An Frau Prof - Plansprachen.ch
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36<br />
naturgegebene Entstehung und Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e berufe, jeden Versu<strong>ch</strong> habe ablehnen müssen,<br />
die Mens<strong>ch</strong>heit dur<strong>ch</strong> eine einheitli<strong>ch</strong>e – no<strong>ch</strong> dazu künstli<strong>ch</strong>e – Spra<strong>ch</strong>e verbinden zu wollen. Ihr<br />
sei dies als Utopie ers<strong>ch</strong>ienen, zumal die indoeuropäis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft von der Lehre ausging,<br />
dass es eine einheitli<strong>ch</strong>e Urspra<strong>ch</strong>e gegeben hat. Die internationalen, lebenden und traditionellen toten<br />
Spra<strong>ch</strong>en seien bisher alle als elitäre klassengebundene Spra<strong>ch</strong>en in Ers<strong>ch</strong>einung getreten. Die neuen<br />
Spra<strong>ch</strong>en, die als gesamtnationales Allgemeingut vor allem in der UdSSR entstünden, würden auf<br />
neuen Wegen ges<strong>ch</strong>affen, nämli<strong>ch</strong> auf denen der sowjetis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft, und vor allem die unteren<br />
Volkss<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, d.h. die Bauern und die breiten Massen, seien von ihnen abgedeckt. Ni<strong>ch</strong>t von einer<br />
Utopie sollte man bei dieser neuen Spra<strong>ch</strong>e spre<strong>ch</strong>en, au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t von einem handwerkli<strong>ch</strong>selbstgebastelten<br />
Produkt na<strong>ch</strong> dem Ges<strong>ch</strong>mack und zur Unterstützung des europäis<strong>ch</strong>en Imperialismus,<br />
sondern als Spra<strong>ch</strong>e im Weltmassstab, die ni<strong>ch</strong>t allein die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gewohnheiten und Interessen<br />
dünner Obers<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, sondern die der werktätigen Massen aller Länder erfasst. Dem Esperanto<br />
(und au<strong>ch</strong> dem Ido) attestierte Marr, international erfolgrei<strong>ch</strong> zu sein und wies die „wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />
Haltlosigkeit der Voreingenommenheit“ der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftler gegenüber der Frage der Internationalen<br />
Spra<strong>ch</strong>e zurück.<br />
Marrs Plädoyer für die Künstli<strong>ch</strong>keit der künftigen Weltspra<strong>ch</strong>e und die Ablehnung der Mögli<strong>ch</strong>keit,<br />
dass irgendeine natürli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e die Rolle der Einheitsspra<strong>ch</strong>e in der klassenlosen Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
der Zukunft spielen sollte, verführte einen Teil der Esperantisten zu der (wohl irrigen) Meinung,<br />
in Marr einen Verbündeten der <strong>Planspra<strong>ch</strong>en</strong> und des Esperanto zu sehen. Einige von ihnen s<strong>ch</strong>ienen<br />
übersehen zu haben, dass für Marr im Vorwort zu Drezens Bu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Esperanto oder Ido als Einheitsspra<strong>ch</strong>e<br />
der Zukunft in Frage kam, sondern dass vielmehr davon die Rede war, dass die künftige Einheitsspra<strong>ch</strong>e<br />
no<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>miedet werden müsse, und zwar in Form des Übergangs von vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Einzelspra<strong>ch</strong>en zu einer Einheitsspra<strong>ch</strong>e.<br />
Im Übrigen vertrat Marr, der si<strong>ch</strong> vor 1917 kaum für den Marxismus interessierte, die <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>t,<br />
dass au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Sieg der Diktatur des Proletariats auf der ganzen Welt, wenn sozusagen alle nationalen<br />
und mit ihnen die spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>iede vers<strong>ch</strong>wunden und wenn alle Spra<strong>ch</strong>en in eine<br />
Einheitsweltspra<strong>ch</strong>e neuer Struktur vers<strong>ch</strong>molzen sein werden, die nationalen und spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unters<strong>ch</strong>iede<br />
no<strong>ch</strong> während einer ziemli<strong>ch</strong> langen Zeitspanne erhalten bleiben, so wie au<strong>ch</strong> die Struktur<br />
jeder Spra<strong>ch</strong>e kraft der Kontinuität der Kultur im Grunde die vormalige bleibt. 121<br />
Als Marr si<strong>ch</strong> immer stärker der Kommunistis<strong>ch</strong>en Partei (spri<strong>ch</strong> Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalin persönli<strong>ch</strong>)<br />
verpfli<strong>ch</strong>tet zu fühlen begann und hohe Parteiämter annahm, distanzierte er si<strong>ch</strong> zunehmend<br />
von seinen früheren <strong>An</strong>si<strong>ch</strong>ten. So soll Marr au<strong>ch</strong> zum ents<strong>ch</strong>iedenen Gegner des Esperanto entwickelt<br />
haben. 1933 s<strong>ch</strong>rieb er, dass „Esperanto ohne die notwendige Berücksi<strong>ch</strong>tigung des revolutionären<br />
und Übergangs<strong>ch</strong>arakters der Spra<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>affen worden“ sei. Von einem Surrogat war die Rede. 122<br />
Diese Feinds<strong>ch</strong>aft war wohl mit zwei neuen Entwicklungen verbunden: Mit der Kritik einiger Esperantisten<br />
am Marrismus und mit dem Aufkommen der rebellis<strong>ch</strong>-radikalen ‚Jazykovednyj front’, in<br />
der Drezen Mitglied war.<br />
4.1. Propaganda und Kritik des Marrismus dur<strong>ch</strong> die sowjetis<strong>ch</strong>en Esperantisten und<br />
Interlinguisten<br />
Die Loyalitätsbekundung in Bezug auf die jafetitis<strong>ch</strong>e Lehre Marrs und das Bedürfnis für deren propagandistis<strong>ch</strong>e<br />
Wiedergabe kannte bei den Esperantisten keine Grenzen. Dazu diente eine eigens von<br />
der Spra<strong>ch</strong>kommission der SĖSR veröffentli<strong>ch</strong>ten Bros<strong>ch</strong>üre in russis<strong>ch</strong>er Spra<strong>ch</strong>e, die die wi<strong>ch</strong>tigsten<br />
121<br />
Marr: K voprosu ob istoričeskom precesse. 1930. S. 25.<br />
122<br />
S. W. Solzba<strong>ch</strong>er: Ĉarlatana lingvoscienco. Marr-Drezen-Stalin-Čikobava-Lapenna. In: American Esperanto-Magazine.<br />
Nov.-Dez. 1957, S. 152 (gemäss J. Ku<strong>ch</strong>era: Linguistic Policy of the Soviet Union, Dissertation der Harvard-Universität<br />
1950, S. 240).