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An Frau Prof - Plansprachen.ch

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49<br />

Bei den ans<strong>ch</strong>liessenden, flä<strong>ch</strong>endeckend dur<strong>ch</strong>geführten Säuberungen und Verfolgungen<br />

wurden sämtli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten der Bevölkerung erfasst, vor allem betroffen waren die Parteimitglieder<br />

selbst. Verhaftet wurden Bauern (Kulaken), Geistli<strong>ch</strong>e, Intelligenzler, Wissens<strong>ch</strong>aftler (au<strong>ch</strong> Philologen,<br />

Linguisten und Literaturwissens<strong>ch</strong>aftler), diverse nationale Minderheiten und religiöse Sekten<br />

(wie die Baptisten, Tolstojaner und <strong>An</strong>hänger des Yogi); selbst die eigenen Familienangehörigen und<br />

Verwandten des georgis<strong>ch</strong>en Diktators wurden davon ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>ont. 161 Die Skala der Verfemten ist<br />

also sehr lang. Die Zielpublika und Opferkategorien wurden von A. Solženicyn (in ‚Ar<strong>ch</strong>pel Gulag‘)<br />

wie au<strong>ch</strong> von R. Conquest (in ‚Der Grosse Terror’) und von A. Jakovlev (in „Ein Jahrhundert der Gewalt<br />

in Sowjetrussland“) im Detail präsentiert, untersu<strong>ch</strong>t und analysiert.<br />

Die Verfolgungen, Repressionen und Säuberungen der Stalinzeit wurden von der Historiographie<br />

der sozialistis<strong>ch</strong>en Länder und der kommunistis<strong>ch</strong>en Publizistik vers<strong>ch</strong>wiegen, vernebelt oder<br />

fals<strong>ch</strong> dargestellt und waren im Ostblock im Grunde tabu und ledigli<strong>ch</strong> einer kleinen Gruppe von ‚Bere<strong>ch</strong>tigten’<br />

bekannt. Öffentli<strong>ch</strong> und in den S<strong>ch</strong>ulen konnte darüber kaum diskutiert werden, und in der<br />

Bevölkerung herrs<strong>ch</strong>ten nur vers<strong>ch</strong>wommene Vorstellungen vom ‚Grossen Terror’ der Jahre 1936-38.<br />

Die Politik ma<strong>ch</strong>te diese Ereignisse vergessen und sorgte dafür, dass die Bevölkerung si<strong>ch</strong> für diese<br />

Episode der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t interessierte. Die Ar<strong>ch</strong>ive waren vers<strong>ch</strong>lossen, ledigli<strong>ch</strong> ausserhalb des<br />

Ostblocks gabe es einige wenige Autoren die Aufsehen erregende Bü<strong>ch</strong>er über den Stalinismus publizierten.<br />

Diese Literatur war in den kommunistis<strong>ch</strong>en Ländern unerwüns<strong>ch</strong>t oder verboten. 162<br />

Kaum bekannt ist die kuriose Tatsa<strong>ch</strong>e, dass in der Sowjetunion au<strong>ch</strong> die Esperanto-<br />

Bewegung von den Verfolgungen und Säuberungen betroffen war. Neben den S<strong>ch</strong>utzbündlern, den<br />

Mitgliedern der Freien Philosophis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft, den Lehrern, den Mitarbeitern des Politis<strong>ch</strong>en<br />

Roten Kreuzes, den Dienstverweigerern habe si<strong>ch</strong> Stalin au<strong>ch</strong> die Esperantisten „als übles Völk<strong>ch</strong>en<br />

vorgeknüpft“, steht in ‚Ar<strong>ch</strong>ipel Gulag‘ zu lesen. 163 Karl S<strong>ch</strong>lögel hat in seinem Bu<strong>ch</strong> über das Jahr<br />

1937 die Esperantisten ni<strong>ch</strong>t vergessen und erwähnte den Verein der Esperantisten der Sowjetrepubliken<br />

in einem Zug mit den Organisationen der Freunde der Grünanlagen, den Sportlern, der proletaris<strong>ch</strong>en<br />

Touristikern und der revolutionären Theaterleuten, deren <strong>An</strong>s<strong>ch</strong>riften er in Moskauer Adressbü<strong>ch</strong>ern<br />

dieser Zeit gefunden hatte. 164<br />

In der späten Gorbačëv-Zeit von Perestrojka und Glasnost (also um 1988/89), als ein Teil der<br />

sowjetis<strong>ch</strong>en Ar<strong>ch</strong>ive geöffnet wurde, gelang es dem Moskauer Esperantisten und Historiker Nikolaj<br />

161<br />

Zur Repression in der Wissens<strong>ch</strong>aft s. http://russcience.euro.ru/hronXX.htm. Verfolgung der Slavisten: Дело славистов<br />

(russ. Wikipedia und http://www.ihst.ru/projects/sohist/material/dela/slavist.htm). Verfolgung der Juden: S.<br />

http://www.ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tein<strong>ch</strong>ronologie.<strong>ch</strong>/SU/Pinkus_judenverfolgung-in-russland-u-SU/03-1930-1939.html. Kulaken, Kriminelle,<br />

antisowjetis<strong>ch</strong>e Elemente s. den „Befehl Nr. 00447 vom 30.7.1937“ (s. http://de.wikipedia.org/wiki/NKWD-<br />

Befehl_Nr._00447).<br />

162<br />

Als 1974 in einem bedeutenden Referenzwerk der Esperanto-Bewegung (‚Esperanto en perspektivoj’, s.<br />

http://www.ivolapenna.org/verkoj/verkoj2.htm bzw. http://www.ivolapenna.org/verkoj/books/persp.pdf) ein Kapitel über die<br />

Verfolgungen in der Sowjetunion veröffentli<strong>ch</strong>t wurde, hagelte es Proteste von Seiten kommunistis<strong>ch</strong>er Hardliner aus dem<br />

Ostblock, und ein regimetreuer Rezensent aus der DDR meinte, als 1988 ein separates Bu<strong>ch</strong> zu diesem Thema ers<strong>ch</strong>ien (‚Die<br />

gefährli<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e’), die Studie habe die reale Situation in den sozialistis<strong>ch</strong>en Ländern ni<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tig erfasst und das Thema<br />

sei marxistis<strong>ch</strong> aufzuarbeiten. Na<strong>ch</strong> dem Kollaps des Kommunismus 1989/91 büssten sol<strong>ch</strong>e erratis<strong>ch</strong>e Einwände ihre Plausibilität<br />

und Gültigkeit freili<strong>ch</strong> von selbst ein.<br />

163<br />

Dt. Ausgabe, Bd. 1, S<strong>ch</strong>erz-Verlag, Bern 1974, S. 67. In Bd. 2, Kap. 3, S. 84, werden die Esperantisten no<strong>ch</strong> einmal als<br />

Zwangsarbeiter am Weissmeer-Ostsee-Kanal (eröffnet 1933) in einem Zug mit „Studenten“ erwähnt und so vom grossen<br />

Gulag-Autoren zu einer berühmten Legende im Zusammenhang mit dem Stalin-Terror gema<strong>ch</strong>t. Im Jahr 1974 ers<strong>ch</strong>ien au<strong>ch</strong><br />

in Rotterdam das grosse historiographis<strong>ch</strong>e Referenzwerk der Esperanto-Bewegung, ‚Esperanto en perspektivo’, das ein von<br />

U. Lins bearbeitetes Kapitel über die Verfolgung der Esperanto-Bewegung in der Sowjetunion und im Ostblock enthielt. Die<br />

offiziellen Esperanto-Vertreter des Ostblocks (v.a. Bulgariens) protestierten offiziell gegen die Veröffentli<strong>ch</strong>ung dieses Kapitels.<br />

Vers<strong>ch</strong>weigen konnte man das Thema seither aber selbst in Esperanto-Kreisen des Ostblock ni<strong>ch</strong>t mehr. Dieses von Ivo<br />

Lapenna lancierte Bu<strong>ch</strong> war viellei<strong>ch</strong>t eines der wenigen grossen publizistis<strong>ch</strong>en Leistungen der Esperanto-Bewegung, die<br />

si<strong>ch</strong> andererseits zwar leider den kommunistis<strong>ch</strong>en Staaten anbiederte, obwohl seine einseitigen Propagandaabsi<strong>ch</strong>ten den<br />

Wert des Bu<strong>ch</strong>es s<strong>ch</strong>mälerten. ‚Esperanto en perspektivo’ wurde später weder neu aufgelegt no<strong>ch</strong> wurde es von einem anderen<br />

Werk übertroffen (online abrufbar unter http://www.ivolapenna.org/verkoj/books/persp.pdf, Verfolgungen der Esperanto-<br />

Bewegung in Osteuropa s. Kap. 21).<br />

164<br />

K. S<strong>ch</strong>lögel: Terror und Traum. Moskau 1937. 2010, S. 92.

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