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An Frau Prof - Plansprachen.ch

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25<br />

Diejenigen, die si<strong>ch</strong> mit dem Thema befassten, vertraten zwei si<strong>ch</strong> völlig widerspre<strong>ch</strong>ende <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten.<br />

Während die einen behaupteten, Lenin sei ein überzeugter Gegner des Esperanto gewesen, waren andere<br />

der Meinung, dass dieser ein eifriger <strong>An</strong>hänger desselben gewesen sei. Einige weitere waren sogar<br />

der Überzeugung, dass Lenin hö<strong>ch</strong>st persönli<strong>ch</strong> ein Esperantist gewesen ist, der in Esperanto-<br />

Kreisen angebli<strong>ch</strong> mit Vorträgen auftrat.<br />

Lenin musste selbstverständli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> von den Esperantisten der Sowjetunion und des Ostblocks<br />

angebetet werden. So war von ihnen geplant worden, die Werke Lenins im Rahmen einer 16-<br />

bändigen Werkausgabe ins Esperanto zu übersetzen – das Projekt wurde nie realisiert.<br />

Semjon N. Podkaminer (1901-82), ein ho<strong>ch</strong> angesehener sowjetis<strong>ch</strong>er Esperantist jüdis<strong>ch</strong>er<br />

Herkunft, der in Leningrad lebte, hatte si<strong>ch</strong> mit diesem etwas mysteriösen Thema über angebli<strong>ch</strong>e<br />

Meinungsäusserungen Lenins bezügli<strong>ch</strong> Esperanto befasst und in einer ausführli<strong>ch</strong>en Studie versu<strong>ch</strong>t,<br />

die Phantasien und Mär<strong>ch</strong>en von den Tatsa<strong>ch</strong>en, den Spreu vom Weizen zu trennen. 85<br />

Die einen oder anderen Spekulationen über Lenins mögli<strong>ch</strong>en Bezug zu Esperanto wurden beflügelt,<br />

als in einer sowjetis<strong>ch</strong>en Jugendzeits<strong>ch</strong>rift ein gewisser E. Didrikil zitiert wurde, der na<strong>ch</strong><br />

eigenen <strong>An</strong>gaben im Jahr 1913 einen Vortrag Lenins gehört haben will, in dem dieser angebli<strong>ch</strong> das<br />

Thema der Spra<strong>ch</strong>e der Zukunftsgesells<strong>ch</strong>aft berührt und dabei ni<strong>ch</strong>t einer künstli<strong>ch</strong>en, sondern einer<br />

natürli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e die Chance eingeräumt hatte, die Rolle der Weltspra<strong>ch</strong>e zu übernehmen. Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong><br />

handelte es si<strong>ch</strong> um eine Phantasie oder eine Verwe<strong>ch</strong>slung der Daten. 86 In Lenins Werken<br />

ist die Frage der Weltspra<strong>ch</strong>e nur ein einziges Mal erwähnt, nämli<strong>ch</strong> 1914 mit dem Satz: „Die Weltspra<strong>ch</strong>e<br />

wird viellei<strong>ch</strong>t Englis<strong>ch</strong> plus viellei<strong>ch</strong>t Russis<strong>ch</strong> sein.“ In einem Artikel von <strong>An</strong>fang 1933<br />

hatte Ė.K. Drezen darauf hingewiesen, dass Lenin die internationale Spra<strong>ch</strong>e und ihre Bewegung ni<strong>ch</strong>t<br />

gekannt hat. Er habe si<strong>ch</strong> aber au<strong>ch</strong> niemals negativ über Esperanto geäussert. Drezen su<strong>ch</strong>te – und<br />

fand – in Lenins Werken aber Zitate, die si<strong>ch</strong> als entspre<strong>ch</strong>ende Äusserungen nutzen liessen, um idealistis<strong>ch</strong>e<br />

Projekte wie Esperanto in <strong>An</strong>alogie zum revolutionären Projekt zu bejahen. Dazu diente etwa<br />

ein Ausspru<strong>ch</strong> Lenins am VIII. Kongress der RKP(B), wo er gesagt hatte, dass man si<strong>ch</strong> davor hüten<br />

sollte, das Existierende ni<strong>ch</strong>t anzuerkennen, denn es werde von selbst anerkannt werden. Das Wi<strong>ch</strong>tigste<br />

beim Ganzen sei, unterstri<strong>ch</strong> Drezen, dass Lenin si<strong>ch</strong> für die nationale Glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigung und<br />

gegen Privilegien für einzelne Nationen und Spra<strong>ch</strong>gemeins<strong>ch</strong>aften ausgespro<strong>ch</strong>en habe. Drezen rief<br />

die „proletaris<strong>ch</strong>en“ Esperantisten dazu auf, von Lenin zu lernen und aus seiner Lehre „für ihr<br />

spezifis<strong>ch</strong>es Gebiet“, gemeint war die Verwendung des Esperanto, für den proletaris<strong>ch</strong>en Kampf zu<br />

s<strong>ch</strong>öpfen. 87<br />

Für weit mehr Aufsehen als die rudimentäre Behauptung Didrikils sorgte in Esperanto-Kreisen<br />

die bizarre Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des lettis<strong>ch</strong>en Esperantisten Ints Čače (1895-1986), der allen Ernstes darüber<br />

beri<strong>ch</strong>tete, am 13. April 1918 zusammen mit V.N. Devjatnin als Vertreter des Petersburger Esperanto-<br />

Vereins ‚Espero’ von Lenin im Smolnyj empfangen worden zu sein. Zugegen seien au<strong>ch</strong> Ė.K. Drezen,<br />

der „persönli<strong>ch</strong>e Sekretär Lenins“ (sic! 88 ) und A.V. Lunačarskij, der Volksbildungskommissar, gewesen.<br />

Dort seien sie von Lenin gefragt worden, wie viele Esperantisten es in Russland gäbe und mit<br />

wel<strong>ch</strong>en Mitteln diese beabsi<strong>ch</strong>tigten, der neuen Sowjetregierung zu helfen. Lenin habe vorges<strong>ch</strong>lagen,<br />

dass man einen allrussis<strong>ch</strong>en Esperanto-Kongress in Petrograd einberufen sollte. Ferner habe er<br />

bestätigt, dass er während seiner Emigrationsjahre au<strong>ch</strong> die Bekannts<strong>ch</strong>aft mit der Spra<strong>ch</strong>e Esperanto<br />

85<br />

Podkaminers Beri<strong>ch</strong>t dazu ers<strong>ch</strong>ien in der DDR-Zeits<strong>ch</strong>rift der esperantist im August 1970. Glei<strong>ch</strong>zeitig wurde in der<br />

Zeits<strong>ch</strong>rift Esperanto (UEA) ein ähnli<strong>ch</strong>er Artikel über Lenin und Esperanto von U. Lins abgedruckt, der im Gegensatz zur<br />

unmissverständli<strong>ch</strong>en Präsentation Podkaminers die Mythenbildung rund um dieses Thema eher no<strong>ch</strong> verstärkte, indem no<strong>ch</strong><br />

weitere angebli<strong>ch</strong> authentis<strong>ch</strong>e ‚Zeitzeugen’ zitiert wurden.<br />

86<br />

Russis<strong>ch</strong>er Originaltext Didrikils beim Autor.<br />

87<br />

Drezen, Ė.: Učenie Lenina v praktike dviženija za meždunarodnyj jazyk. In Meždunarodnyj jayk 1/1933, S.20-25 (online:<br />

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=e2b&datum=19330101&seite=22&zoom=33). In diesem Artikel ging Drezen<br />

sogar soweit, von den „proletaris<strong>ch</strong>en Esperantisten“ zu fordern, gegen die angebli<strong>ch</strong>e Verhunzung der russis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e<br />

dur<strong>ch</strong> den französis<strong>ch</strong>en Einfluss vorzugehen.<br />

88<br />

Drezen war nie persönli<strong>ch</strong>er Sekretär Lenins gewesen.

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