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Sartre und die Sowjetunion

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zuzeigen war Ziel eines Ausflugs nach Rostóv-Âroslávskij, der allerdings vor Ort an den lokalen<br />

Funktionären scheiterte. Es gab auch Treffen mit non-konformistischen Malern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

<strong>und</strong> ein Besuch im Atelier Neizvéstnyjs. In Leningrad traf er den Schriftsteller Ûrij<br />

Gérman <strong>und</strong> den Regisseur Iósif Héjfic. <strong>Sartre</strong>s Interesse galt auch der neuen, gegen <strong>die</strong><br />

alte Stalingotik gewendeten Architektur, <strong>die</strong> er mit jener in Brasilia verglich. Die Aufführung<br />

von Andréj Tarkóvskijs Film Ivánovo detstvo (Iwans Kindheit) beeindruckte ihn so sehr, dass<br />

er zu dessen Gunsten einen Brief schrieb (in L’Unità, 9.10.62), nachdem <strong>die</strong> Verleihung des<br />

Goldenen Löwen an den Filmfestspielen in Venedig nicht auf grosse Zustimmung bei den<br />

westlichen Kommunisten gestoßen war. Von nicht geringer Bedeutung für seine zukünftigen<br />

Reisen in <strong>die</strong> <strong>Sowjetunion</strong> war, dass er mit Léna Zónina, einer Protégée Èrenbúrgs, nicht nur<br />

eine neue Übersetzerin, sondern auch eine neue Fre<strong>und</strong>in hatte. Die vielen positiven Veränderungen<br />

gegenüber 1954/55 waren für <strong>Sartre</strong> offensichtlich. Dass allerdings nicht alles nur<br />

positiv war, blieb auch ihm nicht verborgen. So kam ein Treffen mit sowjetischen Philosophen<br />

aus ideologischen Gründen nicht zustande.<br />

Im Juli 62 kehrte <strong>Sartre</strong> für den Weltfriedenskongress, zu dem ihn Kornejčúk <strong>und</strong> Èrenbúrg<br />

eingeladen hatten, nach Moskau zurück. In seiner Rede zugunsten einer Demilitarisierung<br />

der Kultur setzte sich <strong>Sartre</strong> für einen freien <strong>und</strong> friedlichen Austausch von Kultur ein. Eine<br />

besondere Erwähnung erhielt Kafka, dessen Werk in der UdSSR verboten war 42 . Ende 62<br />

fuhren <strong>Sartre</strong> <strong>und</strong> Beauvoir nochmals nach Moskau <strong>und</strong> Leningrad, um zusammen mit Zónina<br />

Neujahr zu feiern. Gegenstand von Diskussionen war wiederum der Vorschlag eines internationalen<br />

Schriftstellertreffens. <strong>Sartre</strong> traf sich mit jungen Philosophen <strong>und</strong> mit dem<br />

Schriftsteller Daniíl Gránin, der sich intensiv für <strong>die</strong> Liberalisierung engagierte. Obwohl sich<br />

<strong>Sartre</strong> <strong>und</strong> Beauvoir mit der in Folge des Zusammenstoßes zwischen Hruŝëv 43 <strong>und</strong> Neizvéstnyj<br />

im Dezember 62 restriktiver gewordenen Kulturpolitik konfrontiert sahen, glaubten sie<br />

dennoch, dass das Tauwetter endgültig Einzug gehalten habe. 44 Wo <strong>Sartre</strong>s Sympathien<br />

lagen, bewies <strong>die</strong> Veröffentlichung von zwei Erzählungen Solženícyns (Matrënin dvor, März<br />

63, <strong>und</strong> Dlâ pól’sy déla, Oktober <strong>und</strong> November 63) in den T.M.. <strong>Sartre</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> T.M. zählten<br />

somit zu den ersten im Westen, <strong>die</strong> Solženícyn literarisches Werk förderten. 45<br />

Dass <strong>die</strong> kulturelle Großwetterlage in der UdSSR eine Abkühlung erfahren hatte, wurde <strong>Sartre</strong><br />

definitiv an der Tagung der COMES über den zeitgenössischen Roman im August 63 in<br />

Leningrad bewusst. Zwischen der sowjetischen Seite, <strong>die</strong> mit Ausnahme von Tvardóvskij <strong>und</strong><br />

Èrenbúrg den Westen als dekadent verunglimpfte, <strong>und</strong> der westlichen Seite, u.a.. Alain Robbe-Grillet,<br />

kam es zu heftigen Debatten. <strong>Sartre</strong>, der zu Beginn abwesend war, hielt auf Bitten<br />

des ehemaligen Ersten Sekretärs des Schriftstellerverbands, Surkóv, <strong>die</strong> Schlussrede. In ihr<br />

fand <strong>Sartre</strong> einerseits versöhnliche Worte, verteidigte aber andererseits Proust, Joyce <strong>und</strong><br />

42 Jean-Paul <strong>Sartre</strong>, „Die Abrüstung der Kultur“ („La Démilitarisation de la culture“, 17.7.62), in: ders.,<br />

Was kann Literatur?, Reinbek, 1986, S. 30-39. Zu einer grossen Provokation der Sowjetbürokraten<br />

wäre es gekommen, hätte Jean Genet der Einladung <strong>Sartre</strong>s zugestimmt, ihn auf einer Reise in <strong>die</strong><br />

<strong>Sowjetunion</strong> zu begleiten.<br />

43 Hruŝëvs Politik schwankte immer zwischen Grosszügigkeit <strong>und</strong> Engstirnigkeit. Der Gr<strong>und</strong> hierfür lag<br />

darin, dass er Literatur <strong>und</strong> Kunst hauptsächlich unter dem Aspekt der politischen Nützlichkeit betrachtete.<br />

Der einzige Sowjetführer von Lénin bis Gorbačëv, der wirklich ein persönliches Verhältnis zur Literatur<br />

<strong>und</strong> Kunst hatte, war – was viele erstaunen mag – Stálin. Dieser wählte <strong>die</strong> Stálinpreisträger persönlich<br />

aus, beschützte gelegentlich bedeutende Kunstschaffende vor der Willkür der Bürokraten <strong>und</strong><br />

förderte bspw. das Bolšój Teátr. Aber Voraussetzung war dabei, dass <strong>die</strong> Kunst ihm gefiel – <strong>und</strong> in<br />

<strong>die</strong>ser Beziehung war Stálins Geschmack ausserordentlich konservativ.<br />

44 Beauvoir, Alles in allem, a.a.O., S. 289 ; siehe auch <strong>die</strong> Aussage von Mzia Bakradze (in Tout compte<br />

fait Alexia genannt) im Film Les Tribulations de Mr <strong>Sartre</strong> et Mme de Beauvoir vers le Caucase von<br />

Patrick Cazals<br />

45 Die Ausgabe der T.M. vom März 63 enthielt auch ein Werk von Dóroš <strong>und</strong> eines von Aksënov. Spätere<br />

Veröffentlichungen von Werken fortschrittlicher Autoren in den T.M. stammten von Vojnóvič (März<br />

1964) <strong>und</strong> Tvardóvskij (Tërkin na tom svéte, Juni 1964).<br />

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