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An Frau Prof - Plansprachen.ch

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30<br />

zurück, als in den Artikeln ‚Nationale Frage und der Leninismus’ und Zukunft der Nationen und der<br />

Nationalspra<strong>ch</strong>en’ 101 Stalin si<strong>ch</strong> über die Mögli<strong>ch</strong>keit einer Einheitsspra<strong>ch</strong>e ausliess, deren S<strong>ch</strong>affung<br />

und Einführung er aber in eine ferne Zeit verlegte. Die fünfte Episode fällt in das Jahr 1930, als<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin am XVI. Kongress der VKP(B) zum Thema der künftigen Spra<strong>ch</strong>e Stellung<br />

nahm. In den 30er Jahren ri<strong>ch</strong>teten si<strong>ch</strong> die psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en und physis<strong>ch</strong>en Repressionen Stalins sowohl<br />

gegen die sowjetis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler wie au<strong>ch</strong> gegen die Slavisten, die Finnugristen, Japanologen<br />

und Orientalisten, die der Spionage und antisowjetis<strong>ch</strong>en Agitation bezi<strong>ch</strong>tigt wurden, und dann<br />

mitten im ‚Grossen Terror’ au<strong>ch</strong> gegen die Interlinguisten und Esperantisten, die als Volksfeinde,<br />

„Spione“, und „Mitglieder einer trockistis<strong>ch</strong>en und terroristis<strong>ch</strong>en Vereinigung“ verhetzt und disqualifiziert,<br />

inhaftiert oder sogar physis<strong>ch</strong> liquidiert wurden. S<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> ist als se<strong>ch</strong>ste Episode no<strong>ch</strong> das<br />

Jahr 1950 zu berücksi<strong>ch</strong>tigen, als Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin in der Pravda seine Aufsehen erregende Stellungnahme<br />

zu Fragen der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft darlegte und die Lehren Marrs für ungültig erklärte. In<br />

all diesen Artikeln und Reden Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins zur Einheitsspra<strong>ch</strong>e der Zukunft ist Esperanto<br />

selbst ni<strong>ch</strong>t erwähnt, sodass davon ausgegangen werden kann, dass es bei den Überlegungen des Verfassers<br />

(oder der Verfasser) dieser Beiträge wohl keine Rolle spielte und keine Bedeutung hatte. Hatte<br />

Stalin Esperanto vergessen oder es vermieden, es zu erwähnen? Man weiss es ni<strong>ch</strong>t. Denno<strong>ch</strong> ist es<br />

ni<strong>ch</strong>t ohne Interesse, den Inhalt dieser einzelnen Episoden etwas genauer zu beleu<strong>ch</strong>ten.<br />

Was das Esperanto bei Stalin betrifft, ist also zunä<strong>ch</strong>st Leo Trockij zu zitieren. Demna<strong>ch</strong> soll<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin um 1910 im Bakuer Bailov-Gefängnis Esperanto gelernt haben. 102 Da dies von<br />

dritten Zeugen beri<strong>ch</strong>tet wurde, ist es ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>lossen, obwohl es völlig unglaubwürdig anmutet.<br />

Darüber gab der persönli<strong>ch</strong>e und parteili<strong>ch</strong>e Rivale in seiner Stalin-Biographie an drei Stellen Auskunft,<br />

so im Kapitel ‚Periode der Reaktion’, die von Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins Aufenthalt in diesem<br />

Gefängnis handelt. <strong>An</strong> dieser Stelle heisst es:<br />

„(…) Unter den Gefangenen waren au<strong>ch</strong> kürzli<strong>ch</strong> oder s<strong>ch</strong>on vor längerer Zeit zum Tode Verurteilte,<br />

die ständig der Besiegelung ihres S<strong>ch</strong>icksals entgegensahen, Sie assen und s<strong>ch</strong>liefen mit den<br />

anderen zusammen. Unter den Augen ihrer Mitgefangenen wurden sie na<strong>ch</strong>ts herausgeholt und im<br />

Gefängnishof gehängt; ‚in den Zellen hörte man ihr Weinen und S<strong>ch</strong>reien’. Die Nerven aller Gefangenen<br />

waren aufs äusserste gespannt, ‚Koba s<strong>ch</strong>lief fest’, sagte Vereščak, ‚oder lernte ruhig Esperanto’<br />

(er war überzeugt, dass Esperanto die internationale Spra<strong>ch</strong>e der Zukunft sei). Es wäre absurd zu denken,<br />

dass die Hinri<strong>ch</strong>tungen Koba glei<strong>ch</strong>gültig liessen. Aber er hatte starke Nerven. Er empfand ni<strong>ch</strong>t<br />

na<strong>ch</strong>, was andere fühlten. Allein sol<strong>ch</strong>e Nerven waren s<strong>ch</strong>on ein grosses Kapital.“ (…) 103<br />

Auf der nä<strong>ch</strong>sten Seite heisst es bei Trockij weiter:<br />

„Im Gefängnis von Baku wandte er si<strong>ch</strong> dem Esperanto als der ‚Spra<strong>ch</strong>e der Zukunft’ zu. Dieser<br />

Zug zeigt deutli<strong>ch</strong>, von wel<strong>ch</strong>er Art die geistige Ausrüstung Kobas war, dessen Lerneifer si<strong>ch</strong> immer<br />

auf der Linie des geringsten Widerstandes voran bewegte. Obwohl er a<strong>ch</strong>t Jahre in Gefängnissen<br />

und in der Verbannung zubra<strong>ch</strong>te, hat er ni<strong>ch</strong>t eine einzige fremde Spra<strong>ch</strong>e wirkli<strong>ch</strong> erlernt, sein unglückseliges<br />

Esperanto ni<strong>ch</strong>t ausgenommen.“ 104<br />

Na<strong>ch</strong> Trockijs <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t handelt es si<strong>ch</strong> bei dem Georgier aus Gori also ni<strong>ch</strong>t nur um einen<br />

Mens<strong>ch</strong>en, dessen geistige Ausrüstung bes<strong>ch</strong>eiden gewesen war und dass die Spra<strong>ch</strong>e Esperanto ein<br />

Mittel des geringsten Widerstandes sei. Ein paar Seiten später wird Esperanto ein drittes Mal erwähnt:<br />

101<br />

Volltext beider Beiträge s. http://www.marxists.org/reference/ar<strong>ch</strong>ive/stalin/works/1929/03/18.htm.<br />

102<br />

Als erster s<strong>ch</strong>eint Herbert Muravkin im Jahr 1928 darauf hingewiesen zu haben. In der Enciklopedio de Esperanto (Budapest<br />

1933/34) fehlte ein Sti<strong>ch</strong>wort zu ‚Stalin’. Die Esperanto-Historiographie vermied es, diese legendäre Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te an die<br />

grosse Glocke zu hängen und erwähnte sie nur kurz (z.B.: Lapenna/Lins: Esperanto en perspektivoj 1974, S. 729, Lins: LDL<br />

1988, S. 359 (Fn. 1) als „Gerü<strong>ch</strong>t“ und „unglaubwürdig“.<br />

103<br />

Trotzki, Stalin, Bd. I, S. 181. Die deuts<strong>ch</strong>e Übersetzung von Trockijs Stalin-Biographie ers<strong>ch</strong>ien erst 1952 in Deuts<strong>ch</strong>land.<br />

104<br />

Ebd., S. 182.

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