25.05.2014 Aufrufe

An Frau Prof - Plansprachen.ch

An Frau Prof - Plansprachen.ch

An Frau Prof - Plansprachen.ch

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

4<br />

Teil 1<br />

1. Vorges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te einer unbekanten Tragödie:<br />

Die Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion na<strong>ch</strong> 1917 3<br />

Bis 1905 bzw. 1917 hatte die Esperanto-Bewegung im Zarenrei<strong>ch</strong> einen s<strong>ch</strong>weren Stand. Die Behörden<br />

betra<strong>ch</strong>teten sie (gemäss Ė.K. Drezen) als Organisation von Juden und Freimaurern und erteilten<br />

nur äusserst ungern und selten, wenn überhaupt, die Erlaubnis für die Gründung eines Vereins, die<br />

Herausgabe einer Zeits<strong>ch</strong>rift oder die Dur<strong>ch</strong>führung eines (öffentli<strong>ch</strong>en) Kongresses. Einer ihrer bekannten<br />

Aktivisten, A.A. Postnikov, wurde sogar wegen Spionage zugunsten Österrei<strong>ch</strong>s verfolgt. Ein<br />

weiterer Esperantist, V.V. Majnov, Korrespondent L.N. Tolstojs, soll sogar ein ehemaliger Agent der<br />

zaristis<strong>ch</strong>en Geheimpolizei gewesen sein. 4 Na<strong>ch</strong> dem kommunistis<strong>ch</strong>en Umsturz (bzw. Staatsstrei<strong>ch</strong>)<br />

im November 1917 dur<strong>ch</strong> Lenin und Konsorten, von der Sowjethistoriographie bekanntli<strong>ch</strong> „Grosse<br />

Sozialistis<strong>ch</strong>e Oktoberrevolution“ genannt, gingen die „proletaris<strong>ch</strong>en“ Esperantisten unverzügli<strong>ch</strong><br />

daran, eine neue Esperanto-Bewegung aufzuri<strong>ch</strong>ten, um die Ideen der Kommunistis<strong>ch</strong>en Internationalen<br />

umzusetzen. 5 Zur Programmatik der Esperanto-Bewegung gehörte die Verkündung, dass die<br />

„Vielspra<strong>ch</strong>igkeit“ ein „Hindernis für die Befreiung der Arbeiterklasse“ sei, die nur dur<strong>ch</strong> die „breite<br />

Verbreitung der Spra<strong>ch</strong>e Esperanto unter den Mitgliedern der RKP, des RLKSM und der Gewerks<strong>ch</strong>aften“<br />

als „Waffe des Klassenkampfes gegen die Bourgeoisie zugunsten der sozialistis<strong>ch</strong>en Arbeiterrevolution<br />

im Weltmassstab“ überwunden werden könne. 6 In einem anderen Beitrag wurde aber<br />

darauf hingewiesen, dass Esperanto ledigli<strong>ch</strong> eine „te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e Vorri<strong>ch</strong>tung“ (russ. prisposoblenie),<br />

eine „Spra<strong>ch</strong>vereinfa<strong>ch</strong>ung sei und keine ideologis<strong>ch</strong>e Veränderung für die neuen Bedürfnisse des si<strong>ch</strong><br />

internationalisierenden Lebens“ bedeute. Der Widerstand gegen die Verbreitung des Esperanto sei<br />

aber „dieselbe hoffnungslose und reaktionäre Sa<strong>ch</strong>e“ wie der Versu<strong>ch</strong>, die Einführung der Dampfmas<strong>ch</strong>ine<br />

und anderer praktis<strong>ch</strong>er Arbeitsmittel zu verhindern. 7 Zur sozusagen heiligen Aufgabe der Esperantisten<br />

gehörte nun die selbst gewählte Pfli<strong>ch</strong>t, die Arbeiter vom Nutzen des Esperanto zu überzeugen<br />

und ihnen nahezulegen, dass sie es lernen sollten. Die Hoffnung und der <strong>An</strong>spru<strong>ch</strong> der Esperantisten<br />

war somit sehr gross, die Warnung an ihre Gegner war ebenfalls ausgespro<strong>ch</strong>en. Von diesen<br />

vor allem in den „bürgerli<strong>ch</strong>en“ Ländern lebenden Gegnern wurde Esperanto „die bols<strong>ch</strong>ewistis<strong>ch</strong>e<br />

Spra<strong>ch</strong>e“ genannt. 8 Mit diesen Hinweisen waren die Hauptargumente der Esperantisten aber bereits<br />

ers<strong>ch</strong>öpft. Der Rest ihrer künftigen Tätigkeit bestand eigentli<strong>ch</strong> nur no<strong>ch</strong> aus illusoris<strong>ch</strong>er Theorie und<br />

Propaganda sowie aus s<strong>ch</strong>wieriger Vereinsarbeit, die mit der Zeit na<strong>ch</strong> stalinistis<strong>ch</strong>er Raison in eine<br />

selbstzerstöreris<strong>ch</strong>e, zermürbende ideologis<strong>ch</strong>e Auseinandersetzung mit <strong>An</strong>dersdenkenden mündete.<br />

Ausser ein paar belanglosen Zeits<strong>ch</strong>riftenartikel<strong>ch</strong>en, Vereinsberi<strong>ch</strong>ten, kurzen literaris<strong>ch</strong>en Übersetzungsversu<strong>ch</strong>en<br />

und altmodis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>kursen hatte die Esperanto-Bewegung in ihren Publikationen<br />

3<br />

Vorliegender Text – die Kurzfassung eines Teils einer umfangrei<strong>ch</strong>eren wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Arbeit über die Esperanto-<br />

Bewegung Osteuropas – benutzt als Grundlage vor allem die folgenden Quellen und Ressourcen: Nikolaj Stepanov:<br />

www.historio.ru; Oleg Krasnikov: Istorija Sojuza Ėsperantistov Sovetski<strong>ch</strong> Respublik, Moskau 2008; Ė.K. Drezen: Batalo<br />

por SEU, 1932 (http://www.esperanto.org/Ondo/H-drezen.htm; U. Lins: Drezen, Lanti kaj La Nova Epoko. In: Sennacieca<br />

Revuo 115/1987 sowie die Zeits<strong>ch</strong>riften Sovetskij Ėsperantist / Soveta Esperantisto (1925) und Meždunarodnyj jazyk / Internacia<br />

Lingvo (v.a. 1925/26 und 1929-33). Ergänzend: U. Lins: La danĝera lingvo (Esperanto-Version von ‘Die gefährli<strong>ch</strong>e<br />

Spra<strong>ch</strong>e’), Gerlingen 1988 (russis<strong>ch</strong>e Version auf http://www.rusio.ru/dl); Enciklopedio de Esperanto, Budapest 1933 sowie<br />

die in den Fussnoten angegebene Sekundärliteratur.<br />

4<br />

S. http://www.esperanto.org/Ondo/H-drezen.htm. Im Rahmen meiner Lizentiatsarbeit für die Universität Züri<strong>ch</strong> befasste i<strong>ch</strong><br />

mi<strong>ch</strong> mit dem Thema „Interlinguistik und Esperanto im Zarenrei<strong>ch</strong> und in der Sowjetunion“ (unveröffentli<strong>ch</strong>t 1991, 268 S.),<br />

in der vor allem die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te dieser Bewegung bis 1917 aufgearbeitet wurde.<br />

5<br />

Das Manifest der Kommunistis<strong>ch</strong>en Partei von 1872 wurde erstmals 1908 ins Esperanto übersetzt und in Chicago herausgegeben.<br />

Eine weitere Übersetzung ers<strong>ch</strong>ien in den 1920er Jahren in Düsseldorf, und eine Neuübersetzung wurde 1990 (!)<br />

publiziert (Volltext s. unter http://www.marxists.org/esperanto/marx-engels/1848/manifesto/mkp.pdf).<br />

6<br />

Meždunarodnyj jazyk / Internacia Lingvo 1/1925, S. 2. Der Aufruf trug die Unters<strong>ch</strong>rift M. Boguslavskijs, des Vorsitzenden<br />

des Kleinen Sovnarkoms der RSFSR.<br />

7<br />

Ebd. S. 6.<br />

8<br />

Meždunarodnyj jazyk / Internacia Lingvo 1/1925, S. 3. Explizit wurde in dieser Zeits<strong>ch</strong>rift darauf hingewiesen, dass L.L.<br />

Zamenhof kein Marxist gewesen sei und dass er „wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> keine Ahnung vom Marxismus gehabt hat“, dass er aber<br />

eine „geniale“ internationale Spra<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>affen habe.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!