25.05.2014 Aufrufe

An Frau Prof - Plansprachen.ch

An Frau Prof - Plansprachen.ch

An Frau Prof - Plansprachen.ch

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

86<br />

von einer alten zu einer neuen Qualität anerkennt. Das ist natürli<strong>ch</strong> fals<strong>ch</strong>, denn in dieser Theorie wird<br />

man s<strong>ch</strong>werli<strong>ch</strong> etwas Marxistis<strong>ch</strong>es finden. Und wenn die Theorie der Stadialität wirkli<strong>ch</strong> plötzli<strong>ch</strong>e<br />

Explosionen in der Entwicklungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Spra<strong>ch</strong>e anerkennt - umso s<strong>ch</strong>limmer für sie. Der<br />

Marxismus anerkennt keine plötzli<strong>ch</strong>en Explosionen in der Entwicklung der Spra<strong>ch</strong>e, keinen plötzli<strong>ch</strong>en<br />

Tod einer bestehenden Spra<strong>ch</strong>e und keinen plötzli<strong>ch</strong>en Aufbau einer neuen Spra<strong>ch</strong>e. (…) Der<br />

Marxismus ist der Auffassung, dass der Übergang der Spra<strong>ch</strong>e von einer alten zu einer neuen Qualität<br />

ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> eine Explosion, ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> eine Verni<strong>ch</strong>tung der bestehenden und die ni<strong>ch</strong>t die S<strong>ch</strong>affung<br />

einer neuen Spra<strong>ch</strong>e erfolgt, sondern dur<strong>ch</strong> eine allmähli<strong>ch</strong>e <strong>An</strong>sammlung von Elementen der neuen<br />

Qualität, folgli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> ein allmähli<strong>ch</strong>es Absterben der Elemente der alten Qualität. (…) Man sagt, die<br />

zahlrei<strong>ch</strong>en Fälle von Spra<strong>ch</strong>kreuzungen, die in der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te erfolgt sind, gäben Grund zu der <strong>An</strong>nahme,<br />

dass es bei der Kreuzung zur Bildung einer neuen Spra<strong>ch</strong>e komme, und zwar dur<strong>ch</strong> eine Explosion,<br />

dur<strong>ch</strong> den plötzli<strong>ch</strong>en Übergang von einer alten Qualität zu einer neuen Qualität. Das ist völlig<br />

fals<strong>ch</strong>. Die Kreuzung von Spra<strong>ch</strong>en darf ni<strong>ch</strong>t als einmaliger Akt eines ents<strong>ch</strong>eidenden S<strong>ch</strong>lages<br />

betra<strong>ch</strong>tet werden, der innerhalb einiger Jahre seine Ergebnisse zeitigt. Die Kreuzung von Spra<strong>ch</strong>en ist<br />

ein langwieriger Prozess, der Jahrhunderte währt. (…) Ferner: Es wäre völlig fals<strong>ch</strong>, wollte man glauben,<br />

dass infolge einer Kreuzung beispielsweise zweier Spra<strong>ch</strong>en eine neue, dritte Spra<strong>ch</strong>e entstehe,<br />

die keiner der gekreuzten Spra<strong>ch</strong>en ähnli<strong>ch</strong> sei und si<strong>ch</strong> von jeder dieser Spra<strong>ch</strong>en qualitativ unters<strong>ch</strong>eide.<br />

In Wirkli<strong>ch</strong>keit geht bei der Kreuzung gewöhnli<strong>ch</strong> die eine der Spra<strong>ch</strong>en als Sieger hervor,<br />

bewahrt ihren grammatikalis<strong>ch</strong>en Bau, bewahrt ihren grundlegenden Worts<strong>ch</strong>atz und entwickelt si<strong>ch</strong><br />

na<strong>ch</strong> den ihr innewohnenden Entwicklungsgesetzen weiter, während die andere Spra<strong>ch</strong>e allmähli<strong>ch</strong><br />

ihre Eigens<strong>ch</strong>aft einbüsst und allmähli<strong>ch</strong> abstirbt. Folgli<strong>ch</strong> ergibt die Kreuzung keine neue, dritte<br />

Spra<strong>ch</strong>e, sondern sie lässt eine der Spra<strong>ch</strong>en bestehen, sie lässt deren grammatikalis<strong>ch</strong>en Bau und<br />

grundlegenden Worts<strong>ch</strong>atz bestehen und gibt ihr die Mögli<strong>ch</strong>keit, si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> den ihr innewohnenden<br />

Entwicklungsgesetzen zu entwickeln. Hierbei erfolgt allerdings eine gewisse Berei<strong>ch</strong>erung des Wortbestandes<br />

der siegrei<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e auf Kosten der besiegten Spra<strong>ch</strong>e, aber dadur<strong>ch</strong> wird sie ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>t,<br />

sondern im Gegenteil gestärkt. So war es zum Beispiel mit der russis<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e (...)“ 252<br />

Es ist offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>: Der Artikel verfolgte den Zweck, die Theorien Marrs zu zers<strong>ch</strong>lagen.<br />

Ds<strong>ch</strong>ugas<strong>ch</strong>wili-Stalins Verdikt über Marr lautete in dieser <strong>An</strong>gelegenheit wie folgt:<br />

„N. Ja. Marr trug in die Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft die fals<strong>ch</strong>e, unmarxistis<strong>ch</strong>e Formel von der Spra<strong>ch</strong>e<br />

als Überbau hinein, und er trug in sie au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> die andere, ebenfalls fals<strong>ch</strong>e und unmarxistis<strong>ch</strong>e<br />

Formel von dem ‚Klassen<strong>ch</strong>arakter` der Spra<strong>ch</strong>e hinein. So verhedderte er si<strong>ch</strong> selbst und bra<strong>ch</strong>te die<br />

Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft in Verwirrung. Es ist ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>, die sowjetis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft auf der<br />

Grundlage einer fals<strong>ch</strong>en Formel zu entwickeln. So trug N. Ja. Marr in die Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft einen<br />

dem Marxismus fremden, unbes<strong>ch</strong>eidenen, grosstueris<strong>ch</strong>en und ho<strong>ch</strong>mütigen Ton hinein, der zu einer<br />

nackten und lei<strong>ch</strong>tfertigen Verneinung all dessen führte, was in der Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft vor N. Ja.<br />

Marr vorhanden war.<br />

N. Ja. Marr diffamierte mit grossem Lärm die historis<strong>ch</strong>-verglei<strong>ch</strong>ende Methode als „idealistis<strong>ch</strong>“.<br />

Man muss indessen sagen, dass die historis<strong>ch</strong>-verglei<strong>ch</strong>ende Methode trotz ihrer ernsthaften<br />

Mängel immer no<strong>ch</strong> besser ist als N. Ja. Marrs idealistis<strong>ch</strong>e Vierelementeanalyse, denn die erstere<br />

spornt zur Arbeit, zum Studium der Spra<strong>ch</strong>en an, während die letztere nur dazu anspornt, hinter dem<br />

252<br />

Es ist offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, dass diese pseudogelehrten Phrasen ni<strong>ch</strong>t von Stalin selbst stammen konnten, sondern dass sie von<br />

einem S<strong>ch</strong>reiber vorges<strong>ch</strong>rieben wurden. Auf wel<strong>ch</strong>e Weise Stalins Beitrag zustande kam, ist bis heute ni<strong>ch</strong>t geklärt. Man<br />

nimmt aber an, dass der eigentli<strong>ch</strong> Autor der georgis<strong>ch</strong>e Linguist A.S. Čikobava gewesen war und dass der Beitrag wie folgt<br />

zustande kam: Im April 1949 s<strong>ch</strong>rieb A.S. Čikobava, Mitglied der Akademie der Wissens<strong>ch</strong>aften der Georgis<strong>ch</strong>en SSR in<br />

Tblisi, an Stalin einen Brief, der dem Führer im Kreml wohl von K.N. Čarkviani, dem Ersten Sekretär des ZK der KP<br />

Georgiens, einem Bes<strong>ch</strong>ützer Čikobavas, überrei<strong>ch</strong>t wurde (der Brefe wurde 1985 veröffentli<strong>ch</strong>t). Ein ganzes Jahr lang hatte<br />

Čikobava keine Kenntnis vom S<strong>ch</strong>icksal seines S<strong>ch</strong>reibens erhalten. Plötzli<strong>ch</strong> wurde er im April 1950 na<strong>ch</strong> Moskau auf die<br />

Dats<strong>ch</strong>a Stalins gerufen. Dort habe Čikobava den Auftrag erhalten, einen Artikel für die Pravda zu verfassen. No<strong>ch</strong> zwei<br />

weitere Male wurde Čikobava von Stalin empfangen, der die vers<strong>ch</strong>iedenen Versionen des Artikels las. Glei<strong>ch</strong>zeitig habe<br />

Čikobava Stalin eine Art Lektionen in Fragen der Spra<strong>ch</strong>enwissens<strong>ch</strong>aften erteilt und ihn über die eins<strong>ch</strong>lägige Literatur<br />

informiert. Von wem s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> die Initiative zu diesem Artikel ausging und wel<strong>ch</strong>es die eigentli<strong>ch</strong>en Bewegggründe<br />

Stalins gewesen waren, si<strong>ch</strong> in die Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aft einzumis<strong>ch</strong>en und Marrs Ideen zu zers<strong>ch</strong>lagen, blieb ein Rätsel.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!