im gruenen Bereich.pdf - quavier.ch
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unbedrucktes Zeitungspapier. Das rei<strong>ch</strong>te ihm<br />
nie. Oft s<strong>ch</strong>rieb er sogar mit abgebro<strong>ch</strong>enen<br />
Spitzen und den Fingernägeln.<br />
Sein Tagesablauf wird so ges<strong>ch</strong>ildert: «Er steht um 6<br />
Uhr auf, zieht si<strong>ch</strong> aber ungemein langsam an, da er<br />
dazwis<strong>ch</strong>en <strong>im</strong>mer mit den Halluzinationen spre<strong>ch</strong>en<br />
muss». Das dauert oft fast zwei Stunden. Na<strong>ch</strong><br />
dem Frühstück «geht er glei<strong>ch</strong> in seine Zelle und<br />
s<strong>ch</strong>reibt und zei<strong>ch</strong>net eifrig den ganzen Tag über bis<br />
zur Dunkelheit . . .».<br />
22 Jahre lang arbeitete Wölfli an seinem «kompliszierten<br />
Wärk». Es beginnt mit der Erzählung<br />
«Von der Wiege bis zum Graab». Held ist<br />
das Kind «Doufi» (Adolf). Mit seiner Mutter,<br />
Verwandten und Freunden von der «S<strong>ch</strong>weizer<br />
Jäger- und Nathurvors<strong>ch</strong>er-Reise-Gesells<strong>ch</strong>aft»<br />
fährt es na<strong>ch</strong> Amerika, dann auf die Insel<br />
St. Helena, na<strong>ch</strong> Spanien und <strong>im</strong>mer weiter<br />
um die ganze Welt. Unterwegs ereignen si<strong>ch</strong><br />
fortlaufend s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>e Katastrophen, Unglücksfälle<br />
und Abstürze. Immer aber wird<br />
Doufi gerettet, oft von «Gott=Vatter» persönli<strong>ch</strong>,<br />
oder wieder zum Leben erweckt.<br />
Ein Beispiel von Wölflis Dramatik: "... Fur<strong>ch</strong>tbare S<strong>ch</strong>lagwellen<br />
s<strong>ch</strong>leuderten das S<strong>ch</strong>iff na<strong>ch</strong> allen Ri<strong>ch</strong>tungen<br />
der Windroose. Die erzürnte Brandung des Meeres: Das<br />
ä<strong>ch</strong>zen, stöhnen und kra<strong>ch</strong>en des Dampfers: Der dumpf<br />
brüllende Donner in den Wolken: Und die grell leu<strong>ch</strong>tenden<br />
Blitze, wel<strong>ch</strong>e bald Hier bald dort untt'r fur<strong>ch</strong>tbahrer<br />
Detonation, zis<strong>ch</strong>end in's Wasser s<strong>ch</strong>lugen, versetzte die<br />
gantze Besatzung in eine Sinnferwirrende, entsetzli<strong>ch</strong>e<br />
Unortnung. Oft kahm es mihr fohr, als ob i<strong>ch</strong> auf einem<br />
gewalltigen S<strong>ch</strong>litten zu Thal spediert würde, um glei<strong>ch</strong><br />
darauf wieder auf eine beträ<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> hohe Domähne getrieben<br />
zu werden. . . ."<br />
Ab 1912 folgen die «Geographis<strong>ch</strong>en und Allgebräis<strong>ch</strong>en<br />
Hefte». Darin wird bes<strong>ch</strong>rieben, wie<br />
die «Skt. Adolf-Riesen-S<strong>ch</strong>öpfung» entstehen<br />
soll. Die bereits bereisten Gebiete werden aufgekauft,<br />
und mit te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Einri<strong>ch</strong>tungen<br />
überzogen – Eisenbahnen, Brücken, Elektrizitätswerke,<br />
Banken, Konditoreien. Alles wird<br />
umfassend neu organisiert und umbenannt:<br />
S<strong>ch</strong>angnau heisst nun «Skt. Adolf-He<strong>im</strong>» und<br />
Afrika «Skt. Adolf-Süd». Die Begleiter werden<br />
zur «Riesen-Reise-Avantgaarde» und kolonisieren<br />
den gesamten Kosmos. Längst rei<strong>ch</strong>en<br />
Grüner Tipp<br />
Tiere – z. B. S<strong>ch</strong>metterlinge und Zugvögel –<br />
brau<strong>ch</strong>en die Dunkelheit für Nahrungssu<strong>ch</strong>e<br />
und Orientierung. Verwenden Sie<br />
für Aussenbeleu<strong>ch</strong>tungen daher nur<br />
mögli<strong>ch</strong>st dezente Lampen, deren Li<strong>ch</strong>tkegel<br />
na<strong>ch</strong> unten geri<strong>ch</strong>tet ist. Beleu<strong>ch</strong>ten<br />
Sie keine Bäume und Sträu<strong>ch</strong>er.<br />
(mr)<br />
Wölfli die gewöhnli<strong>ch</strong>en Zahlen ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
aus; er s<strong>ch</strong>afft neue Einheiten: Auf die Quadrillarde<br />
folgen «Regonif, Suniff, Unitif, Vidoniss<br />
und als hö<strong>ch</strong>ste Zahl ‹Zorn›. No<strong>ch</strong> mehr heisst<br />
‹Zohorn›. Am 23. Juli 1916 ernennt si<strong>ch</strong> Wölfli<br />
definitiv zu «Skt. Adolf II.»<br />
In den Heften mit «Liedern und Tänzen»<br />
(1917–1922) versammelt Wölfli «Pollkas», «Mazurkas»<br />
und «Märs<strong>ch</strong>e». Sie bestehen aus Re<strong>im</strong>en<br />
und in Silben ges<strong>ch</strong>riebenen Musikkompositionen.<br />
Sie besingen die Riesen-S<strong>ch</strong>öpfung<br />
und ihr bekanntes Personal. Die bisherigen Illustrationen<br />
ersetzt er <strong>im</strong>mer häufiger dur<strong>ch</strong><br />
Collagen mit Bildern aus Zeitungen, raffiniert<br />
ergänzt mit Zierleisten und typis<strong>ch</strong>en Wölfli-<br />
Motiven. – Im Heft Nr. 20 beendet er sein erzähleris<strong>ch</strong>es<br />
Werk:<br />
«S<strong>ch</strong>luss, Ho<strong>ch</strong>währte Läser und Läserinnen. Wegen<br />
s<strong>ch</strong>mertzhafter Krankheit und grässli<strong>ch</strong> biterem Leiden,<br />
findet si<strong>ch</strong> mein Ändsuntterzei<strong>ch</strong>nete Wenigkeit ge -<br />
nöhtigt, das grosse, lehrrei<strong>ch</strong>e, untterhaltende und,<br />
s<strong>ch</strong>öne . . . Bu<strong>ch</strong>, in seinem unvollendeten Innhalt diräkt,<br />
abzus<strong>ch</strong>liessen . . .»<br />
Trotzdem arbeitet Wölfli unablässig weiter<br />
und füllt a<strong>ch</strong>t «Allbumm»-Hefte mit Tänzen<br />
und Märs<strong>ch</strong>en. 1928 beginnt er den «Trauer-<br />
Mars<strong>ch</strong>», 2956 Lieder aus fast abstrakten Lautgebilden.<br />
1930 setzt der Tod den S<strong>ch</strong>lusspunkt.<br />
Wölflis rei<strong>ch</strong>es Werk steht in s<strong>ch</strong>arfem Gegensatz<br />
zu seiner armseligen<br />
Biographie:<br />
Adolf wurde 1864 geboren;<br />
der Vater war<br />
Trinker und verliess<br />
bald die Familie. Die<br />
Mutter s<strong>ch</strong>lug si<strong>ch</strong> in<br />
Bern als Wäs<strong>ch</strong>erin<br />
dur<strong>ch</strong>. Wegen ihrer Armut<br />
wurde die Familie<br />
1872 in die He<strong>im</strong>atgemeinde<br />
S<strong>ch</strong>angnau<br />
abges<strong>ch</strong>oben und<br />
dort (laut Wölfli) mit<br />
Flü<strong>ch</strong>en empfangen:<br />
«Potz Kreutz = Millionen<br />
= H<strong>im</strong>mel = Herrgott<br />
= Bomben = Granaaten<br />
= Saker = Elemennt<br />
= Donn'r =<br />
Wätt'r.» Adolf wird<br />
von seiner kranken<br />
Mutter, die kurz darauf<br />
stirbt, getrennt<br />
und als Verdingbub<br />
bei Bauern untergebra<strong>ch</strong>t.<br />
Er leidet Hunger,<br />
wird geprügelt<br />
und erlebt wüste Branntwein-Gelage.<br />
Immerhin<br />
durfte er zur S<strong>ch</strong>ule. Sein<br />
letztes Zeugnis zitiert er so: «Lesen, sehr gut.<br />
Re<strong>ch</strong>nen gut. Vaterlandskunde gut. Geogravy<br />
kaum genügend. S<strong>ch</strong>reiben ungenügend.»<br />
Von 1880 an arbeitet er als Kne<strong>ch</strong>t und Handlanger.<br />
Eine erste Liebe zerbri<strong>ch</strong>t, eine zweite<br />
s<strong>ch</strong>eitert und eine dritte ebenfalls. 1890 wird<br />
er, weil er si<strong>ch</strong> zwe<strong>im</strong>al an Kindern vergangen<br />
hat, zu zwei Jahren Zu<strong>ch</strong>thaus verurteilt. Na<strong>ch</strong><br />
einem Rückfall wird er 1895 in die Waldau eingewiesen.<br />
Ein ärztli<strong>ch</strong>es Guta<strong>ch</strong>ten erklärt ihn<br />
geistesgestört, unzure<strong>ch</strong>nungsfähig und gemeingefährli<strong>ch</strong>.<br />
Wölfli bleibt für den Rest seines<br />
Lebens in der Anstalt. In einem seiner Gedi<strong>ch</strong>te<br />
heisst es:<br />
«Gott, Vatter: Herr der Wellten. Blik in das tieffe === Meer.<br />
Du wolltest Uns vergelten: Die Sünde, Ab'r s<strong>ch</strong>wehr.<br />
Und bin i<strong>ch</strong> einst zu Ände: auf meiner Lebensbahn,<br />
So falte mihr die Hände: Und fang ni<strong>ch</strong>t Fohrnen ahn.<br />
(ar)<br />
Quellen:<br />
– Walter Morgenthaler, Ein Geisteskranker als Künstler,<br />
Wien cop. 1985<br />
– Albert Anker – Adolf Wölfli, Ausstellung, Kunst -<br />
museum Bern, Katalog, Bern 1999<br />
– Der Engel des Herrn <strong>im</strong> Kü<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>urz: Über Adolf<br />
Wölfli, hrsg. Elka Spoerri, Frankfurt a.M. 1987<br />
– Konrad Tobler, Hodler, Stauffer, Wölfli, Sulgen 2011<br />
– Adolf Wölfli, Autobiographie und Autofiktion / Marie-<br />
Françoise Chanfrault-Du<strong>ch</strong>et, Freiburg i.Br. 1998<br />
Adolf Wölfli, Stadtplan von Bern: Kir<strong>ch</strong>en=Feld; Bern, 1916, Bleistift und<br />
Farbstift auf Papier, 74,8 x 49,8 cm.Adolf-Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum<br />
Bern<br />
QUAVIER 70/13 | 15