ideologis<strong>ch</strong>en Inhalts“ verni<strong>ch</strong>tet.<br />

Bald na<strong>ch</strong> der Ermordung Ė.K. Drezens ereilte das glei<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>icksal au<strong>ch</strong> Arvid Karlovič<br />

Drezen (geb. 1900 in Libau). Im Unters<strong>ch</strong>ied zu seinem Bruder, der in Moskau lebte, erwis<strong>ch</strong>te es ihn<br />

in Leningrad. Na<strong>ch</strong>dem er am 4. November 1937 verhaftet wurde, wurde er am 17. Januar 1938 gemäss<br />

den Paragraphen 58-6-8-10-11 zum Tod verurteilt und ebenfalls no<strong>ch</strong> am glei<strong>ch</strong>en Tag ers<strong>ch</strong>ossen.<br />

177 Im Gegensatz zu seinem Bruder, bei dem zwis<strong>ch</strong>en Verhaftung und Hinri<strong>ch</strong>tung immerhin ein<br />

halbes Jahr verstri<strong>ch</strong>, wurde Arvid s<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> etwas mehr als zwei Monaten na<strong>ch</strong> seiner Verhaftung<br />

ermordet.<br />

Drezens <strong>Frau</strong> Elena Konstantinovna Sazonova (*1899 Vilno), angebli<strong>ch</strong> eine russis<strong>ch</strong>e Literaturexpertin<br />

wurde am 27. Mai 1937 verhaftet. 178 Diese erwies si<strong>ch</strong> als militante Kämpferin gegen die<br />

„konterrevolutionären Elemente“. In der Zeits<strong>ch</strong>rift Meždunarodnyj jazyk betreute sie die Rubrik ‚Varia’.<br />

Jahrzehnte später erfuhr man mehr Details über diese rätselhafte <strong>Frau</strong>, die für den Geheimdienst<br />

NKVD gearbeitet haben soll. Aber statt ihren eigenen Mann zu denunzieren, klärte sie ihn 1932 über<br />

ihre Tätigkeit auf und gab ihm sogar den Namen und Rang des NKVD-Mannes bekannt, mit dem sie<br />

„zusammenarbeitete“. 179 Ė.K. Sazonova wurde am 2. November 1937 von den Ri<strong>ch</strong>tern Golikov (Präsident),<br />

Zyrjanov und Stel’ma<strong>ch</strong>ovič der Teilnahme an der „antirevolutionären Agitation und der Teilnahme<br />

an einer terroristis<strong>ch</strong>en Spionage-Organisation“ bes<strong>ch</strong>uldigt und am folgenden Tag, eine Wo<strong>ch</strong>e<br />

na<strong>ch</strong> ihrem Ehemann, hingeri<strong>ch</strong>tet.<br />

ropa. Wiesbaden 2010. Biographis<strong>ch</strong>e Studie E.K. Drezens über Zamenhof ist auf Esperanto online abrufbar unter: http://iespero.info/files/elibroj/eo%20-%20drezen,%20ernest%20-%20zamenhof.pdf<br />

bzw.:<br />

http://miresperanto.com/zamenhof/drezen_zamenhof.htm.<br />

175<br />

S. http://en.wikipedia.org/wiki/Vasiliy_Ulrikh bzw. russ. und dt. Version. Weitere Namen von <strong>An</strong>gehörigen dieser<br />

Trojkas s. http://ru.wikipedia.org/wiki/Военная_коллегия_Верховного_суда_СССР.<br />

176<br />

Ė.K. Drezen ers<strong>ch</strong>eint au<strong>ch</strong> auf der Liste auf http://lists.memo.ru/d11/f316.htm#n24. Na<strong>ch</strong> dieser Quelle wurde er offenbar<br />

auf dem Neuen Don(skoj)-Friedhof bestattet (s. http://ru.wikipedia.org/wiki/Новое_Донское_кладбище, wo si<strong>ch</strong> das<br />

Don(skoj)-Krematorium befindet (dort wurden au<strong>ch</strong> einige berühmte Opfer der Repressionen wie V.K. Blju<strong>ch</strong>er und M.N.<br />

Tu<strong>ch</strong>ačevskij beerdigt). Eine andere ho<strong>ch</strong>interessante Liste gibt Auskunft darüber, mit wel<strong>ch</strong>en Personen Ė.K. Drezen am<br />

glei<strong>ch</strong>en Tag zum Tod verurteilt wurde (s. http://stalin.memo.ru/spiski/pg04077.htm). Drezen wurde am 11.5.1957 rehabilitiert.<br />

177<br />

S. http://lists.memo.ru/d11/f316.htm#n24. Gemäss dieser Quelle ist er (an ungenanntem Ort) in Leningrad geboren und<br />

gilt als „Leningrader Märtyrer“.<br />

178<br />

Kuznecov, S.N. in: Drezen, Ė.K.: Historio de la mondolingvo: Tri jarcentoj da serĉado. Moskau 1991, S. 28f.<br />

179<br />

NikSt, Ĉu SAT estis sidejo de germana sekreta polico? In: Sennaciulo, 2/1990; Kuznecov S. 25f., und<br />

http://lists.memo.ru/d11/f316.htm#n24. Ihre Bestattung fand auf dem Polygon Kommunarka im Moskauer Gebiet<br />

(http://ru.wikipedia.org/wiki/Расстрельный_полигон_«Коммунарка») statt. Sazonova wurde erst im Januar 1990 rehabilitiert.<br />

180<br />

Russ. Version s. unter http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/Drezen28.html.


54<br />

1.1.1. Zur Spra<strong>ch</strong>philosophie und Spra<strong>ch</strong>politik Ė.K. Drezens<br />

Die folgende Charakterisierung von Ė.K. Drezens spra<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en, spra<strong>ch</strong>politis<strong>ch</strong>en und<br />

spra<strong>ch</strong>philosophis<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten und Auffassungen basiert auf seinen Artikeln ‚Opyt materialističeskogo<br />

obosnovanija voprosa’ (abgedruckt im Bu<strong>ch</strong> ‚Za vseobščim jazykom. Tri veka iskanij‘ von<br />

1928) und ,Puti oformlenija i rasprostranenija meždunarodnogo jazyka (veröffentli<strong>ch</strong>t in Izvestija CK<br />

SĖSR 1-2/1928). 180 Die Esperanto-Version liegt in der Bros<strong>ch</strong>üre ‚La vojoj de formiĝo kaj disvastiĝo<br />

de la Lingvo Internacia’ (Leipzig 1929) vor.<br />

Die Spra<strong>ch</strong>philosophie Ė.K. Drezens geht von der Grundannahme aus, dass das künftige<br />

Weltwirts<strong>ch</strong>aftssystem vom Plan bestimmt wird. Damit hänge die logis<strong>ch</strong>e Notwendigkeit zusammen,<br />

dass die Mens<strong>ch</strong>heit zur kollektiven Zusammenarbeit findet und dass die Internationalisierung der<br />

We<strong>ch</strong>selbeziehungen zwis<strong>ch</strong>en den Mens<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong>setzen wird. Zweitens bedeutet (für ihn) die<br />

Staatsspra<strong>ch</strong>e eines Landes ein grundlegendes Element des staatli<strong>ch</strong>en kapitalistis<strong>ch</strong>en Systems, das<br />

innerhalb eines Staates für die staatli<strong>ch</strong>en Strukturen und die Bürger als obligatoris<strong>ch</strong> gilt und zwar<br />

unabhängig davon, ob es um eine Mutterspra<strong>ch</strong>e für diese Bürger geht oder ni<strong>ch</strong>t. Diese Spra<strong>ch</strong>e diene<br />

au<strong>ch</strong> als Waffe auf dem Markt im Konkurrenzkampf mit dem Ausland. Entspre<strong>ch</strong>end der Entfaltung<br />

des künftigen internationalen Systems werde für die Weltwirts<strong>ch</strong>aft, die Te<strong>ch</strong>nik und die Ideologie<br />

eine allgemeine Weltspra<strong>ch</strong>e (vseobščij mirovoj jazyk) von Bedarf sein. Die Frage einer sol<strong>ch</strong>en allgemeinen<br />

Weltspra<strong>ch</strong>e (obščij mirovoj jazyk) sei unauswei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und müsse kraft der herrs<strong>ch</strong>enden<br />

Umstände gestellt werden.<br />

Die Spra<strong>ch</strong>e verstand Drezen einerseits als eine physiologis<strong>ch</strong>e Kombination von Tönen und<br />

Tonzusammenstellungen (vgl. Loja oben), die den Mens<strong>ch</strong>en bei ihren gegenseitigen Beziehungen<br />

dient. <strong>An</strong>dererseits begriff er die Spra<strong>ch</strong>e als ein Element, das die Arbeitsprozesse, die Arbeiter und<br />

Arbeitervereinigungen und -kollektive unterstützt. Die Spra<strong>ch</strong>e sei ein Instrument, das zu den einen<br />

oder anderen Produktionserfolgen beitrage.<br />

Na<strong>ch</strong>dem si<strong>ch</strong> während eines sehr langen Arbeitsprozesses die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en herausgebildet<br />

hätten (Drezen bes<strong>ch</strong>reibt diesen Prozess ausführli<strong>ch</strong>, bei dem nur das Kriterium der Arbeit<br />

von Relevanz war), sei es es zu einer Assimilation bzw. Vers<strong>ch</strong>melzung der Spra<strong>ch</strong>en gekommen,<br />

bei der neue Spra<strong>ch</strong>en entstanden seien, die den Arbeitsbedingungen der Völker besser entspro<strong>ch</strong>en<br />

hätten. Dabei habe die Spra<strong>ch</strong>e desjenigen Volkes gesiegt, dessen te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Kultur auf höherem Niveau<br />

stand und dessen wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Verfassung und Arbeitsmethodik am beständigsten, widerstandsfähigsten<br />

und rationellsten waren.<br />

Sämtli<strong>ch</strong>e heute no<strong>ch</strong> bestehenden Spra<strong>ch</strong>en seien das Resultat einer ungemein komplizierten<br />

Beeinflussung der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gemeins<strong>ch</strong>aften, die miteinander in Kontakt traten, dur<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>iedene<br />

Arbeitssituatonen und Arbeitserfahrungen<br />

Die Erri<strong>ch</strong>tung eines einheitli<strong>ch</strong>en kollektivistis<strong>ch</strong>en Weltsystems werde jedo<strong>ch</strong> die etwa 800<br />

bestehenden Formen und 800 Spra<strong>ch</strong>en zerstören und zu einer einheitli<strong>ch</strong>en äusserli<strong>ch</strong>en Gestalt der<br />

Spra<strong>ch</strong>e führen.<br />

Heutzutage beoba<strong>ch</strong>te man eine Internationalisierung der Spra<strong>ch</strong>e, die glei<strong>ch</strong>zeitig mit der Internationalisierung<br />

der Produktionsmethoden einhergehe, Glei<strong>ch</strong>e Formen gäbe es in mehreren Spra<strong>ch</strong>en<br />

glei<strong>ch</strong>zeitig. Mit der forts<strong>ch</strong>reitenden Assimilation der Spra<strong>ch</strong>en und dem Vordringen einer immer<br />

grösseren Menge von internationalen Elementen, sei es naheliegend, die bevorstehende Vers<strong>ch</strong>melzung<br />

aller Spra<strong>ch</strong>en und die S<strong>ch</strong>affung einer allgemeinen Einheitsspra<strong>ch</strong>e vorauszusehen, die<br />

180<br />

S. http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/Drezen28.html


55<br />

den Bedürfnissen der modernen mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Kultur und Te<strong>ch</strong>nik entspri<strong>ch</strong>t. Freili<strong>ch</strong> sei der Weg bis<br />

zur Herausbildung von einheitli<strong>ch</strong>en allgemeinen Spra<strong>ch</strong>formen no<strong>ch</strong> weit, und man sollte au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

erwarten, dass der Prozess der Vers<strong>ch</strong>melzung der Spra<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>nell und einfa<strong>ch</strong> vonstatten gehen<br />

wird.<br />

Die moderne Te<strong>ch</strong>nik, die moderne Kultur und die moderne Wirts<strong>ch</strong>aft enthielten bereits die<br />

Voraussetzungen für die Entstehung einer allgemeinen internationalen Spra<strong>ch</strong>e. Aber wenn eine sol<strong>ch</strong>e<br />

Spra<strong>ch</strong>e fehlt, könnten unsere te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Errungens<strong>ch</strong>aften auf den Gebieten der Kommunikation<br />

und der Gedankenübertragung ni<strong>ch</strong>t genügend genutzt werden. Die Te<strong>ch</strong>nik und die Kultur, die Produktionsmethoden<br />

und die Organisation der Kommunikation hätten die Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e<br />

überholt.<br />

Das Problem der internationalen Allgemeinspra<strong>ch</strong>e stehe mit voller Aktualität vor der modernen<br />

Mens<strong>ch</strong>heit. Und selbst wenn es im Moment trotz vorhandener objektiver Bedingungen ni<strong>ch</strong>t<br />

mögli<strong>ch</strong> sei, die Assimilation der existierenden Spra<strong>ch</strong>en herbeizuführen oder eine einheitli<strong>ch</strong>e internationale<br />

Spra<strong>ch</strong>e zu s<strong>ch</strong>affen, sollten wir uns fragen, ob es mögli<strong>ch</strong> sei, irgendwel<strong>ch</strong>e Massnahmen<br />

zu treffen, dur<strong>ch</strong> künstli<strong>ch</strong>e Beeinflussung oder dur<strong>ch</strong> Regulierung den Prozess der Entstehung neuer<br />

Spra<strong>ch</strong>formen zu bes<strong>ch</strong>leunigen, die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Internationalisierung zu fördern oder sogar eine internationale<br />

Spra<strong>ch</strong>e zu s<strong>ch</strong>affen, die der modernen Kultur, Te<strong>ch</strong>nik und dem Alltag gewa<strong>ch</strong>sen ist.<br />

Immerhin könnte man in diesen Berei<strong>ch</strong>en bereits die folgenden Massnahmen ergreifen.<br />

- Vereinfa<strong>ch</strong>ung der Re<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>reibung<br />

- Vereinheitli<strong>ch</strong>ung der S<strong>ch</strong>riften auf der Grundlage des Lateinalphabets 181<br />

- Internationalisierung der wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Terminologien<br />

- Einführung einheitli<strong>ch</strong>er Nomenklaturen, Standards, Normen usw.<br />

Da die Voraussetzungen für die S<strong>ch</strong>affung einer Welteinheitsspra<strong>ch</strong>e aber no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gegeben seien,<br />

könne nur die Rede von der S<strong>ch</strong>affung einer Hilfsspra<strong>ch</strong>e sein, die als Hilfsmittel (russ. prisposoblenie)<br />

für die Nutzung der Kontakte zwis<strong>ch</strong>en einzelnen Ländern und Völkern dient, sozusagen als<br />

Zweitspra<strong>ch</strong>e für jedes Volk. Dass eine der bestehenden natürli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en diese Rolle übernehmen<br />

kann, s<strong>ch</strong>loss Drezen kategoris<strong>ch</strong> aus. Denn die <strong>An</strong>nahme einer sol<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e würde einzelnen Nationen<br />

eine ganze Reihe von Privilegien vers<strong>ch</strong>affen, was Drezen für inakzeptabel hielt. (Bei diesem<br />

Punkt handelt es si<strong>ch</strong> um ein ´klassis<strong>ch</strong>es´ Argument der Esperanto-Bewegung, das ni<strong>ch</strong>t nur von<br />

Kommunisten und Linken vertreten wurde/wird).<br />

Eine sol<strong>ch</strong>e internationale Hilfsspra<strong>ch</strong>e sollte die folgenden Fähigkeiten aufweisen: sie sollte<br />

allen Völkern glei<strong>ch</strong>ermassen lei<strong>ch</strong>t zugängli<strong>ch</strong> und verständli<strong>ch</strong> sein, sie sollte elementar, einfa<strong>ch</strong>,<br />

ges<strong>ch</strong>meidig (d.h. flexibel) und lei<strong>ch</strong>t zum <strong>An</strong>eignen sein und sie sollte im Alltag über eine grosse<br />

<strong>An</strong>passungsfähigkeit verfügen.<br />

Im Text ‚La vojoj de formiĝo kaj disvastiĝo de la Lingvo Internacia’ (Leipzig 1929), dessen<br />

marxistis<strong>ch</strong>e Diktion auf den heutigen Leser etwas befremdli<strong>ch</strong> wirkt, führte Drezen seine<br />

Spra<strong>ch</strong>theorie no<strong>ch</strong> weiter aus, mit dem Fokus auf Esperanto, um die Gründe dessen Erfolges zu<br />

ergründen.<br />

So sei die Frage, dass die allgemeine Entwicklung der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Beziehungen und der<br />

mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Kultur die S<strong>ch</strong>affung und Implementierung einer künftigen universellen Einheitsspra<strong>ch</strong>e<br />

benötige, indiskutabel, ebenfalls die Tatsa<strong>ch</strong>e, dass aufgrund der existierenden Erfahrung der Spra<strong>ch</strong>entwicklung<br />

eine voll konstruierte und praktis<strong>ch</strong> verwendbare internationale Hilfsspra<strong>ch</strong>e bereits mög-<br />

181<br />

In den 1920er Jahren dur<strong>ch</strong>lebte die Sowjetunion bekanntli<strong>ch</strong> eine Welle der Latinisierung vers<strong>ch</strong>iedener S<strong>ch</strong>riftspra<strong>ch</strong>en.


56<br />

li<strong>ch</strong> sei. Die Mögli<strong>ch</strong>keit, eine sol<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e zu s<strong>ch</strong>affen, bedeute keineswegs, dass die bestehenden<br />

natürli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en verdrängt werdenen. Diese Spra<strong>ch</strong>en blieben bestehen bis die letzten Grenzen<br />

und Unters<strong>ch</strong>iede zwis<strong>ch</strong>en den einzelnen Völkern sowie zwis<strong>ch</strong>en den materiellen und ökonomis<strong>ch</strong>en<br />

Formen und Bedingungen vers<strong>ch</strong>wunden seien.<br />

Glei<strong>ch</strong>zeitig und parallel neben den natürli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en könne eine internationale Hilfsspra<strong>ch</strong>e<br />

aber dur<strong>ch</strong>aus bestehen, die zum Zwecke der Nutzung der internationalen Beziehungen dur<strong>ch</strong><br />

diejenigen Personen ges<strong>ch</strong>affen worden ist, die sol<strong>ch</strong>e Beziehungen benötigen. Erst wenn die natürli<strong>ch</strong>en<br />

Nationalspra<strong>ch</strong>en im Alltag bedeutungslos geworden und überhaupt vers<strong>ch</strong>wunden seien, werde<br />

si<strong>ch</strong> anstelle der Hilfsspra<strong>ch</strong>e die Universalspra<strong>ch</strong>e dur<strong>ch</strong>setzen. (Diese Auffassung wurde eigentli<strong>ch</strong><br />

nur von marxistis<strong>ch</strong>-stalinistis<strong>ch</strong>en Linguisten in den 20er und 30er Jahren in der Sowjetunion vertreten.)<br />

Es sei s<strong>ch</strong>wierig, die Wege vorauszusehen, wie die Spra<strong>ch</strong>planung in der fernen Zukunft zu<br />

gestalten sei, wenn die Wirts<strong>ch</strong>afts- und Produktionsmethoden auf der ganzen Welt glei<strong>ch</strong> sein werden.<br />

Ebenfalls ni<strong>ch</strong>t lei<strong>ch</strong>t sei es, die Art und Weise vorauszuahnen, wie si<strong>ch</strong> die internationale Hilfsspra<strong>ch</strong>e<br />

als Prämisse auf der Form der künftigen Universalspra<strong>ch</strong>e abbilden werde. Das Problem der<br />

internationalen Hilfsspra<strong>ch</strong>e zu behandeln sei heutzutage aber vordringli<strong>ch</strong>er als si<strong>ch</strong> mit der Frage der<br />

künftigen Weltspra<strong>ch</strong>e der fernen Zukunft zu befassen.<br />

Getreu na<strong>ch</strong> der marxistis<strong>ch</strong>en Lehre sei die Spra<strong>ch</strong>e ein Teil des Überbaus der ökonomis<strong>ch</strong>en<br />

und Produktionsbeziehungen und diene der Verständigung derjenigen Personen, die sie besitzen und<br />

verwenden. Als Teil des Überbaus sollte die Spra<strong>ch</strong>e aber ni<strong>ch</strong>t nur über Qualitäten wie die Einfa<strong>ch</strong>heit<br />

und Verwendbarkeit verfügen, die ihre Einführung vereinfa<strong>ch</strong>en, sondern au<strong>ch</strong> mit dem kulturellen<br />

Niveau des Publikums, das sie benutzt, übereinstimmen. In diesem Fall könne man von der Spa<strong>ch</strong>e<br />

ni<strong>ch</strong>t nur als von einem rein me<strong>ch</strong>anis<strong>ch</strong>en Werkzeug spre<strong>ch</strong>en. Wenn sie ledigli<strong>ch</strong> ein sol<strong>ch</strong>es wäre,<br />

würde si<strong>ch</strong> die Spra<strong>ch</strong>e, einmal eingeführt, ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>iedenenen Veränderungen unterwerfen, die zu<br />

einem höheren S<strong>ch</strong>wierigkeitsgrad und zu grösseren Unregelmässigkeiten in der Struktur führen.<br />

In der Entwicklungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Spra<strong>ch</strong>en sei es oft vorgekommen, dass die lei<strong>ch</strong>ten und<br />

einfa<strong>ch</strong>en Formen dur<strong>ch</strong> kompliziertere und weniger einfa<strong>ch</strong>e Formen ersetzt wurden. Der Grund dafür<br />

sei gewesen, dass die komplizierteren Formen si<strong>ch</strong> den si<strong>ch</strong> verändernden materiellen Produktionsverhältnisse<br />

und folgli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> der si<strong>ch</strong> verändernden psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>en Si<strong>ch</strong>tweise der Mens<strong>ch</strong>en,<br />

die die entspre<strong>ch</strong>ende Spra<strong>ch</strong>e benutzten, angepasst hätten.<br />

Die Spra<strong>ch</strong>formen seien als Verständigungsmittel stets das Resultat ihrer Übereinstimmung<br />

mit einer gewissen Produktionskonjunktur und mit der Existenz eines gewissen kulturellen Niveaus<br />

gewesen. Sie seien au<strong>ch</strong> das Ergebnis eines stillen, man<strong>ch</strong>mal unbewussten Vertrags zwis<strong>ch</strong>en den<br />

Mitgliedern des Kollektivs gewesen, das die entspre<strong>ch</strong>ende Spra<strong>ch</strong>e benutzte. Die materiellen Produktionsverhältnisse,<br />

auf deren Basis si<strong>ch</strong> die zwis<strong>ch</strong>enmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Beziehungen entwickelt hätten und<br />

die kollektive Kultur der Mens<strong>ch</strong>heit erbaut worden sei, hätten in erster Linie den Grad der Erweiterung<br />

des Personenkreises bestimmt, der diese Spra<strong>ch</strong>e benutzte.<br />

Derjenige Personenkreis, der eine gemeinsame Spra<strong>ch</strong>e verwendende und der über eine breitere<br />

Produktionsbasis und über vielseitigere Interessen verfügte als ein anderer, habe ni<strong>ch</strong>t nur zu einer<br />

grösseren Berei<strong>ch</strong>erung der Spra<strong>ch</strong>e selbst, sondern au<strong>ch</strong> zur entspre<strong>ch</strong>enden Veränderung ihrer Formen<br />

und zum Ersatz von weniger stabilen Formen dur<strong>ch</strong> stabiliere beigetragen. Alle Versu<strong>ch</strong>e, die<br />

weniger stabilen Formen sozusagen gewaltsam zu erhalten und die angemesseneren dur<strong>ch</strong> weniger<br />

angemessene ebenfalls mit aller Kraft zu verhindern, seien immer und überall von Misserfolg gekrönt<br />

gewesen.<br />

Solange alle mögli<strong>ch</strong>st stabilen und angemessenen Spra<strong>ch</strong>formen für die kollektive <strong>An</strong>wendung<br />

im Detail ni<strong>ch</strong>t vorauszusehen seien, könne auf dem Gebiet der realen Spra<strong>ch</strong>planung ni<strong>ch</strong>t alles


57<br />

selbst von den besten und klügsten Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftlern dur<strong>ch</strong> eigene Erfindungen und Wüns<strong>ch</strong>e<br />

bestimmt werden, bis das Leben selbst und die Produktivbeziehungen in einem klaren und harmonis<strong>ch</strong>en<br />

System reguliert worden seien. Diese Spra<strong>ch</strong>formen würden vom realen Leben selbst und dur<strong>ch</strong><br />

die kollektive Favorisierung der einen oder anderen Formen dur<strong>ch</strong> diejenigen Personen bestimmt werden,<br />

die die entspre<strong>ch</strong>ende Spra<strong>ch</strong>e benutzen. Die bisherigen Versu<strong>ch</strong>e, eine internationale Spra<strong>ch</strong>e zu<br />

kreieren, hätten auf diesen Prämissen beruht. Dies sei au<strong>ch</strong> bei der weiteren Entwicklung der verbreitetsten<br />

internationalen Spra<strong>ch</strong>e, des Esperanto, der Fall.<br />

Sämtli<strong>ch</strong>e Versu<strong>ch</strong>e, internationale Kunstspra<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> den objektiven Kriterien der<br />

Internationalisierung und der <strong>An</strong>näherung zwis<strong>ch</strong>en den ökonomis<strong>ch</strong>en Formen und den modernen<br />

Völkern und Spra<strong>ch</strong>en, sondern na<strong>ch</strong> dem persönli<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>mack und den Vorstellungen der Erfinder<br />

zu kreieren, hätten einen Misserfolg erlitten, so au<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>leyers Volapük, denn aufgrund persönli<strong>ch</strong>er<br />

Favorisierung und Sympathien sei die harmonis<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>eignung allgemeiner Spra<strong>ch</strong>formen dur<strong>ch</strong><br />

ein mehr oder weniger umfangrei<strong>ch</strong>es Kollektiv ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>. Eine internationale Spra<strong>ch</strong>e könne aber<br />

nur aufgrund einer internationalisierten Terminologie entstehen, alle anderen Experimente seien unseriös.<br />

Der Umfang einer sol<strong>ch</strong>en internationalen Terminologie sei aber no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gross genug, um eine<br />

internationale Spra<strong>ch</strong>e zu kreieren. Weil es unter den Erfindern von Kunstspra<strong>ch</strong>en keine Konkordanz<br />

über die <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten bezügli<strong>ch</strong> eines Alphabets, einer gemeinsamen Grammatik und der Wahl der Wortformen<br />

gäbe, seien in den letzten drei bis vier Jahrhunerten so viele vers<strong>ch</strong>iedene Vors<strong>ch</strong>läge für eine<br />

internationale Spra<strong>ch</strong>e auf der Grundlage der existierenden Terminologien entstanden, die einen ziemli<strong>ch</strong><br />

grossen Grad an Willkür aufwiesen. Unter diesen über hundertfünfzig Spra<strong>ch</strong>projekten habe nur<br />

eine Spra<strong>ch</strong>e praktis<strong>ch</strong>e Bedeutung erhalten: Esperanto. Die reale Existenz dieser Kunstspra<strong>ch</strong>e sei<br />

aber kein Grund, auf die Propagierung anderer Kunstspra<strong>ch</strong>enprojekte zu verzi<strong>ch</strong>ten.<br />

Im Zusammenhang mit dem Erfolg des Esperanto stellten si<strong>ch</strong> für Drezen mehrere Fragen: 1.<br />

Warum erlangte gerade Esperanto die beherrs<strong>ch</strong>ende Position unter den Kunstspra<strong>ch</strong>en ? 2. Handelt es<br />

si<strong>ch</strong> beim Esperanto in der Tat um das effektivste und perfekteste System von allen Kunstspra<strong>ch</strong>en ?<br />

3. Ist es mögli<strong>ch</strong>, Esperanto dur<strong>ch</strong> ein anderes System einer internationalen Spra<strong>ch</strong>e zu ersetzen ? 4.<br />

Enthält Esperanto den Embrio der gemeinsamen Weltspra<strong>ch</strong>e der Zukunft ?<br />

Die folgenden Gründe seien für den relativen Erfolg des Esperanto ents<strong>ch</strong>eidend gewesen.<br />

Erstens sei die Veröffentli<strong>ch</strong>ung des Esperanto erfolgt, als die Spra<strong>ch</strong>e Volapük s<strong>ch</strong>on zu degenerieren<br />

begann, zweitens habe Zamenof sein eigenes Projekt ni<strong>ch</strong>t als göttli<strong>ch</strong>e Offenbarung verkündet, wie<br />

dies S<strong>ch</strong>leyer tat, drittens habe si<strong>ch</strong> Esperanto auf die moderne internationale te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e und wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />

Terminologie abgestützt. Ausserdem habe Zamenhof Neuerungen in seiner Spra<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t<br />

per Dekret dur<strong>ch</strong>gesetzt, sondern habe seine Spra<strong>ch</strong>e der gesamten Gemeins<strong>ch</strong>aft überlassen und somit<br />

auf das Re<strong>ch</strong>t verzi<strong>ch</strong>tet, alleiniger Besitzer dieser Spra<strong>ch</strong>e zu sein. Im Unters<strong>ch</strong>ied zu anderen Kunstspra<strong>ch</strong>eprojekten<br />

seien für Esperanto Lehrbü<strong>ch</strong>er in den wi<strong>ch</strong>tigsten Spra<strong>ch</strong>en ges<strong>ch</strong>rieben worden.<br />

Ausserdem seien in Esperanto Zeits<strong>ch</strong>riften ers<strong>ch</strong>ienen, und es sei eine originale und übersetzte Literatur<br />

entstanden. Obwohl der anfängli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>umfang des Esperanto no<strong>ch</strong> äusserst bes<strong>ch</strong>eidene Züge<br />

aufgewiesen habe, sei der Worts<strong>ch</strong>atz dann immer umfangrei<strong>ch</strong>er geworden. Aber ni<strong>ch</strong>t alle Wörter<br />

hätten der alltägli<strong>ch</strong>en Praxis standgehalten, und weniger geeignete Formen seien von geeigneteren<br />

abgelöst worden. Auf diese Weise habe Esperanto wa<strong>ch</strong>sen und si<strong>ch</strong> entwickeln können, zwar langsam<br />

aber zielgeri<strong>ch</strong>tet.<br />

Es sei aber zu bezweifeln, so Drezen, dass die hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gründe des Erfolges des Esperanto<br />

in seiner internationalen Terminologie, seiner einfa<strong>ch</strong>en und ausnahmslosen Grammatik, seiner<br />

wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Wortableitung und seiner logis<strong>ch</strong>en Syntax zu su<strong>ch</strong>en sind, denn mehr oder weniger<br />

alle vorgestellten Kunstspra<strong>ch</strong>eprojekte hätten über dieselben Vorzüge verfügt. (Gemäss Drezen wi<strong>ch</strong>en<br />

die einzelnen Kunstpra<strong>ch</strong>eprojekte nur um 10-15 Prozent voneinander ab, während der Rest des<br />

Materials dieser Spra<strong>ch</strong>en im Prinzip miteinander übereinstimmte). Es könne also ni<strong>ch</strong>t behauptet<br />

werden, dass Esperanto von <strong>An</strong>fang an eine perfektere Spra<strong>ch</strong>e als die anderen gewesen sei. Der<br />

Hauptvorteil des Esperanto liege weniger auf spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er, sondern vielmehr auf sozialer Ebene, denn


58<br />

nur dem Esperanto sei es bisher gelungen, eine gewisse <strong>An</strong>zahl von Spre<strong>ch</strong>ern um si<strong>ch</strong> zu s<strong>ch</strong>aren. Ein<br />

weiterer spezieller Punkt liege für Esperanto darin begründet, dass die meisten Kunstspra<strong>ch</strong>e-<br />

<strong>An</strong>hänger ausgere<strong>ch</strong>net der Spra<strong>ch</strong>e Zamenhofs instinktiv die Treue hielten, als einige Reformer mit<br />

der Absi<strong>ch</strong>t auftraten, Esperanto zu verbessern oder neue Projekte zu begründen.<br />

Bei einer objektiven Beurteilung aller existierenden Projekte der internationalen Spra<strong>ch</strong>e müsse<br />

man jedo<strong>ch</strong> feststellen, dass es niemanden gibt und es ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong> sei, jemanden zu finden, der<br />

die theoretis<strong>ch</strong>e Frage lösen könnte, das ri<strong>ch</strong>tige System und die geeigneten Formen für die internationale<br />

Spra<strong>ch</strong>e zu bestimmen. Jede Ents<strong>ch</strong>eidung, die von einer sol<strong>ch</strong>en einzelnen Person getroffen<br />

würde, wäre grösstenteils abstrakt und rational und würde als Argument ni<strong>ch</strong>t die Unterstützung aller<br />

Beteiligten finden, mit dem diese aufgrund der Erfahrung mit der historis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>planung zu überzeugen<br />

wären.<br />

Während die Wissens<strong>ch</strong>aftler, Theoretiker und Spezialisten keine Übereinstimmung finden<br />

könnten, was die definitiven und theoretis<strong>ch</strong> vorzuziehenden Formen der internationalen Spra<strong>ch</strong>e betrifft,<br />

s<strong>ch</strong>reite die praktis<strong>ch</strong>e Planung der neuen Spra<strong>ch</strong>e auf ihre Art und Weise voran. Beim Prozess<br />

der kollektiven Spra<strong>ch</strong>planung, der von allen Benutzern, die diese internationale Spra<strong>ch</strong>e benötigen,<br />

beeinflusst werde, würden die offendkundigsten, überzeugendsten und geeignetsten Formen eruiert<br />

und gestaltet und in den entspre<strong>ch</strong>enden Wörterbü<strong>ch</strong>ern festgehalten werden.<br />

Bisher seien alle existierenden Spra<strong>ch</strong>en nur als Produkt einer kollektiven Planung dur<strong>ch</strong> diejenigen<br />

Personen entstanden, die sie benötigt hätten. Im Prinzip gäbe es in dieser Hinsi<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> bei der<br />

internationalen Hilfsspra<strong>ch</strong>e keine Ausnahme. Drezen bezweifelte, dass eine internationale Spra<strong>ch</strong>e als<br />

Produkt einer Büroarbeit von einer oder von einzelnen Personen ers<strong>ch</strong>affen werden kann, selbst wenn<br />

es si<strong>ch</strong> um hervorragende Wissens<strong>ch</strong>aftler und Spezialisten handle. Eine sol<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e könne nur als<br />

Resultat einer kollektiven Übung und kraft des Experiments, ausgeführt von denjenigen Personen, die<br />

diese Spra<strong>ch</strong>e verwenden, entstehen. Esperanto habe im Prinzip ni<strong>ch</strong>t nur diese Phase bereits dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ritten,<br />

sondern seine Entwicklung sei im Grunde au<strong>ch</strong> völlig identis<strong>ch</strong> mit der Erfahrung sämtli<strong>ch</strong>er<br />

natürli<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>en verlaufen. Der Hauptunters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en Esperanto und den natürli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>en<br />

bestehe eigentli<strong>ch</strong> nur darin, dass Esperanto als ni<strong>ch</strong>t-natürli<strong>ch</strong>e Hilfsspra<strong>ch</strong>e, als zweite Spra<strong>ch</strong>e<br />

für alle, die sie verwenden, vor allem als s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong> genutzte Bü<strong>ch</strong>erspra<strong>ch</strong>e existiere und keine Volksspra<strong>ch</strong>e<br />

sei. Die fast auss<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong>e Verbindung mit der Literatur habe aber au<strong>ch</strong> die positive Konsequenz<br />

gezeitigt, dass Esperanto ni<strong>ch</strong>t in Dialekte zerfallen sei (wegen der sozialen und wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Differenzierung der Mens<strong>ch</strong>heit sei ein Zerfall der internationalen Spra<strong>ch</strong>e in Dialekte aber ni<strong>ch</strong>t<br />

ausges<strong>ch</strong>lossen). Die immer grösser werdende Zahl von Esperantisten und die zunehmende Praxis mit<br />

dem Esperanto ziehe immer mehr Personenkreise an, die si<strong>ch</strong> für die internationale Spra<strong>ch</strong>e interessiert<br />

zeigten. Dies sei für die kollektive Planung der neuen internationalen Spra<strong>ch</strong>e förderli<strong>ch</strong>. So dringe<br />

Esperanto immer häufiger in die breiten Massen, d.h. in diejenigen S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten ein, die die Notwendigkeit<br />

eines gemeinsamen Kommunikationsmittels am stärksten verspürten und ein sol<strong>ch</strong>es für ihre<br />

Bedürfnisse und Ziele au<strong>ch</strong> verwendeten. Auf diese Weise entwickle si<strong>ch</strong> Esperanto als eine von<br />

Zamenhof ges<strong>ch</strong>affene Spra<strong>ch</strong>e zu einer lebendigen, vielfältigen und rei<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e, die die Erfordernisse<br />

der modernen Te<strong>ch</strong>nik und Kultur immer mehr erfülle.<br />

Was die Rolle und Funktion konkurrierender <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> betreffe, sah Drezen dur<strong>ch</strong>aus au<strong>ch</strong><br />

Vorteile. So würden diese mit ihrem Spra<strong>ch</strong>material dazu beitragen, die Auswahl der Elemente der<br />

internationalen Spra<strong>ch</strong>e zu erlei<strong>ch</strong>tern und neue Wege der Spra<strong>ch</strong>planung aufzeigen. Auf diese Weise<br />

liessen si<strong>ch</strong> die besten Elemente von einem System ins andere übertragen und die internationale Spra<strong>ch</strong>e<br />

würde so berei<strong>ch</strong>ert. Die anderen Systeme hätten bisher aber keine Bedrohung für die Weiterentwicklung<br />

des Esperanto dargestellt, no<strong>ch</strong> würden sie Esperanto verdrängen. Nur Interlingua (eigtl.<br />

Latino sine flexione, 1903), Ido (1908) und Occidental (1922) hätten als Reformplanspra<strong>ch</strong>en eine<br />

gewisse Bedeutung erlangt und etwa 10 Prozent der Esperantisten absorbiert. Während diese Spra<strong>ch</strong>en<br />

für die kollektive Arbeit am Esperanto einen gewissen Nutzen bringen könnten, spielten sie für die<br />

massenhafte Verwendung aber kaum eine Rolle, weil die Einführung von Reformen per Dekret ihnen


59<br />

den Geist der kollektiven Spra<strong>ch</strong>planung raube, der dem Esperanto eigen sei. Obwohl si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> diese<br />

Reformspra<strong>ch</strong>en ebenfalls bemüht hätten, si<strong>ch</strong> auf dem Weg der kollektiven Praxis zu entwickeln,<br />

hielt Drezen Ido für ges<strong>ch</strong>eitert, denn seine Bewegung sei am Zerfallen. Au<strong>ch</strong> Peanos Interlingua, das<br />

auf wenige Hundert <strong>An</strong>hänger vor allem im Milieu von Wissens<strong>ch</strong>aftlern, Lateinliebhabern und Katholiken<br />

sowie räumli<strong>ch</strong> auf Italien bes<strong>ch</strong>ränkt sei, räumte er keine grossen Chancen ein. Eine sol<strong>ch</strong>e<br />

elitäre (aK) Spra<strong>ch</strong>e könne niemals von den Massen akzeptiert werden.<br />

Die sozusagen gewaltsame Einführung des Esperanto oder einer ähnli<strong>ch</strong>en internationalen<br />

Spra<strong>ch</strong>e sei jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>. Die Entwicklung des Esperanto hänge von seiner Verwendung in<br />

allen mögli<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong>en des modernen Lebens ab wie au<strong>ch</strong> von dem Wuns<strong>ch</strong> und dem Bedürfnis<br />

der Mens<strong>ch</strong>en selbst, eine sol<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e anzuwenden. Drezen hielt es für ni<strong>ch</strong>t zielgeri<strong>ch</strong>tet, Esperanto<br />

von oben einzuführen und ri<strong>ch</strong>tete seine Hoffnung auf die Initiative von unten, auf die Mens<strong>ch</strong>enmassen.<br />

Denn keine internationale Spra<strong>ch</strong>e, die auf Bes<strong>ch</strong>luss einer Behörde eingeführt würde,<br />

könnte sofort die Form einer vollreifen Spra<strong>ch</strong>e annehmen und von einer bestimmten Menge von<br />

Mens<strong>ch</strong>en beherrs<strong>ch</strong>t werden. Statt also eine sol<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e sofort ins Leben einzupflanzen wäre es<br />

besser, wenn die Behörden die Bewegung für die internationale Spra<strong>ch</strong>e zunä<strong>ch</strong>st wenigstens moralis<strong>ch</strong><br />

unterstützen und es ihr erlauben würden, diese Spra<strong>ch</strong>e fakultativ zu unterri<strong>ch</strong>ten, bis die endgültige<br />

Form dieser Spra<strong>ch</strong>e gefunden und ents<strong>ch</strong>ieden sei. Entspre<strong>ch</strong>ende wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Organisationen<br />

könnten und sollten diesen Prozess begleiten. Die Marxisten sollten aus dem Studium dieser Fragen<br />

die ri<strong>ch</strong>tigen S<strong>ch</strong>lussfolgerungen ziehen, au<strong>ch</strong> wenn die Mehrheit der Soziologen die Frage der<br />

internationalen Spra<strong>ch</strong>e ignorierten, denn die Lösung dieses Problems habe eine grosse Bedeutung für<br />

die Gestaltug der zukünftigen Gesells<strong>ch</strong>aft. So sollte man si<strong>ch</strong> gegenüber dem Thema der internationalen<br />

Spra<strong>ch</strong>e weder interesselos no<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong>gültig verhalten.<br />

Im <strong>An</strong>hang an diese Studie folgte eine Auflistung der wi<strong>ch</strong>tigsten Ereignisse in der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> seit 1603 und der bedeutendsten <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>projekte selbst.<br />

1.2. Die Opferliste<br />

Die Namen der bekannten und vom KGB bestätigten Opfer und die Daten zum Urteil, zur Verhaftung<br />

und zum Tod der Betroffenen wurde von Nikolaj Stepanov auf der Website historio.ru 182 veröffentli<strong>ch</strong>t<br />

und dokumentiert (und von mir neu zusammengestellt und ergänzt; wo angebra<strong>ch</strong>t, wurden die Daten<br />

gemäss lists.memo.ru korrigiert).<br />

Hingeri<strong>ch</strong>tete<br />

Moskau<br />

Name (Geburtsjahr) Datum der Verhaftung Todesdatum<br />

Batta Josif (*1900) 01.12.1937 03.10.1938<br />

Varankin V.V. (*1902) 08.02.1938 03.10.1938<br />

Drezen Ė.K. (*1892) 17.04.1937 27.10.1937<br />

Žavoronkov V.F. (*1885) 20.02.1938 03.10.1938<br />

Incertov N.Ja. (*1896) 17.04.1937 27.10.1937<br />

182<br />

http://historio.ru/kaketoby.php.


Muravkin G.I. (*1905) 21.11.1936 11.12.1937<br />

Nekrasov N.V. (*1900) 11.02.1938 04.10.1938<br />

Nikol’skij R.B. (*1902) 17.02.1938 04.10.1938<br />

Robiček (Robicsek) F.P. (*1914) 12.03.1938 19.10.1938<br />

Rozenfel’d M.A. (*1897) 27.05.1937 ?<br />

Sazonova Ė.K. (*1899) 27.05.1937 03.11.1937<br />

Samojlenko A.T. (*1898) 21.02.1938 04.10.1938<br />

Čirkov S.F. (*1900) 19.08.1937 31.03.1938<br />

Iodko, A.R. (*1893) 23.08.1937 13.01.1938<br />

Futerfas, N.Ja. (*1896-1937) 18.02.1937 27.10.1937<br />

Ponjatovskij, G.A. (*1893) 15.02.1938 27.02.1938<br />

Usov, N.P. (*1900) 08.02.1938 04.10.1938<br />

60<br />

Ukraine<br />

Borisov N.A. (*1889) 17.03.1937 02.09.1937<br />

Viktorov-Če<strong>ch</strong>ovič D.V. (*1888) 18.03.1937 02.09.1937<br />

Kolčinskij V.M. (*1904) 21.10.1936 03.09.1937<br />

Izgur I.E. (*1881) 23.10.1936 03.10.1937<br />

Mi<strong>ch</strong>al’skij E.I. (*1897) 16.03.1937 15.10.1937<br />

Pogorelov D.I. (*1883) 31.01.1937 02.09.1937<br />

Potana A.N. (*1907) 07.02.1937 14.10.1937<br />

Ėggers B.A. (*1893) 26.04.1937 03.10.1937<br />

Jürgenson A.N. (*1903) 13.07.1937 20.09.1937<br />

Zonnenberg-Fedorovskij V.A. 16.10.1936 15.10.1937<br />

Suraženko P.E. (*1891) 23.08.1936 ?<br />

Lil’e A.A. (*1891) 21.03.1938 14.10.1938<br />

Krečetov A.S.<br />

14.10.1937 (verurteilt)<br />

Odessa<br />

Bočarov G.P. (*1887) 21.06.1937 24.11.1937<br />

Vozdviženskij V.V. (*1879) 13.06. 1937 24.11.1937<br />

Ivanov V.P. (*1900) 01.08. 1937 24.11.1937<br />

Pil’ E.E. (*1881) 07.08. 1937 24.11.1937<br />

Sutkovoj V.G. (*1904) 07.08. 1937 24.11.1937<br />

Cholm N.E. (*1898) 13.07. 1937 24.11.1937<br />

Zu 10 Jahren Lagerhaft (ITL) verurteilt<br />

Zak L.D. (*1908) 21.02.1938 03.11.1938<br />

Mastepanov, S.D. (1913-2002) 25.12.1937 05.1938


61<br />

Zu 8 Jahren Lagerhaft (ITL) verurteilt<br />

Datum der Verhaftung Datum der Verurteilung<br />

Bakušinskij R.N.<br />

10.03.1938 02.07.1938<br />

(1892-10.11.1938)<br />

Gavrilov P.A.<br />

17.02.1938 02.09.1938<br />

(1904-12.11.1943)<br />

Gorazeev V.I. (1897-?) 12.03.1938 02.07.1938<br />

Gurov A.L. (1892-?) 10.03.1938 02.07.1938<br />

Demidjuk G.P. (1895-1985) 10.02.1938 23.07.1940<br />

Deškin G.F. (1891-?) 10.03.1938 23.04.1939<br />

Zykov V.M. (1895-1938) 10.03.1938 02.07.1938<br />

Karantbajvel’ I.I. (1898- ?) 10.03.1938 02.07.1938<br />

Karuzin P.A. (1889- ?) 10.03.1938 02.07.1938<br />

Kosuškin F.F. (1905-?) 10.03.1938 28.09.1938<br />

Mišin I.A. (1912-?) 02.08.1938 28.09.1938<br />

Modenov N.D. (1892-1938) 06.10.1937 05.02.1938<br />

Nevolin A.N. 10.03.1938 02.07.1938<br />

Perel’štejn B.I. (1896-?) 21.02.1938 02.07.1938<br />

Ryt’kov N.N. (1913-1973) 22.03.1938 02.07.1938<br />

Smirnova A.S. (1900-?) 10.03.1938 02.07.1938<br />

Temerin N.N. (1901-?) 21.02.1938 02.07.1938<br />

Filippov F.A. (1883-?) 21.02.1938 02.07.1938<br />

Zu 5 Jahren Lagerhaft (ITL) verurteilt<br />

Burljagov G.I. (1894-?) 21.02.1938 23.08. 1938<br />

Zeleznickaja A.T. (1900-?) 10.03.1938 23.08. 1938<br />

Stelli<strong>ch</strong> G.B. (1904-?) 21.02.1938 14.05. 1938<br />

Šumilov P.N. (1891-1972) 20.02.1938 23.08. 1938<br />

Zu 3 Jahren Lagerhaft (ITL) verurteilt<br />

Breslau B.M. (1891-?) 16.01.1937 01.06.1937<br />

Timofeevskij A.K. (1899-?) 13.03.1938 19.05.1939<br />

Verhaftet, aber ni<strong>ch</strong>t verurteilt<br />

Snežko, Dmitrij 05.02.1936 +1959 in Molotov (Perm’)<br />

Lavrent’ev K.A (1894-?) 10.03.1938<br />

Poljakov V.I.<br />

(1896 Kamyšin/Stalingr.)<br />

10.03.1938 +21.06.1938 Taganka-<br />

Gefängnis<br />

31.05.1957 rehabilitiert<br />

Usmanov Š.Ch.<br />

08.04.1937<br />

(1898-03.12.1937 Kazan‘)<br />

Rublev S.G. (1901) 07.08.1937 +1978<br />

Kozlovskij (?-?) 07.08.1937


62<br />

Verhaftet und aus der Sowjetunion ausgewiesen<br />

Lembke, P.G. (1904) 01.09.1937<br />

Platner, V.V. (1911) 27.03.1937 28.08.1937<br />

Leningrader 183<br />

Majzel, Israil’ Jefimovič<br />

(*1893 Wilno)<br />

Brukson, Jakov Chaimovič<br />

(*1889 By<strong>ch</strong>ovo, Weissrussland 184 )<br />

Samal’, Pavel Petrovič<br />

(*1910 Leningrad)<br />

Kurmanaev, Vladimir <strong>An</strong>dreevič<br />

(*1881 Leningrad)<br />

18.10.1937 23.12.1939 verurteilt zu 3<br />

Jahren Lagerhaft<br />

10.09.1956 Verfahren eingestellt<br />

16.08.1937 26.07.1939 verurteilt zu 5<br />

Jahren, Verbannung in Kasa<strong>ch</strong>stan<br />

18.10.1937 26.07.1939 verurteilt zu 3<br />

Jahren, Verbannung in Kasa<strong>ch</strong>stan<br />

29.11.1938 26.07.1939 verurteilt zu 5<br />

Jahren, Verbannung in Kasa<strong>ch</strong>stan<br />

14.04.1958 Verfahren eingestellt<br />

Tregubenko, Leonid Evgen’evič<br />

(*1900 Orjol)<br />

21.07.1938 07.1938 verurteilt zu Lagerhaft<br />

in Noril’sk<br />

06.06.1946 befreit<br />

25.03.1957 Verfahren eingestellt<br />

Trejvas, Šneer Iosifovič<br />

(*Kovno)<br />

08.02.1938 14.10.1938 zum Tode verurteilt<br />

21.10.1938 Urteil vollstreckt<br />

12.12.1988 Verfahren eingestellt<br />

Drezen Arvid Karlovič (*1900) 04.11.1937 27.01.1938<br />

<strong>An</strong>dere<br />

Name (Geburtsjahr) Datum der Verhaftung Todesdatum<br />

Pjotr M. Luk´janin (*1900) 185 Aug. 1937 Okt. 1937<br />

183<br />

Gemäss http://historio.ru/viktimoj.htm; Sennaciulo 9/1990.<br />

184<br />

Wie Kirjušin, ein ehemaliges Mitglied des ZK SĖSR am 12.3.1956 an S.V. Saryšev s<strong>ch</strong>rieb, seien die meisten<br />

Esperantisten Weissrusslands Juden gewesen und während der fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>en Zeit ums Leben gekommen. (Charkovskij, Sur<br />

cindrejo).<br />

185<br />

P.M. Luk´janin war S<strong>ch</strong>ulleiter in Pisarevka, Gebiet Brjansk. Als Esperantist pflegte er Briefkontakt mit Klassenführern<br />

von S<strong>ch</strong>ulen in Frankrei<strong>ch</strong>, Spanien und S<strong>ch</strong>weden. Er wurde gemäss Art. 58, Pp. 6, 10 (Spionage und antisowjetis<strong>ch</strong>e Propaganda<br />

od. Agitation) zum Tod dur<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>iessen verurteilt. Im August 1989 wurde er rehabilitiert. Über P.M. Luk´janin<br />

wurde neuli<strong>ch</strong> von seinem Sohn ein Bu<strong>ch</strong> veröffentli<strong>ch</strong>t: Valentin Luk´janin: Obyknovennaja istorija, XX vek. Dokumental´naja<br />

povest´ ob otce. / Pëtr Luk´janin: Čërnaja tetrad´. Sti<strong>ch</strong>otvorenija. Ekaterinburg 2012. 295 S. Der zweite Teil des


63<br />

Eine Kurzanalyse dieser Opferliste fördert die folgenden Erkenntnisse zutage:<br />

1. Chronologis<strong>ch</strong> sind drei Hauptrepressionswellen zu unters<strong>ch</strong>eiden: Die erste Welle setzte im Oktober-Dezember1936<br />

ein, der die ersten Einzelesperantisten wie Muravkin, Kolčinskij und Izgur zum<br />

Opfer fielen.<br />

2. Die zweite Welle des Jahres 1937 erfasste mehrere Esperantisten, die zur Führungselite der sowjetis<strong>ch</strong>en<br />

Esperanto-Bewegung gehörten: Es handelte si<strong>ch</strong> vor allem um Drezen, Incertov, Batta, Sazonova,<br />

Mi<strong>ch</strong>al’skij, Sutkovoj.<br />

3. Bei der dritten Welle des Jahres 1938, die wohl na<strong>ch</strong> einem prinzipiellen Ents<strong>ch</strong>eid der Behörden<br />

einsetzte, au<strong>ch</strong> die Esperantisten in die Repressionsmassnahmen einzubeziehen, war das Gros der Esperantistens<strong>ch</strong>aft<br />

betroffen: Varankin, Nekrasov, Nikol’skij, Demidjuk, Deškin, Ryt’kov, Žavoronkov,<br />

um nur die bekanntesten Namen zu nennen.<br />

4. Geographis<strong>ch</strong> standen drei Hauptgruppen im Visier des NKVD: Die Moskauer Gruppe, die Leningrader<br />

Gruppe und die Ukraine, wo 1937 eine ganze Gruppe von Esperantisten mehr oder weniger<br />

glei<strong>ch</strong>zeitig verhaftet und liquidiert wurde. Besonders auffällig und spektakulär ist der ‚Fall Odessa’,<br />

bei dem se<strong>ch</strong>s Odessiter Esperantisten in der glei<strong>ch</strong>en Zeitspanne verhaftet und alle am glei<strong>ch</strong>en Tag,<br />

nämli<strong>ch</strong> am 24. November 1937, ers<strong>ch</strong>ossen wurden.<br />

5. Im Fall Drezen wurden ausser Ernst Karlovič selbst au<strong>ch</strong> Familienangehörige wie seine <strong>Frau</strong> und<br />

sein Bruder Arvid vor der Repression erfasst (und ermordet).<br />

6. Zu den Opfern gehörten ni<strong>ch</strong>t wenige <strong>An</strong>gehörige von nationalen Minderheiten (was allerdings<br />

typis<strong>ch</strong> für die Esperanto-Bewegung ist). Au<strong>ch</strong> einige jüdis<strong>ch</strong>e Namen glaubt man zu erkennen.<br />

7. In Bezug auf das Strafmass sind mehrere Kategorien zu unters<strong>ch</strong>eiden: Während ein Teil der Verhafteten<br />

ers<strong>ch</strong>ossen wurden, kam ein anderer Teil mit Lagerhaft davon, die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> lang dauerte,<br />

nämli<strong>ch</strong> 10, 8 und 5 Jahre. Einige Verhaftete wurden ni<strong>ch</strong>t verurteilt und wiederum andere wurden<br />

aus der Sowjetunion ausgewiesen.<br />

8. Die Zeitspanne zwis<strong>ch</strong>en Verhaftung und Vollstreckung des Todesurteils dauerte oft mehr als ein<br />

halbes Jahr, in einigen Fällen aber weniger als ein halbes Jahr.<br />

9. Zur Begründung der Straftaten und Todesurteile diente der Paragraph 58 des Strafgesetzes aus dem<br />

Jahr 1926 (s. weiter oben). Es s<strong>ch</strong>eint also kein Zweifel zu bestehen, dass die Verhaftung der oben<br />

genannten Esperantisten na<strong>ch</strong> dem Muster der stalinistis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>nellprozesse in der Sowjetunion erfolgte,<br />

bei denen die Opfer (wenn nötig mit dem Mittel der Denunziation) unter den Druck des Geständniszwangs<br />

gesetzt wurden und bei denen es ni<strong>ch</strong>t darauf ankam, ob die Vorwürfe und <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>uldigungen<br />

wie „Sabotage“ oder „Spionage“, „antisowjetis<strong>ch</strong>e Propaganda“ , „trockistis<strong>ch</strong>e“, „terroristis<strong>ch</strong>e“,<br />

„konterrevolutionäre“, „antisowjetis<strong>ch</strong>e“, „verräteris<strong>ch</strong>e“, „feindli<strong>ch</strong>e“, „fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>e“ „Agitation“<br />

oder „Vers<strong>ch</strong>wörung“ usw. in Wirkli<strong>ch</strong>keit zutrafen oder ni<strong>ch</strong>t.<br />

10. Eine Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t darüber, dass die Sowjetbehörden die Esperanto-Bewegung formell verboten<br />

hätten, wurde ni<strong>ch</strong>t bekannt. 186 Es mag zutreffen, dass einzelne Esperanto-Organisationen von den<br />

Bu<strong>ch</strong>es enthält die Gedi<strong>ch</strong>te, die P.M. Luk´janin verfasst hat. (Exemplar beim Autor). Das Bü<strong>ch</strong>lein ist online abrufbar unter:<br />

http://www.estacionmir.com/tienda/Lukianin_Obyknovennaya_istoria.pdf.<br />

186<br />

Dies bestätigte Stepanov in seinem einführenden Beri<strong>ch</strong>t auf historio.ru.


64<br />

Behörden ges<strong>ch</strong>lossen wurden und, und andere, die si<strong>ch</strong> von selbst auflösten. 187 Notabene wiesen viele<br />

von ihnen sowieso ledigli<strong>ch</strong> den Status von Freiwilligen- oder Hobbyaktivitäts-Strukturen auf (russ.<br />

klubnaja rabota, dobrovol’noe obščestvo 188 ). Der einzige Hinweis, wo eine Esperanto-Organisation als<br />

„fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>e terroristis<strong>ch</strong>e Spionage- und Sabotageorganisation“ bezei<strong>ch</strong>net wurde, betraf die SAT<br />

und ist in einer Akte des NKVD (Obermajor Žuravlev, 1939) zu finden. Die SĖSR wird gar ni<strong>ch</strong>t<br />

erwähnt.<br />

Der Sonderfall Muravkin<br />

Herbert Muravkin (*14.2.1905 in Berlin), Jude, Doktor der Physik, der bis 1933 im Westen (Niederlande<br />

und Deuts<strong>ch</strong>land) lebte, war ein IPE 189 -Funktionär, der mit Drezen zusammenarbeitete und ihm<br />

Material für seine ‚Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Weltspra<strong>ch</strong>e’ sandte. Als Mitglied der Kommunistis<strong>ch</strong>en Partei<br />

Deuts<strong>ch</strong>lands floh er in die Sowjetunion, wo er si<strong>ch</strong> mit seinem sowjetis<strong>ch</strong>en Pass si<strong>ch</strong>erer zu fühlen<br />

wähnte. In Leningrad arbeitete er im Allsowjetis<strong>ch</strong>en Institut für Elektrome<strong>ch</strong>anik. Aber dieser persönli<strong>ch</strong>e<br />

Ents<strong>ch</strong>eid war ein Irrtum, denn das Sowjetregime ging mit Flü<strong>ch</strong>tlingen (Remigranten) aus<br />

dem Ausland ni<strong>ch</strong>t humaner um als die Nationalsozialisten mit Kommunisten. Muravkin war also<br />

prädestiniert für die Repression. Am 26. Februar 1936 wurde er verhaftet. Während des Prozesses, der<br />

von der Trojka A.S. Gorjačev (Präsident), Preobraženskij und Ždanov geleitet wurde, bekannte er si<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>uldig und wurde na<strong>ch</strong> den Artikeln 58-6, 58-7, 58-10 und 58-11 des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>s der RSFSR<br />

von 1926 am 17. Januar 1938 wegen Spionage (zugunsten Deuts<strong>ch</strong>lands), Unterwanderung der Wirts<strong>ch</strong>aft,<br />

antisowjetis<strong>ch</strong>er Propaganda und Agitation und organisatoris<strong>ch</strong>er Aktivität sowie Beteiligung<br />

an einer trockistis<strong>ch</strong>en Organisation) verurteilt und am 11. Dezember 1937 hingeri<strong>ch</strong>tet. 190<br />

1.3. Geständniszwang und Denunziation<br />

Bemerkungen zum <strong>Prof</strong>il einiger weiterer Opfer<br />

Wie si<strong>ch</strong> Nikolaj Ryt’kov (*1913-73), ein anderer bedeutender sowjetis<strong>ch</strong>er Esperantist, erinnerte,<br />

bekam er na<strong>ch</strong> seiner Verhaftung im März 1938 im Gefängnis in der Lubjanka den folgenden, wohl<br />

stereotypen Satz zu hören: „Gemäss Ents<strong>ch</strong>eid der Spezialkommission beim NKVD der UdSSR vom<br />

2.7.38 wurden Sie als aktives Mitglied einer fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>en Spionageorganisation von Esperantisten<br />

wegen konterrevolutionärer und verleumderis<strong>ch</strong>er Tätigkeit in der UdSSR angeklagt und zu a<strong>ch</strong>t Jahren<br />

Lagerhaft verurteilt“, oder ähnli<strong>ch</strong>. 191<br />

187<br />

Der Esperantist Nikolaj Zubkov erzählte folgende Begebenheit. Als er si<strong>ch</strong> im Februar 1938 beim Büro der SĖSR an der<br />

Spiridonovka-Strasse 15 (später Alexej-Tolstoj-Strasse, heute wieder Spiridonovka) zum Esperanto-Kurs einfinden wollte,<br />

bemerkte er ein grosses S<strong>ch</strong>loss an der Tür. Aus der Na<strong>ch</strong>barwohnung sei der Hausmeister herausgetreten und habe ihm<br />

mitgeteilt, dass alle Mitarbeiter verhaftet worden seien, Zubkov solle also besser das Weite su<strong>ch</strong>en, um ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> Unannehmli<strong>ch</strong>keiten<br />

zu erleiden. In dem Büro hatten vier Personen gearbeitet: Nikolaj Incertov (Verantwortli<strong>ch</strong>er Sekretär), Julija<br />

Švedova (Sekretärin), Petr Gavrilov (Expediteur) und Aleksandr Samojlenko (Bu<strong>ch</strong>halter; in der Akte über Karantbajvel’<br />

steht ges<strong>ch</strong>rieben, dass Samojlenko die Namen von 44 Personen angegeben habe (s. http://historio.ru/samojlen.php). So<br />

fielen den Behörden die Adresslisten zu den Mitgliedern der Organisation lei<strong>ch</strong>t in die Hände. Wie etwa der Esperantist<br />

Aleksandr Jakovlevič Korotkevič Stepanov erzählte, konnte man der Verfolgung entkommen, indem man na<strong>ch</strong> entspre<strong>ch</strong>ender<br />

Empfehlung seiner Esperanto-Tätigkeit radikal entsagte und die erhaltene Korrespodenz an die Organisation weiter- oder<br />

umleiten liess. (Stepanov, historio. ru).<br />

188<br />

So in den Akten über N.Ja. Incertov.<br />

189<br />

Internacio de Proleta Esperantistaro.<br />

190<br />

S. http://historio.ru/muravkin.php. Muravkin ist auf der Liste von http://lists.memo.ru/index13.htm ni<strong>ch</strong>t erwähnt.<br />

191<br />

S. http://www.esperanto.org/Ondo/R-rytkov.htm. Vgl. Lins. LDL, S. 393f. Geb. 1913 in Smolensk, von Beruf Theater-<br />

S<strong>ch</strong>auspieler, wurde Ryt’kov von Pjotr Gavrilov, dem Expediteur im SĖSR-Büro in Moskau, denunziert (s. Lins, LDL, S.<br />

394), na<strong>ch</strong> Kolyma deportiert und 1946 na<strong>ch</strong> Noril’sk verbannt, wo er als S<strong>ch</strong>auspieler im Theater wirken durfte. Am 25.


65<br />

Aber woher stammten im Zusammenhang mit der Esperanto-Bewegung eigentli<strong>ch</strong> die Vorwürfe,<br />

Attribute und Verdikte wie „trockistis<strong>ch</strong>“, 192 „terroristis<strong>ch</strong>“, „konterrevolutionär“ (im Folgenden:<br />

k/r), „antisowjetis<strong>ch</strong>“ (im Folgenden: a/s), „verräteris<strong>ch</strong>“, „feindli<strong>ch</strong>“, „fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>“, „Volksfeinde“,<br />

„Sabotage“, „Vers<strong>ch</strong>wörung“, „Zentrum“, usw. ? 193<br />

Sehr aufs<strong>ch</strong>lussrei<strong>ch</strong> sind die Akten einiger weiterer Esperantisten, ni<strong>ch</strong>t zuletzt weil sie unter<br />

anderem au<strong>ch</strong> Hinweise auf umfassende Denunziationen enthalten.<br />

So wurde am 8. Februar 1938 Vladimir Valentinovič Varankin, geb. am 12. November 1902<br />

in Nižnyj Novgorod (später Gor’kij), verhaftet. Varankin war einst Organisator der Esperanto-<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft in Nižnyj Novgorod gewesen, bevor er 1923 mit seiner Kavalleries<strong>ch</strong>ule na<strong>ch</strong> Tver’ verlegt<br />

wurde, wo er für seine Esperanto-Tätigkeit die Unterstützung von Staat und Partei genoss und die<br />

Zeits<strong>ch</strong>rift Ruĝa Esperantisto herausgab. 1925 trat er der VKP(B) bei, 1927 zog er na<strong>ch</strong> Moskau um,<br />

wo er am Institut für internationale Beziehungen Fernstudien betrieb. Dann wurde er Direktor des 2.<br />

Moskauer Staatli<strong>ch</strong>en Pädagogis<strong>ch</strong>en Instituts für Fremdspra<strong>ch</strong>en, Dozent und Leiter des Lehrstuhls<br />

für allgemeine Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te beim Moskauer Staatli<strong>ch</strong>en Historis<strong>ch</strong>en-Ar<strong>ch</strong>iv-Instituts, wo er Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

des Westens und Japans lehrte. In der SĖSR wurde er als Mitglied des Sekretariats gewählt, um als<br />

Leiter des Organisationsfa<strong>ch</strong>s und als Vizepräsident und s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> als Generalsekretär des Allrussis<strong>ch</strong>en<br />

Komitees der SĖSR in Ers<strong>ch</strong>einung zu treten. 1932 s<strong>ch</strong>loss er si<strong>ch</strong> der Redaktion der Zeits<strong>ch</strong>rift<br />

La nova etapo an, in der er Kapitel seines Romans ‚Metropoliteno’ abdrucken liess, der 1933 im Verlag<br />

Ekrelo als Bu<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>ien. 194 Dieser Roman spielt in der Sowjetunion und im Berlin der 20er Jahre,<br />

wo die Untergrundbahn gebaut wird, und behandelt ideologis<strong>ch</strong>e, politis<strong>ch</strong>e und persönli<strong>ch</strong>e Probleme<br />

aus der Si<strong>ch</strong>t eines Kommunisten, der au<strong>ch</strong> Kritik gegenüber dem bürokratis<strong>ch</strong>en und korrupten<br />

Sowjetregime der <strong>An</strong>fangszeit übt. Seine angebli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>uld, a/s Spionagetätigkeit verübt zu haben,<br />

verneinte Varankin. Denno<strong>ch</strong> musste er am 10. Februar 1938 eine Erklärung unters<strong>ch</strong>reiben, die ein<br />

entspre<strong>ch</strong>endes S<strong>ch</strong>uldgeständnis enthielt. Beim Verhör erwähnte er besonders zahlrei<strong>ch</strong>e Namen wie<br />

Perel‘štejn, Martinsen, Šabarin, Milovidov, Mel’nik, Lapin, Zak, Temerin, Gluškov, Lidin, Bažanov,<br />

Bakušinskij, Filippov und Ejdel’man und na<strong>ch</strong> Orten die folgenden: Drezen, Demidjuk, Nekrasov,<br />

Muravkin, Samojlenko, Gavrilov, Incertov, Žavoronkov (Moskau), Lisičnik, Kalašnikov, Šaber, Mi-<br />

September 1954 wurde er entlassen und am 3. November 1955 rehabilitiert. 1956 führte er in Moskau seine Arbeit als S<strong>ch</strong>auspieler<br />

im Theater und in sowjetis<strong>ch</strong>en Filmen, im Radio und TV fort. 1965 setzte er si<strong>ch</strong> in den Westen ab, als er na<strong>ch</strong> Wien<br />

an eine Esperanto-Konferenz fuhr. Ryt’kov wurde ni<strong>ch</strong>t etwa vom KGB beseitigt, wie zum Teil geglaubt wurde, sondern<br />

starb 1973 an Magenkrebs. (S. ausführli<strong>ch</strong>e Biographien von A. Sidorov und A. Char’kovskij auf<br />

http://miresperanto.narod.ru). 1999 ers<strong>ch</strong>ien in SPB ein Erinnerungsbu<strong>ch</strong> über Ryt’kov (s. http://www.esperanto.org/Ondo/Rrytkov.htm).<br />

Ryt’kovs Berufspartnerin und Ehefrau war die bekannte S<strong>ch</strong>auspielerin Zinaida Mi<strong>ch</strong>ajlovna Naryškina (1911-<br />

93), die na<strong>ch</strong> der Verbannung ihres Mannes na<strong>ch</strong> Tas<strong>ch</strong>kent exiliert wurde, wo sie am dortigen Theater spielte. 1946 kehrte<br />

sie na<strong>ch</strong> Moskau zurück, wo sie ihre S<strong>ch</strong>auspielerkarriere fortsetzte. In den 70ern wurde sie als ‚zvezda kinostudii<br />

Sojusmul’tfilm‘ bekannt. (s. http://pub2.hausnet.ru/movies/actor.php?id=2165).<br />

192<br />

Für die Beantwortung der Frage, was an der SAT oder SĖSR denn genau trockistis<strong>ch</strong> gewesen sein soll, wäre eine gesonderte<br />

Studie nützli<strong>ch</strong>. Dazu müssten die in Frage kommenden Publikationen der SAT und Lantis der 20/30er Jahre ausgewertet<br />

und mit den Zitaten Trockijs vergli<strong>ch</strong>en werden. Fakt ist, dass die Zeits<strong>ch</strong>rift Sennaciulo in den 20er Jahren Zitate von<br />

Trockij im Zusammenhang etwa mit der Frage des weltweiten Sieges der russis<strong>ch</strong>en Revolution und des Sozialismus und der<br />

nationalen Frage abdruckte. 1936-38 gab es in der SAT unter den Trockisten eine „bols<strong>ch</strong>ewistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>e“ Fraktion,<br />

die im Sennaciulo eine Kolumne unterhielt. In seinem eigenen Spra<strong>ch</strong>rohr Herezulo, das 1936 herauskam, distanzierte si<strong>ch</strong><br />

Lanti aber vom Trockismus.<br />

193<br />

Diese Terminologie war bekanntli<strong>ch</strong> im Verlaufe der Moskauer S<strong>ch</strong>auprozesse der Jahre 1936 gegen Zinov’ev, Kamenev,<br />

Pjatakov, Radek, Bu<strong>ch</strong>arin und Rykov geläufig. Das „trockistis<strong>ch</strong>-zinov’evistis<strong>ch</strong>e Zentrum“ sei „eine Bande verä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er<br />

Terroristen“, dieses „vereinigte trockistis<strong>ch</strong>-zinov’evistis<strong>ch</strong>e Zentrum“ sei an der Vorbereitung und Verübung von Morden an<br />

den Führern der Sowjetregierung und der KPdSU beteiligt gewesen, der „Terror“ habe der gesamten Tätigkeit des „trockistis<strong>ch</strong>-zinov’evistis<strong>ch</strong>en<br />

Blocks“ zugrunde gelegen, usw. spra<strong>ch</strong> der Chefankläger <strong>An</strong>drej Vyšinskij, der „Block der Re<strong>ch</strong>ten<br />

und Trotzkisten“ sei „eine Bande von Spionen und Agenten auswärtiger Spionagedienste“, eine „Agentur der ausländis<strong>ch</strong>en<br />

Spionagedienste“ gewesen, der Trockismus sei eine „Abart des Fas<strong>ch</strong>ismus“, usw. (s. Theo Pirker (Hg.): Die Moskauer<br />

S<strong>ch</strong>auprozesse 1936-1938. dtv dokumente 1963, S. 123-251).<br />

194<br />

N. Stepanov: Reveninta nomo. In: Impeto’89. Moskau 1990. S. 102-8. Der Esperanto-Text des Romans, der zuerst 1933<br />

in Amsterdam (Verlag Ekrelo) veröffentli<strong>ch</strong>t wurde und in Russland erstz 1992 ers<strong>ch</strong>ien und von Kennern für ein grossartiges<br />

Werk in Esperanto gehalten wird, ist auf http://www.esperanto.mv.ru/Varankin zu finden. Ers<strong>ch</strong>ienene Rezensionen (auf<br />

Esperanto) s. auf http://esperanto.net/literaturo/recenzoj.html. Der Autor der vorliegenden Studie plant eine eigene Neubespre<strong>ch</strong>ung<br />

dieses Bu<strong>ch</strong>es.


66<br />

<strong>ch</strong>alicska (Sevastopol’), Snežko (Minsk), Konovalov, Leontenkov, Arkatov, Belov, Piskunov<br />

(Gor’kij); Lebedev, Filippov, Belavin, Domožirov, Kondrackij, Štankovskij (Kalinin); Rublev (Odessa),<br />

Kolčinskij, Izgur (Char’kov), Nikol’skij (Smolensk). Über Varankin sagten bei Verhören aus:<br />

Batta, Demidjuk, Koruzin, Poljakov, Gurov, Gorozeev, Zak, Stelli<strong>ch</strong>, Lavrent’ev und Deškin. 195<br />

Am 11. Februar folgte die Verhaftung Nikolaj Vladimirovič Nekrasovs (*1900 Moskau). Russe,<br />

Übersetzer und Literaturexperte mit mittlerer Bildung, Mitglied der VKP(B), arbeitete er als Redaktor<br />

von Fragen auf die <strong>An</strong>tworten der Arbeiter und Kol<strong>ch</strong>osearbeiter im Verlag Moskovskij<br />

rabočij. Als Esperantist seit 1915 war er ein bekannter Esperanto-Poet und Hauptredaktor von Drezens<br />

wi<strong>ch</strong>tigstem Bu<strong>ch</strong> ‚Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Weltspra<strong>ch</strong>e’. 196 Sowohl Varankin als au<strong>ch</strong> Nekrasov wurden als<br />

„Organisatoren und Führer einer fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>en, Spionage betreibenden und terroristis<strong>ch</strong>en Organisation<br />

der Esperantisten na<strong>ch</strong> Artikel 58-6, 58-8, 58-11 von Kriegstribunalen bes<strong>ch</strong>uldigt. Ihre Ri<strong>ch</strong>ter<br />

hiessen Nikitčenko (Präsident), Detistov und Žagrov für Varankin und Ul’ri<strong>ch</strong>, Detistov und Dmitriev<br />

für Nekrasov. Varankin wurde am 3. Oktober und Nekrasov am 4. Oktober 1938 in Moskau hingeri<strong>ch</strong>tet<br />

(und ebenfalls in Kommunarka vers<strong>ch</strong>arrt). Ihre persönli<strong>ch</strong>en Ar<strong>ch</strong>ive, Bibliotheken und ihr Besitz<br />

wurden wegen „ihres ideologis<strong>ch</strong> nutzlosen Inhalts und wegen operativer und historis<strong>ch</strong>er Wertlosigkeit“<br />

verni<strong>ch</strong>tet. 197<br />

Aus dem Dossier über Il’ja Efimovič Izgur, geboren 1881 in Berezino, Weissrussis<strong>ch</strong>e SSR,<br />

Jude, der bis zur Verhaftung am 23. Oktober 1936 dur<strong>ch</strong> das NKVD des Gebiets Cherson als wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er<br />

Mitarbeiter des Pädagogis<strong>ch</strong>en Instituts, wohnhaft in Cherson, Ukraine, gearbeitet hatte,<br />

ging hervor, dass der <strong>An</strong>geklagte si<strong>ch</strong> in diverse Widersprü<strong>ch</strong>e verstrickte. Na<strong>ch</strong>dem ihm am 23. November<br />

1938 entspre<strong>ch</strong>ende <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>uldigungen präsentiert wurden, erklärte er si<strong>ch</strong> in einer Erklärung<br />

als uns<strong>ch</strong>uldig, dass er Mitglied einer trockistis<strong>ch</strong>en Organisation gewesen war. Bei den Verhören<br />

vom 23. November und 5. Dezember gab Izgur zu Protokoll, dass er 1935 von Viktor Kolčinskij, dem<br />

Sekretär des Allukrainis<strong>ch</strong>en Esperanto-Komitees, in diese Organisation hineingezogen worden sei, an<br />

der au<strong>ch</strong> Pogorelov und Kuz’mič beteiligt gewesen wären. Am 11. Januar 1937 distanzierte si<strong>ch</strong> Izgur<br />

von seinen am 23.11. und 5.12. gema<strong>ch</strong>ten Aussagen, weil er diese Aussagen unter Einwirkung des<br />

Verhörers gema<strong>ch</strong>t hätte. Izgur wurde dur<strong>ch</strong> die <strong>An</strong>gaben der Verhafteten Pogorelov, Ėggers,<br />

Kolčinskij, Suraženko, Viktorov-Če<strong>ch</strong>ovič, Mi<strong>ch</strong>al’skij, Borisov, Fedotov, Drezen, Jürgensen und<br />

Sutkovoj als aktiver Teilnehmer einer „k/r trockistis<strong>ch</strong>en terroristis<strong>ch</strong>en Organisation“ überführt, wobei<br />

die Aussagen Kolčinskijs und Borisovs bei einer direkten Gegenüberstellung gema<strong>ch</strong>t wurden.<br />

Na<strong>ch</strong> dieser Gegenüberstellung habe Izgur seine Haltung missbilligt und die <strong>An</strong>gaben vom 23.11. und<br />

5.12. bestätigt. Bei den folgenden Verhören gab Izgur an, dass er als Teilnehmer dieser Organisation<br />

mit trockistis<strong>ch</strong>er Literatur bekannt wurde, die ihm aus dem Ausland von einem auswärtigen (russ.<br />

zakordonnyj) trockistis<strong>ch</strong>en Zentrum, das in der internationalen Esperanto-Vereinigung SAT existiert<br />

habe, zugegangen sei und dass er sie an andere Mitgliedern der Organisation zum Kennenlernen weitergerei<strong>ch</strong>t<br />

habe. Beim Verhör vom 31. Juli 1937 nannte Izgur die SĖSR-Mitglieder Drezen, Incertov,<br />

Demidjuk und Nekrasov im Zusammenhang mit einer verbre<strong>ch</strong>eris<strong>ch</strong>en Tätigkeit und sagte: „Als Generalsekretär<br />

des ZK der Vereinigung der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten tätigte i<strong>ch</strong> zusammen mit anderen<br />

Mitgliedern des ZK SĖSR Incertov, Demidjuk und Nekrasov eine trockistis<strong>ch</strong>e Aktivität unter<br />

dem Decknamen (od. Deckmantel, russ. prikryt’e) der legalen Sowjetis<strong>ch</strong>en Vereinigung der Esperantisten.<br />

Wie Izgur weiter ausführte, hätten Drezen, Demidjuk, Incertov und Nekrasov in der UdSSR die<br />

„k/r“ Organisation vom Beginn ihrer Entstehung bis zum Bru<strong>ch</strong> (1921-31) in besonderen Flugblättern,<br />

Bros<strong>ch</strong>üren und Wörterbü<strong>ch</strong>ern populär gema<strong>ch</strong>t, die vom ZK der SĖSR herausgegeben wurden und<br />

195<br />

S. http://historio.ru/varanki.php: N. Stepanov: Ĉu SAT estis sidejo de germana sekreta polico? In: Sennaciulo, 2/1990.<br />

Unter den vielen Varankins auf der Liste von http://lists.memo.ru/index3.htm fehlt er, hingegen tau<strong>ch</strong>t er wieder auf dieser<br />

Opfergruppenliste auf: http://stalin.memo.ru/spiski/pg11223.htm.<br />

196<br />

S. http://historio.ru/nekra.htm. Nekrasov war ein grosser <strong>An</strong>hänger der „inneren Idee“ des Esperanto, die er als „Brüderli<strong>ch</strong>keit<br />

aller Völker auf neutralem Fundament“ definierte. Der Name N.V. Nekrasovs tau<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> auf<br />

http://lists.memo.ru/index14.htm auf.<br />

197<br />

N. Stepanov: Ĉu SAT estis sidejo de germana sekreta polico? In: Sennaciulo, 2/1990. Einen Artikel Nekrasovs s. unter<br />

http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/Nekrasov26.html. Nekrasov übersetzte den Versroman ‚Eugen Onegin’ von A.S. Puškin<br />

ins Esperanto (SAT Paris 1931, s. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19310301&seite=24&zoom=33).


67<br />

hätten die Publikationen der SAT unter den sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten, besonders die „k/r“ Bros<strong>ch</strong>üre<br />

Lantis, verbreitet. Ausserdem habe Izgur einen Briefwe<strong>ch</strong>sel mit einer Reihe von im Ausland lebenden<br />

Personen, au<strong>ch</strong> Trockisten, auf Esperanto unterhalten. Lanti wurde als Führer des ausländis<strong>ch</strong>en trockistis<strong>ch</strong>en<br />

Zentrums erwähnt. Am 3. September 1937 erklärte si<strong>ch</strong> Izgur s<strong>ch</strong>uldig nur in dem Punkt,<br />

dass er „a/s trockistis<strong>ch</strong>e Literatur erhalten und diese aufbewahrt habe. Von allen anderen <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>uldigungen<br />

distanzierte er si<strong>ch</strong> mit der Begründung, dass er von der Existenz einer a/s Organisation ni<strong>ch</strong>ts<br />

gewusste habe und kein Mitglied einer sol<strong>ch</strong>en gewesen sei. Die Aussagen der Personen, die ihn der<br />

a/s Aktivität überführt hätten, lehnte er rundum ab und bezei<strong>ch</strong>nete sie als Lügen. Das Militärkollegium<br />

des Obersten Geri<strong>ch</strong>ts der UdSSR spra<strong>ch</strong> Izgur wegen begangener Verbre<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>uldig und verurteilte<br />

ihn na<strong>ch</strong> den Artikeln 54-8 und 54-11 des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>s der Ukrainis<strong>ch</strong>en SSR zum Tode<br />

dur<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>iessen. 198<br />

Zusätzli<strong>ch</strong>e Begriffe wie „Sabotage“ und „Verrat“ traten in den Untersu<strong>ch</strong>ungsakten über Viktor<br />

Moiseevič Kolčinskij auf, geb. 1904, aus Nikolaev, Jude, Sekretär des Allukrainis<strong>ch</strong>en Esperanto-<br />

Komitees, wohnhaft in Char’kov. Seine Verhaftung fand am 21. Oktober 1936 dur<strong>ch</strong> das NKVD des<br />

Gebiets Char’kov statt. Während des Verhörs erwähnte Kolčinskij in Gegenseitigkeit Izgur sowie<br />

Kuz’mič, Nekrasov, Demidjuk, Mi<strong>ch</strong>al’skij und Potapčik. Nekrasov und Demidjuk belastete er insofern,<br />

als er aussagte, dass sie die Initiatoren der Entfaltung der Arbeit der SAT in der UdSSR gewesen<br />

waren. Dur<strong>ch</strong> die <strong>An</strong>gaben Drezens, Suraženkos, Mi<strong>ch</strong>al’skijs, Izgurs und Kolčinskij wurde ihm unter<br />

anderem zur Last gelegt, verräteris<strong>ch</strong>e Informationen über die sowjetis<strong>ch</strong>e Wirkli<strong>ch</strong>keit verbreitet zu<br />

haben. Am 3. September 1937 bezei<strong>ch</strong>nete si<strong>ch</strong> Kolčinskij vollumfängli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>uldig und gab zu, dass<br />

er 1934 von einer k/r Organisationen angeworben wurde. Kolčinskij wurde na<strong>ch</strong> Art. 54-8, 54-9 und<br />

54-11 des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>es der Ukrainis<strong>ch</strong>en SSR zum Tode dur<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>iessen verurteilt. 199<br />

In analoger Weise lauteten die Bes<strong>ch</strong>einigungen zu den Fällen der übrigen „Ukrainer“.<br />

Potana, Aleksandr Nikolaevič, geb. 1907, Ukrainer, lebte und arbeitete bis zu seiner Verhaftung<br />

am 7. Februar 1937 dur<strong>ch</strong> das NKVD von Makeevka als Fabrikkonstruktor in Makeevka, wo er<br />

in seiner Wohnung eine Gruppe von Esperantisten unterhielt, die trockistis<strong>ch</strong>e Literatur studiert haben<br />

soll, die sie aus Holland, Österrei<strong>ch</strong>, der Ts<strong>ch</strong>e<strong>ch</strong>oslowakei, aus England, Frankrei<strong>ch</strong>, Italien und Japan<br />

erhielt. Die Namen anderer Esperantisten, die er beim Verhör angab, waren Zonnenberg-<br />

Fedorovskij, Krečetov, Pljatner, Hermans und Mi<strong>ch</strong>al’skij. Diese plus Jurgenson hatten ihn überführt.<br />

Potana bekannte si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>uldig, einer a/s trockistis<strong>ch</strong>en Organisation angehört zu haben und wurde<br />

na<strong>ch</strong> Art. 54-8 und 54-11 zum Tod dur<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>iessen verurteilt. 200<br />

Borisov, Nikolaj, geb. 1889, Russe aus Čerkassy, parteilos, 1925 aus der VKP(B) als „fremdes<br />

Element“ ausges<strong>ch</strong>lossen, S<strong>ch</strong>riftsteller, wohnhaft in Kiev, verhaftet am 17. März 1937 dur<strong>ch</strong> das<br />

NKVD der Ukrainis<strong>ch</strong>en SSR. Ihm wurde direkt vorgeworfen, in Kiev im August 1935 eine<br />

„terroristis<strong>ch</strong>e Gruppe“ gebildet zu haben. Ausser den bereits bekannten Namen von Personen<br />

erwähnte Borisov ferner Gol’feder, Kiperman und Štejnberg. Borisov bekannte si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>uldig in allen<br />

<strong>An</strong>klagepunkten und wurde zum Tod dur<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>iessen verurteilt.<br />

Viktorov-Če<strong>ch</strong>ovič, Dmitrij Viktorovič, geb. 1888 im Gouvernement Penza, Russe, arbeitete<br />

vor seiner Verhaftung am 18. März 1937 dur<strong>ch</strong> das ukrainis<strong>ch</strong>e NKVD als Lektor in Kiev. Er wurde<br />

1935 von Borisov und Pogorelov angeworben. In den Akten stand vermerkt, dass bei einer<br />

Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ung beim <strong>An</strong>geklagten trockistis<strong>ch</strong>e Literatur als Beweismaterial si<strong>ch</strong>ergestellt wurde.<br />

198<br />

Die entspre<strong>ch</strong>ende Bes<strong>ch</strong>einigung wurde im April 1954 von Hauptmann A. Iljušin von der entspre<strong>ch</strong>enden Abteilung des<br />

Ukrainis<strong>ch</strong>en KGB ausgestellt (veröffentli<strong>ch</strong>t auf http://pri-historio.boom.ru/ukraina.htm). Opfergruppenliste mit I.E. Izgur s.<br />

http://stalin.memo.ru/spiski/pg02286.htm.<br />

199<br />

Die entspre<strong>ch</strong>ende Bes<strong>ch</strong>einigung wurde im April 1954 von Hauptmann A. Iljušin von der entspre<strong>ch</strong>enden Abteilung des<br />

Ukrainis<strong>ch</strong>en KGB ausgestellt. (veröffentli<strong>ch</strong>t auf http://pri-historio.boom.ru/ukraina.htm).<br />

200<br />

Die Potana-Opfergruppenliste s. http://stalin.memo.ru/spiski/pg03148.htm.


68<br />

Ausser den anderen, oben bereits genannten Personen, erwähnte Viktorov-Če<strong>ch</strong>ovič au<strong>ch</strong> Lisičnik und<br />

Snežko. Er wurde gemäss Art. 54-6, 54-8 und 54-11 zum Tode dur<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>iessen verurteilt.<br />

Pogorelov, Dmitrij Ignat‘evič, geb. 1883, aus dem Gebiet Doneck, Ukrainer, parteilos, 1904-<br />

37 Mitglied der VKP(B), aus dieser Partei wegen Mitglieds<strong>ch</strong>aft in der SAT ausges<strong>ch</strong>lossen, arbeitete<br />

bis zu seiner Verhaftung am 31. Januar 1937 dur<strong>ch</strong> das NKVD der Ukraine im Parteiverlag Ukrglavlit<br />

in Kiev. Gemäss Unterlagen war Pogorelov eine führende Figur der Esperanto-Organisation in der<br />

Ukraine, die vom NKVD als „k/r, trockistis<strong>ch</strong>e und terroristis<strong>ch</strong>e Organisation“ eingestuft wurde.<br />

Pogorelov, der von Drezen direkt angeworben wurde, wurde vorgeworfen, er habe seine dienstli<strong>ch</strong>e<br />

Position als Bevollmä<strong>ch</strong>tigter beim Verlag Ukrglavlit benutzt, um aus dem Ausland trockistis<strong>ch</strong>e<br />

Literatur auf Esperanto s<strong>ch</strong>icken zu lassen. Na<strong>ch</strong>dem ein Vertreter des ausländis<strong>ch</strong>en trockistis<strong>ch</strong>en<br />

Zentrums na<strong>ch</strong> Kiev gereist war, sei dort eine terroristis<strong>ch</strong>e Gruppe gegründet worden. Au<strong>ch</strong><br />

Pogorelov bekannte si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>uldig und wurde zum Tod gemäss der glei<strong>ch</strong>en Paragraphen dur<strong>ch</strong><br />

Ers<strong>ch</strong>iessen verurteilt. 201<br />

Ėggers, Boris <strong>An</strong>atol’evič, geb. 1893, aus Polnis<strong>ch</strong>-Wolhynien, Deuts<strong>ch</strong>er, ehemaliger<br />

Offizier der zaristis<strong>ch</strong>en Armee, verhaftet am 26. April 1937 dur<strong>ch</strong> das NKVD der Ukraine, wohnte in<br />

Kiev. arbeitete als Museumsführer. Er soll von Borisov darüber aufgeklärt worden sein, dass eine der<br />

Methoden im Kampf gegen die Kommunistis<strong>ch</strong>e Partei und die sowjetis<strong>ch</strong>e Regierung der Terror sei.<br />

In der Folge sei er in eine terroristis<strong>ch</strong>e Kampfgruppe eingetreten. 202<br />

Bočarov, Georgij Petrovič, geb. 1887, aus Riga und wohnhaft in Odessa, Russe, parteilos,<br />

ehemaliger Stabshauptmann der alten und weissen Armee, wurde bereits 1921 vom OGPU wegen k/r<br />

Tätigkeit verhaftet, wurde am 21. Juni 1937 vom NKDV Odessa festgenommen. Er wurde<br />

bes<strong>ch</strong>uldigt, an einer a/s trockistis<strong>ch</strong>-terroristis<strong>ch</strong>en Gruppe, denen in Odessa au<strong>ch</strong> die Esperantisten<br />

Vozdviženskij, Sutkovoj, Pil’, Ivanov und Cholm angehörten, beteiligt gewesen zu sein, mit Holland,<br />

Amerika und Japan korrespondiert und trockistis<strong>ch</strong>e Literatur erhalten zu haben, die er in der Gruppe<br />

austaus<strong>ch</strong>te. 203<br />

Vozdviženskij, Venjamin Viktorovič, geb. 1879, aus Kazan‘, Russe, parteilos, Pensionär,<br />

wohnhaft in Odessa, wurde na<strong>ch</strong> seiner Verhaftung am 13. Juni 1937 dur<strong>ch</strong> das NKVD Odessa<br />

bes<strong>ch</strong>uldigt, eine Reihe von k/r Elementen unterstützt zu haben, die im Ausland und in der UdSSR<br />

lebten. Vozdviženskij gab den Verhörorganen Auskunft über Rubljov und dessen Kontakte mit<br />

Nekrasov und dass sie mit der SAT zusammenarbeiteten. 204<br />

Pil‘, Evgenij Ėduardovič, geb. 1881, ein russis<strong>ch</strong>er Pensionär aus Łomża (Polen) wurde am 7.<br />

August 1927 vom NKVD des Gebiets Odessa verhaftet und bekannte si<strong>ch</strong>, wie die anderen, na<strong>ch</strong> Art.<br />

54-8 und 54-11 s<strong>ch</strong>uldig. 205<br />

Ivanov, Vsevolod Pavlovič (Ivn L.), geb. 1900, Serbe, aus Odessa, parteilos, Pädagoge,<br />

S<strong>ch</strong>riftsteller, arbeitete als Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tslehrer in einer Mittels<strong>ch</strong>ule in Odessa. Er bestritt, einer a/s<br />

trockistis<strong>ch</strong>-terroristis<strong>ch</strong>en Organisation angehört zu haben. Er wurde am 1. August 1927 vom NKDV<br />

des Gebiets Odessa verhaftet. 206<br />

Sutkovoj, Vladimir Grigor’evič, geb. 1904, Russe, aus Polen stammend, 1933 aus der VKP(B)<br />

wegen Ni<strong>ch</strong>terfüllung der Bes<strong>ch</strong>lüsse ausgestossen, arbeitete bis zu seiner Verhaftung am 7. August<br />

1937 dur<strong>ch</strong> das NKVD des Gebiets Odessa als Meister in einem Elektrobetrieb in Odessa. Au<strong>ch</strong> er gab<br />

201<br />

Vermutli<strong>ch</strong> handelt es si<strong>ch</strong> um diese Opfergruppenliste: http://stalin.memo.ru/spiski/pg02287.htm.<br />

202<br />

Opfergruppenliste: http://stalin.memo.ru/spiski/pg02289.htm.<br />

203<br />

Opfergruppenliste: http://stalin.memo.ru/spiski/pg04191.htm.<br />

204<br />

Opfergruppenliste: http://stalin.memo.ru/spiski/pg04191.htm.<br />

205<br />

Opfergruppenliste: http://stalin.memo.ru/spiski/pg04192.htm.<br />

206<br />

Opfergruppenliste; http://stalin.memo.ru/spiski/pg04191.htm.


69<br />

zu, eine feindli<strong>ch</strong>e Agitation gegen die sozialistis<strong>ch</strong>e Ordnung, gegen die Führung der<br />

Kommunistis<strong>ch</strong>en Partei und gegen die Sowjetführung getätigt und Kontakte mit feindli<strong>ch</strong>en<br />

Elementen im Ausland und in der UdSSR unterhalten zu haben. 207<br />

Cholm, Nikolaj Efimovič, geb. 1898, aus Moskau, Russe, parteilos, Arzt in Odessa,<br />

Vorsitzender des Odessiter Stadtkomitees der Esperantisten, verhaftet am 9. August 1937 dur<strong>ch</strong> das<br />

NKVD des Gebiets Odessa. 208<br />

und<br />

Mi<strong>ch</strong>al’skij, Evgenij Iosifovič, geb. 1897 in einer Advokatsfamilie in Letičeve (Ukraine), Pole<br />

aus Podolien, parteilos, Lehrer für russis<strong>ch</strong>e Literatur, wohnhaft in Stalino (Doneck), verhaftet am 16.<br />

März 1937 dur<strong>ch</strong> das NKVD des Gebiets Doneck, bekannten si<strong>ch</strong> in den glei<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>klagepunkten,<br />

einer a/s trockistis<strong>ch</strong>en Organisation angehört zu haben, s<strong>ch</strong>uldig und wurden zum Tod dur<strong>ch</strong><br />

Ers<strong>ch</strong>iessen verurteilt. Während des Verhörs sagte Mi<strong>ch</strong>al‘skij, dass si<strong>ch</strong> die SAT zur Zeit des Bru<strong>ch</strong>s<br />

mit den „sowjetis<strong>ch</strong>en proletaris<strong>ch</strong>en Esperantisten“ zu einer trockistis<strong>ch</strong>en Organisation entwickelt<br />

habe. 209<br />

Mi<strong>ch</strong>al’skij (s. Enciklopedio de Esperanto 1933, S. 370 und Informacionnyj bjulleten’ ASĖ 6-<br />

7/1983, S. 23f.) lernte 1911 Esperanto und gründete 1917 in Saratov die Esperanto-Zeits<strong>ch</strong>rift Libera<br />

Torento, kehrte 1919 in die Ukraine zurück, lebte 1921-22 in Odessa und ans<strong>ch</strong>liessend sieben Jahre<br />

in Vosnesensk, wo er eine aktive literaris<strong>ch</strong>e Tätigkeit entfaltete und mit den Redaktionen von La<br />

nova epoko (Moskau), Literatura Mondo (Budapest) und Sennacieca revuo (Leipzig) zusammenarbeitete.<br />

1921-31 entstand eine Reihe von Gedi<strong>ch</strong>ten, in denen er etwa die Umgestaltung der Landwirts<strong>ch</strong>aft<br />

(Gedi<strong>ch</strong>t ‚Traktoro’), die Erfolge der Industriealisierung (‚Kolektivo’) bejubelte und die „bourgeoisen<br />

Pazifisten“ und „Kleriker“ entlarvte (‚Pan-Eǔropo’, ‚Al la apostoloj de Kristo kaj mono’,<br />

‚Krucmilito’). Ein Band mit diesen Gedi<strong>ch</strong>ten ers<strong>ch</strong>ien 1932 unter dem Titel ‚Fajro kuracas’ (Das<br />

Feuer heilt). <strong>An</strong>fang der 30er Jahre zog Mi<strong>ch</strong>al’skij in den Donbass um, wo er zunä<strong>ch</strong>st als Russis<strong>ch</strong>-<br />

Lehrer und ab 1935 in Stalino (Doneck) als Lehrer einer Abends<strong>ch</strong>ule wirkte. 1934 wurde er Sekretär<br />

der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Esperanto-S<strong>ch</strong>rifsteller (IAREV). Diese Organisation<br />

wurde 1931 von proletaris<strong>ch</strong>en Esperanto-S<strong>ch</strong>riftstellern aus Deuts<strong>ch</strong>land und der Sowjetunion gegründet.<br />

Der deuts<strong>ch</strong>e kommunistis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>riftsteller Ludwig Renn (1889-1979) war ihr Präsident. In<br />

seiner IAREV-Zeit entstanden weitere Gedi<strong>ch</strong>te. Ausserdem übersetzte er Werke Puškins, Nekrasovs,<br />

Ostrovskijs, Šolo<strong>ch</strong>ovs und Ševčenkos sowie moderner russis<strong>ch</strong>er und ukrainis<strong>ch</strong>er Autoren ins<br />

Esperanto, ferner publizierte er den Literaturband ‚Nova Donbaso‘. Na<strong>ch</strong>dem die Vereinigung wegen<br />

der Verhaftung Renns dur<strong>ch</strong> die Nazis ihre Tätigkeit einstellen musste, wurde sie 1934 von Mi<strong>ch</strong>al’skij<br />

u.a. reanimiert und existierte bis 1937. Fast alle Mitglieder ihres Komitees kamen beim<br />

‚Grossen Terror’ gewaltsam ums Leben. Dies hatte der Verfasser des Artikels im Informationsbulletin<br />

der ASĖ (Vereinigung der Sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten, 1979-89) freili<strong>ch</strong> zu vers<strong>ch</strong>weigen gehabt.<br />

Au<strong>ch</strong> Jürgensen, Aleksandr Nikolaevič, geb. 1903, Norweger aus Irkutsk, parteilos, Ingenieur<br />

in Stalino (Doneck), verhaftet am 13. Juli 1937 dur<strong>ch</strong> das NKVD des Gebiets Doneck, gab zu, einem<br />

a/s trockistis<strong>ch</strong>en Zentrum angehört zu haben. Jürgensen gab zudem zu Protokoll, dass er in die<br />

Spionage zugunsten des fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>en Deuts<strong>ch</strong>lands einbezogen gewesen war. Er habe ausländis<strong>ch</strong>en<br />

Erkundungstrupps <strong>An</strong>gaben über die Kriegsproduktion der Stalin-Fabrik und über die Förderung in<br />

den Kohles<strong>ch</strong>ä<strong>ch</strong>ten Stalinugol‘, Makeevugol‘, Donbasantracit u.a. gema<strong>ch</strong>t. Jürgensen nannte eine<br />

ganze Reihe von Personen: Mala<strong>ch</strong>eev, Nekrasov, Pljatner, Potana, Krečetov, Kolčinskij, Izgur,<br />

Zonnenberg-Fedorovskij, Šakida, Sinickij, Aleksandrov, Pritul, Volkov, Grinevič, Šumilov,<br />

207<br />

Opfergruppenliste: http://stalin.memo.ru/spiski/pg04192.htm.<br />

208<br />

Opfergruppenliste: http://stalin.memo.ru/spiski/pg04192.htm.<br />

209<br />

S. http://historio.ru/mihxalski.php. Opfergruppenliste: http://stalin.memo.ru/spiski/pg03148.htm.


70<br />

Karantbajvel’, Zak, Stelli<strong>ch</strong>, Fillipov, Smirnov, u.a. Jürgensen wurde gemäss Art. 54-6, 54-8 und 54-<br />

11 des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>s der Ukrainis<strong>ch</strong>en SSR zum Tode verurteilt und hingeri<strong>ch</strong>tet. 210<br />

Ähnli<strong>ch</strong>e Vorwürfe ri<strong>ch</strong>teten si<strong>ch</strong> gegen Lavrent’ev, Konstantin Alekseevič, geb. 1894, aus<br />

Zagorsk (Moskauer Gebiet), von Beruf Felds<strong>ch</strong>er. Als Leiter eines Esperanto-Lernzirkels in der Fabrik<br />

Moselektrik habe er eine Korrespondenz mit Ausländern geführt und diese benutzt, um an das<br />

Ausland Informationen über den Ausstoss der Fabrik und über die materielle Situation und die<br />

Verfassung der Arbeiter weiterzugeben. Am 4. Oktober 1938 wurde Lavrent’ev, der im Taganka-<br />

Gefängnis einsass, von einer ärztli<strong>ch</strong>en Kommission für geistig krank im Sinne einer S<strong>ch</strong>izophrenie<br />

befunden. Na<strong>ch</strong> diesem Befund wurde Lavrent’ev einer „stationären geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>-psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en<br />

Expertise im „wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ungsinstitut der geri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Psy<strong>ch</strong>iatrie namens <strong>Prof</strong>.<br />

Serbskij“ zugeführt, infolge derer Lavrente’vs gesundheitli<strong>ch</strong>er Zustand als „unverändert“ era<strong>ch</strong>tet<br />

wurde, sodass er weiterhin der „Zwangsheilung“ im „psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en Spital“ unterlag. 211<br />

In den Akten zu Gavrilov, Pjotr Alekseevič, geb. 1904, Russe aus Orjol, der als Expediteur bei<br />

der SĖSR gearbeitete hatte, kann man na<strong>ch</strong>lesen, dass er über Deškin aussagte, dass dieser na<strong>ch</strong> Polen<br />

Bü<strong>ch</strong>er vers<strong>ch</strong>icke, für die er Devisen erhalten habe und dass er eine a/s Haltung an den Tag gelegt<br />

habe. 212<br />

Iodko, Adam Romualdovič, geb. 1893 in Sluck (Gouv. Minsk) in einer Handwerkersfamilie.<br />

Der Vater war Litauer und die Mutter (Helena Dick) deuts<strong>ch</strong>-polnis<strong>ch</strong>er Abstammung. Iodko bekannte<br />

si<strong>ch</strong> zum Calvinismus. Seine Französis<strong>ch</strong>lehrerin verbot ihm, für Esperanto zu werben. Na<strong>ch</strong> dem<br />

Gymnasium, das er 1915 in Sluck abs<strong>ch</strong>loss, trat er in die Kiever Universität und im September 1915<br />

in die Philologis<strong>ch</strong>e Fakultät der Moskauer Universität ein. Den Krieg verbra<strong>ch</strong>te er in einem<br />

Reserveregiment (Feuerwehr) in Aleksandrov im Gouvernement Vladimir, und Ende 1916 wurde er<br />

an die Westfront na<strong>ch</strong> Oranienbaum in eine Mas<strong>ch</strong>inengewehrs<strong>ch</strong>ule abkommandiert. Dann kehrte er<br />

erneut na<strong>ch</strong> Aleksandrov zur Dienstleistung zurück. Im Dezember dieses Jahres trat er na<strong>ch</strong> eigenen<br />

<strong>An</strong>gaben dem 1. polnis<strong>ch</strong>en Reserveregiment in Moskau bei. Aus gesundheitli<strong>ch</strong>en Gründen wurde er<br />

jedo<strong>ch</strong> entlassen. In Moskau war er für die Allrussis<strong>ch</strong>e Volkszählung, dana<strong>ch</strong> für die<br />

Feuerwehrinspektion in einer Marinebauabteilung tätig, und im Februar 1919 wurde er in ein<br />

S<strong>ch</strong>ützenregiment na<strong>ch</strong> Leningrad versetzt, wo er die Funktion eines Militärinstruktors in der<br />

Mas<strong>ch</strong>inengewehrabteilung ausübte. In dieser Zeit trat er der VKP(B) bei. Ende 1919 wurde er als<br />

Kommissär des 2. Moskauer Regiments na<strong>ch</strong> Tula kommandiert, wo er gegen die Arme Denikins<br />

kämpfte. Na<strong>ch</strong> dem Krieg kehrte er na<strong>ch</strong> Moskau zurück, wo er si<strong>ch</strong> eine Zeit lang der Parteiarbeit<br />

widmete und dann in der zentralen Ar<strong>ch</strong>ivverwaltung der RSFSR in der Abteilung für Information und<br />

Organisation tätig war. 1928 wurde er na<strong>ch</strong> Weissrussland ges<strong>ch</strong>ickt, wo er im Rahmen der zentralen<br />

Ar<strong>ch</strong>ivverwaltung der BSSR, d.h. im Zentralar<strong>ch</strong>iv der Oktoberrevolution in Mogiljov die Funktion<br />

eines wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Oberassistenten ausübte. Iodko, der eine <strong>Frau</strong> und zwei Söhne und eine<br />

To<strong>ch</strong>ter sowie eine S<strong>ch</strong>wester und einen Bruder hatte, der in Polen lebte, wurde am 23. August 1937<br />

verhaftet und am 6. Dezember vom NKVD Mogiljov wegen „Spionage“ (Zugehörigkeit zu<br />

„bourgeoisen Organen“ Polens zum Zwecke der „Auskunds<strong>ch</strong>aftung“) vom NKVD und der<br />

Staatsanwalts<strong>ch</strong>aft der UdSSR na<strong>ch</strong> Art. 68 des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>s der Weissrussis<strong>ch</strong>en SSR (entspra<strong>ch</strong><br />

Art. 58-1a des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>s der RSFSR) zum Tode dur<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>iessen verurteilt. Das Urteil wurde<br />

am 13. Januar 1938 in Mogiljov vollstreckt. Am 5. November 1956 wurde er vom Militärtribunal des<br />

Weissrussis<strong>ch</strong>en Militärbezirks rehabilitiert, und der Strafprozess gegen ihn wurde eingestellt. Die<br />

<strong>An</strong>twort, wel<strong>ch</strong>e weissrussis<strong>ch</strong>en Esperantisten ausser Iodko no<strong>ch</strong> verfolgt wurden, konnte der<br />

210<br />

Die entspre<strong>ch</strong>ende Bes<strong>ch</strong>einigung wurde im April 1954 von Hauptmann A. Iljušin von der entspre<strong>ch</strong>enden Abteilung des<br />

Ukrainis<strong>ch</strong>en KGB ausgestellt (veröffentli<strong>ch</strong>t auf http://pri-historio.boom.ru/ukraina.htm). Opfergruppenliste:<br />

http://stalin.memo.ru/spiski/pg02297.htm.<br />

211<br />

S. http://historio.ru/lavrentev.php.<br />

212<br />

S. http://historio.ru/gavrilov.php.


71<br />

stellvertretende Leiter des KGB Weissrusslands in Mogiljov, G.P. Presnakov, auf <strong>An</strong>frage N.<br />

Stepanovs, ni<strong>ch</strong>t beantworten. 213<br />

Breslau, Boris Moiseevič (Chaim-Boru<strong>ch</strong> Movševič), geb. am 1. März 1891 in Režica,<br />

Wolhynien, Journalist-Redaktor, Esperantist seit 1909, seit 1923 Mitglied des ZK SĖSR, Autor<br />

vers<strong>ch</strong>iedener S<strong>ch</strong>riften, Mitglied der VKP(B). Die Mutter (Berger) stammte aus Kurland, der Vater<br />

(+1908) war ein armer, aber forts<strong>ch</strong>rittli<strong>ch</strong> gesinnter Jude. 1912-15 arbeitete er als Bu<strong>ch</strong>halter und als<br />

Korrespondent für Deuts<strong>ch</strong> und Englis<strong>ch</strong>, 1917 als Büroangestellter in einer s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en Firma in<br />

Moskau. Von der Stelle erfuhr er in La Ondo de Esperanto. Bis zu seiner Verhaftung am 16. Januar<br />

1937 arbeitete Breslau als Korrektor in Moskau. Ihm wurde zur Last gelegt, verleumderis<strong>ch</strong>es<br />

Gedankengut verbreitet, bei Parteiversammlungen die Trotzkisten verteidigt und die Volksfeinde<br />

gelobt zu haben. Ausserdem soll er ungesetztli<strong>ch</strong> im Besitz von Feuerwaffen gewesen sein, dessen er<br />

si<strong>ch</strong> in der Tat au<strong>ch</strong> als s<strong>ch</strong>uldig bekannte. Aus den KGB-Akten von 1954 ging hervor, dass er zu<br />

diesem Zeitpunkt als Leiter der politis<strong>ch</strong>en Abteilung in einem Fis<strong>ch</strong>ereibetrieb in der Bu<strong>ch</strong>t von<br />

Na<strong>ch</strong>odka arbeitete. 214 Mehr wurde über sein S<strong>ch</strong>icksal ni<strong>ch</strong>t bekannt.<br />

Majzel‘, Brukson, Samal‘, Trejvas, Zak, Perel’štejn, Karantbajvel‘, Rozenfel’d, und<br />

Filippov, alles Juden, sowie Kurmanaev und Tregubenko, zwei Russen, und Ponjatovskij, ein<br />

gebürtiger Pole, wurden wegen k/r-trockistis<strong>ch</strong>er Agitation und/oder wegen Spionage zugunsten<br />

Englands, Frankrei<strong>ch</strong>s, Deuts<strong>ch</strong>lands, S<strong>ch</strong>wedens, Polens und Litauens angeklagt und verurteilt. Bei<br />

Rozenfel‘d und Usov rei<strong>ch</strong>te die Hand des NKVD bis na<strong>ch</strong> Tads<strong>ch</strong>ikistan und Kirgisien. 215<br />

Erwähnenswert ist der Fall Josif Battas, eines 1900 geborenen Ungarn, der bis 1932 Mitglied<br />

der KP Deuts<strong>ch</strong>lands und Österrei<strong>ch</strong>s gewesen war, als Lantis Emmissär galt und als sol<strong>ch</strong>er in den<br />

NKVD-Akten verzei<strong>ch</strong>net war. Gemäss dieser Akten wurde er von der ungaris<strong>ch</strong>en Geheimpolizei als<br />

Spitzel und Provokateur in den Reihen der Kommunisten angeworben und soll Mátyás Rákosi, der<br />

si<strong>ch</strong> in seiner Wohnung aufgehalten haben soll, denunziert haben. Dana<strong>ch</strong> war Batta unter den österrei<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en<br />

Politemigranten erneut als Spitzel tätig. Beim Verhör nannte er zahlrei<strong>ch</strong>e Namen, ausser<br />

den oben aufgeführten au<strong>ch</strong> Chejfic, Podkaminer, Sevak, 216 Usmanov, Frank, Erju<strong>ch</strong>in, Kalašnikov,<br />

Ponjatovskij, Lidin, Klus und Mi<strong>ch</strong>alicska. Über Demidjuk sagte er aus, dass dieser die Aufgabe hatte,<br />

eine Granate grosser Sprengkraft herzustellen, um einen terroristis<strong>ch</strong>en Akt zu begehen. Bis zu seiner<br />

Verhaftung arbeitete der Politemigrant (vgl. Muravkin) als Kontrolleur in einer<br />

Werkzeugmas<strong>ch</strong>inenfabrik bei Moskau. Er wurde am 1.12.1937 vom NKVD des Moskauer Gebiets<br />

verhaftet und am 3.10.1938 gemäss Art. 58-6, 58-8 und 58-11 zum Tode verurteilt und hingeri<strong>ch</strong>tet.<br />

Batta wurde eine besonders aggressive Haltung gegen die Führung der KP der UdSSR und der sowjetis<strong>ch</strong>en<br />

Führung attestiert bzw. unterstellt. Ferner wurde beim Verrat Rákosis au<strong>ch</strong> seine <strong>Frau</strong> erwähnt.<br />

217<br />

Eine eigentümli<strong>ch</strong>e Vermengung von Umständen und Sa<strong>ch</strong>verhalten führte au<strong>ch</strong> zur<br />

Verhaftung, <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>uldigung und Verurteilung von Georgij Fjodorovič Deškin. Am 23. Februar 1891<br />

in Vilna geboren, lernte dieser Russe 1908 in Moskau A.A. Sa<strong>ch</strong>arov und andere Aktivisten der<br />

Esperanto-Bewegung kennen und gründete 1910 in Vilna selbst eine Esperanto-Gesells<strong>ch</strong>aft. Bis zum<br />

Weltkrieg trat er als Esperantist vor allem auf literaris<strong>ch</strong>em Gebiet hervor und errang dabei einige<br />

Erfolge und <strong>An</strong>erkennung. 1915 verliess Deškin seine Heimatstadt. Die Kriegsereignisse führten ihn<br />

zunä<strong>ch</strong>st na<strong>ch</strong> Gomel’ in Weissrussland, dann na<strong>ch</strong> Moskau, na<strong>ch</strong> Bayburt und Trabzon (Trapezunt)<br />

213<br />

S. http://historio.ru/Iodko.htm und http://lists.memo.ru/index9.htm.<br />

214<br />

S. Enciklopedio de Esperanto 1933, S. 66; http://historio.ru/breslav.htm; http://historio.ru/breslaux.php.<br />

215<br />

Rozenfel’d wurde in Ungarn geboren und war stv. Volkskommissar des Inneren der Tads<strong>ch</strong>ikis<strong>ch</strong>en SSR und lebte in<br />

Stalinabad (Tads<strong>ch</strong>ikistan). Usov arbeitete in Kirgistan als Mittels<strong>ch</strong>ullehrer.<br />

216<br />

Podkaminer, Sevak und Bokarjov überlebten den Terror und spielten in der na<strong>ch</strong>stalinistis<strong>ch</strong>en sowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-<br />

Bewegung wieder eine bedeutende Rolle.<br />

217<br />

S. http://historio.ru/batta.php. In der Enciklopedio de Esperanto (1933/34), S. 40, wird József Batta mit der Berufsbezei<strong>ch</strong>nung<br />

Eisendre<strong>ch</strong>sler ausgewiesen und als Redaktor von Munkáskultura und Internaciisto (bis 1933) vorgestellt.


72<br />

in der Türkei und s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Georgien. 218 Dort meldete er si<strong>ch</strong> gemäss NKVD-Akten zum<br />

Dienst in der sogenannten Astra<strong>ch</strong>aner Armee der Weissen und fuhr so na<strong>ch</strong> Novorossijsk, von wo aus<br />

er si<strong>ch</strong> an den Standort dieser Armee hätte begeben sollen. Stattdessen ging er na<strong>ch</strong> Gelendžik (zu<br />

seinen Verwandten, wie es heisst). Dort arbeitete er bis <strong>An</strong>fang 1919 in der Lebensmittelverwaltung,<br />

kehrte aber na<strong>ch</strong> Novorossisjk zurück, wo er bis März 1920 für die glei<strong>ch</strong>e Behörde tätig war (damals<br />

wurde die Stadt von der Roten Armee eingenommen). Seit 1921 lebte er in Moskau. Während er im<br />

Krieg no<strong>ch</strong> meistens in russis<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>e oft Gedi<strong>ch</strong>te s<strong>ch</strong>rieb, verstummte er von 1922 bis 1938. Zu<br />

Beginn dieser Periode heiratete er und es wurde ihm eine To<strong>ch</strong>ter (Galina) geboren. Am 10. März<br />

1938 wurde er vom NKVD des Moskauer Gebiets verhaftet. Deškin wurde vom NKVD vorgeworfen,<br />

<strong>An</strong>fang 1920 in Novorossijsk von einem (unbekannten, Prot.) Oberst der Weissen Armee für<br />

Spionagearbeit angeworben zu sein, und etwas später sei er einem Offizier der englis<strong>ch</strong>en Armee<br />

vorgestellt worden, von dem er den Auftrag erhalten haben soll, na<strong>ch</strong> der „Befreiung“ Novorossijsks<br />

dur<strong>ch</strong> die Rote Armee si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Moskau dur<strong>ch</strong>zus<strong>ch</strong>lagen und mit Drezen Kontakt aufzunehmen, um<br />

von ihm <strong>An</strong>weisungen für die weitere Spionagetätigkeit zu erhalten. In der Folge habe Deškin von<br />

1921 bis 1937 mit Drezen eine verbre<strong>ch</strong>eris<strong>ch</strong>e Verbindung unterhalten, um ihn mit Spionageauskünften<br />

zu versorgen, wofür er von ihm eine Geldentlohnung erhalten habe. Konkret habe er in den Jahren<br />

1931-32 als Warenleiter bei dem Unternehmen Sojuz<strong>ch</strong>lopkosyr Drezen Kopien mit <strong>An</strong>gaben über die<br />

Versorgung der Textilfabriken mit Baumwolle übergeben, und 1933 über die Versorgung der Mossnabosovia<strong>ch</strong>im.<br />

Für diesen Dienst habe er etwa fünfmal ein Honorar in der Höhe von 200 bis 500 Rubel<br />

erhalten. Deškin sei bekannt gewesen, dass Drezen eine Spionageorganisation gegründet habe, die<br />

zugunsten der deuts<strong>ch</strong>en Aufklärung gearbeitet habe. Ausserdem habe er „besonders gehütete Staatsgeheimnisse“<br />

an die englis<strong>ch</strong>e Aufklärung weitergeleitet. Usw. Die Verhöre nahmen kein Ende, sondern<br />

wurden im Gegenteil immer absurder. Beim Verhör vom 22. März 1938 soll Deškin ausgesagt<br />

haben, dass ihm von Drezen her bekannt gewesen sei, dass si<strong>ch</strong> seine Organisation auss<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> mit<br />

Spionage zugunsten Deuts<strong>ch</strong>lands befasst habe, dass Deškin aber davon ni<strong>ch</strong>ts gewusst habe, dass er<br />

und Drezen mit der englis<strong>ch</strong>en Aufklärung in Verbindung gestanden habe und dass Drezen ihn darüber<br />

aufgeklärt habe, dass es eine geheime Verbindung zwis<strong>ch</strong>en den Mitgliedern der fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>en<br />

Esperanto-Organisation (d.h. SAT) und der englis<strong>ch</strong>en Aufklärung gegeben habe. Als Mitglieder dieser<br />

„fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>en“ Organisation zählte Deškin laut NKVD-Akten Nekrasov, Gurov, Incertov, Demidjuk,<br />

Poljakov, Varankin, Lavrent’ev, Lojan, Žavoronkov und Gavriov auf. Zu seiner Verteidigung<br />

sagte Deškin aus, dass er mit Drezen nur als mit jemandem bekannt geworden sei, der die SĖSR gründete.<br />

Deškin habe aber seinen Eintritt in die Astra<strong>ch</strong>aner Armee der Weissen im Jahr 1918 ni<strong>ch</strong>t bestritten.<br />

Selbst Deškins <strong>Frau</strong>, M.F. Jakovleva, wurde befragt, die aber ni<strong>ch</strong>ts Kompromittierendes in<br />

Bezug auf ihren Mann mitgeteilt habe, ausser dass er si<strong>ch</strong> mit der Spra<strong>ch</strong>e Esperanto befasst, einen<br />

Briefwe<strong>ch</strong>sel mit ausländis<strong>ch</strong>en Korrespondenten unterhalten und Zeits<strong>ch</strong>riften aus dem Ausland erhalten<br />

habe.<br />

Beim Verhör vom 15. Februar 1938 wiederrief Deškin seine früheren Aussagen über Spionagetätigkeit<br />

und <strong>An</strong>gehörigkeit zu einer a/s Organisation. Ferner gab er zu Protokoll, dass er nie Mitglied<br />

der SAT gewesen sei. Am 7. Juli 1938 wurde Deškin von Gavrilov, der mit Demidjuk konfrontiert<br />

wurde, s<strong>ch</strong>wer belastet: Gavrilov zeigte si<strong>ch</strong> „überzeugt“, dass Deškin au<strong>ch</strong> Teilnehmer einer<br />

konterreovutionären Spionageorganisation in den Reihen der Esperantisten gewesen war. Ihm sei bekannt,<br />

dass Deškin Korrespondenz mit Polen unterhielt, dorthin Literatur s<strong>ch</strong>ickte und dafür Devisen<br />

erhielt. Von seiner politis<strong>ch</strong>en Überzeugung her sei Deškin ein „a/s Mens<strong>ch</strong>“. 219 Dies soll Demidjuk<br />

laut NKVD-Akte am 15. März 1939 bestätigt haben, obwohl Deškin am 17. März 1939 dem Protokoll<br />

beifügte, dass er in all den Jahren, in denen er in der UdSSR lebte, niemals und unter keinen Umständen<br />

Spionage oder eine k/r Aktivität ausgeübt habe. Deškin wartete auf sein Urteil im Taganka-<br />

Gefängnis. Per Bes<strong>ch</strong>luss des NKVD der UdSSR vom 23. April 1939 wurde Deškin zu ‚ledigli<strong>ch</strong>’ 8<br />

Jahren Lagerhaft (ITL) verurteilt, rückwirkend auf den 10.2.1938. In den Akten hiess es, dass Deškin<br />

in den Jahren 1952-54 eine Revision seines Prozesses angestrebt habe, dass er seine Uns<strong>ch</strong>uld beteuert<br />

218<br />

V. Tokarev: Georgo Deškin: In: Impeto 91, S. 151.<br />

219<br />

Liest man den Eintrag über Deškin in der Enciklopedio de Esperanto 1933, S. 107, s<strong>ch</strong>eint er in der Tat eine reservierte<br />

Haltung gegenüber der Oktoberrevolution an den Tag gelegt zu haben.


73<br />

und unter dem Druck „verbotener Verhörmethoden“ gestanden habe. Weiter vermerkt das Geheimdienstdokument,<br />

dass Deškin na<strong>ch</strong> seiner Entlassung aus dem Kraslager per 23. Juli 1946 gesetzeswidrig<br />

zu seiner To<strong>ch</strong>ter na<strong>ch</strong> Moskau gefahren sei und dass er 1947 zu zwei weiteren Jahren Lagerhaft<br />

verurteilt wurde. Dur<strong>ch</strong> eine Bestimmung des speziellen Lagergeri<strong>ch</strong>ts des Krasnojarsker Landes wurde<br />

er am 9. Januar 1948 von der Lagerhaft befreit. Vom 31. Januar 1948 bis 16. September 1952 arbeitete<br />

Deškin als Bu<strong>ch</strong>halter im S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>t Nr. 3 des Trusts Kanskugol’ in der Orts<strong>ch</strong>aft Irša des Rybinsker<br />

Rayons im Krasnojarsker Land. 1951 wurde er zum Invaliden der 3. Gruppe erklärt. 220 1955 kam er<br />

aus dem Lager zurück, siedelte si<strong>ch</strong> in Mičurinsk (Gebiet Tambov) an, wo er aus Krankheitsgründen<br />

bald in ein Heim umziehen musste. Gerade in dieser Zeit entstand von ihm ein neuer Zyklus von Esperanto-Gedi<strong>ch</strong>ten.<br />

Im Juni 1963 überras<strong>ch</strong>te ihn die Erblindung. Als 75-Jähriger starb Deškin am 27.<br />

Februar 1976. 221<br />

Ausser derjenigen Bes<strong>ch</strong>uldigten und Verurteilten, die ihr Urteil s<strong>ch</strong>einbar widerstandslos<br />

hinnahmen, gab es einige Opfer, die wie Deškin hartnäckig und wiederholt die absurden<br />

<strong>An</strong>s<strong>ch</strong>uldigungen abstritten, meist taten sie es vergebli<strong>ch</strong>. Au<strong>ch</strong> die NKVD-Akte zu Nikolaj<br />

Jakovlevič Incertov, geb. 1896 im Dorf Šatalovka (Gouv. Voronež), Sohn eines Popen, ist insofern<br />

interessant, als sie dokumentiert, wie wenig es half, sämtli<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>uldigungen zurückzweisen, um<br />

der drohenden Verurteilung zu entgehen. So verneinte Incertov beim Verhör vom 17. April 1937<br />

„kategoris<strong>ch</strong>“, Teilnehmer einer trockistis<strong>ch</strong>en Organisation von Esperantisten 222 gewesen zu sein. Zu<br />

keiner k/r Aktivität habe er irgendwann irgendeine Beziehung gehabt, er könne darüber ni<strong>ch</strong>ts sagen<br />

und sei uns<strong>ch</strong>uldig. Er verlangte Beweise, die diese <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>uldigungen plausibel ma<strong>ch</strong>ten. Er bestritt,<br />

dass er ein Teilnehmer einer k/r Organisation gewesen sei, dass er Drezen eine Bewilligung für die<br />

Verbreitung von a/s trockistis<strong>ch</strong>er Literatur gegeben habe und dass er eine sol<strong>ch</strong>e au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verbreitet<br />

habe. Es habe au<strong>ch</strong> kein Gesprä<strong>ch</strong> mit Drezen gegeben, in der Incertov seine Solidarität mit einer SAT<br />

bekundet hätte, die „in ihrer Arbeit eine a/s trockistis<strong>ch</strong>e Linie“ vertritt. Es folgten zahlrei<strong>ch</strong>e weitere<br />

Unterstellungen gegen Incertov, die teilweise gar ni<strong>ch</strong>ts mit seiner Tätigkeit als Esperantist zu tun<br />

hatten. Ferner antwortete Incertov, dass er über eine terroristis<strong>ch</strong>e Arbeit in der Ukraine, die von<br />

Drezen, Kolčinskij, Pogorelov „und anderen“ dur<strong>ch</strong>geführt worden sein soll, ni<strong>ch</strong>ts gewusst habe. In<br />

denr Akten zu Incertov gab es eine Passage, bei der Pogorelov über Incertov ausgesagt haben soll,<br />

dass er mit ihm über die Existenz einer k/r trockistis<strong>ch</strong>en Organisation unter dem Namen „Fraktion der<br />

Bols<strong>ch</strong>ewiken-Leninisten“ gespro<strong>ch</strong>en habe. Bei der Abs<strong>ch</strong>lussverhandlung vom 27. Oktober 1937<br />

bekannte si<strong>ch</strong> Incertov dann do<strong>ch</strong> wieder s<strong>ch</strong>uldig und sagte, dass er sein S<strong>ch</strong>icksal in die Hände des<br />

Geri<strong>ch</strong>ts legt. Dann empfing er die Hö<strong>ch</strong>strafe (VMN) – den Tod dur<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>iessen. 223<br />

Wie N. Stepanov in Erfahrung bringen konnte, s<strong>ch</strong>ien Efim Spiridovič dem NKVD seinen<br />

Dienst als Übersetzer von Esperanto-Dokumenten angeboten zu haben, um so sein Leben in Si<strong>ch</strong>erheit<br />

zu bringen – er erhielt nur zehn Jahre Lagerhaft. 224<br />

Interessant ist au<strong>ch</strong> der Fall Sergej Danilovič Mastepanovs (*1913), eines kaum bekannten<br />

Namens unter den sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten. Mastepanov, der von Kubankosaken abstammte, konnte<br />

nur wenige Monate seines Lebens die S<strong>ch</strong>ule besu<strong>ch</strong>en und bildete si<strong>ch</strong> daher vor allem autodidaktis<strong>ch</strong><br />

weiter. Sodann arbeitete Mastepanov als Lehrer für Deuts<strong>ch</strong>, Englis<strong>ch</strong> und Französis<strong>ch</strong>, kannte<br />

zahlrei<strong>ch</strong>e andere Spra<strong>ch</strong>en und wurde sogar S<strong>ch</strong>uldirektor. Er galt als grosser Spezialist für Spri<strong>ch</strong>wörter<br />

und Redensarten der slavis<strong>ch</strong>en, ugro-finnis<strong>ch</strong>en und Turkvölker. Seine wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Artikel ers<strong>ch</strong>ienen vor allem in den USA, in England, Deuts<strong>ch</strong>land, Frankrei<strong>ch</strong> und Finnland. 1938<br />

wurde er von einer NKVD-Trojka zum Tod verurteilt und dann zu 10 Jahren Haft begnadigt. Seine<br />

Zwangsarbeit verbra<strong>ch</strong>te er 1938-47 im berü<strong>ch</strong>tigten U<strong>ch</strong>tpečlager (Komi) unter besonders strengen<br />

220<br />

S. http://historio.ru/desxkin.php.<br />

221<br />

Tokarev, V.: Georgo Deškin: In: Impeto 91, S. 152.<br />

222<br />

Die Akten zu Incertov spre<strong>ch</strong>en neben der ri<strong>ch</strong>tigen S<strong>ch</strong>reibweise au<strong>ch</strong> von „eksperantistov“ und „esperantov“. Dies weist<br />

darauf hin, dass die Vernehmer keine wirkli<strong>ch</strong>e Ahnung von Esperanto gehabt haben konnten.<br />

223<br />

S. http://historio.ru/incertov.php. Die entspre<strong>ch</strong>enden <strong>An</strong>gaben zu Incertov ers<strong>ch</strong>einen au<strong>ch</strong> auf<br />

http://lists.memo.ru/index9.htm. Au<strong>ch</strong> Incertov wurde wie Drezen auf dem Neuen Don-Friedhof beerdigt.<br />

224<br />

S. Sennacieca Revuo 121/1993, S. 24-27. Er wurde am 8. Juni 1957 rehabilitiert.


74<br />

Haftbedingungen, sodass seine Gesundheit dana<strong>ch</strong> ruiniert war. Na<strong>ch</strong> der Haftentlassung lebte er halblegal<br />

ihm Krasnodarer Land und wurde 1957 rehabilitiert. In den 1960er und 70er Jahren versu<strong>ch</strong>te<br />

Mastepanov, am akademis<strong>ch</strong>en Leben teilzunehmen und ins Ausland zu reisen, was ihm die Sowjetbehörden<br />

aber systematis<strong>ch</strong> verwehrten. So blieb ihm ni<strong>ch</strong>ts anderes übrig, als si<strong>ch</strong> im Bergbaunest<br />

Malokurgannyj bei Karačaevsk in der Karačaiis<strong>ch</strong>-Čerkessis<strong>ch</strong>en Republik im Nordkaukasus an seinen<br />

Ehrenauszei<strong>ch</strong>nungen, die er von ausländis<strong>ch</strong>en akademis<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>stalten und Gesells<strong>ch</strong>aften erhielt<br />

und an der von ihm geführten Korrespondenz mit ausländis<strong>ch</strong>en Kollegen zu erfreuen. In einem<br />

Brief an N. Stepanov vom 16. Januar 1991 stärkte der 78-jährige Gulag-Überlebende seine Vermutung,<br />

dass er vor allem wegen seiner damaligen Tätigkeit als Esperantist – er war Mitglied des ZK<br />

SĖSR und des ZK IPE – verhaftet und verurteilt worden war. 225<br />

1.3.1. Drei Sonderfälle: N. Futerfas, G. Demidjuk und V. Kuz’mič<br />

Der Fall Futerfas<br />

Lange Zeit gab es über die Lebensumstände von Natan Jakovlevič Futerfas (1896-1937) nur sehr<br />

spärli<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>gaben. Erst Nikolaj Stepanov, der Ende 1980er/<strong>An</strong>fang 1990er Jahre die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der<br />

Opfer aufgrund der geöffneten KGB-Ar<strong>ch</strong>ive aufarbeiten und publizieren konnte, ist es gelungen, die<br />

spektakuläre Biographie dieses sowjetis<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten, <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>o-Kommunisten bzw. <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>o-<br />

Syndikalisten, wie er in den Akten bezei<strong>ch</strong>net wurde, zu erhellen und zu rekonstruieren. Weil Futerfas’<br />

Biographie einzigartig ers<strong>ch</strong>eint, ist es angebra<strong>ch</strong>t, sie an dieser Stelle mit zwei anderen Spezialfällen<br />

gesondert zu würdigen.<br />

Na<strong>ch</strong> eigenen <strong>An</strong>gaben wurde Futerfas am 28. Juli 1896 in Lodz/Łódź geboren, wo er bis zum<br />

Kriegsausbru<strong>ch</strong> lebte. Im Alter von se<strong>ch</strong>s Jahren verlor er seinen Vater, der bei einem Unfall in Melitopol’<br />

(Südukraine) 35-jährig ums Leben kam. Na<strong>ch</strong> dem Tod des Vaters kam Futerfas’ Familie, bestehend<br />

aus der Mutter und drei Kindern, von denen Natan der Älteste war, in die Obhut des Onkels,<br />

der die Hausges<strong>ch</strong>äfte fortsetzte. Na<strong>ch</strong> drei Jahren Gymnasium verliess Futerfas die S<strong>ch</strong>ule, da ihn der<br />

offizielle Lehrplan ni<strong>ch</strong>t befriedigte und begann si<strong>ch</strong> autodidaktis<strong>ch</strong> weiterzubilden. So interessierte er<br />

si<strong>ch</strong> vor allem für die Bu<strong>ch</strong>haltung, politis<strong>ch</strong>e Ökonomie und Universalges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te. Sein erstes Einkommen<br />

erzielte er im Büro einer grossen Lodzer Firma. Ein OGPU-Dokument zu Futerfas hielt seine<br />

Arbeitsanstellung wie folgt fest: bis 1917 Büroangestellter in der privaten Firma Rozental in Łódź,<br />

1918-19 Büroangestellter von Glavkož (Lederfirma in Moskau), 1919-22 Büroangestellter von<br />

Glavsnabprodarm (Armee und Flotte), 226 1922-25 Kontrolleur bei einer Versi<strong>ch</strong>erungskasse in Moskau,<br />

1925-26 Bu<strong>ch</strong>halter in der Fabrik Krasnaja Vana, Samara, 1926-27 Kassierer bei einer Versi<strong>ch</strong>erungsfirma<br />

in der Petrograder Region.<br />

Von der Spra<strong>ch</strong>e Esperanto erfuhr Natan Futerfas um 1911 dur<strong>ch</strong> seinen S<strong>ch</strong>ulkameraden J.<br />

Šapiro. 1912 fuhr Futerfas na<strong>ch</strong> Krakau, um am 8. Esperanto-Weltkongress teilzunehmen. Dann lernte<br />

er die Esperantisten S<strong>ch</strong>ulz, Cimerman, Goldberg und Helman kennen, die die Lodzer Esperanto-<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft unterhielten. 1914 reiste Futerfas mit seiner Mutter aus Łódź ins Gouvernement Wilna<br />

ab. Im September 1917 absolvierte Futerfas ein Examen beim Moskauer Esperanto-Institut (A. Sa<strong>ch</strong>arov).<br />

Bei dieser Gelegenheit hinterliess er au<strong>ch</strong> einige Auskünfte über sein Verständnis des Esperanto.<br />

Si<strong>ch</strong> auf L.N. Tolstoj beziehend, hielt er Esperanto ni<strong>ch</strong>t nur für einen phantasievollen Versu<strong>ch</strong>,<br />

sondern für eine lebendige Spra<strong>ch</strong>e, die eine wi<strong>ch</strong>tige Rolle in der Kultur der modernen Mens<strong>ch</strong>heit<br />

spielen sollte. Der Hauptgrund für den Hass zwis<strong>ch</strong>en den Völkern sei die ungenügende Haushaltsordnung,<br />

und nur ihre Änderung könne dazu führen, Hass und Kriege zu überwinden. Im Prinzip war er<br />

225<br />

S. http://historio.ru/mastepan.php; http://ru.wikipedia.org/wiki/Мастепанов,_Сергей_Данилович.<br />

226<br />

Главное управление по снабжению продовольствием армии и флота.


75<br />

der <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t, dass eine internationale Spra<strong>ch</strong>e die Dinge im Grunde ni<strong>ch</strong>t verändern würde, denno<strong>ch</strong><br />

zeigte er si<strong>ch</strong> davon überzeugt, dass Esperanto in Nationalitätenstaaten wie Österrei<strong>ch</strong> oder Russland<br />

einen wesentli<strong>ch</strong>en Friedensbeitrag leisten und die Mängel der existierenden soziopolitis<strong>ch</strong>en Ordnung<br />

beseitigen könnte. In der Folge unterri<strong>ch</strong>tete er Esperanto während dreier Jahre am Moskauer Esperanto-Institut.<br />

Da die Umstände am Institut s<strong>ch</strong>wierig waren (Kälte, Nahrung), mussten die Mitarbeiter<br />

während des Winters teilweise ausserhalb Moskaus eine andere Betätigung su<strong>ch</strong>en. So lehrte Futerfas<br />

im Sommer 1920 an einer anderen S<strong>ch</strong>ule. Um 1921 stellte das Institut seine Arbeit ein und Futerfas<br />

unterri<strong>ch</strong>tete Esperanto bei zwei anderen Moskauer Esperanto-Organisationen. Er s<strong>ch</strong>loss si<strong>ch</strong> dem<br />

Komitee der Allrussis<strong>ch</strong>en Esperanto-Föderation (OKTEF) an, zu deren Gründungsmitglieder au<strong>ch</strong> N.<br />

Želtov, A. Ajspurit, A. Skal’skij, A. Prager, T. Fridri<strong>ch</strong>sen, V. Bykov, R. Bakušinskij und B. Breslau<br />

gehörten. Ausserdem nahm Futerfas an der Tätigkeit einer Esperanto-Kooperative teil, die von A.A.<br />

Sa<strong>ch</strong>arov, S. Obručev, B. Breslau, A. Iodko, N. Želtov, T. Golev, N. Nekrasov, N. Cho<strong>ch</strong>lov und R.<br />

Bakušinski initiiert worden war. Na<strong>ch</strong> den Revolutionsjahren arbeitete Futerfas als Bu<strong>ch</strong>halter,<br />

Kontrolleur und Kassier in der Krankenkassenbran<strong>ch</strong>e, wo er ein kleines Gehalt bezog und die Stelle<br />

öfters we<strong>ch</strong>selte. In dieser Zeit begann er gegen Ė.K. Drezen zu opponieren und seine<br />

„Bürgerli<strong>ch</strong>keit“ zu „demaskieren“. Seiner Haltung als <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>ist gab er alle Ehre, indem er<br />

systematis<strong>ch</strong> einen konträren Gesi<strong>ch</strong>tspunkt vertrat, si<strong>ch</strong> mit Polemik streitbar in alle mögli<strong>ch</strong>en<br />

Dispute einmis<strong>ch</strong>te, die Autoritäten vers<strong>ch</strong>mähte und so eine Art eigene Streitkultur entwickelte. 227<br />

Als im Juni 1921 in Petrograd der III. Allrussis<strong>ch</strong>e Esperanto-Kongress eröffnet wurde, der<br />

von einem Organisationskomitee vorbereitet wurde, dem Ė.K. Drezen, Karataev, Rozanov, Šaber und<br />

Ščavinskij angehörten, bildeten N. Futerfas, M. Valentinov und V. Devjatnin das Präsidium des Kongresses.<br />

Dabei hielt der <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>ist Futerfas die Zeit für no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gekommen, eine gesamtsowjetis<strong>ch</strong>e<br />

Esperanto-Vereinigung zu erri<strong>ch</strong>ten. Der ideologis<strong>ch</strong>e Streit artete in einer Heftigkeit aus, sodass<br />

Futerfas mit einer Gruppe von Delegierten die Sitzung verliess, um gegen den autoritären bürokratis<strong>ch</strong>en<br />

Zentralismus Ė.K. Drezens innerhalb der SĖSS zu protestieren (s. S. 7f.). 1923 nahm Futerfas<br />

mit Drezen, Nekrasov, Demidjuk no<strong>ch</strong> am III. SAT-Kongress in Kassel (Deuts<strong>ch</strong>land) teil. Na<strong>ch</strong>dem<br />

La nova epoko eingestellt worden war, lud Drezen im Juli 1925 die beiden <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten Futerfas und<br />

Zil’berfarb dazu ein, in die Reihen der SĖSR einzutreten. Aber Futerfas winkte ab und vers<strong>ch</strong>wand in<br />

der Folge spurlos aus dem Fokus der Esperanto-Bewegung. 228<br />

Seine anar<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>e Haltung wurde Futerfas in einem Land wie der Sowjetunion, wo die<br />

<strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten gnadenlos verfolgt wurden, unweigerli<strong>ch</strong> früher oder später zum Verhängnis. So wurde<br />

Futerfas erstmals 1924 verhaftet (es liegt keine Bestätigung vor) und bald wieder freigelassen, aber<br />

offenbar ohne Re<strong>ch</strong>t, na<strong>ch</strong> Moskau zurückzukehren (wo seine Mutter Cecilija Ili’čna lebte). Er wurde<br />

in die Stadt Samara verbannt, später gelang es ihm, na<strong>ch</strong> Leningrad überzusiedeln, wo er si<strong>ch</strong> offenbar<br />

an politis<strong>ch</strong>en Debatten beteiligte und so den Behörden auffiel. Die Na<strong>ch</strong>fors<strong>ch</strong>ungen N. Stepanovs<br />

über Futerfas haben interessante <strong>An</strong>tworten aus Leningrad, Tomsk und Ar<strong>ch</strong>angel’sk zutage gefördert.<br />

Demna<strong>ch</strong> wurde Natan Jakovlevič Futerfas, Jude, parteilos, mit mittlerem Bildungsgrad,<br />

Kassierer in der Versi<strong>ch</strong>erungsanstalt der Petrograder Region in Leningrad am 14. Juni 1927 wegen<br />

„Verbre<strong>ch</strong>en“, die er im Sinne von Art. 58-4 des Strafgesetzsbu<strong>ch</strong>es der RSFSR verübt haben soll,<br />

verhaftet. Gemäss Bes<strong>ch</strong>luss des Speziellen Rats (OSO) der OGPU wurde er am 16. September 1927<br />

diesem Artikel entspre<strong>ch</strong>end zu drei Jahren Freiheitsentzug „wegen Vorbereitung und Verbreitung von<br />

a/s Flugblättern“ verurteilt. 229 Bei einer Amnestie vom 6. November 1927 wurde das Strafmass um<br />

Viertel reduziert. Na<strong>ch</strong> der Verbüssung seiner Haft wurde Futerfas gemäss Bes<strong>ch</strong>luss des OSO/OGPU<br />

am 7. Juni 1929 für drei Jahre na<strong>ch</strong> Sibirien verbannt. Dass Futerfas in den Distrikt Narym versetzt<br />

227<br />

S. http://historio.ru/futerfas.php bzw. http://www.satesperanto.org/FUTERFAS-SORTO-DE-UNU-<br />

ANARKIISTO.html?var_re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>e=Serĉi.<br />

228<br />

S. U. Lins: Drezen. Lanti kaj La Nova Epoko. In: Sennacieca Revuo 115/1987, S. 35-52; E. Borsboom: Vivo de Lanti,<br />

1976, S. 51f.<br />

229<br />

Wegen der glei<strong>ch</strong>en Straftat wurden mit Futerfas glei<strong>ch</strong>zeitig au<strong>ch</strong> ein gewisser Otto Ioganovič Sal’, gebürtig aus Lettland,<br />

und ein gewisser Dmitrij Veniaminovič D’jakov aus Leningrad, verhaftet. Der Prozess dieser Verurteilten wurde ni<strong>ch</strong>t<br />

revidiert.


76<br />

wurde, weiss man aus der <strong>An</strong>twort, die Stepanov von der KGB-Filiale in Tomsk erhielt, wo Futerfas<br />

ein weiteres Mal am 18. März 1935 verhaftet und aufgrund von Art. 58-10-II des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>es<br />

der RSFRS „wegen k/r Tätigkeit“, konkret, wegen „organisierten Kampfs gegen die Sowjetma<strong>ch</strong>t und<br />

die Partei und wegen der Organisation von Mitgliedern verbannter <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten in einer<br />

antirevolutionären Gruppe, die die Tätigkeiten der Partei und der Regierung kritisierten“ am 25. Juli<br />

1935 vom OSO des Volkskommissariats des Innern der UdSSR zur dreijährigen Verbannung in der<br />

Nordprovinz (Severnyj kraj) verurteilt. 230<br />

Na<strong>ch</strong>dem es Futerfas s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Ar<strong>ch</strong>angel’sk vers<strong>ch</strong>lagen hatte, wurde er dort am 18.<br />

Februar 1937 aufgrund fals<strong>ch</strong>er <strong>An</strong>gaben einer sozialrevolutionären Organisation (esery) von<br />

Ar<strong>ch</strong>angel’sk erneut festgenommen und mit 11 anderen Personen vor Geri<strong>ch</strong>t gestellt. Ausser des<br />

Hinweises, dass Futerfas am 23. Oktober 1937 wegen seiner anar<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>-sowjetkritis<strong>ch</strong>en Tätigkeit<br />

(offiziell hiess es: „als Bevollmä<strong>ch</strong>tigter für den Terror eines gesetzwidrigen sozialrevolutionären<br />

terroristis<strong>ch</strong>en Zentrums“) von einer Trojka der Filiale Ar<strong>ch</strong>angel’sk des NKVDF zum Tode dur<strong>ch</strong><br />

Ers<strong>ch</strong>iessen verurteilt wurde und am 27. Oktober 1937 ums Leben kam, 231 fehlen weitere <strong>An</strong>gaben zu<br />

seinem Wirken.<br />

Futerfas wurde am 29. April 1956 vom Militärtribunal des Weissmeer-Militärdistrikts<br />

rehabilitiert. Der Prozess des Jahres 1935 gegen Futerfas wurde am 27. Juli 1989 von der Tomsker<br />

Gebietsanwalts<strong>ch</strong>aft revidiert. Gemäss eines Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom Juli<br />

1989 (na<strong>ch</strong> anderen <strong>An</strong>gaben vom 16. Januar 1990) wurde er definitiv rehabilitiert. 232<br />

Der Fall Demidjuk<br />

Grigorij Prokop’evič Demidjuk (1895-1985) ragt aus vers<strong>ch</strong>iedenen Gründen aus der S<strong>ch</strong>ar sowjetis<strong>ch</strong>er<br />

Esperantisten heraus. Sein Werdegang ist wie folgt zu umreissen:<br />

*9.2.1895 Dorf Podomša, Distrikt Brest-Litovsk, Gouvernement Grodno. +6.11.1985 Moskau.<br />

Ende 90er Jahre zogen die Eltern na<strong>ch</strong> Moskau um. Demidjuks Vater war Eisenbahner. In Moskau<br />

s<strong>ch</strong>loss Demidjuk die Handelss<strong>ch</strong>ule ab. Während des 1. Weltkriegs leistete er als Freiwilliger Militärdienst<br />

in der Artillerie. 1919 kämpfte er als Offizier gegen die Armeen Kolčaks und Judeničs. 1920<br />

trat er in die militäris<strong>ch</strong>e Ingenieurshaupts<strong>ch</strong>ule ein, wo er in der Abteilung für Sprengstoffe (für den<br />

zivilen Gebrau<strong>ch</strong>) zuständig war. 1921 wurde er aus der Roten Armee entlassen. 1920 begann er als<br />

ausgebildeter Bergbauingenieur im Sprengstoff-Betrieb ‚Vzryvselprom’ zu arbeiten. Um 1930 verfasste<br />

er Fa<strong>ch</strong>artikel über Sprengstoffthemen. 1933 wurde er Chefingenieur im Trust ‚Sojuzvzryvprom’.<br />

1936 erhielt er wegen einer Errungens<strong>ch</strong>aft im Berei<strong>ch</strong> der Sprengstoffte<strong>ch</strong>nologie ein persönli<strong>ch</strong>es<br />

Lob vom Minister für S<strong>ch</strong>werindustrie, S. Ordžonikidse. 1937 ers<strong>ch</strong>ien aus seiner Feder das erste<br />

Bu<strong>ch</strong> in der Sowjetunion zu seinem Fa<strong>ch</strong>gebiet. Bis zu seiner Verhaftung am 10. Februar 1938<br />

arbeitete Demidjuk als Lehrer im Institut für Goldminen. Wegen seiner Verdienste stieg er in diesem<br />

Jahr no<strong>ch</strong> zum Kandidaten der te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Wissens<strong>ch</strong>aften auf. Na<strong>ch</strong> dem Krieg und seiner<br />

Rehabilitation 1955 setzte er seine Arbeit im Bergbau-Institut der Akademie der Wissens<strong>ch</strong>aften der<br />

Sowjetunion fort, wurde 1964 Doktor der te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Wissens<strong>ch</strong>aften und 1968 <strong>Prof</strong>essor im Institut<br />

für Bergbauindustrie. 1975 wurde er als „Verdienter Mitarbeiter (zaslužennyj dejatel’) in Wissens<strong>ch</strong>aft<br />

und Te<strong>ch</strong>nik der RSFSR“ geehrt. Ausserdem erhielt er einen Orden, fünf Medaillen und andere<br />

sowjetis<strong>ch</strong>e Ehrenabzei<strong>ch</strong>en. 1980 wurde er pensioniert, arbeitete aber weiterhin für sein Institut als<br />

Berater. Demidjuks Arbeitsresultate wurden im Pavillon ‚Kosmos‘ der VDnCh gezeigt. Demidjuk<br />

230<br />

S. http://historio.ru/futerfas.php und http://lists.memo.ru/index21.htm.<br />

231<br />

Dies weiss man aus einem Brief der KGB-Filiale in Ar<strong>ch</strong>angel’sk vom 6.9.1990.<br />

232<br />

S. http://historio.ru/futerfas.php.


77<br />

verfasste über 220 wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Beiträge, 39 Monographien, Bü<strong>ch</strong>er und Hefte, davon kamen<br />

se<strong>ch</strong>s in Fremdspra<strong>ch</strong>en heraus. Demidjuk war Mitarbeiter mehrerer Fa<strong>ch</strong>zeits<strong>ch</strong>riften (wie Nedra,<br />

Gornoe delo) und wirkte bei der Grossen Sowjetis<strong>ch</strong>en Enzyklopädie (3. Ausg.) und bei der Gornaja<br />

Ėnciklopedija als wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Berater mit. Ferner nahm Demidjuk an wissens<strong>ch</strong>afrli<strong>ch</strong>en<br />

Konferenzen teil und hielt Vorträge in Bulgarien, Polen und der Ts<strong>ch</strong>e<strong>ch</strong>oslowakei.<br />

Demidjuk lernte Esperanto im Jahr 1909. Als Student war er 1912-14 in der Moskauer Esperanto-<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft tätig. 1915 erhielt er na<strong>ch</strong> einem Examen die Bere<strong>ch</strong>tigung, Esperanto im Moskauer Esperanto-Institut<br />

zu lehren, dessen Mitarbeiter er 1918-19 war. 1922 gründete er mit N. Nekrasov, N.<br />

Futerfas, V. Poljakov, E. Mi<strong>ch</strong>al’skij und S. Hajdovskij die Verlagsgesells<strong>ch</strong>aft und die glei<strong>ch</strong>namige<br />

Esperanto-Zeits<strong>ch</strong>rift La nova epoko. Bei der Zusammenarbeit mit der SAT entwickelten si<strong>ch</strong> 1922-32<br />

freunds<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Briefkontakte mit dem französis<strong>ch</strong>en SAT-Chef Lanti (E. Adam), der 1922<br />

Demidjuk in Moskau besu<strong>ch</strong>te. 1922 trat Demidjuk aus Protest gegen die <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten Ė.K. Drezens aus<br />

dem Moskauer Esperanto-Klub aus und verhielt si<strong>ch</strong> mit N. Nekrasov kritis<strong>ch</strong> gegenüber der SĖSR<br />

und besonders ihrem Chef, dem „kommissäris<strong>ch</strong>en“ Ma<strong>ch</strong>tallüren und „Häresien“ vorgeworfen wurden,<br />

die zu bekämpfen seien, wie Demidjuk an Lanti s<strong>ch</strong>rieb. Aber Drezen s<strong>ch</strong>lug zurück, verbannte<br />

Demidjuk in die Reihen der „unverantwortli<strong>ch</strong>en Elemente“ und warf ihm vor, die Organisation in<br />

Misskredit bringen und mit der SAT gemeinsame Sa<strong>ch</strong>e ma<strong>ch</strong>en zu wollen. Als Gegenmassnahme<br />

gegen Demidjuks bars<strong>ch</strong>es Auftreten wurde auf Drezens Geheiss die Zeits<strong>ch</strong>rift La nova epoko von<br />

der Zensurbehörde S<strong>ch</strong>ikanen ausgesetzt. 1923 nahm Demidjuk am 3. SAT-Kongress in Kassel<br />

(Deuts<strong>ch</strong>land) teil. Im Rahmen der Zusammenarbeit zwis<strong>ch</strong>en SAT und SĖSR war Demidjuk für die<br />

wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>-te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Seite verantwortli<strong>ch</strong>. Dort sollte die Aussöhnung mit Drezen stattfinden.<br />

Demidjuk stellte si<strong>ch</strong> als Sekretär der SĖSR zur Verfügung. Mit seiner Zuständigkeit ers<strong>ch</strong>ien eine<br />

Reihe von Publikationen im Rahmen der ‚Komunista biblioteko’. Als Demidjuk <strong>An</strong>fang 1924 na<strong>ch</strong><br />

einer Hausdur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ung verhaftet und 19 Tage festgehalten wurde, erhielt er Hilfe von Drezen. Am 6.<br />

SAT-Kongress von 1926 in Leningrad lernte Demidjuk die deuts<strong>ch</strong>en Kommunisten Walter Kampfrad<br />

(1901-80) 233 und Otto Bässler (+1981) 234 aus Leipzig kennen. So besu<strong>ch</strong>te Demidjuk 1929 den 9.<br />

SAT-Kongress in Leipzig. Zusammen mit Kampfrad leitete Demidjuk von Seiten der SĖSR die ‚Verlagskooperative<br />

für Revolutionäre Esperanto-Literatur’ (EKRELO), die 1930-33 ihren Sitz in Leipzig<br />

hatte. 1926 ers<strong>ch</strong>ien ausser eines Lehrbu<strong>ch</strong>s (‚Radio-Esperanto’) au<strong>ch</strong> Demidjuks Übersetzung von<br />

V.I. Lenins S<strong>ch</strong>riften ‚Staat und Revolution’ und ‚Über die Religion’ (1929). Mit der Zeit übernahm<br />

Demidjuk immer mehr Aufgaben, so die Redaktion der Zeits<strong>ch</strong>riften Meždunarodnyj jazyk und<br />

Bjulleten‘ CK SĖSR, die Herausgabe von Lehr- und Wörterbü<strong>ch</strong>ern (Rubljov 1927, Svistunov 1928,<br />

Sutkovoj 1928, Izgur/Kolčinskij 1933). Ferner s<strong>ch</strong>rieb Demidjuk Beiträge für La Ondo de Esperanto,<br />

Sovetskij Ėsperantist, Sennaciulo und Sennacieca Revuo. 1931 wurde Demidjuk eingeladen, an der<br />

Esperanto-Übersetzung der Werke Lenins (16 Bände) teilzunehmen (das Projekt blieb aber unverwirkli<strong>ch</strong>t).<br />

1931 ers<strong>ch</strong>ien die von Demidjuk angefertigte Esperanto-Übersetzung der S<strong>ch</strong>rift J.V.<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins ‚Nationale und internationale Kultur’. Den Vors<strong>ch</strong>lag, dass die SAT der Komintern<br />

beitreten soll, hielt Demidjuk für unseriös und ni<strong>ch</strong>t realisierbar und zog die Eigens<strong>ch</strong>aft der<br />

SAT als Einheitsfront vor. 1931 stellte Demidjuk seine Tätigkeit für die Esperanto-Bewegung na<strong>ch</strong><br />

eigenen <strong>An</strong>gaben (Interview 1982) aus Zeitgründen weitgehend ein, blieb aber Mitglied des ZK der<br />

SĖSR. Na<strong>ch</strong> dem Bru<strong>ch</strong> der SĖSR mit der SAT war au<strong>ch</strong> die Korrespondenz zwis<strong>ch</strong>en Demidjuk und<br />

Lanti beendet. 235 Na<strong>ch</strong> 1955 nahm Demidjuk ni<strong>ch</strong>t mehr an der Esperanto-Bewegung teil und ers<strong>ch</strong>ien<br />

nur no<strong>ch</strong> als sehr seltener Gast von Esperanto-<strong>An</strong>lässen. Am 11. März 1974 fand im Moskauer Espe-<br />

233<br />

Kampfrad half den sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten der SĖSR, indem er S<strong>ch</strong>reibmas<strong>ch</strong>inen mit kyrillis<strong>ch</strong>en Bu<strong>ch</strong>staben ankaufte<br />

und diese mit der Hilfe der deuts<strong>ch</strong>en KP in die Sowjetunion bringen liess. Kamprad wurde 1933 verhaftet und ins KZ<br />

Colditz geworfen. In der DDR war Kampfrad Amtsri<strong>ch</strong>ter (1947), politis<strong>ch</strong>er Mitarbeiter im ZK der SED (1950), Oberstaatsanwalt<br />

in Leipzig (1952), Staatsanwalt des Bezirks Halle, Staatsanwalt des Bezirks Leipzig (1955). In der DDR war er ni<strong>ch</strong>t<br />

mehr für die Esperanto-Bewegung tätig (s. Blanke, Esperanto kaj socialismo, S. 24).<br />

234<br />

Bässler war Drucker in Leipzig und leitete 1925-30 den SAT-Pressedienst. Dann trat er aus der SAT aus und s<strong>ch</strong>loss si<strong>ch</strong><br />

der IPE an und arbeitete für PEK. (S. Enciklopedop de Esperanto 1933/34, S. 40).<br />

235<br />

Einige Kostproben dieser Endzeitkorrespondenz zwis<strong>ch</strong>en Demidjuk und Lanti, die auf beiden Seiten Enttäus<strong>ch</strong>ung und<br />

Verbitterung über das Vorgefallene sowie Misstrauen und vergebli<strong>ch</strong>e Erwartungen aufgrund der ideologis<strong>ch</strong>en Fraktionskämpfe<br />

in der Vergangenheit offenbaren, hat Lins mit <strong>An</strong>alyse und Kommentar in La Ondo de Esperanto 3 und 4-5/1996<br />

veröffentli<strong>ch</strong>t.


78<br />

ranto-Klub ein Abend statt, an dem Demidjuk über Lenins Bu<strong>ch</strong> ‚Staat und Revolution’, das er übersetzt<br />

hatte, spra<strong>ch</strong> (es ers<strong>ch</strong>ien auf Esperanto mit dem Titel ‚Ŝtato kaj revolucio’ 1967 in Japan). 1972<br />

empfing er in Moskau den holländis<strong>ch</strong>en Esperantisten Ed Borsboom, der ein Bu<strong>ch</strong> über Lanti s<strong>ch</strong>rieb,<br />

und 1982 wurde er au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> von Detlev Blanke, dem führenden Interlinguisten aus der DDR, interviewt.<br />

236<br />

<strong>An</strong> dieser Stelle ist Demidjuks S<strong>ch</strong>icksal als Verfolgter während der Stalinzeit sowie seine evidente<br />

Verwicklung in seine vermutete Spitzeltätigkeit für den NKVD no<strong>ch</strong> genauer zu beleu<strong>ch</strong>ten. Im Laufe<br />

seines Lebens wurde Demidjuk mehrmals von den Sowjetbehörden aus irgendwel<strong>ch</strong>en zweifelhaften<br />

Gründen verhaftet und anges<strong>ch</strong>uldigt: Ein erstes Mal passierte dies 1920, als er bes<strong>ch</strong>uldigt wurde,<br />

Alkohol im Staatsbesitz (kasjonnyj sprit) zu verkaufen. Er wurde aber vom Geri<strong>ch</strong>t freigespro<strong>ch</strong>en.<br />

Ein zweites Mal wurde er am 6. März 1924 von der OGPU verhaftet (der Order war von Jagoda<br />

unterzei<strong>ch</strong>net), na<strong>ch</strong>dem bei einer Hausdur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ung Stempel eines staatli<strong>ch</strong>en Sprengstoffdepots<br />

entdeckt wurden. Bei der Dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>ung sei au<strong>ch</strong> eine Esperanto-Zeits<strong>ch</strong>rift bes<strong>ch</strong>lagnahmt worden.<br />

Na<strong>ch</strong>dem si<strong>ch</strong> diese Verdä<strong>ch</strong>tigungen als heisse Luft erwiesen hatten, wurde die <strong>An</strong>gelegenheit am 12.<br />

April für beendet erklärt, die <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>uldigung fallengelassen und das bes<strong>ch</strong>lagnahmte Material<br />

Demidjuk zurückerstattet. Mögli<strong>ch</strong>erweise spielte bei dieser Verhaftung Drezen eine Rolle, um seine<br />

Gegner zu verängstigen, wie Stepanov ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>liessen konnte, denn 1923 wurde s<strong>ch</strong>on Gajdovskij<br />

und <strong>An</strong>fang 1924 Futerfas verhaftet (und <strong>An</strong>fang 1924 wurde Drezen selbst aus der VKP/b<br />

ausges<strong>ch</strong>lossen). 1931 wurde Demidjuk im Zusammenhang mit einer Explosion von Munition auf<br />

dem Chodynkafeld, bei der es am 4. Oktober Opfer gab, verhaftet und mit a<strong>ch</strong>t anderen Kollegen<br />

bes<strong>ch</strong>uldigt, als Verantwortli<strong>ch</strong>er des Produktionssektors von Vzryvsel’prom ni<strong>ch</strong>t gewissenhaft<br />

genug gearbeitet und die Kontrollpfli<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t ausgeübt zu haben. Vom OGPU wurde Demidjuk am<br />

28. Oktober 1931 na<strong>ch</strong> Art. 111 des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>s zu drei Jahren Lagerhaft (Svirskij lager‘ 237 )<br />

verurteilt, aber am 16. August 1932 na<strong>ch</strong> einer Intervention des Vizeministers für S<strong>ch</strong>werindustrie,<br />

Pjatakov, von demselben OGPU-Kollegium wieder freigelassen. Die <strong>An</strong>gelegenheit wurde ni<strong>ch</strong>t<br />

erneut traktiert.<br />

Das vierte Mal wurde Demidjuk am 10. Februar 1938 verhaftet, ins Taganka-Gefängnis<br />

gesetzt und am 23. Juli 1940 vom NKVD wegen seiner angebli<strong>ch</strong>en „Teilnahme in einer a/s<br />

Organisation – SAT“ na<strong>ch</strong> Art. 19-58, § 8, 58, § 6.1, 58, § 9 und 58, § 11 des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>s der<br />

RSFR zu a<strong>ch</strong>t Jahren Lagerhaft (ITL) verurteilt. Demidjuks Fall wurde dur<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>iedene Instanzen<br />

gezogen. Er bekannte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>uldig und die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bezei<strong>ch</strong>nete er als<br />

Lügen, während er am 19. Februar 1928 gegen Pavel Nesterovič Šumilov aussagte, dass dieser ein<br />

236<br />

Quellen: A. Sidorov: Grigorij Demidjuk – motoro de la sovetia esperantista movado de la 1920-30-aj jaroj. In: REGO<br />

(Ruslanda Esperanto-Gazeto 1/2005. 6 S. In Sidorovs und allen anderen Biographien über Demidjuk fehlt der Hinweis auf<br />

die angebli<strong>ch</strong>e Spitzeltätigkeit Demidjuks für den sowjetis<strong>ch</strong>en Geheimdienst, die N. Stepanov aufgrund der KGB-Akten<br />

erstmals herausgearbeitet hat (s. historio.ru über Demidjuk). Die Enciklopedio de Esperanto 1933/34, S. 107, enthält nur 10<br />

magere Zeilen über Demidjuk, v.a. <strong>An</strong>gaben über seine Funktionen als Redaktor und Übersetzer. Ein Beitrag über ihn in der<br />

esperantist 1/1984, in dem D. Blanke über sein Treffen mit dem Russen am 28.4.1982 in Moskau beri<strong>ch</strong>tete, wurden jegli<strong>ch</strong>e<br />

Hinweise auf die Verhaftungen und Repressionen Demidjuks im Stalinismus ausgeblendet, obwohl das Wissen darüber<br />

bereits spätestens seit 1974 (s. v.a. Lapenna/Lins/Carlevaro 1974, Kap. 21) bestand; immerhin wurde in der esperantist<br />

1/1984 eine 3 Spalten umfassende Basisbibliographie der Artikel Demidjuks publiziert (Na<strong>ch</strong>trag in der esperantist 4/1985).<br />

Äusserst knapp, aber umso emotionaler fiel die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t vom Tod Demidjuks in der esperantist 2/1986 aus. Der Text des<br />

Interviews von Blanke des Jahres 1982 wurde in La Gazeto, 133/2007, mit einer biographis<strong>ch</strong>en Einführunge auf S. 15-31<br />

veröffentli<strong>ch</strong>t. In diesem Interview sagte Demidjuk, dass das Ziel der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten ni<strong>ch</strong>t gewesen sei, für die<br />

Verbreitung des Esperanto zu arbeiten, sondern Esperanto für die Ziele der Sowjetunion zu benutzen. Ausser etwa der Erinnerung<br />

Demidjuks, dass Drezens Parteiauss<strong>ch</strong>luss von 1924 nur mit Hilfe der Kontrollkommission der Kommunistis<strong>ch</strong>en<br />

Internationale rückgängig gema<strong>ch</strong>t werden konnte und dass die S<strong>ch</strong>wester von Drezens <strong>Frau</strong> sagte, dass sie das Rehabilitationsgesu<strong>ch</strong><br />

für Drezen ni<strong>ch</strong>t unters<strong>ch</strong>reiben werde und dass dies nur die To<strong>ch</strong>ter seines Bruder tat, förderte dieses Interview<br />

keine neuen relevanten Erkenntnisse etwa zu den NKVD-Erfahrungen, zur Verbannungszeit und angebli<strong>ch</strong>en bzw. vermuteten<br />

Au<strong>ch</strong>-Agententätigkeit der Esperantisten zutage. In der Bibliographie fehlt der Link zu den diesbezügli<strong>ch</strong>en NKVD-<br />

Akten, die N. Stepanov auf historiio.ru publiziert hat (obwohl davon auszugehen ist, dass Blanke dieses Dossier kannte).<br />

Weitere Beiträge über Demidjuk s. La Ondo de Esperanto 3/1996, 4-5/1996, 2/1997; U. Lins: Drezen. Lanti kaj La Nova<br />

Epoko. In: Sennacieca Revuo 115/1987.<br />

237<br />

Das Svirskij lager’ ist ein Teil des Konzentrationslagers von Solovki.


79<br />

aktiver Teilnehmer einer k/r trockistis<strong>ch</strong>en terroristis<strong>ch</strong>en Organisation sei. 238 Als ein sol<strong>ch</strong>er wurde er<br />

im Februar 1938 von Josif Batta selbst denunziert. In einem weiteren Protokoll wurde festgehalten,<br />

dass Demidjuk unter dem Einfluss physis<strong>ch</strong>er und moralis<strong>ch</strong>er Einflüsse sein ‚Geständnis‘ ablegte,<br />

si<strong>ch</strong> aber ni<strong>ch</strong>t von der Aussage distanzierte, im Zusammenhang mit seiner Reise na<strong>ch</strong> Deuts<strong>ch</strong>land<br />

mit Leuten wie Lanti und Dietterle, der als Mitglied einer fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>en Partei bezei<strong>ch</strong>net wurde,<br />

zusammengetroffen und dem „deuts<strong>ch</strong>en Spion“ (sic) Drezen, von dem Demidjuk angeworben worden<br />

sei, bekannt gewesen zu sein. Seine Strafe verbüsste Demidjuk in der Stadt Kansk im Krasnojarsker<br />

Land. Die Rehabilitation errei<strong>ch</strong>te ihn dur<strong>ch</strong> Bes<strong>ch</strong>luss des Miliärtribunals des Moskauer<br />

Militärdistrikts (MVO) vom 8. Dezember 1955 (dies wurde am 6.7.1991 in einem Brief der Gruppe<br />

für Rehabilitationen der Verwaltung des KGB der UdSSR in Moskau bestätigt).<br />

Ein persönli<strong>ch</strong>er Makel an Demidjuks Biographie s<strong>ch</strong>eint seine Verwicklung in die Tätigkeit<br />

eines Geheimdienstspitzels zu sein, über die die sowjetis<strong>ch</strong>en KGB-Akten Auskunft geben und die<br />

bisher nur von Stepanov thematisiert wurde. Stepanov vermutete, dass Demidjuk na<strong>ch</strong> dem zweiten<br />

Vorfall des Jahres 1934 von der OGPU als Informant angeworben wurde, um unter dem Pseudonym<br />

„Grigor’ev“ seine Agententätigkeit aufzunehmen. Ein zweites Mal sei Demidjuk am 27. November<br />

1929 von der OGPU als Mitarbeiter von Sojuzvzryvprom angeworben worden, als er den Decknamen<br />

„Dolidze“ erhielt. Der Zweck der <strong>An</strong>werbung geht aus den Akten ni<strong>ch</strong>t hervor. Hingegen steht dort<br />

vermerkt, dass „Dolidze“, ehemaliger zaristis<strong>ch</strong>er Offizier, im November 1917 als Delegierter des<br />

Divisionskongresses si<strong>ch</strong> gegen die Taktik der Bols<strong>ch</strong>ewiki ausgespro<strong>ch</strong>en hätte. Zu dieser Gesinnung<br />

sei er na<strong>ch</strong> der Lektüre Ple<strong>ch</strong>anovs gekommen, s<strong>ch</strong>rieb Demidjuk in seiner Autobiographie von 1932.<br />

Ferner vermerkte die Akte, dass am 19. Juli 1934 „Dolidze“ „als Agent des OO ISČ Svirlaga OGPU<br />

positiv <strong>ch</strong>arakterisiert“ worden sei. Er verhalte si<strong>ch</strong> loyal zum GUBG NKVD SSSR, sei „akkurat“ und<br />

„konservativ“. Im Juli 1935 wurde „Dolidze“ in der NKVD-Akte als Doppelzüngler (dvurušnik)<br />

bezei<strong>ch</strong>net. Er habe die folgenden Namen seiner Bekannten genannt: Vasilij <strong>An</strong>dreevič Assonov,<br />

Vladimir Leopol’dovič Vilenko, Nikolaj Jakovlevič Incertov, Pjotr Alekseevič Gavrilov, Nikolaj<br />

Vladimirovič Nekrasov, Vladimir Gol’berg, Vladimir Il’ič Smirnov, Nikolaj Aleksandrovič<br />

Sokolov. 239<br />

Am Ende dieser Betra<strong>ch</strong>tung über Demidjuk stellt si<strong>ch</strong> die bere<strong>ch</strong>tigte Frage – und s<strong>ch</strong>on<br />

Stepanov hatte sie aufgeworfen – warum Demidjuk, neben Drezen die wi<strong>ch</strong>tigste Figur der<br />

frühsowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Bewegung, ni<strong>ch</strong>t mit allen anderen Hauptopfern liquidiert und ‚ledigli<strong>ch</strong>‘<br />

zu a<strong>ch</strong>t Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde, zumal seine ‚S<strong>ch</strong>uld‘ aufgrund der eins<strong>ch</strong>lägigen<br />

Strafgesetzesartikel theoretis<strong>ch</strong> bei weitem umfangrei<strong>ch</strong>er war als diejenige anderer, die von weit<br />

weniger Artikeln betroffen waren. So verbra<strong>ch</strong>te Demidjuk insgesamt ‚nur‘ 18 Jahre in Gefängnissen<br />

und in der Verbannung. In einem Brief vom 24. Oktober 1981 an Ivan Fjodorovič Kulakov (Voronež)<br />

bezeugte Demidjuk no<strong>ch</strong> einmal seine Uns<strong>ch</strong>uld und dass er keine Verfolgungen für<strong>ch</strong>te. 240 War<br />

Demidjuk Opfer und Täter zuglei<strong>ch</strong>?<br />

Aber die Frage na<strong>ch</strong> Tod und Überleben stellt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> bei anderen Esperantisten. Einige<br />

hatten Glück und kamen dur<strong>ch</strong>, wie die Beispiele Demidjuk, Deškin, Bokarjov, Podkaminer, Sevak,<br />

Ryt‘kov u.a. zeigen (ohne alle diese der glei<strong>ch</strong>en Kategorie von Opfern oder Tätern zuweisen zu<br />

wollen). Wi<strong>ch</strong>tig war vor allem für die Esperanto-Bewegung in der na<strong>ch</strong>stalinistis<strong>ch</strong>en Periode, dass<br />

sie überlebten. Diejenigen Esperantisten, die den Stalinterror ni<strong>ch</strong>t überlebten, s<strong>ch</strong>ienen einfa<strong>ch</strong> vom<br />

Pe<strong>ch</strong> verfolgt, weil die ganzen Umstände sie ni<strong>ch</strong>t favorisierten.<br />

Im Übrigen wurde der Charakter Demidjuks mit den Attributen „guter Administrator, fähiger<br />

Organisator“ bes<strong>ch</strong>rieben, der eine konkrete Arbeit bevorzuge; gemäss Guihéneuf war Demidjuk ein<br />

guter, hilfsbereiter und gefühlsvoller Kamerad, sehr arbeitssam, ergeben und sehr intelligent. Er sei<br />

238<br />

So vers<strong>ch</strong>wand au<strong>ch</strong> Šumilov, der si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Urteil no<strong>ch</strong> hartnäckig und vergebli<strong>ch</strong> darum bemühte, seine Uns<strong>ch</strong>uld<br />

zu beweisen und den Prozess zu revidieren, für lange Zeit im Gulag (s. http://historio.ru/sxumilov.php).<br />

239<br />

S. Demidjuk-Akte, die von N. Stepanov auf historio.ru veröffentli<strong>ch</strong>t wurde.<br />

240<br />

Mi ne timas persekutojn. Letero de Grigorij Demidjuk. In: La Ondo de Esperanto 2/1997.


80<br />

unfähig zur Heu<strong>ch</strong>elei oder Manipulation gewesen, um in politis<strong>ch</strong>e Kämpfe verstrickt zu werden.<br />

Seine einzige S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e sei sein Enthusiasmus, sein grosses Vertrauen gewesen.<br />

Der Fall Kuz’mič<br />

Ein besonders krasser Fall der Perfidie s<strong>ch</strong>eint bei Vladimir Savvič Kuz’mič (1904-43) vorzuliegen.<br />

Bei Kuz’mič handelte es si<strong>ch</strong> um einen ukrainis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riftsteller, der vor allem in der zweiten Hälfte<br />

der 1920er und in den 1930er Jahren Romane und Erzählungen publizierte. 241 Kuz’mič war einer der<br />

führenden Aktivisten des revolutionären Esperanto-S<strong>ch</strong>riftstellerverbands IAREV (Internacia Asocio<br />

de Revoluciaj Esperanto-Verkistoj), der 1931 auf Initiative des deuts<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riftstellers Ludwig Renn<br />

(1889-1979) und des sowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Di<strong>ch</strong>ters Evgenij Mi<strong>ch</strong>al’skij als Sektion der Internationalen<br />

Union Revolutionärer S<strong>ch</strong>riftsteller gegründet wurde. Na<strong>ch</strong>dem Renn, der Präsident der IAREV<br />

war, 1933 verhaftet und zu einer Zu<strong>ch</strong>thausstrafe verurteilt worden war, floh er na<strong>ch</strong> seiner Haftentlassung,<br />

um am Bürgerkrieg in Spanien teilzunehmen, wurde die IAREV von Kuz’mič als deren Präsident<br />

und Mi<strong>ch</strong>al’skij als Sekretär geleitet. Als Kuz’mič im Jahr 1936 von den Verhaftungen (au<strong>ch</strong><br />

Pjatakovs und Radeks) aufges<strong>ch</strong>reckt wurde, s<strong>ch</strong>wor er jegli<strong>ch</strong>er Esperanto-Aktivität ab und liess si<strong>ch</strong><br />

dazu hinreissen, die Esperantisten beim NKVD zu denunzieren, um seine eigene Haut zu retten. So<br />

wurden au<strong>ch</strong> die Mitglieder der IAREV von den stalinistis<strong>ch</strong>en Repressionen betroffen.<br />

Es lohnt si<strong>ch</strong>, das mehrseitige S<strong>ch</strong>reiben mit Datum vom 21. Juni 1937 (Kiev), mit dem<br />

Kuz’mič die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten denunzierte und das den NKVD-Akten zu sämtli<strong>ch</strong>en in dem<br />

Brief genannten Personen beilag, etwas näher zu betra<strong>ch</strong>ten. Kuz’mič hielt darin eingangs ironis<strong>ch</strong>erweise<br />

selbst fest, einer trockistis<strong>ch</strong>en Organisation der Esperantisten angehört zu haben. Es lohnt si<strong>ch</strong>,<br />

einige Passagen aus diesem S<strong>ch</strong>reiben zu zitieren. Diese trockistis<strong>ch</strong>e Organisation, bestehend vor<br />

allem aus Nekrasov, Cho<strong>ch</strong>lov und Borisov in der Ukraine, habe mit der Zustimmung Drezens die<br />

IAREV als eine der legalen Kanäle für Kontakte mit einem auswärtigen trockistis<strong>ch</strong>en Zentrum und<br />

mit den im Ausland lebenden Trockisten der SAT zu k/r Zielen benutzt. Dann wurde Nekrasov als<br />

„aktiver Organisator der Kontakte mit dem auswärtigen trockistis<strong>ch</strong>en SAT-Zentrum“ denunziert, der<br />

die Übernahme der Zeits<strong>ch</strong>rift La nova epoko ins Ausland dur<strong>ch</strong>gesetzt habe. 242 Bei einem Gesprä<strong>ch</strong><br />

habe Drezen ihm Ende 1934 gesagt, er solle bei der <strong>An</strong>werbung für IAREV besonders auf die SAT-<br />

Mitglieder, aber au<strong>ch</strong> auf die bourgeoisen Teilnehmer der Esperanto-Bewegung, die <strong>An</strong>ar<strong>ch</strong>isten, die<br />

Sozial-Demokraten und die katholis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riftsteller a<strong>ch</strong>ten. Ferner wurden die Zeits<strong>ch</strong>riften Sennacieca<br />

Revuo und die „bourgeoise“ Revue Literatura Mondo genannt, die zu beoba<strong>ch</strong>ten seien. Drezen<br />

habe empfohlen, Kontakte mit „bourgeoisen“ S<strong>ch</strong>riftstellern Ungarns, Polens, S<strong>ch</strong>wedens und der<br />

Ts<strong>ch</strong>e<strong>ch</strong>oslowakei aufzunehmen; genannt wurden au<strong>ch</strong> Gyula Baghy und [Kálmán] Kalocsay, zwei<br />

ungaris<strong>ch</strong>e Esperanto-S<strong>ch</strong>rifsteller, sowie der Polen [Jean] Forge und der S<strong>ch</strong>weden [Stellan] Engholn<br />

(sic – er hiess Engholm). 243 Kalocsay wurde als „Fas<strong>ch</strong>ist“ bezei<strong>ch</strong>net, und Baghy habe einen „k/r“<br />

Roman über Kriegsgefangene in Sibirien verfasst, hiess es. 244<br />

Au<strong>ch</strong> 1935 habe in Drezens Büro des Komitees für Standardisierung ein Gesprä<strong>ch</strong> mit<br />

Kuz’mič über „die <strong>An</strong>gelegenheiten der trockistis<strong>ch</strong>en Organisation“ stattgefunden. Dabei sei<br />

Kuz’mič von Drezen gefragt worden, ob er die S<strong>ch</strong>riftsteller der SAT im Ausland habe errei<strong>ch</strong>en können.<br />

Dies habe Kuz’mič verneint, denn er sei mit literaris<strong>ch</strong>er Arbeit überlastet gewesen. Drezen sei<br />

unzufrieden gewesen, habe ihn wegges<strong>ch</strong>ickt und gesagt, dass Izgur und Mi<strong>ch</strong>al’skij besser als er ar-<br />

241<br />

Er war in der 9-bändigen ‚Kratkaja literaturnaja ėnciklopedija’ (Moskau 1962-78) und in der Enciklopedio de Esperanto<br />

von 1933, S. 309, erwähnt. Sein einziges Stück in Esperanto hiess ‚Solidareco’ (Solidarität) und war der Hilfe, die die italienis<strong>ch</strong>en<br />

Kommunisten der Oktoberrevolution in Russland zuteil kommen liessen, sowie dem Bürgerkrieg in der Ukraine<br />

gewidmet.<br />

242<br />

Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> war Folgendes gemeint: Wie bereits an anderer Stelle vermerkt, ers<strong>ch</strong>ien La nova epoko ab August 1923<br />

als Beilage der Zeits<strong>ch</strong>rift Sennacieca Revuo, die in Leipzig gedruckt wurde.<br />

243<br />

In dem Brief wurden zahlrei<strong>ch</strong>e Namen fals<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>rieben.<br />

244<br />

Der Roman, den Baghy zu diesem Thema s<strong>ch</strong>rieb, hiess ‚Viktimoj’ (Opfer) und ers<strong>ch</strong>ien 1925 und 1930 in Budapest.


81<br />

beiten würden. Drezen habe die zwei Bände der Esperanto-Enzyklopädie [von Budapest 1933] gezeigt,<br />

in der es „viele Fotographien von S<strong>ch</strong>affenden aller bourgeoisen und feindli<strong>ch</strong>en Tendenzen der<br />

Esperanto-Organisationen, und au<strong>ch</strong> meine eigene Fotographie gab“.<br />

Im Sinne einer Selbstanzeige folgte eine Aufzählung von Tätigkeiten Kuz’mičs in der „trockistis<strong>ch</strong>en<br />

Organisation“. In der IAREV habe er an der Redaktion der Zeits<strong>ch</strong>rift Proleta Literaturo<br />

mitgewirkt, die von Mi<strong>ch</strong>al’skij und dem französis<strong>ch</strong>en „Trockisten“ Honoré Bourguignon (1899-<br />

1944) 245 gegründet worden war, für dessen „legales Eindringen in die UdSSR“ er, neben anderen „ausländis<strong>ch</strong>en<br />

Trockisten“, verantwortli<strong>ch</strong> gewesen sei (offenbar reiste Bourguignon dann do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in<br />

die UdSSR ein).<br />

Über Georgij Mi<strong>ch</strong>ajlovič Filippov, Konsulent für fremdspra<strong>ch</strong>ige Literatur in der Fabrik Nr.<br />

145 in Moskau, Sohn eines Regisseurs und einer S<strong>ch</strong>auspielerin, der 1907-8 in Frankrei<strong>ch</strong> studierte<br />

und 1918-19 auf dem Territorium der Weissen gelebt hat, wusste Kuz’mič zu erzählen, dass er mit<br />

dem (verhafteten) „Nationalisten“ Poliščuk zu tun gehabt habe, dem er half, Esperanto für k/r Zwecke<br />

zu benutzen. Filippov sei 1929-30 Mitglied der „k/r“ literaris<strong>ch</strong>en Organisation ‚Avangard’ gewesen<br />

und habe au<strong>ch</strong> an der „trockistis<strong>ch</strong>en“ Organisation SAT teilgenommen. Filippov habe einen jüngeren<br />

Bruder, Hörer an der Militär-Wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Akademie in Char’kov, von dem Kuz’mič den Fragebogen<br />

erhalten habe. Ausserdem sei Filippov eng mit dem SAT-Mitglied Zil’berfarb verbunden gewesen,<br />

mit dem er in der Redaktion von ‚Kul’tprosveščenie‘ (1926-27) zusammengearbeitet habe.<br />

Im weiteren nannte Kuz’mič die Odessiter Esperantisten Rubljov, Mi<strong>ch</strong>alicska, Ivanov, Mi<strong>ch</strong>al’skij,<br />

bei denen er angab, sie ni<strong>ch</strong>t persönli<strong>ch</strong> zu kennen. Spiridovič aus Kiev sei ein ehemaliger<br />

Mens<strong>ch</strong>ewik gewesen und habe 1935-36 Kontakte mit einem Ausländer aus Frankrei<strong>ch</strong> namens Salan<br />

Kontakt gepflegt. Klimovskij aus Char’kov habe mit einem „S<strong>ch</strong>weizer Trockisten“, an dessen Namen<br />

Kuz’mič si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erinnern mo<strong>ch</strong>te, Briefwe<strong>ch</strong>sel geführt. In diesen Briefen habe der S<strong>ch</strong>weizer na<strong>ch</strong><br />

den Prozessen gegen Zinov’ev, Kamenev und Pjatakov gefragt. Am Ende nannte Kuz’mič no<strong>ch</strong> die<br />

Namen Nečiporenkos, Klimovskijs und des „Trockisten“ Kolčinskij, die miteinander korrespondiert<br />

hätten. Kuz’mič s<strong>ch</strong>loss seinen Brief mit dem Satz: „Dies ist alles, was i<strong>ch</strong> aufri<strong>ch</strong>tig als meine Pfli<strong>ch</strong>t<br />

ansah, zu meiner Entlastung über die Tätigkeit und den Bestand der k/r trockistis<strong>ch</strong>en Organisation der<br />

Esperantisten mitzuteilen, deren Mitglied i<strong>ch</strong> bis zum letzten Tag gewesen war.“ Die inhaltli<strong>ch</strong>e Substanz<br />

war ni<strong>ch</strong>t so gross, wie es auf den ersten Blick den Eindruck ma<strong>ch</strong>t, aber genug, um dem NKVD<br />

die Zusammenhänge zwis<strong>ch</strong>en Esperanto-Bewegung einerseits und k/r-trockistis<strong>ch</strong>en Ma<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>aften<br />

und fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>em Charakter andererseits aufzuzeigen und einzelne Kontaktkreise zu s<strong>ch</strong>liessen. Der<br />

Geheimdienst interessierte si<strong>ch</strong> in erster Linie immer für konkrete Namen von verdä<strong>ch</strong>tigen Personen.<br />

Im Unters<strong>ch</strong>ied zu Aussagen und Namensnennungen, die bei anderen Personen in Verhören stets na<strong>ch</strong><br />

demselben Muster wohl na<strong>ch</strong> äusserer Einwirkung systematis<strong>ch</strong> gema<strong>ch</strong>t wurden, dürfte es si<strong>ch</strong> im<br />

Fall der Denunziation Kuz’mičs um eine eigenständige und vorsätzli<strong>ch</strong>e Einzeltat mit dem Zweck<br />

gehandelt haben, seine eigene Haut zu retten.<br />

Mit seiner Denunziation gewann Kuz’mič aber ledigli<strong>ch</strong> se<strong>ch</strong>s Jahre seines Lebens. Als er<br />

während des Krieges na<strong>ch</strong> Alma-Ata evakuiert wurde, wurde er (dur<strong>ch</strong> eine andere Denunziation) der<br />

Mitglieds<strong>ch</strong>aft in einer ukrainis<strong>ch</strong>en bourgeoisen nationalistis<strong>ch</strong>en (und folgli<strong>ch</strong> k/r) Organisation<br />

angeklagt. 1943 starb er in einem Gefängnis von Alma-Ata. 246<br />

Ni<strong>ch</strong>t minder interessant ist die Tatsa<strong>ch</strong>e, dass au<strong>ch</strong> eine NKVD-Aktennotiz über Lanti<br />

selbst existierte, die umfangrei<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>gaben über seine Tätigkeit festhielt und si<strong>ch</strong> offenbar au<strong>ch</strong> auf<br />

Informationen der französis<strong>ch</strong>en Polizei stützte, die in ihm eine Art verdä<strong>ch</strong>tigen Vers<strong>ch</strong>wörer sah, der<br />

„forts<strong>ch</strong>rittli<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten“ vertrat, eine umfangrei<strong>ch</strong>e Korrespondenz unterhielt, eine „Gesells<strong>ch</strong>aft<br />

von Sozialisten-Esperantisten“ führte und in Paris die Spra<strong>ch</strong>e Esperanto verbreitete und kommunisti-<br />

245<br />

Bourguignon beteiligte si<strong>ch</strong> an der französis<strong>ch</strong>en Résistance, wurde Ende des Kriegs verhaftet und ins KZ Da<strong>ch</strong>au gesteckt,<br />

wo er im Dezember 1944 starb.<br />

246<br />

S. http://historio.ru/kuzmicx.php.


82<br />

s<strong>ch</strong>e Propaganda betrieb. Sein Zentrum (SAT) wurde vom NKVD/KGB als eine Stelle taxiert, die die<br />

Esperanto-Organisationen in der UdSSR benutzt hätten, um k/r und trockistis<strong>ch</strong>e Arbeit auszuüben<br />

und ausländis<strong>ch</strong>e trockistis<strong>ch</strong>e Literatur in der UdSSR zu verbreiten. Die KGB-Notiz vom 15. April<br />

1957 trug den Vermerk „soveršenno sekretno“ (streng geheim). 247<br />

S<strong>ch</strong>lussfolgerungen und Hypothesen zum Thema Verfolgung der<br />

Esperantisten in der Sowjetunion<br />

Bei der Feststellung von mögli<strong>ch</strong>en Motiven, Ursa<strong>ch</strong>en und Gründen der Verfolgung von sowjetis<strong>ch</strong>en<br />

Esperantisten stellt si<strong>ch</strong> am Ende dieser Betra<strong>ch</strong>tung zumindest die Frage, ob diese in den Jahren<br />

1936-38 verfolgt und liquidiert wurden, in erster Linie weil sie genuin Esperantisten (analog<br />

Krimtataren, Ts<strong>ch</strong>ets<strong>ch</strong>enen, Russlanddeuts<strong>ch</strong>e, Letten, Juden usw.) waren oder weil sie als<br />

Esperantisten sozusagen automatis<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> als Trockisten, Fas<strong>ch</strong>isten, Spione, Agenten, Terroristen,<br />

a/s und k/r Elemente usw. verdä<strong>ch</strong>tigt und mit dieser Klassifizierung als „Volksfeinde“ identifiziert<br />

werden konnten und so als geeignete politis<strong>ch</strong>e Opfer in Frage kamen, so dass ihnen unter dem<br />

Vorwand des Esperanto gemäss Art. 58 der Strafprozessordnung der RSFSR entspre<strong>ch</strong>ende Straftaten<br />

na<strong>ch</strong>gewiesen (eigtl. eher zugewiesen) werden konnten, um ihnen im Rahmen der Stalins<strong>ch</strong>en<br />

Säuberungen den Prozess zu ma<strong>ch</strong>en.<br />

Es gibt keine Informationen darüber, dass in der Sowjetunion die SĖSR/SEU oder die<br />

Esperanto-Bewegung als sol<strong>ch</strong>e verboten wurde. Zweifellos s<strong>ch</strong>ien für die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten<br />

aber der Umstand fatal gewesen zu sein, dass die SĖSR und einige Esperanto-Aktivisten in einen<br />

verhängnisvollen ideologis<strong>ch</strong>en Konflikt mit der SAT verwickelt wurden. Die SAT wurde von den<br />

Sowjetbehörden in den Urteilen namentli<strong>ch</strong> und explizit als fas<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>e, trockistis<strong>ch</strong>e, anar<strong>ch</strong>istis<strong>ch</strong>e<br />

usw. Auslandsorganisation klassifiziert. Dies kam gemäss dem stalinistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong><br />

praktis<strong>ch</strong> dem Status einer terroristis<strong>ch</strong>en Untergrundorganisation glei<strong>ch</strong>. Ein sol<strong>ch</strong>er Status war für<br />

Esperanto und die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten natürli<strong>ch</strong> verheerend. Wer also Mitglied oder<br />

Sympathisant dieser verteufelten SAT war, bekam nolens volens sowieso Probleme. Wie der Fall<br />

Demidjuk aufzeigt, genügte es, wegen angebli<strong>ch</strong>er „Teilnahme in einer a/s Organisation – SAT“ na<strong>ch</strong><br />

Art. 58 des Strafgesetzbu<strong>ch</strong>es der RSFSR zu a<strong>ch</strong>t Jahren Lagerhaft (ITL) verurteilt zu werden. No<strong>ch</strong><br />

viel s<strong>ch</strong>limmer wog der Umstand, mit dem „Feind“ im Ausland etwa bei SAT-Kongressen in direkte<br />

Berührung gekommen zu sein. Wie aus der NKVD-Akte zu Lanti selbst hervorging, diente die SAT<br />

aus der Si<strong>ch</strong>t des NKVD als Zubringer für die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperanto-Organisationen, um k/r<br />

trockistis<strong>ch</strong>e Arbeit auszuüben und entspre<strong>ch</strong>endes Propagandamaterial zu verbreiten. Dieser<br />

ents<strong>ch</strong>eidende Verda<strong>ch</strong>t dürfte genügt haben, um die Verfolgung der sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten zu<br />

re<strong>ch</strong>tfertigen.<br />

Es s<strong>ch</strong>eint mir der Fall vorzuliegen, dass viele der verfolgten Esperantisten in der Sowjetunion<br />

einfa<strong>ch</strong> Opfer einer plumpen Denunziation geworden waren. Es genügte damals, mit Kontakten zum<br />

Ausland und zu Ausländern (vor allem westli<strong>ch</strong>en) aufgefallen zu sein und dabei eine Fremdspra<strong>ch</strong>e<br />

verwendet zu haben, um von Bekannten als Agent oder Spion verraten und bei den Behörden<br />

denunziert zu werden. So wurde Esperanto dem in dieser Studie erwähnten Dorfs<strong>ch</strong>ullehrer Pjotr<br />

Luk´janin in Pisarevka zum Verhängnis, der mit S<strong>ch</strong>ulklassenleitern in Frankrei<strong>ch</strong>, Spanien und<br />

S<strong>ch</strong>weden korrespondierte. Er wurde offenbar von irgendwel<strong>ch</strong>en Kollegen bzw. Dorfbewohnern<br />

denunziert und vom NKVD gemäss Art. 58, 6-10, wegen Spionage und k/r terroristis<strong>ch</strong>er Agitation<br />

zum Tod verurteilt und hingeri<strong>ch</strong>tet. Es s<strong>ch</strong>eint, dass er si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal dur<strong>ch</strong> ein besonderes<br />

247<br />

S. http://historio.ru/lanti.php.


83<br />

Verhältnis zu Drezen oder zur SAT ausgezei<strong>ch</strong>net hatte. Aber als Dorfintellektueller eignete er si<strong>ch</strong><br />

prima als Opfer für die Repression, die den Denunzianten in der Regel einen Vorteil vers<strong>ch</strong>affte. Bei<br />

vielen Inländern rei<strong>ch</strong>te es s<strong>ch</strong>on völlig aus, mit einem anderen Sowjetbürger, der als „a/s Element“<br />

verdä<strong>ch</strong>tigt wurde, bekannt gewesen zu sein (z.B. mit einem Vorgesetzten oder Mitarbeiter in der<br />

Arbeitsorganisation, wie dies zum Beispiel Evgenija Ginzburg widerfuhr, die im Übrigen wie Lev<br />

Kopelev und andere au<strong>ch</strong> gut und lei<strong>ch</strong>t als Esperantistin hätte vorstellbar sein können).<br />

Bei vielen Urteilen zu den oben erwähnten Esperantisten fehlt das Wort Esperanto, und viele<br />

Verhörer s<strong>ch</strong>ienen keine Vorstellung von einer Esperanto-Tätigkeit ihrer Opfer gehabt zu haben,<br />

ges<strong>ch</strong>weige denn, eine Ahnung davon gehabt zu haben, was Esperanto überhaupt ist. Wie man im Fall<br />

Incertovs gesehen hat, war dieser davon überzeugt, dass die gegen ihn gema<strong>ch</strong>ten Unterstellungen gar<br />

ni<strong>ch</strong>ts mit seiner Tätigkeit als Esperantist zu tun gehabt hatten. Und Deškin fügte am 17. März 1939<br />

dem Protokoll die Bezeugung hinzu, dass er in all den Jahren, in denen er in der UdSSR lebte, niemals<br />

und unter keinen Umständen Spionage oder eine k/r Aktivität ausgeübt hatte. In den Akten zur Revision<br />

des Prozesses von Demidjuk aus den Jahren 1952-54 ging hervor, dass der Bes<strong>ch</strong>uldigte seine Uns<strong>ch</strong>uld<br />

beteuerte und zu Protokoll gab, unter dem Druck „verbotener Verhörmethoden“ gestanden zu<br />

haben. Dies dürfte au<strong>ch</strong> bei allen anderen Prozessen der Fall gewesen sein. Aus diesen Beispielen<br />

kann man herauslesen, dass Esperanto wohl eher als Vorwand diente. Mit dem Mord an Kirov oder<br />

mit anderen Vers<strong>ch</strong>wörungen hatten die Esperantisten beileibe ni<strong>ch</strong>ts zu tun. Sie wurden in erster Linie<br />

als Opferkategorie definiert und in die Repression einbezogen, weil sie Kontakte mit dem Ausland<br />

hatten. Dass Drezen lettis<strong>ch</strong>er Herkunft und ein Parteifunktionär war, dürfte ihren Einbezug in die<br />

Massnahmen begünstigt und erlei<strong>ch</strong>tert haben.<br />

Torsten Bendias hat in seinem wi<strong>ch</strong>tigen Bu<strong>ch</strong> über die Esperanto-Jugend in der DDR<br />

(2011 248 ) plausibel na<strong>ch</strong>gewiesen, dass die Esperanto-Tätigkeit von DDR-Bürgern die Stasi kaum<br />

interessiert hatte, dass sie hingegen ein lebhaftes Interesse für die Fragen an den Tag legte, ob ein<br />

DDR-Esperantist Kontakte mit Ausländern pflegte, ob private Überna<strong>ch</strong>tungen stattfanden, ob<br />

allenfalls au<strong>ch</strong> Flu<strong>ch</strong>ten in den Westen geplant wurden usw. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit<br />

stand also die politis<strong>ch</strong>e Haltung und Loyalität eines DDR-Bürgers, weniger aber sein privates Hobby,<br />

das für die Stasi kaum von Belang war. Natürli<strong>ch</strong> konnte in einem paranoiden Überwa<strong>ch</strong>ungsstaat wie<br />

der DDR und der Sowjetunion die Bes<strong>ch</strong>äftigung mit einem sol<strong>ch</strong>en Hobby, das Auslandskontakte<br />

anbot und ermögli<strong>ch</strong>te, ein sensibler, aufs<strong>ch</strong>lussrei<strong>ch</strong>er Berei<strong>ch</strong> sein. So wurden Postsendungen, die<br />

Esperanto zum Inhalt hatten, überwa<strong>ch</strong>t, vom Zoll abgefangen, bes<strong>ch</strong>lagnahmt und konnten dem<br />

Empfänger dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs ni<strong>ch</strong>t zugestellt werden oder wurden an den<br />

Absender zurückges<strong>ch</strong>ickt (i<strong>ch</strong> habe selbst ein paar sol<strong>ch</strong>e Fälle erlebt). 249<br />

Es bleibt no<strong>ch</strong> eine kurze Überlegung in Bezug auf die „S<strong>ch</strong>uldfrage“ und die „Opferrolle“ bei<br />

den sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten anzustellen. Wel<strong>ch</strong>e au<strong>ch</strong> immer die genauen Umstände für ihre Repression<br />

in der Sowjetunion Stalins gewesen sein mögen, gilt es, wie in der Einführung angespro<strong>ch</strong>en,<br />

ist zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, dass die Esperantisten von <strong>An</strong>fang an im Sowjetstaat auf der Seite des Regimes<br />

und des Kommunismus standen oder, zumindest die „Lösung der Spra<strong>ch</strong>(en)frage“ betreffend, eine<br />

aktive Rolle spielen wollten. Mögli<strong>ch</strong>erweise ist dieses Engagement Stalin, der einmal selbst Esperanto<br />

gelernt haben soll, ni<strong>ch</strong>t ganz entgangen, so dass die Esperantisten für die späteren Repressionen<br />

vorprogrammiert waren. Bei dieser Konstellation wurden die Opfer glei<strong>ch</strong>zeitig au<strong>ch</strong> zu einer Art<br />

konstruierter Täter gefertigt, was von den Betreibern des zynis<strong>ch</strong>en Systems, in dem Evgenija<br />

Ginzburg eine „Logik bzw. Unlogik des Bösen“ erkannte (s. ´Gratwanderung / Krutoj maršrut II´),<br />

wohl so einkalkuliert und beabsi<strong>ch</strong>tigt wurde. Diese S<strong>ch</strong>auprozesse, die jegli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts spotteten,<br />

waren, wie man heute weiss, von den unglaubli<strong>ch</strong>sten Lügen, übelsten Intrigen und infamsten Denun-<br />

248<br />

Sein Bu<strong>ch</strong> ist unter Google Books einzusehen. Rezension in Esperanto s.:<br />

http://www.planlingvoj.<strong>ch</strong>/Recenzo_Bendias_GDRjunularo.pdf.<br />

249<br />

Es soll in diesem Zusammenhang an dieser Stelle ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>wiegen werden, dass au<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>e Post während<br />

des Kalten Krieges den Briefverkehr mit dem Osten überwa<strong>ch</strong>te und „potentiell“ verdä<strong>ch</strong>tige Personen „fi<strong>ch</strong>ierte“ (au<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong><br />

war von dieser Praxis betroffen, zwar nur harmlos, aber immerhin).


84<br />

ziationen dur<strong>ch</strong>drungen. Niemand konnte si<strong>ch</strong> ihrer eklatanten Fals<strong>ch</strong>heit erwehren, zumal au<strong>ch</strong> die<br />

eigentli<strong>ch</strong>en Täter des Systems früher oder später selbst Opfer sol<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>auprozesse wurden. Der<br />

Beweis für die Uns<strong>ch</strong>uld aller Opfer war ja ihre Rehabilitierung na<strong>ch</strong> Stalins Tod seit den 50er Jahren,<br />

die bis zum Ende des Jahrhunderts andauerten, als die Glasnost- und Pere-strojka-Zeit Gorbats<strong>ch</strong>ows<br />

die Uns<strong>ch</strong>uld no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t rehabilitierter Personen endli<strong>ch</strong> anerkannt hatte.<br />

Bei der <strong>An</strong>alyse totalitärer staatli<strong>ch</strong>er Systeme bleibt natürli<strong>ch</strong> immer au<strong>ch</strong> die Frage na<strong>ch</strong> den<br />

mögli<strong>ch</strong>en Alternativen offen, die die Mens<strong>ch</strong>en und Organisationen in einem sol<strong>ch</strong>en System hatten<br />

und haben, ausser es und seinen Aufbau mit Leib und Seele, mit blindem Gehorsam und mit unbedingter<br />

politis<strong>ch</strong>er Konformität zu unterstützten (wobei man die persönli<strong>ch</strong>e Meinung dieser Mens<strong>ch</strong>en oft<br />

ni<strong>ch</strong>t erfährt). Ein Teil der Mens<strong>ch</strong>en war von der Ri<strong>ch</strong>tigkeit des Sozialismus tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> überzeugt<br />

gewesen, während der andere Teil dazu gezwungen wurde, diese Überzeugung zu teilen, zu unterstützen<br />

und zu propagieren. Beide Teile haben aber über die von demselben Sozialismus begangenen<br />

Verbre<strong>ch</strong>en (gegen die eigenen Bürger usw.) sträfli<strong>ch</strong> hinwegges<strong>ch</strong>aut, weil sie ni<strong>ch</strong>t erörtert werden<br />

konnten und weil der Sozialismus selbst ni<strong>ch</strong>t in Frage gestellt wurde. Si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Kollaps des<br />

Kommunismus mit Ausreden und Notlügen vor der politis<strong>ch</strong>en Verantwortung zu drücken, indem man<br />

erklärte, den wahren Sozialismus habe es in diesen Ländern gar nie gegeben und man habe „ni<strong>ch</strong>t gewusst“,<br />

dass diese Länder von einer „Clique von Kriminellen“ regiert worden waren (so D. Blanke,<br />

<strong>An</strong>fang 1990, im Fall der DDR), ist eine zu einfa<strong>ch</strong>e Haltung, die so ni<strong>ch</strong>t akzeptiert werden kann.<br />

Ohne ihn selbst als Psy<strong>ch</strong>opathen abzustempeln, hat man die von Stalin initiierten Repressionen<br />

unter anderem auf den s<strong>ch</strong>wierigen persönli<strong>ch</strong>en Charakter dieses Mannes zurückgeführt (seine<br />

To<strong>ch</strong>ter Svetlana Allilueva hat dies in ihren Bü<strong>ch</strong>ern leider nur allzu rudimentär thematisiert). Was<br />

den (unbere<strong>ch</strong>enbaren) Diktator und (launenhaften) Tyrannen Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin letztendli<strong>ch</strong> auszei<strong>ch</strong>nete,<br />

um als Massenmörder in die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te einzugehen, ist im Grunde wie oft in sol<strong>ch</strong>en Fällen<br />

bis heute rätselhaft geblieben. Bei der Unterdrückung der Mens<strong>ch</strong>en in einer totalitären Ordnung<br />

s<strong>ch</strong>eint es si<strong>ch</strong> aber in erster Linie um ein systemimmanentes Problem zu handeln, denn au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />

Stalins Tod wollte sie ni<strong>ch</strong>t enden und blieb dem von Lenin brutal begründeten System in abges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ter<br />

Form eigentli<strong>ch</strong> bis zum letzten Tag seiner Existenz erhalten.<br />

A. Künzli, Juli 2013<br />

Epilog<br />

Stalins spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>es Verdikt von 1950 und das Ende des<br />

Marrismus<br />

Im Juni 1950 trat in der sowjetis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft eine überras<strong>ch</strong>ende Wende ein. I.V.<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin s<strong>ch</strong>altete si<strong>ch</strong> persönli<strong>ch</strong> in eine vorangegangene Debatte ein, die unter einigen<br />

Marr-Gegnern wie A.S. Čikobava, B.A. Serebrennikov, G.A. Kadancjan, L.A. Bula<strong>ch</strong>ovskij einerseits<br />

und Marr-<strong>An</strong>hängern wie I.I. Meščaninov, N.S. Čemodanov, F.P. Filin, V.D. Kudrjavcev geführt wurde.<br />

Weitere tonangebende Linguisten wie V.V. Vinogradov, G.D. Sanžeev, A.I. Popov und S.D.<br />

Nikiforov hatten eine s<strong>ch</strong>wankende Position eingenommen. Diese Debatte endete mit einem Eklat des<br />

überlegenen Kremlherrs<strong>ch</strong>ers, als er am 20. Juni zur programmatis<strong>ch</strong>en Zers<strong>ch</strong>lagung des Marrismus<br />

ausholte.


85<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins Beitrag in der Pravda hatte die Komposition eines Interviews mit<br />

<strong>An</strong>tworten auf einige Fragen einer „Gruppe jüngerer Genossen“, die si<strong>ch</strong> an ihn mit der Bitte gewandt<br />

hätten, in der Presse seine Meinung über Fragen der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft zu äussern, insbesondere was<br />

den Marxismus in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft betrifft. Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin s<strong>ch</strong>rieb, er sei zwar kein<br />

Spra<strong>ch</strong>fors<strong>ch</strong>er und könne die Genossen natürli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t völlig zufriedenstellen. Was freili<strong>ch</strong> den Marxismus<br />

in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft wie au<strong>ch</strong> in anderen Gesells<strong>ch</strong>aftswissens<strong>ch</strong>aften betreffe, so habe<br />

er damit direkt zu tun. Daher habe er si<strong>ch</strong> bereit erklärt, eine Reihe von Fragen, die von den Genossen<br />

gestellt wurden, zu beantworten. Der Text wurde später als S<strong>ch</strong>rift unter dem Titel „Der Marxismus<br />

und die Fragen der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft“ Bekannt und au<strong>ch</strong> ins Deuts<strong>ch</strong>e übersetzt. 250<br />

Die Fragen und <strong>An</strong>tworten dieses Interviews handelten im Wesentli<strong>ch</strong>en davon, ob es ri<strong>ch</strong>tig<br />

sei, dass die Spra<strong>ch</strong>e ein Teil des Überbaus oder der Basis sei, ob die Spra<strong>ch</strong>e stets eine Klassenspra<strong>ch</strong>e<br />

war und bleibe und wel<strong>ch</strong>es die <strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong>en Merkmale der Spra<strong>ch</strong>e seien.<br />

Die Frage, ob es ri<strong>ch</strong>tig sei, dass die Spra<strong>ch</strong>e ein Überbau der Basis sei, wie von Marr behauptet<br />

worden ist, wurde von Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin verneint (seine Begründung s. im Originaltext<br />

selbst). 251<br />

Die Spra<strong>ch</strong>e sei dazu ges<strong>ch</strong>affen, führte der Kremlherrs<strong>ch</strong>er weiter aus, der Gesells<strong>ch</strong>aft in ihrer<br />

Gesamtheit als Werkzeug des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Verkehrs zu dienen, eine für die Mitglieder der Gesells<strong>ch</strong>aft<br />

gemeinsame und für die Gesells<strong>ch</strong>aft einheitli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e zu sein, die den Mitgliedern der<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft, unabhängig von deren Klassenlage, in glei<strong>ch</strong>er Weise dient. (…) Stalin folgerte den<br />

S<strong>ch</strong>luss, dass a) ein Marxist die Spra<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t als Überbau der Basis betra<strong>ch</strong>ten kann und dass b) die<br />

Spra<strong>ch</strong>e mit dem Überbau zu verwe<strong>ch</strong>seln hiesse, einen ernsten Fehler zu begehen.<br />

Die Frage, ob es ri<strong>ch</strong>tig sei, dass die Spra<strong>ch</strong>e stets eine Klassenspra<strong>ch</strong>e war und bleibt, dass es<br />

keine für die Gesells<strong>ch</strong>aft gemeinsame und einheitli<strong>ch</strong>e, ni<strong>ch</strong>t klassengebundene Spra<strong>ch</strong>e des gesamten<br />

Volkes gibt, beantwortete Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin ebenfalls negativ (seine Begründung s. erneut im<br />

Originaltext selbst). Die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te zeige, dass die Nationalspra<strong>ch</strong>en keine Klassenspra<strong>ch</strong>en, sondern<br />

Spra<strong>ch</strong>en des gesamten Volkes seien, dass sie gemeinsam für die <strong>An</strong>gehörigen der Nationen und einheitli<strong>ch</strong><br />

für die Nation existierten.<br />

Na<strong>ch</strong> den <strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong>en Merkmalen der Spra<strong>ch</strong>e gefragt, gab der Kremlherrs<strong>ch</strong>er die folgende<br />

<strong>An</strong>twort:<br />

„Die Spra<strong>ch</strong>e gehört zu den gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Ers<strong>ch</strong>einungen, die während der ganzen Zeit<br />

des Bestehens der Gesells<strong>ch</strong>aft wirksam sind. Sie entsteht und entwickelt si<strong>ch</strong> mit dem Entstehen und<br />

der Entwicklung der Gesells<strong>ch</strong>aft. Sie stirbt mit dem Zeitpunkt des Todes der Gesells<strong>ch</strong>aft. Ausserhalb<br />

der Gesells<strong>ch</strong>aft gibt es keine Spra<strong>ch</strong>e. Daher kann man die Spra<strong>ch</strong>e und ihre Entwicklungsgesetze nur<br />

dann verstehen, wenn man sie in unlösbarem Zusammenhang mit der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Gesells<strong>ch</strong>aft, mit<br />

der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des Volkes studiert, dem die zu studierende Spra<strong>ch</strong>e gehört und das der S<strong>ch</strong>öpfer und<br />

Träger dieser Spra<strong>ch</strong>e ist.“<br />

Dann kam Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin allmähli<strong>ch</strong> auf die Theorien Marrs zu spre<strong>ch</strong>en:<br />

„Man sagt, die Theorie der stadialen Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e sei eine marxistis<strong>ch</strong>e Theorie,<br />

da sie die Notwendigkeit plötzli<strong>ch</strong>er Explosionen als Voraussetzung für den Übergang der Spra<strong>ch</strong>e<br />

250<br />

Мarksizm i voprosy jazykoznanija. Otnositel’no marksizma v jazykoznaii. Russ. Text:<br />

http://www.philology.ru/linguistics1/stalin-50.htm Dt. Übersetzung: http://www.stalinwerke.de/band15/b15-051.html.<br />

251<br />

Mit der Basis, dem Überbau und dem Klassen<strong>ch</strong>arakter der Spra<strong>ch</strong>e hat si<strong>ch</strong> U. Erckenbre<strong>ch</strong>t 1973 ausführli<strong>ch</strong> auseinandergesetzt<br />

und darauf hingewiesen, dass Stalins diesbezügli<strong>ch</strong>e Behauptung in wesentli<strong>ch</strong>en Punkten ni<strong>ch</strong>t mit der Marxs<strong>ch</strong>en<br />

Spra<strong>ch</strong>theorie übereinstimmt. So bildete gemäss Rozalia Šor die Spra<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> Marx den Überbau (s.<br />

http://www2.unil.<strong>ch</strong>/slav/ling/textes/SHOR31d/Shor31d.html).


86<br />

von einer alten zu einer neuen Qualität anerkennt. Das ist natürli<strong>ch</strong> fals<strong>ch</strong>, denn in dieser Theorie wird<br />

man s<strong>ch</strong>werli<strong>ch</strong> etwas Marxistis<strong>ch</strong>es finden. Und wenn die Theorie der Stadialität wirkli<strong>ch</strong> plötzli<strong>ch</strong>e<br />

Explosionen in der Entwicklungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Spra<strong>ch</strong>e anerkennt - umso s<strong>ch</strong>limmer für sie. Der<br />

Marxismus anerkennt keine plötzli<strong>ch</strong>en Explosionen in der Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e, keinen plötzli<strong>ch</strong>en<br />

Tod einer bestehenden Spra<strong>ch</strong>e und keinen plötzli<strong>ch</strong>en Aufbau einer neuen Spra<strong>ch</strong>e. (…) Der<br />

Marxismus ist der Auffassung, dass der Übergang der Spra<strong>ch</strong>e von einer alten zu einer neuen Qualität<br />

ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> eine Explosion, ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> eine Verni<strong>ch</strong>tung der bestehenden und die ni<strong>ch</strong>t die S<strong>ch</strong>affung<br />

einer neuen Spra<strong>ch</strong>e erfolgt, sondern dur<strong>ch</strong> eine allmähli<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>sammlung von Elementen der neuen<br />

Qualität, folgli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> ein allmähli<strong>ch</strong>es Absterben der Elemente der alten Qualität. (…) Man sagt, die<br />

zahlrei<strong>ch</strong>en Fälle von Spra<strong>ch</strong>kreuzungen, die in der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te erfolgt sind, gäben Grund zu der <strong>An</strong>nahme,<br />

dass es bei der Kreuzung zur Bildung einer neuen Spra<strong>ch</strong>e komme, und zwar dur<strong>ch</strong> eine Explosion,<br />

dur<strong>ch</strong> den plötzli<strong>ch</strong>en Übergang von einer alten Qualität zu einer neuen Qualität. Das ist völlig<br />

fals<strong>ch</strong>. Die Kreuzung von Spra<strong>ch</strong>en darf ni<strong>ch</strong>t als einmaliger Akt eines ents<strong>ch</strong>eidenden S<strong>ch</strong>lages<br />

betra<strong>ch</strong>tet werden, der innerhalb einiger Jahre seine Ergebnisse zeitigt. Die Kreuzung von Spra<strong>ch</strong>en ist<br />

ein langwieriger Prozess, der Jahrhunderte währt. (…) Ferner: Es wäre völlig fals<strong>ch</strong>, wollte man glauben,<br />

dass infolge einer Kreuzung beispielsweise zweier Spra<strong>ch</strong>en eine neue, dritte Spra<strong>ch</strong>e entstehe,<br />

die keiner der gekreuzten Spra<strong>ch</strong>en ähnli<strong>ch</strong> sei und si<strong>ch</strong> von jeder dieser Spra<strong>ch</strong>en qualitativ unters<strong>ch</strong>eide.<br />

In Wirkli<strong>ch</strong>keit geht bei der Kreuzung gewöhnli<strong>ch</strong> die eine der Spra<strong>ch</strong>en als Sieger hervor,<br />

bewahrt ihren grammatikalis<strong>ch</strong>en Bau, bewahrt ihren grundlegenden Worts<strong>ch</strong>atz und entwickelt si<strong>ch</strong><br />

na<strong>ch</strong> den ihr innewohnenden Entwicklungsgesetzen weiter, während die andere Spra<strong>ch</strong>e allmähli<strong>ch</strong><br />

ihre Eigens<strong>ch</strong>aft einbüsst und allmähli<strong>ch</strong> abstirbt. Folgli<strong>ch</strong> ergibt die Kreuzung keine neue, dritte<br />

Spra<strong>ch</strong>e, sondern sie lässt eine der Spra<strong>ch</strong>en bestehen, sie lässt deren grammatikalis<strong>ch</strong>en Bau und<br />

grundlegenden Worts<strong>ch</strong>atz bestehen und gibt ihr die Mögli<strong>ch</strong>keit, si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> den ihr innewohnenden<br />

Entwicklungsgesetzen zu entwickeln. Hierbei erfolgt allerdings eine gewisse Berei<strong>ch</strong>erung des Wortbestandes<br />

der siegrei<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e auf Kosten der besiegten Spra<strong>ch</strong>e, aber dadur<strong>ch</strong> wird sie ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>t,<br />

sondern im Gegenteil gestärkt. So war es zum Beispiel mit der russis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e (...)“ 252<br />

Es ist offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>: Der Artikel verfolgte den Zweck, die Theorien Marrs zu zers<strong>ch</strong>lagen.<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins Verdikt über Marr lautete in dieser <strong>An</strong>gelegenheit wie folgt:<br />

„N. Ja. Marr trug in die Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft die fals<strong>ch</strong>e, unmarxistis<strong>ch</strong>e Formel von der Spra<strong>ch</strong>e<br />

als Überbau hinein, und er trug in sie au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> die andere, ebenfalls fals<strong>ch</strong>e und unmarxistis<strong>ch</strong>e<br />

Formel von dem ‚Klassen<strong>ch</strong>arakter` der Spra<strong>ch</strong>e hinein. So verhedderte er si<strong>ch</strong> selbst und bra<strong>ch</strong>te die<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft in Verwirrung. Es ist ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>, die sowjetis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft auf der<br />

Grundlage einer fals<strong>ch</strong>en Formel zu entwickeln. So trug N. Ja. Marr in die Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft einen<br />

dem Marxismus fremden, unbes<strong>ch</strong>eidenen, grosstueris<strong>ch</strong>en und ho<strong>ch</strong>mütigen Ton hinein, der zu einer<br />

nackten und lei<strong>ch</strong>tfertigen Verneinung all dessen führte, was in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft vor N. Ja.<br />

Marr vorhanden war.<br />

N. Ja. Marr diffamierte mit grossem Lärm die historis<strong>ch</strong>-verglei<strong>ch</strong>ende Methode als „idealistis<strong>ch</strong>“.<br />

Man muss indessen sagen, dass die historis<strong>ch</strong>-verglei<strong>ch</strong>ende Methode trotz ihrer ernsthaften<br />

Mängel immer no<strong>ch</strong> besser ist als N. Ja. Marrs idealistis<strong>ch</strong>e Vierelementeanalyse, denn die erstere<br />

spornt zur Arbeit, zum Studium der Spra<strong>ch</strong>en an, während die letztere nur dazu anspornt, hinter dem<br />

252<br />

Es ist offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, dass diese pseudogelehrten Phrasen ni<strong>ch</strong>t von Stalin selbst stammen konnten, sondern dass sie von<br />

einem S<strong>ch</strong>reiber vorges<strong>ch</strong>rieben wurden. Auf wel<strong>ch</strong>e Weise Stalins Beitrag zustande kam, ist bis heute ni<strong>ch</strong>t geklärt. Man<br />

nimmt aber an, dass der eigentli<strong>ch</strong> Autor der georgis<strong>ch</strong>e Linguist A.S. Čikobava gewesen war und dass der Beitrag wie folgt<br />

zustande kam: Im April 1949 s<strong>ch</strong>rieb A.S. Čikobava, Mitglied der Akademie der Wissens<strong>ch</strong>aften der Georgis<strong>ch</strong>en SSR in<br />

Tblisi, an Stalin einen Brief, der dem Führer im Kreml wohl von K.N. Čarkviani, dem Ersten Sekretär des ZK der KP<br />

Georgiens, einem Bes<strong>ch</strong>ützer Čikobavas, überrei<strong>ch</strong>t wurde (der Brefe wurde 1985 veröffentli<strong>ch</strong>t). Ein ganzes Jahr lang hatte<br />

Čikobava keine Kenntnis vom S<strong>ch</strong>icksal seines S<strong>ch</strong>reibens erhalten. Plötzli<strong>ch</strong> wurde er im April 1950 na<strong>ch</strong> Moskau auf die<br />

Dats<strong>ch</strong>a Stalins gerufen. Dort habe Čikobava den Auftrag erhalten, einen Artikel für die Pravda zu verfassen. No<strong>ch</strong> zwei<br />

weitere Male wurde Čikobava von Stalin empfangen, der die vers<strong>ch</strong>iedenen Versionen des Artikels las. Glei<strong>ch</strong>zeitig habe<br />

Čikobava Stalin eine Art Lektionen in Fragen der Spra<strong>ch</strong>enwissens<strong>ch</strong>aften erteilt und ihn über die eins<strong>ch</strong>lägige Literatur<br />

informiert. Von wem s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> die Initiative zu diesem Artikel ausging und wel<strong>ch</strong>es die eigentli<strong>ch</strong>en Bewegggründe<br />

Stalins gewesen waren, si<strong>ch</strong> in die Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft einzumis<strong>ch</strong>en und Marrs Ideen zu zers<strong>ch</strong>lagen, blieb ein Rätsel.


87<br />

Ofen zu sitzen und aus dem Kaffeesatz über die berü<strong>ch</strong>tigten vier Elemente zu orakeln. N. Ja. Marr<br />

verunglimpfte ho<strong>ch</strong>mütig jeden Versu<strong>ch</strong>, die Gruppen (Familien) von Spra<strong>ch</strong>en als eine Ers<strong>ch</strong>einungsform<br />

der Theorie von der „Urspra<strong>ch</strong>e“ zu erfors<strong>ch</strong>en. Es lässt si<strong>ch</strong> indessen ni<strong>ch</strong>t leugnen, dass die<br />

spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Verwandts<strong>ch</strong>aft sol<strong>ch</strong>er Nationen, wie zum Beispiel der slawis<strong>ch</strong>en, keinem Zweifel unterliegt,<br />

dass die Erfors<strong>ch</strong>ung der spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Verwandts<strong>ch</strong>aft dieser Nationen der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft<br />

bei der Erfors<strong>ch</strong>ung der Entwicklungsgesetze der Spra<strong>ch</strong>e grossen Nutzen bringen könnte. I<strong>ch</strong><br />

spre<strong>ch</strong>e s<strong>ch</strong>on gar ni<strong>ch</strong>t davon, dass die Theorie der „Urspra<strong>ch</strong>e“ damit ni<strong>ch</strong>ts zu tun hat.<br />

Hört man N. Ja. Marr, besonders aber seine „S<strong>ch</strong>üler“, so könnte man meinen, vor N. J. Marr<br />

habe es überhaupt keine Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft gegeben, die Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft habe erst mit dem Aufkommen<br />

der „neuen Lehre“ N. Ja. Marrs begonnen. Marx und Engels waren viel bes<strong>ch</strong>eidener: sie<br />

waren der <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t, dass ihr dialektis<strong>ch</strong>er Materialismus ein Produkt der Entwicklung der Wissens<strong>ch</strong>aften,<br />

darunter der Philosophie, in der vorhergegangenen Periode ist.<br />

Somit hat die Diskussion der Sa<strong>ch</strong>e au<strong>ch</strong> in der Hinsi<strong>ch</strong>t gedient, als sie die ideologis<strong>ch</strong>en<br />

Mängel in der sowjetis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft aufgedeckt hat.<br />

I<strong>ch</strong> glaube, je s<strong>ch</strong>neller si<strong>ch</strong> unsere Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft von den Fehlern N. Ja. Marrs befreit,<br />

desto s<strong>ch</strong>neller kann man sie aus der Krise, die sie heute dur<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>t, herausführen. Die Beseitigung<br />

des Arakts<strong>ch</strong>ejew-Regimes in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft, die Abkehr von den Fehlern N. Ja. Marrs, die<br />

Verankerung des Marxismus in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft – das ist meiner <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> der Weg, auf<br />

dem man die sowjetis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft zur Gesundung bringen könnte.“<br />

Na<strong>ch</strong> der Veröffentli<strong>ch</strong>ung des Pravda-Artikels Stalins folgten no<strong>ch</strong> einige Leserbriefe, die<br />

die Bedeutung des Beitrags auss<strong>ch</strong>mücken sollten. So wurde etwa auf die Frage eines gewissen A.<br />

Cholopov zum Thema der zukünftigen gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e im Zusammenhang mit der Kreuzung<br />

von Spra<strong>ch</strong>en und der Entstehung neuer Spra<strong>ch</strong>en die folgende offizielle <strong>An</strong>twort hinzugefügt:<br />

„Genosse Cholopov beruft si<strong>ch</strong> auf das Werk Stalins ‚Über den Marxismus in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft’,<br />

wo die S<strong>ch</strong>lussfolgerung gezogen wird, dass infolge der Kreuzung von, sagen wir, zwei<br />

Spra<strong>ch</strong>en, die eine der Spra<strong>ch</strong>en gewöhnli<strong>ch</strong> als Sieger hervorgeht, während die andere abstirbt, dass<br />

folgli<strong>ch</strong> die Kreuzung ni<strong>ch</strong>t irgendeine neue, dritte Spra<strong>ch</strong>e ergibt, sondern eine der Spra<strong>ch</strong>en bestehen<br />

lässt. Ferner beruft er si<strong>ch</strong> auf eine andere S<strong>ch</strong>lussfolgerung, die dem Referat Stalins auf dem XVI.<br />

Parteitag der KPdSU(B) entnommen ist, wo es heisst, dass in der Periode des Sieges des Sozialismus<br />

im Weltmassstab, wenn der Sozialismus erstarkt ist und in das Alltagsleben eingeht, die Nationalspra<strong>ch</strong>en<br />

unvermeidli<strong>ch</strong> zu einer einzigen gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e vers<strong>ch</strong>melzen müssen, die natürli<strong>ch</strong> weder<br />

die grossrussis<strong>ch</strong>e no<strong>ch</strong> die deuts<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e, sondern irgendetwas Neues sein wird. Genosse<br />

Cholopov, der diese beiden Formeln verglei<strong>ch</strong>t und sieht, dass sie ni<strong>ch</strong>t nur ni<strong>ch</strong>t miteinander übereinstimmen,<br />

sondern einander auss<strong>ch</strong>liessen, gerät in Verzweiflung. ‚Aus Ihrem Artikel’, s<strong>ch</strong>reibt er in<br />

dem Brief, ‚habe i<strong>ch</strong> entnommen, dass si<strong>ch</strong> aus der Kreuzung von Spra<strong>ch</strong>en niemals irgendeine neue<br />

Spra<strong>ch</strong>e ergeben kann, aber vor dem Artikel war i<strong>ch</strong> auf Grund Ihrer Rede auf dem XVI. Parteitag der<br />

KPdSU(B) fest davon überzeugt, dass im Kommunismus die Spra<strong>ch</strong>en zu einer gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e<br />

vers<strong>ch</strong>melzen werden.’<br />

Es ist augens<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>, dass Genosse Cholopov, der einen Widerspru<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en diesen beiden<br />

Formeln entdeckt hat und zutiefst davon überzeugt ist, dass der Widerspru<strong>ch</strong> beseitigt werden<br />

muss, es für notwendig hält, si<strong>ch</strong> einer dieser Formeln als fals<strong>ch</strong> zu entledigen und si<strong>ch</strong> an die andere<br />

Formel als die für alle Zeiten und Länder ri<strong>ch</strong>tige zu klammern; aber an wel<strong>ch</strong>e Formel er si<strong>ch</strong> eigentli<strong>ch</strong><br />

klammern soll, weiss er ni<strong>ch</strong>t. Es ergibt si<strong>ch</strong> so etwas wie eine ausweglose Lage. Genosse Cholopov<br />

kommt gar ni<strong>ch</strong>t auf den Gedanken, dass beide Formeln ri<strong>ch</strong>tig sein können, jede für ihre Zeit.


88<br />

So ergeht es Bu<strong>ch</strong>stabengelehrten und Talmudisten immer, die stets in eine ausweglose Lage<br />

geraten, weil sie in das Wesen der Sa<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t eindringen und formal zitieren, ohne Beziehung zu den<br />

historis<strong>ch</strong>en Bedingungen, von denen die Zitate handeln.<br />

Wenn man si<strong>ch</strong> indessen über das Wesen der Frage klar wird, besteht kein Grund für eine<br />

ausweglose Lage. Die Sa<strong>ch</strong>e ist die, dass die Bros<strong>ch</strong>üre Stalins ‚über den Marxismus in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft’<br />

und dessen Rede auf dem XVI. Parteitag auf zwei ganz vers<strong>ch</strong>iedene Epo<strong>ch</strong>en Bezug<br />

nehmen, dass si<strong>ch</strong> infolgedessen au<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>iedene Formeln ergeben.<br />

Stalins Formel bezieht si<strong>ch</strong> in dem Teil der Bros<strong>ch</strong>üre, der die Kreuzung von Spra<strong>ch</strong>en betrifft,<br />

auf die Epo<strong>ch</strong>e vor dem Sieg des Sozialismus im Weltmassstab, wenn die Ausbeuterklassen die<br />

herrs<strong>ch</strong>ende Kraft in der Welt sind, wenn die nationale und koloniale Unterdrückung bestehen bleibt,<br />

wenn die nationale Absonderung und das gegenseitige Misstrauen der Nationen dur<strong>ch</strong> die staatli<strong>ch</strong>en<br />

Unters<strong>ch</strong>iede besiegelt sind, wenn es no<strong>ch</strong> keine nationale Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung gibt, wenn si<strong>ch</strong> die<br />

Kreuzung von Spra<strong>ch</strong>en auf dem Weg des Kampfes um die Herrs<strong>ch</strong>aft einer der Spra<strong>ch</strong>en vollzieht,<br />

wenn no<strong>ch</strong> keine Bedingungen für die friedli<strong>ch</strong>e und freunds<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Zusammenarbeit der Nationen<br />

und Spra<strong>ch</strong>en vorhanden sind, wenn ni<strong>ch</strong>t die Zusammenarbeit und gegenseitige Berei<strong>ch</strong>erung der<br />

Spra<strong>ch</strong>en, sondern die Assimilierung der einen und der Sieg der anderen Spra<strong>ch</strong>en auf der Tagesordnung<br />

steht. Es ist verständli<strong>ch</strong>, dass es unter sol<strong>ch</strong>en Bedingungen nur siegrei<strong>ch</strong>e und besiegte Spra<strong>ch</strong>en<br />

geben kann. Gerade auf diese Bedingungen bezieht si<strong>ch</strong> die Formel Stalins, wenn sie besagt, dass<br />

die Kreuzung, sagen wir von zwei Spra<strong>ch</strong>en, ni<strong>ch</strong>t die Bildung einer neuen Spra<strong>ch</strong>e, sondern den Sieg<br />

der einen und die Niederlage der anderen Spra<strong>ch</strong>e zur Folge hat.<br />

Was nun die andere Formel Stalins betrifft, die der Rede auf dem XVI. Parteitag entnommen<br />

ist, dem Teil, der die Vers<strong>ch</strong>melzung der Spra<strong>ch</strong>en zu einer gemeinsamen Spra<strong>ch</strong>e betrifft, so ist hier<br />

eine andere Epo<strong>ch</strong>e gemeint, nämli<strong>ch</strong> die Epo<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> dem Sieg des Sozialismus im Weltmassstab,<br />

wenn es einen Weltimperialismus s<strong>ch</strong>on ni<strong>ch</strong>t mehr gibt, die Ausbeuterklassen gestürzt sind, die nationale<br />

und koloniale Unterdrückung beseitigt ist, die nationale Absonderung und das gegenseitige<br />

Misstrauen der Nationen dur<strong>ch</strong> gegenseitiges Vertrauen und dur<strong>ch</strong> die <strong>An</strong>näherung der Nationen ersetzt<br />

sind, die nationale Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung verwirkli<strong>ch</strong>t, die Politik der Unterdrückung und Assimilierung<br />

von Spra<strong>ch</strong>en liquidiert, die Zusammenarbeit der Nationen hergestellt ist und die Nationalspra<strong>ch</strong>en<br />

die Mögli<strong>ch</strong>keit haben, auf dem Weg der Zusammenarbeit einander frei zu berei<strong>ch</strong>ern. Es ist<br />

verständli<strong>ch</strong>, dass unter diesen Bedingungen keine Rede sein kann von der Unterdrückung und Niederlage<br />

der einen und dem Sieg der anderen Spra<strong>ch</strong>en. Hier werden wir es ni<strong>ch</strong>t mit zwei Spra<strong>ch</strong>en zu tun<br />

haben, von denen die eine eine Niederlage erleidet, die andere aber als Sieger aus dem Kampf hervorgeht,<br />

sondern mit Hunderten von Nationalspra<strong>ch</strong>en, aus denen im Ergebnis einer langen wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en,<br />

politis<strong>ch</strong>en und kulturellen Zusammenarbeit der Nationen zunä<strong>ch</strong>st die am meisten berei<strong>ch</strong>erten<br />

einheitli<strong>ch</strong>en zonalen Spra<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> herausheben und dann die zonalen Spra<strong>ch</strong>en zu einer gemeinsamen<br />

internationalen Spra<strong>ch</strong>e vers<strong>ch</strong>melzen werden, die natürli<strong>ch</strong> weder die deuts<strong>ch</strong>e no<strong>ch</strong> die russis<strong>ch</strong>e<br />

no<strong>ch</strong> die englis<strong>ch</strong>e, sondern eine neue Spra<strong>ch</strong>e sein wird, die die besten Elemente der nationalen<br />

und zonalen Spra<strong>ch</strong>en in si<strong>ch</strong> aufgenommen hat.<br />

Folgli<strong>ch</strong> entspre<strong>ch</strong>en die beiden vers<strong>ch</strong>iedenen Formeln zwei vers<strong>ch</strong>iedenen Entwicklungsepo<strong>ch</strong>en<br />

der Gesells<strong>ch</strong>aft, und gerade, weil sie ihnen entspre<strong>ch</strong>en, sind beide Formeln ri<strong>ch</strong>tig, jede für<br />

ihre Epo<strong>ch</strong>e.<br />

Zu fordern, dass diese Formeln ni<strong>ch</strong>t in Widerspru<strong>ch</strong> zueinander stehen, dass sie einander<br />

ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>liessen, ist ebenso absurd, wie es absurd wäre zu fordern, dass die Epo<strong>ch</strong>e der Herrs<strong>ch</strong>aft<br />

des Kapitalismus ni<strong>ch</strong>t in Widerspru<strong>ch</strong> stehe zu der Epo<strong>ch</strong>e der Herrs<strong>ch</strong>aft des Sozialismus, dass Sozialismus<br />

und Kapitalismus einander ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>liessen. (...).“ 253<br />

253<br />

Online s.: http://www.stalinwerke.de/band15/b15-053.html.


89<br />

Epilog des Epilogs: Der öffentli<strong>ch</strong>e Brief der Esperantisten an Stalin (1952)<br />

Stalins Aufsehen erregender Pravda-Artikel des Jahres 1950 über den Marxismus in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft<br />

wurde sehr wohl au<strong>ch</strong> von der Esperanto-Bewegung mit Interesse und Staunen zur Kenntnis<br />

genommen. Die Esperantisten fühlten si<strong>ch</strong> davon natürli<strong>ch</strong> angespro<strong>ch</strong>en, mussten aber feststellen,<br />

dass Stalin Esperanto ni<strong>ch</strong>t erwähnte. Es wäre ja si<strong>ch</strong>er ni<strong>ch</strong>t abwegig gewesen, si<strong>ch</strong> vorzustellen, dass<br />

die Visionen Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins in der Spra<strong>ch</strong>enfrage, abgesehen von der Verfassers<strong>ch</strong>aft eines<br />

einzigartigen Völkermörders und Mens<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>lä<strong>ch</strong>ters, do<strong>ch</strong> irgendwie zum Esperanto mit seinem<br />

anti<strong>ch</strong>auvinistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>gere<strong>ch</strong>tigkeitssinn gepasst und eine interessante theoretis<strong>ch</strong>e Grundlage<br />

für die Konkretisierung der Utopie der Esperantisten gebildet hätten, zumal es unter den Esperantisten<br />

ja viele Marxisten-Leninisten, Stalinisten, Sozialisten, Kommunisten und sonstige Linke (aber au<strong>ch</strong><br />

andere) gab und gibt, die si<strong>ch</strong> von einer sol<strong>ch</strong>en Vision der spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Zukunft und der Rolle einer<br />

internationalen neutralen Planspra<strong>ch</strong>e angespro<strong>ch</strong>en fühl(t)en.<br />

Aber Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin s<strong>ch</strong>ien die Esperantisten, zumindest Ivo Lapenna (1909-87), einen<br />

der prominentesten Vertreter der Esperanto-Bewegung, 254 offenbar am fals<strong>ch</strong>en Fuss erwis<strong>ch</strong>t zu<br />

haben. Stalins Ausführungen zur Spra<strong>ch</strong>enfrage von 1950 hatte in der Esperanto-Bewegung sozusagen<br />

ein Na<strong>ch</strong>spiel. So kamen einige Esperantisten auf die Idee, si<strong>ch</strong> veranlasst zu sehen, eine<br />

Stellungnahme in Form eines „Öffentli<strong>ch</strong>en Briefes an Stalin“ abzufassen, der die Unters<strong>ch</strong>rift des<br />

Vorstands des Esperanto-Weltbunds (UEA) und des Exekutivkomitees der Sennacieca Asocio Tutmonda<br />

(SAT) tragen sollte. Der damalige UEA-Präsident Ernfrid Malmgren (1899-1970) soll si<strong>ch</strong><br />

reserviert gegenüber dieser Idee verhalten haben, die vor allem von Lapenna gefördert wurde, der<br />

dann au<strong>ch</strong> als Hauptverfasser des Briefes federführend wirkte.<br />

So wurde Stalin in dem Brief vorgeworfen, ni<strong>ch</strong>t nur die Existenz der internationalen Spra<strong>ch</strong>e,<br />

sondern sogar au<strong>ch</strong> allein die Mögli<strong>ch</strong>keit ihrer Existenz in der Gegenwart zu verneinen. Es wurde<br />

darauf hingewiesen, dass die internationale Spra<strong>ch</strong>e Esperanto von Hunderttausenden von Personen<br />

gespro<strong>ch</strong>en werde, dass es eine rei<strong>ch</strong>e originale und übersetzte Literatur und eine Presse gibt, dass<br />

Radiosendungen, Kongresse und Konferenzen auf Esperanto stattfinden und dass eine breite Korrespondenz<br />

in dieser Spra<strong>ch</strong>e unterhalten wird. Trotz ihres Verbots etwa dur<strong>ch</strong> die Zarenregierung in<br />

Russland und dur<strong>ch</strong> Hitler in Deuts<strong>ch</strong>land und trotz ihrer Verfolgung dur<strong>ch</strong> andere Diktaturen und<br />

<strong>ch</strong>auvinistis<strong>ch</strong>e Regime existiere und funktioniere die Esperanto-Spra<strong>ch</strong>e praktis<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on seit vielen<br />

Jahrzehnten. Auf das Problem von ‚Basis’ und ‚Überbau’ eingehend, wurde an Stalin die Frage geri<strong>ch</strong>tet,<br />

warum seiner Meinung na<strong>ch</strong> die internationale Spra<strong>ch</strong>e ad infinitum auf eine ‚neue Basis’ und<br />

einen ‚neuen Überbau’ gestellt werden müssen, um si<strong>ch</strong> herauszubilden und zu entstehen? Ferner kamen<br />

die Autoren des Briefes auf die Klassenunters<strong>ch</strong>iede und deren Einfluss auf den Worts<strong>ch</strong>atz zu<br />

spre<strong>ch</strong>en. Der Worts<strong>ch</strong>atz der einzelnen Spra<strong>ch</strong>en sei im Lauf der Zeit stark internationalisiert worden,<br />

selbst Stalin habe mit seinen eigenen Briefen bewiesen, dass er 10-30 Prozent internationale Wurzeln<br />

verwendet. Dieses internationale Spra<strong>ch</strong>material stelle an si<strong>ch</strong> eine ziemli<strong>ch</strong> breite und solide Grundlage<br />

dar, um auf ihr eine wahrhaft internationale Spra<strong>ch</strong>e mit einer einfa<strong>ch</strong>en grammatis<strong>ch</strong>en Form zu<br />

konstruieren. Genau dies habe der Autor des Esperanto, L.L. Zamenhof, getan, dessen Werk si<strong>ch</strong> trotz<br />

S<strong>ch</strong>wierigkeiten und Widerstände aller Art in der ganzen Welt verbreiten konnte. Im zweiten Teil des<br />

Briefes wurde der Sozialismus dem „Weltimperialismus“ entgegengestellt, die Vers<strong>ch</strong>melzung der<br />

Spra<strong>ch</strong>en in eine neue zonale Spra<strong>ch</strong>e angespro<strong>ch</strong>en, der Vorwurf des Kosmopolitismus an die Adresse<br />

der Esperantisten erwähnt und die Absi<strong>ch</strong>t, die russis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e einseitig als Weltspra<strong>ch</strong>e der<br />

Volksdemokratien zu proklamieren, zur Diskussion gestellt. Der Brief endete mit einer pessimistis<strong>ch</strong>en<br />

Eins<strong>ch</strong>ätzung: Man glaube seitens der Esperantistens<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t daran, dass Stalin seine Mei-<br />

254<br />

Damals gehörte der gebürtige Kroate (Jugoslawe) dem Komitee und Vorstand der UEA an. Der Jurist Lapenna hatte Ende<br />

1949 seine Heimat Jugoslawien verlassen und eine antisowjetis<strong>ch</strong>e Haltung eingenommen. 1955-64 war er Generalsekretär<br />

und dann bis 1974 Präsident der UEA.


90<br />

nung zur Frage des Esperanto ändern werde. Aber ni<strong>ch</strong>t zu diesem Zweck habe man ihm diesen Brief<br />

ges<strong>ch</strong>rieben. Man habe ledigli<strong>ch</strong> den eigenen Standpunkt klar festhalten wollen. Im Übrigen werde die<br />

weitere Entwicklung der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te zeigen, wer Re<strong>ch</strong>t habe.<br />

Die Verfolgung der Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion unter Stalin und die Ermordung<br />

einzelner Esperantisten wurde in dem Brief mit keinem Wort erwähnt. Es ist unklar, wie genau zu<br />

diesem Zeitpunkt man auf Seiten der Esperanto-Bewegung (d.h. in der UEA und SAT) über diesen<br />

Sa<strong>ch</strong>verhalt informiert war, zumal es im Ostblock damals zu den strengen Tabus gehörte, über den<br />

‚Grossen Terror’ der 30er Jahre zu diskutieren. Einzelne Tatsa<strong>ch</strong>en über das Vers<strong>ch</strong>winden von sowjetis<strong>ch</strong>en<br />

Esperantisten waren natürli<strong>ch</strong> in den Westen dur<strong>ch</strong>gesickert.<br />

Der Brief ers<strong>ch</strong>ien ni<strong>ch</strong>t nur in den Zeits<strong>ch</strong>riften Esperanto (UEA) und Sennaciulo (SAT),<br />

sondern au<strong>ch</strong> als Dok. A/VI/3 des von Lapenna 1952 gegründeten ‚Centers for Resear<strong>ch</strong> and Documentation<br />

on World Language Problems’ (CED) auf Englis<strong>ch</strong> und Französis<strong>ch</strong> und wurde in vielen<br />

Zeitungen der Welt abgedruckt, so au<strong>ch</strong> in Le Monde (Paris). 255<br />

Ziemli<strong>ch</strong>e Entrüstung rief dieser Brief aber vor allem bei einem bedeutenden USamerikanis<strong>ch</strong>en<br />

Esperantisten deuts<strong>ch</strong>er Herkunft namens Wilhelm Solzba<strong>ch</strong>er (1907-91) hervor, der<br />

ni<strong>ch</strong>t nur eine der herausragendsten Gestalten der Esperanto-Bewegung in den USA, sondern au<strong>ch</strong> ein<br />

s<strong>ch</strong>arfsinniger Kritiker Lapennas war, den er zusammen mit Marr, Drezen, Stalin und Čikobava in<br />

einem Zug wohl ni<strong>ch</strong>t ganz zu Unre<strong>ch</strong>t als „S<strong>ch</strong>arlatane der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft“ entlarvte. 256 In einer<br />

lesenswerten Artikelserie, die im American Esperanto Magazine (Amerika Esperantisto) des Jahres<br />

1957 unter dem Titel ‚Ĉarlatana lingvoscienco’ ers<strong>ch</strong>ien, 257 wies Solzba<strong>ch</strong>er ni<strong>ch</strong>t nur auf eklatante<br />

Mängel in Lapennas berühmten Bu<strong>ch</strong> ‚Retoriko’ (Rhetorik) hin, das 1950 herauskam und vom Verleger<br />

als „das meist gelesene Esperanto-Bu<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Weltkrieg“ verkauft wurde, 258 sondern denunzierte<br />

den exjugoslawis<strong>ch</strong>en Juristen als opportunistis<strong>ch</strong>en Marr-<strong>An</strong>hänger und getraute si<strong>ch</strong> erstmals,<br />

diese Kritik öffentli<strong>ch</strong> kundzutun. 259 Solzba<strong>ch</strong>er kam zur Einsi<strong>ch</strong>t, dass Lapenna offenbar re<strong>ch</strong>t wenig<br />

vom Wesen der Spra<strong>ch</strong>e verstanden haben muss, denn das entspre<strong>ch</strong>ende Kapitel über die Spra<strong>ch</strong>e in<br />

seinem Bu<strong>ch</strong> ‚Retoriko’ hielt er s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t für eine Katastrophe. Es sei „verpfus<strong>ch</strong>t“ und im Grunde<br />

„wertlos“, „absurd“ und „sogar gefährli<strong>ch</strong>“, da die Fakten weitgehend fals<strong>ch</strong> dargestellt worden seien.<br />

Solzba<strong>ch</strong>er hielt es überdies für unmögli<strong>ch</strong>, dass Bü<strong>ch</strong>er, in denen die Phantasien Marrs propagiert<br />

255<br />

Esperanto-Text s. online unter http://www.ivolapenna.org/verkoj/books/krit.pdf. Der Brief wurde in Lapennas ICNEM-<br />

Spra<strong>ch</strong>rohr Horizonto 4/1980 mit ausführli<strong>ch</strong>em Kommentar veröffentli<strong>ch</strong>t, ebenfalls in dem Bu<strong>ch</strong> ‚Kritikaj studoj defende<br />

de Esperanto’ (online abrufbar unter http://www.ivolapenna.org/verkoj/books/krit.pdf).<br />

256<br />

Geboren 1907 in Honnef am Rhein (Deuts<strong>ch</strong>land), war Solzba<strong>ch</strong>er Doktor der politis<strong>ch</strong>en und ökonomis<strong>ch</strong>en Wissens<strong>ch</strong>aften,<br />

Linguist mit Kenntnis zahlrei<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>en, Übersetzer, Journalist, S<strong>ch</strong>riftsteller, Universitätsdozent und Organisator<br />

von Kongressen und Mitglieder vieler wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Organisationen, einges<strong>ch</strong>lossen der Esperanto-Akademie. Der<br />

Esperanto-Bewegung s<strong>ch</strong>loss er si<strong>ch</strong> 1921 an und wurde vor allem in katholis<strong>ch</strong>en Kreisen tätig. Aus Überzeugungsgründen<br />

musste er 1933 Deuts<strong>ch</strong>land verlassen. In der Folge hielt er si<strong>ch</strong> in Frankrei<strong>ch</strong> und den Beneluxstaaten auf, um 1941 in die<br />

USA zu emigrieren. Dort war er bis 1953 Präsident der Esperanto-Vereinigung Nordamerikas (ELNA) und Redaktor des<br />

American Esperanto-Magazine, wo seine lesenwerten Beiträge ers<strong>ch</strong>ienen. Seine Russis<strong>ch</strong>kenntnisse befähigten ihn, die<br />

Originaltexte etwa in Voprosy jazykoznanija zu lesen. 1960-61 leitete er ein Esperanto-Pilotprojekt des Senders Voice of<br />

America. Im Zusammenhang mit dem si<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>ärfenden <strong>An</strong>tikommunismus in der McCarthy-Ära distanzierte Solzba<strong>ch</strong>er<br />

si<strong>ch</strong> von der Esperanto-Bewegung zunehmend, während sein Gesinnungspartner G.A. Connor, der den McCarthysmus offen<br />

praktizierte, 1956 aus dem Esperanto-Weltbund (UEA) ausges<strong>ch</strong>lossen wurde.<br />

257<br />

S. W. Solzba<strong>ch</strong>er: Ĉarlatana lingvoscienco. Marr-Drezen-Stalin-Čikobava-Lapenna. In: American Esperanto-Magazine,<br />

Serie März/April 1957 bis Jan./Febr. 1958.<br />

258<br />

Auf Russis<strong>ch</strong> ist das Bu<strong>ch</strong> ‚Rhetorik’ online unter http://www.ivolapenna.org/verkoj/books/rus_retoriko.pdf verfügbar.<br />

<strong>An</strong>dere Bü<strong>ch</strong>er Lapennas sind online unter http://www.ivolapenna.org/verkoj/books abrufbar.<br />

259<br />

Solzba<strong>ch</strong>er fügte hinzu, dass er si<strong>ch</strong> erst jetzt, sieben Jahre na<strong>ch</strong> Ers<strong>ch</strong>einen von Lapennas Bu<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>ieden habe, si<strong>ch</strong><br />

öffentli<strong>ch</strong> darüber zu äussern, ebenfalls über den „Öffentli<strong>ch</strong>en Brief an Stalin“. Den zweiten Teil des Bu<strong>ch</strong>es von Lapenna<br />

über die Rhetorik hingegen fand dur<strong>ch</strong>aus Solzba<strong>ch</strong>ers <strong>An</strong>erkennung. Selbst Gaston Waringhien (1901-91), einer der führenden<br />

Esperantologen und vormaliger Präsident der Esperanto-Akademie, s<strong>ch</strong>ien auf den Blendeffekt des glänzenden Lapenna<br />

hereingefallen zu sein, indem er das Bu<strong>ch</strong> ‚Retoriko’ im Vorwort als „so wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> redigiert, so zweckmässig zu gebrau<strong>ch</strong>en,<br />

gedankli<strong>ch</strong> so rei<strong>ch</strong>haltig“ <strong>ch</strong>arakterisierte.


91<br />

werden, no<strong>ch</strong> in einer Zeit herauskamen, in denen sie in Moskau s<strong>ch</strong>on lange verworfen wurden. Er<br />

befand es s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t für peinli<strong>ch</strong>, dass sie den Esperantisten als „wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>“ verkauft werden. 260<br />

Den grundlegenden Irrtum des „Öffentli<strong>ch</strong>en Briefes an Stalin“, den Solzba<strong>ch</strong>er als „ein Dokument<br />

der Verwirrung“ und als eine „unglaubli<strong>ch</strong> grobe Pfus<strong>ch</strong>erei“ bezei<strong>ch</strong>nete, sah er darin, dass<br />

der Brief ein eklatantes Missverständnis enthielt und dass zwei Themen miteinander verwe<strong>ch</strong>selt worden<br />

seien. Während die Esperantisten in ihrem Brief an Stalin von der ‚Frage der internationalen<br />

Hilfsspra<strong>ch</strong>e’ (qua Esperanto) spra<strong>ch</strong>en, habe Stalin in seinem Pravda-Artikel von 1950 den Genossen<br />

die Vision der künftigen gemeinsamen Welteinheitsspra<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> dem Sieg des Sozialismus erklärt.<br />

Stalins Beitrag habe somit also in keiner Weise auf die Esperanto-Bewegung Bezug genommen und<br />

sei sie ni<strong>ch</strong>ts angegangen. 261 Für „grotesk“ hielt Solzba<strong>ch</strong>er au<strong>ch</strong> das unsinnige Ges<strong>ch</strong>wätz vom Klassen<strong>ch</strong>arakter<br />

der Spra<strong>ch</strong>e. Er meinte, dass es sinnvoller gewesen wäre, Stalin besser an die Verfolgung<br />

der Esperantisten und an die prekäre Lage der Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion zu erinnern.<br />

Im weiteren kritisierte Solzba<strong>ch</strong>er die Zahlen, die Lapenna in dem Brief in Bezug auf die sozialen<br />

Spre<strong>ch</strong>ersegmente verwendet hatte und korrigierte sie mit Ziffern, die von kompetenteren und moderneren<br />

Linguisten wie Max Müller, Mario Pei und Leonard Bloomfield stammten.<br />

Lapenna, der als ungemein eitle Persönli<strong>ch</strong>keit kaum Kritik von anderen ertrug, s<strong>ch</strong>lug in einer<br />

umfassenden Replik unzimperli<strong>ch</strong> zurück und verwahrte si<strong>ch</strong> mit ätzendem Hohn und beissendem<br />

Spott eines gekränkten Akademikers gegen die Einwände seines Widersa<strong>ch</strong>ers, bezei<strong>ch</strong>nete Solzba<strong>ch</strong>ers<br />

Artikel als „vulgäre politis<strong>ch</strong>e Burleske“ und re<strong>ch</strong>tfertigte si<strong>ch</strong> und seine Version der Darstellung<br />

mit dem obstinaten Eifer eines dogmatis<strong>ch</strong>en Kommunisten. 262 Lapenna, der einzige Superman<br />

unter den eingefleis<strong>ch</strong>ten Esperanto-Propagandisten, fühlte si<strong>ch</strong> unverstanden, blieb im Prinzip jedo<strong>ch</strong><br />

auf seinen alten Positionen bestehen und ignorierte zu seinem eigenen späteren Verderben jeden guten<br />

Rats<strong>ch</strong>lag. 263<br />

Ob Stalin diesen Brief je erhalten hat oder sogar zu lesen bekam und wel<strong>ch</strong>es allenfalls seine<br />

Reaktionen darauf oder die späteren Konsequenzen für die Esperanto-Bewegung gewesen sein könnten<br />

lässt si<strong>ch</strong> mangels Informationen ni<strong>ch</strong>t abs<strong>ch</strong>ätzen. Es ist in diesem Zusammenhang aber immerhin<br />

interessant, die Haltung der sowjetis<strong>ch</strong>en Delegation anlässli<strong>ch</strong> einer UNESCO-Generalversammlung<br />

in Montevideo (1954) zu erwähnen. Sie übte Stimmenthaltung aus, als es darum ging, eine UNESCO-<br />

Resolution zugunsten des Esperanto zu verabs<strong>ch</strong>ieden. Ob si<strong>ch</strong> der Brief der UEA/SAT an Stalin im<br />

sowjetis<strong>ch</strong>en Dossier befand, über das Stoletov und Zvorykin allenfalls verfügten, ist unbekannt. Au<strong>ch</strong><br />

im Fall der <strong>An</strong>nahme dieser Resolution spielte der glei<strong>ch</strong>e Lapenna erneut die federführende Rolle und<br />

ging in Esperanto-Kreisen als „Held von Montevideo“ ein.<br />

Trotz allem und trotz der Überreaktion der UEA/SAT und Lapennas: Der Zeitpunkt der<br />

Veröffentli<strong>ch</strong>ung und die Auswahl der Themen des spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>es Beitrags Stalins von<br />

1950 wirken wie ein skurriler Zufall, bei dem ein Esperantist zwangsläufig auf die Idee kommt, si<strong>ch</strong><br />

zu fragen, ob er indirekt viellei<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> in irgendeinem Zusammenhang mit der Esperanto-Frage in<br />

260<br />

Lapenna bezei<strong>ch</strong>nete Marr während der Unesco-Konferenz in Montevideo 1954 als „hervorragenden Linguisten“ und in<br />

seinem Bu<strong>ch</strong> ‚Retoriko’ völlig unkritis<strong>ch</strong> als „grossen russis<strong>ch</strong>en Linguisten, Historiker und Ethnologen“. Nun, an einer<br />

Stelle fügte Lapenna im letzten Moment zwar no<strong>ch</strong> hinzu, dass au<strong>ch</strong> er Zweifel an den Phantasien Marrs hege und gab zu,<br />

z.B. Marrs Theorie von den vier Urlauten unkritis<strong>ch</strong> aufgenommen zu haben. In der 2. Auflage von Lapennas Bu<strong>ch</strong> ‚Retoriko’<br />

vers<strong>ch</strong>wanden dann Wörter wie ‚gross’, „tiefgründige wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Fors<strong>ch</strong>ungen“ in Bezug auf Marr wieder.<br />

261<br />

Solzba<strong>ch</strong>er rügte in diesem Zusammenhang die UEA-Vorstandsmitglieder Ernfried Malmgren (Präsident), Hans Jakob,<br />

Paul Kempeneers, David Kennedy, Arthur C. Oliver, die wohl in Unkennntis der Dinge diesen Brief mit der Unters<strong>ch</strong>rift der<br />

UEA versehen liessen, weil sie von Lapenna unter Druck gesetzt worden waren, dem ni<strong>ch</strong>t einmal der (s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e) UEA-<br />

Präsident selbst zu widerstehen vermo<strong>ch</strong>te, wie später ein UEA-Vorstandsmitglied Solzba<strong>ch</strong>er s<strong>ch</strong>rieb.<br />

262<br />

S. ebenfalls unter http://www.ivolapenna.org/verkoj/books/krit.pdf.<br />

263<br />

Na<strong>ch</strong>dem er si<strong>ch</strong> gestürzt und verstossen fühlte, verliess der „grosse Führer“ Ivo Lapenna 1974 seine Organisation und<br />

gründete eine eigene „neutrale“ Gegenbewegung, der jedo<strong>ch</strong> wenig Erfolg bes<strong>ch</strong>ieden war. Da der Brief an Stalin ni<strong>ch</strong>t von<br />

Lapenna persönli<strong>ch</strong> unterzei<strong>ch</strong>net war, vermied man später in seiner ‚offiziösen’ Biographie und in der ‚offiziösen’ Lapenna-<br />

Bibliographie’ ihn zu erwähnen. Eine 2001 in Dänemark ers<strong>ch</strong>ienene Fests<strong>ch</strong>rift (C. Minnaja, Red.: Eseoj memore al Ivo<br />

Lapenna) verfolgte den Zweck, Lapenna als makellosen Halbgott und Superdemokraten zu kanonisieren.a<strong>ch</strong>philo


92<br />

der Sowjetunion stehen könnte, obwohl das Thema der Einheitsspra<strong>ch</strong>e darin explizit ni<strong>ch</strong>t vorkommt,<br />

aber immerhin no<strong>ch</strong> am Rande dur<strong>ch</strong> eine Leserfrage erwähnt wurde. Da der Artkel ins Esperanto<br />

übersetzt wurde, konnte er au<strong>ch</strong> den Esperantisten bekannt gema<strong>ch</strong>t werden.<br />

Esperanto in der Sowjetunion na<strong>ch</strong> 1953<br />

Zwis<strong>ch</strong>en 1938 und 1956 s<strong>ch</strong>wiegen die Esperantisten, da ihre führenden Vertreter bei den Säuberungen<br />

ihr Leben verloren, obwohl die Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion offenbar formell ni<strong>ch</strong>t<br />

verboten war. Na<strong>ch</strong> dem 2. Weltkrieg gelangte der Stalinismus mit diversen Verfolgungen und Prozessen<br />

gegen „Kosmopoliten“, „Titoisten“, „Revisionisten“, „Zionisten“, unter ihnen ni<strong>ch</strong>t wenige<br />

jüdis<strong>ch</strong>e Bürger, no<strong>ch</strong> einmal zur Ho<strong>ch</strong>form. In den osteuropäis<strong>ch</strong>en Satellitenstaaten, die unter die<br />

Kontrolle Moskaus gerieten, spra<strong>ch</strong> man von dieser Zeitspanne als der „Periode der Stagnation“. Die<br />

Zeiten besserten si<strong>ch</strong> ein wenig, als Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin am 5. März 1953 endli<strong>ch</strong> das Zeitli<strong>ch</strong>e<br />

segnete. Das kommunistis<strong>ch</strong>e Trauma war aber keineswegs zu Ende. Der Terror gegen „Abwei<strong>ch</strong>ler“,<br />

Oppositionelle und Systemkritiker wurde aber au<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong>, wie am Beispiel der DDR gut dokumentiert<br />

ist, fortgesetzt.<br />

Na<strong>ch</strong>dem die führenden sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten in den Jahren 1937/38 also liquidiert wurden<br />

und die Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion zers<strong>ch</strong>lagen und verstummt war, war an eine<br />

Wiederaufnahme der Esperanto-Tätigkeit in der UdSSR vorerst ni<strong>ch</strong>t zu denken. Na<strong>ch</strong> dem 2. Weltkrieg<br />

(bzw. „Grossen Vaterländis<strong>ch</strong>en Krieg“) wiederholten si<strong>ch</strong> die Vehaftungen und Repressionen in<br />

der Sowjetunion, um im Jahr 1949 ihren Höhepunkt zu errei<strong>ch</strong>en. Erst na<strong>ch</strong> der ‚Geheimrede’ N.S.<br />

Chruščëvs auf dem XX. Parteitag der KPdSU vom 25. Februar 1956, die unter dem Titel „Über den<br />

Personenkult und seine Folgen“ die „Entstalinisierung“ einleitete, wurde es wieder mögli<strong>ch</strong>, für Esperanto<br />

zu wirken. Die Esperanto-Tätigkeit wurden von denjenigen Genossen wiederaufgenommen und<br />

fortgesetzt, die den stalinistis<strong>ch</strong>en Terror der 30er Jahre überlebt hatten. Die Periode zwis<strong>ch</strong>en 1956<br />

und 1991, dem Jahr des Untergangs der Sowjetunion, für die Esperanto-Bewegung zu bes<strong>ch</strong>reiben,<br />

wird die Aufgabe künftiger Studien zu diesem Thema sein.<br />

In den sozialistis<strong>ch</strong>en Satellitenstaaten, wo die Esperanto-Bewegung zugelassen wurde (v.a. in<br />

Polen, Ungarn, Bulgarien, DDR), wurde Esperanto von der KP für die marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>e Ideologie<br />

usurpiert, für die Propaganda in eigener Sa<strong>ch</strong>e eingespannt und für politis<strong>ch</strong>e und touristis<strong>ch</strong>e<br />

Zwecke des kommunistis<strong>ch</strong>en Regimes missbrau<strong>ch</strong>t. Mit fatalen Konsequenzen. So ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> die<br />

Esperanto-Bewegung mit ihrem herzhaften Opportunismus unweigerli<strong>ch</strong> zum Komplizen des kommunistis<strong>ch</strong>en<br />

Repressions- und Verfolgungsstaates.<br />

Allgemeine Endbemerkungen<br />

Die Esperanto-Bewegung, die si<strong>ch</strong> selbst vom Nationalsozialismus und Kommunismus verführen,<br />

unterwandern und bevormunden liess und den Repressionen, Verfolgungen und Verboten dieser Systeme<br />

ausgesetzt wurde, trat zwar inoffiziell als Au<strong>ch</strong>-Mens<strong>ch</strong>en- und Völkerre<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz- und Quasi-<br />

Friedensbewegung in Ers<strong>ch</strong>einung, hat si<strong>ch</strong> bis dato aber ni<strong>ch</strong>t klar genug von den während des<br />

Kommunismus begangenen Verbre<strong>ch</strong>en gegen die Mens<strong>ch</strong>heit distanziert und tut so, also ob sie das<br />

Problem ni<strong>ch</strong>ts anginge.


93<br />

1989/90 ist au<strong>ch</strong> die Esperanto-Bewegung Osteuropas mit dem kollabierten Kommunismus in<br />

die Belang- und Bedeutungslosigkeit abgedriftet, mit fatalen Folgen für die gesamte internationale<br />

Esperanto-Bewegung. Eine Erneuerung der Esperanto-Bewegung fand in den betroffenen Ländern<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr statt und ist au<strong>ch</strong> auf internationaler Ebene ni<strong>ch</strong>t absehbar. Während in den ehemaligen<br />

Ostblockländern Esperanto auf staatli<strong>ch</strong>er Ebene also irrelevant und hinfällig geworden ist, redet im<br />

Westen kaum no<strong>ch</strong> jemand von Esperanto. Au<strong>ch</strong> wenn Esperanto als soziales Phänomen no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

ganz vers<strong>ch</strong>wunden ist, ist es zumindest politis<strong>ch</strong> erledigt, na<strong>ch</strong>dem die Bewegung ihre (guten) Dienste<br />

für vers<strong>ch</strong>iedene politis<strong>ch</strong>e Systeme und ideologis<strong>ch</strong>e Weltans<strong>ch</strong>auungen getan hat. Die historis<strong>ch</strong>e<br />

Bedeutung des Esperanto sollte aber keinesfalls überbewertet werden. Die Frage, ob der drohende<br />

Untergang des Esperanto als ein verkanntes „Weltkulturgut“ zu bedauern ist oder ni<strong>ch</strong>t, gehört wieder<br />

zu einer anderen Diskussion. Als wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>es Desiderat bleibt allenfalls no<strong>ch</strong> die Idee übrig,<br />

eine moderne und objektive, von ideologis<strong>ch</strong>em Ballast gesäuberte Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Esperanto-<br />

Bewegung zu verfassen.<br />

Was Esperanto im Rei<strong>ch</strong> Putins anbelangt, s<strong>ch</strong>eint die Bewegung in Russland auf eine geringe<br />

Zahl privater Aktivisten zusammenges<strong>ch</strong>rumpt zu sein. Der folgende Zwis<strong>ch</strong>enfall ist denno<strong>ch</strong> erwähnenswert.<br />

Als die russis<strong>ch</strong>en Esperantisten, gegen den Englis<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t polternd, vor einigen Jahren<br />

an die Regierung in Moskau s<strong>ch</strong>rieben, erhielten sie als <strong>An</strong>twort, dass die (wie au<strong>ch</strong> immer geartete)<br />

Einführung des Esperanto in Russland vom Staat ni<strong>ch</strong>t akzeptiert werden könnte, da Esperanto die<br />

„nationale Souveränität“ des Landes untergraben würde (sic). Eine bea<strong>ch</strong>tenswerte <strong>An</strong>twort, die<br />

glei<strong>ch</strong>zeitig ziemli<strong>ch</strong> grotesk anmutet und auf die irrationale <strong>An</strong>gst des paranoiden Staates vor einem<br />

real existierenden Phänomen wie Esperanto hinweist, das offenbar als fremdes und störendes Element<br />

oder als unerwüns<strong>ch</strong>te Konkurrenz wahrgenommen wird, das eventuell sogar als Mittel einer (oppositionellen<br />

Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ts-) Organisation, die von ausländis<strong>ch</strong>en Agenten gesteuert und finanziert<br />

wird, betra<strong>ch</strong>tet werden könnte. Das ist ni<strong>ch</strong>t ungefährli<strong>ch</strong>, zumal es ein neues Gesetz gibt, das energis<strong>ch</strong><br />

gegen verdä<strong>ch</strong>tige Organisationen vorgeht, deren Finanzierung unklar ist. Es s<strong>ch</strong>eint, dass si<strong>ch</strong><br />

die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te wiederholt. Diesmal könnte der Vorwand für eine Repression ni<strong>ch</strong>t der Trockismus<br />

oder der Fas<strong>ch</strong>ismus, sondern der Zufluss von Geldern aus dem Ausland sein. Eine entspre<strong>ch</strong>ende<br />

Denunziation könnte genügen, um eine sol<strong>ch</strong>e Organisation in S<strong>ch</strong>wierigkeiten zu versetzen. Von<br />

russis<strong>ch</strong>en Esperantisten erhält man zu diesem Thema keine Stellungnahme, und auf offiziellen Websites<br />

gibt es keine Artikel und Kommenare dazu. Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>t die blanke <strong>An</strong>gst, si<strong>ch</strong> zu<br />

sol<strong>ch</strong>en heiklen Dingen überhaupt zu äussern.<br />

Verfasst von <strong>An</strong>dreas Künzli, lic. phil., Bern (S<strong>ch</strong>weiz)<br />

veröffentli<strong>ch</strong>t auf www.planspra<strong>ch</strong>en.<strong>ch</strong> im Juli 2013. Ergänzungen (Spra<strong>ch</strong>philosophie bei Drezen<br />

und Filin ber Loja) im November 2013).<br />

Zum Autor: geb. 1962 in Luzern (S<strong>ch</strong>weiz). Studium 1983-1991 der Slavistik, des Osteuropäis<strong>ch</strong>en<br />

Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te und des Völkerre<strong>ch</strong>ts an der Universität Züri<strong>ch</strong>. Lizentiatsabs<strong>ch</strong>luss mit einer Arbeit über<br />

die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des Esperanto und der Interlinguistik im Zarenrei<strong>ch</strong> und in der Sowjetunion. Weiterbildung<br />

und berufli<strong>ch</strong>e Tätigkeit in der Informatik. Wohnhaft in Bern. Esperantist seit 1979.<br />

Betreute Websites: www.planspra<strong>ch</strong>en.<strong>ch</strong> (au<strong>ch</strong>: www.planlingvoj.<strong>ch</strong> und www.zamenhof.<strong>ch</strong>) sowie<br />

www.osteuropa.<strong>ch</strong>.<br />

(Grava atentigo: La aǔtoro pretendas la kopirajton pri ĉi tiu verkaĵo kiel tuto. Ĝi estas utiligebla de triaj uzantoj nur kun<br />

eksplicita skriba permeso fare de A. Künzli. Neaǔtorizita uzo estos raportita al Pro Litteris, Zuriko, kies membro la aǔtoro<br />

estas).

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