2 Einführung Bevor das eigentli<strong>ch</strong>e Thema, die Stalins<strong>ch</strong>en Repressionen gegen die „Volksfeinde“ behandelt wird, von denen au<strong>ch</strong> die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten betroffen waren, ist es zum Verständnis des allgemeinen Zusammenhangs von Bedeutung, die Vorges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Esperanto-Bewegung 1 in der Sowjetunion seit 1917 in ihren wesentli<strong>ch</strong>en Grundzügen zu <strong>ch</strong>arakterisieren. Das doppelte methodologis<strong>ch</strong>e Hauptanliegen dieser Arbeit 2 war sowohl die kritis<strong>ch</strong>e Rezeption des früher publizierten Materials als au<strong>ch</strong> seine Ergänzung sowie die Verarbeitung von Internet-Quellen und online-Ressourcen, die bei der Abhandlung dieses Themas bisher zu kurz kamen oder überhaupt kaum die Berücksi<strong>ch</strong>tigung der ohnehin ganz wenigen Autoren fanden, die si<strong>ch</strong> mit dieser Thematik befassten. Ausserhalb des Berei<strong>ch</strong>s der Interlinguistik (Wissens<strong>ch</strong>aft von den <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong>) ist die Verfolgung der Esperantisten in der Sowjetunion (und anderswo) von der akademis<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ung (etwa der Slavistik oder der Osteuropäis<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te) ohnehin ni<strong>ch</strong>t rezipiert worden. So blieb das Thema als übersehener Fors<strong>ch</strong>ungsgegenstand hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> der Esperanto-Bewegung selbst überlassen, von der es au<strong>ch</strong> zum propagandistis<strong>ch</strong> verwertbaren Mythos erhoben wurde. Der Name Stalins ist heutzutage in glei<strong>ch</strong>em Masse wie derjenige Hitlers ein völlig diskreditierter Metabegriff, der ni<strong>ch</strong>t nur eine historis<strong>ch</strong> einzigartige Unperson bezei<strong>ch</strong>net, sondern au<strong>ch</strong> ein Synonym für ein ganzes, einmaliges S<strong>ch</strong>reckens- und Unre<strong>ch</strong>tsregime verkörpert, das no<strong>ch</strong> in viel s<strong>ch</strong>limmerem Ausmass als das Zarenrei<strong>ch</strong>, aber umso fur<strong>ch</strong>tbarer zusammen mit dem deuts<strong>ch</strong>österrei<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>-italienis<strong>ch</strong>en Nationalfas<strong>ch</strong>ismus eine zwar ephemere aber beispiellose und höllis<strong>ch</strong>e Episode in der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Mens<strong>ch</strong>heit darstellt. Diese beiden Horrornamen wecken katastrophale Erinnerungen an heute kaum mehr na<strong>ch</strong>vollziehbare Zeiten und Zustände und lösen, je mehr man über sie weiss, liest und na<strong>ch</strong>denkt, ni<strong>ch</strong>t nur Gefühle des Grauens, S<strong>ch</strong>auderns und Ekels aus, sondern versetzen die Zeitgenossen immer wieder in grosses Staunen darüber, wie es mögli<strong>ch</strong> sein konnte, dass die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Zivilisation in Deuts<strong>ch</strong>land (ni<strong>ch</strong>t zu vergessen sind Österrei<strong>ch</strong> und Italien) und Russland (bzw. Sowjetunion), also in Europa, von einem Stalin (und Lenin) einerseits und von einem Hitler andererseits derart verführt, gepeinigt und mit den paranoiden Ideologien, die sie vertraten und verbreiteten, ins Verderben gestürzt werden konnte. Die zahlrei<strong>ch</strong>en Erklärungsversu<strong>ch</strong>e, die von kompetenten und engagierten Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ts- und Sozialwissens<strong>ch</strong>aftlern diverser nationaler Provenienz und politis<strong>ch</strong>er Couleur bisher unternommen wurden, waren zwar allesamt interessant und für das Verständnis wegweisend, s<strong>ch</strong>ienen aber denno<strong>ch</strong> oft immer wieder etwas hilflos dahergekommen und am mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unvermögen ges<strong>ch</strong>eitert zu sein, diese Phänome der S<strong>ch</strong>izophrenie und der Paranoia ri<strong>ch</strong>tig zu verstehen, zu begreifen und zu deuten, ja sie den na<strong>ch</strong>geborenen Generationen überhaupt erst verständli<strong>ch</strong> und begreifbar zu ma<strong>ch</strong>en. Trotz des allgemeinen Konsenses über die Verwerfli<strong>ch</strong>keit der in dieser Art beispiellosen Verbre<strong>ch</strong>en Stalins und Hitlers und über die endgültige Ablehnung ihrer Ideologien werden von gewissen politis<strong>ch</strong>en und gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Kreisen in vers<strong>ch</strong>iedenen Ländern, so au<strong>ch</strong> in Deuts<strong>ch</strong>land, Österrei<strong>ch</strong>, Italien einerseits und in Russland und Georgien andererseits, immer wieder unerhörte Versu<strong>ch</strong>e gewagt, diese mens<strong>ch</strong>enfeindli<strong>ch</strong>en Ideologien, vor allem den Nationalsozialismus und den Kommunismus, mit Nostalgie zu bedenken, den unleugbar kriminellen Charakter dieser beiden politis<strong>ch</strong>en Systeme herunterzuspielen, zu relativieren oder sogar zu re<strong>ch</strong>tfertigen und die (ungesühnten) Täter von damals zu rehabilitieren oder zu reheroisieren. Sol<strong>ch</strong>e Bestrebungen und Ma<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>aften wie die Verharmlosung des Stalinismus oder die Auslassung des Nationalsozialismus und die Verdrängung des Holocausts in Artikeln und öffentli<strong>ch</strong>en Vorträgen, wie die Ignorierung und Leugnung von allerlei Pogromen und Völkermorden der jüngeren Zeit dur<strong>ch</strong> Nationalisten aller Art oder wie die absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ni<strong>ch</strong>terwähnung des Judentums von Personen sind selbstverständli<strong>ch</strong> völlig inakzeptabel und müssen als Formen des <strong>An</strong>tisemitismus, Rassismus, Nationalismus und der Xenophobie geä<strong>ch</strong>tet werden. 1 Esperanto bedeutet Hoffnung (bzw. der Hoffende). 2 Sie ist Teil eines umfangrei<strong>ch</strong>eren, unabhängigen und privaten Fors<strong>ch</strong>ungsprojekts zur Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Esperanto-Bewegung in Osteuropa.
3 Die (naturgemäss linksorientierte) Esperanto-Bewegung ´wählte´ in der Sowjetunion (der 20er und 30er Jahre) mit Ė.K. Drezen an der Spitze notgedrungen und wohl au<strong>ch</strong> mit voller ideologis<strong>ch</strong>er Überzeugung selbst die Option der Integration in das totalitäre politis<strong>ch</strong>e Herrs<strong>ch</strong>aftssystem Stalins angebli<strong>ch</strong> mit dem Zweck, die Sa<strong>ch</strong>e des Esperanto unter den Bedingungen des Sozialismus voranzutreiben. Wohl unerwartet und paradoxerweise gerieten die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten, die das marxistis<strong>ch</strong>-leninistis<strong>ch</strong>-stalinistis<strong>ch</strong>e System do<strong>ch</strong> so inbrünstig unterstützten, in den Jahren 1936-38 dann selbst in den Sog der stalinistis<strong>ch</strong>en Verni<strong>ch</strong>tungsmas<strong>ch</strong>inerie. Von dieser Materie handelt die vorliegende Studie. A. Künzli, Juli 2013