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ni<strong>ch</strong>t übersehen werden dürften, so wie die marxistis<strong>ch</strong>e Theorie ni<strong>ch</strong>t von der Praxis abgekoppelt<br />
operieren kann. Darin bestehe das Wesen in der doppelten Revolution der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft,<br />
derjenigen der nationalen Befreiung und derjenigen des Proletariats.<br />
Ins glei<strong>ch</strong>e Horn der junggrammatis<strong>ch</strong>en Kritik stiess au<strong>ch</strong> der damals etwa 25-jährige Esperantist<br />
und Interlinguist Evgenij A. Bokarjov (1904-71). Dieser angehende sowjetis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler<br />
(der den Stalins<strong>ch</strong>en Terror überlebte und in den 50-60er Jahren die Interlinguistik und die<br />
Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion verdienstvoll und unter gewissen Risiken reanimierte 132 )<br />
hatte bereits in der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>presse mit Artikeln über die Internationale Spra<strong>ch</strong>e debütiert. So forderte<br />
er etwa in seinem Beitrag über ‚Die Internationale Spra<strong>ch</strong>e und die Wissens<strong>ch</strong>aft über die Spra<strong>ch</strong>e’,<br />
abgedruckt in Izvestija CK SĖSR, Nr. 5-6/1928, einerseits von der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft mehr<br />
Aufmerksamkeit für die <strong>An</strong>liegen der internationalen Spra<strong>ch</strong>e. <strong>An</strong>dererseits rief er aber au<strong>ch</strong> die Interlinguisten<br />
und Esperantisten auf, der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft mehr Bea<strong>ch</strong>tung zu s<strong>ch</strong>enken. In seinem<br />
neuen Artikel über ‚Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft und Marxismus’, der 1929 in der Zeits<strong>ch</strong>rift Meždunarodnyj<br />
jazyk ers<strong>ch</strong>ien, 133 erklärte Bokarjov die alte junggrammatis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft, die in eine Sackgasse<br />
geraten sei, für tot. Diese nutzlose S<strong>ch</strong>olastik habe die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Wahrnehmung und jegli<strong>ch</strong>en<br />
Zusammenhang mit der Realität und der Wissens<strong>ch</strong>aft selbst verloren. Eigentli<strong>ch</strong> könne man die junggrammatis<strong>ch</strong>e<br />
Linguistik glei<strong>ch</strong> vergessen, denn in der Literatur stosse man kaum no<strong>ch</strong> auf ihre Traditionen.<br />
Die junggrammatis<strong>ch</strong>e Lehre sei nun vielmehr von lebhaften Diskussionen über Fragen der<br />
Philosophie und von der Spra<strong>ch</strong>methodologie ersetzt worden. Im Unters<strong>ch</strong>ied zur alten nehme die<br />
neue, marxistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft si<strong>ch</strong> bei der theoretis<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ung Themen an, die mit gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />
Bedürfnissen zusammenhängen. Viele Probleme der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft bedürften<br />
einer Lösung, ni<strong>ch</strong>t zuletzt au<strong>ch</strong> die Frage der internationalen Spra<strong>ch</strong>e. Bei aller Werts<strong>ch</strong>ätzung der<br />
Bemühungen Marrs um die Etablierung einer neuen marxistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft setzte Bokarjov<br />
in seinem Beitrag aber au<strong>ch</strong> mutig zur Kritik der jafetitis<strong>ch</strong>en Theorie an, die zwar den Status als eine<br />
Art offizieller sowjetis<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft erhielt, si<strong>ch</strong> früher oder später aber als Pseudowissens<strong>ch</strong>aft<br />
herausgestellt habe. Sie weise zu viele wesentli<strong>ch</strong>e methodologis<strong>ch</strong>e Mängel auf, beargwöhnte<br />
Bokarjov, die für die marxistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft wi<strong>ch</strong>tigsten Abs<strong>ch</strong>nitte würden in den Arbeiten<br />
des Akademie-Mitglieds Marr überhaupt ni<strong>ch</strong>t berührt und in der jafetitis<strong>ch</strong>en Theorie gäbe es keine<br />
strenge Methode der historis<strong>ch</strong>en <strong>An</strong>alyse, was unabhängige Fors<strong>ch</strong>ung im Geiste der jafetitis<strong>ch</strong>en<br />
Theorie unmögli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>e. Ausserdem würden die etymologis<strong>ch</strong>en Konstruktionen Marrs nur mehr<br />
oder weniger s<strong>ch</strong>arfsinnige Vermutungen darstellen und die meisten von ihnen seien sowieso wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong><br />
ungenügend begründet oder gar völlig unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>. Aus diesen Gründen sollte die<br />
marxistis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t mit der jafetitis<strong>ch</strong>en Theorie glei<strong>ch</strong>gesetzt werden, befand Bokarjov,<br />
denn die marxistis<strong>ch</strong>e Linguistik könne die Grundsätze der jafetitis<strong>ch</strong>en Theorie nur teilweise<br />
verwenden. Der Aufbau der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft sei eine s<strong>ch</strong>wierige Aufgabe, fuhr Bokarjov<br />
fort, es gäbe sie eigentli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t. Zur Zeit könne man nur in sehr allgemeinen Zügen<br />
die Konturen der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft skizzieren und es sei no<strong>ch</strong> eine grosse Arbeit bei<br />
der Präzisierung der Methodologie zu bewerkstelligen. In der Esperanto-Bewegung sah Bokarjov den<br />
natürli<strong>ch</strong>en Partner der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft. In diesem Sinn rief er die Esperantisten auf,<br />
aktiv an der S<strong>ch</strong>affung der marxistis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft mitzuwirken, nur sie sei in der Lage, der<br />
internationalen Spra<strong>ch</strong>e eine dauerhafte theoretis<strong>ch</strong>e Grundlage zu vermitteln.<br />
So spielte si<strong>ch</strong> jeder an der Diskussion beteiligte Autor als der s<strong>ch</strong>einbar wahrere Marxist auf.<br />
Eine Ausahme bestand diesbezügli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> beim nä<strong>ch</strong>sten an dieser Stelle zu präsentierenden Theoretiker<br />
ni<strong>ch</strong>t.<br />
Wenig Begeisterung für die jafetidologis<strong>ch</strong>en Theorien Marrs bekundete au<strong>ch</strong> Jan (Jānis) V.<br />
Loja (1896-1969), wie Drezen ein gebürtiger Lette und Spezialist für allgemeine Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft,<br />
132<br />
No<strong>ch</strong> 1953 rühmte Bokarjov in Voprosy jazykoznanija die Werke Stalins und fiel au<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong> in der Esperanto-Presse als<br />
glühender Sowjetpropagandist auf (s. http://www.planlingvoj.<strong>ch</strong>/Recenzo_BokarevB.pdf).<br />
133<br />
E.A. Bokarjov: Jazykoznanie i marksizm. In: Meždunarodnyj jazyk, 4-5/1929. S. 203-6.<br />
(Volltext s. http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19291001&seite=13&zoom=33).