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Sartre und die Sowjetunion

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<strong>Sartre</strong> bewegte sich Ende der 40er Jahre auf einer strikt neutralistischen Ebene. So beklagte<br />

er beim Krávčenko-Prozess <strong>die</strong> Verlogenheit der westlichen Positionen. Während sie den<br />

sowjetischen Gulag verurteilten, führten <strong>die</strong> Kolonialmächte gleichzeitig Kriege mit Tausenden<br />

von Toten. Dass <strong>die</strong>s keine pro-sowjetische Stellungnahme war, belegte im Januar 50<br />

der Artikel Les Jours de notre vie in den T.M. (Les Temps Modernes), der von Merleau-Ponty<br />

verfasst <strong>und</strong> von <strong>Sartre</strong> mitunterschrieben wurde. Ein Staat, in dem so viele Personen in<br />

Lagern festgehalten werden wie in der UdSSR, könne kein sozialistischer sein 13 . Schon zuvor<br />

hatten <strong>die</strong> T.M. <strong>die</strong> sowjetischen Gesetze über Zwangsarbeit (Dez. 49) <strong>und</strong> Auszüge aus<br />

Victor Serges 14 Tagebüchern veröffentlicht. <strong>Sartre</strong>s Neutralismus zeigte sich auch darin,<br />

dass er im März 50 den von den Kommunisten lancierten Stockholmer Appell zur Ächtung<br />

der Atombombe nicht unterzeichnete.<br />

Ein entscheidendes Ereignis für <strong>Sartre</strong>s künftige politische Ausrichtung war der Überfall des<br />

kommunistischen Nordkoreas auf den Süden im Juni 50, der den Koreakrieg auslöste. Irgendwelche<br />

Träumereien vom friedliebenden kommunistischen Lager waren nicht mehr angebracht.<br />

Anlass zu Illusionen über den Westen gab es allerdings auch keine. Der amerikanische<br />

General MacArthur wollte im Koreakrieg China mit Atomwaffen angreifen. Nur durch<br />

dessen Absetzung konnte Präsident Truman <strong>die</strong>s verhindern. 15 Merleau-Ponty entschied<br />

sich in <strong>die</strong>ser Situation für den Rückzug aus der aktuellen Politik. 16 Merleau-Ponty war wie<br />

Camus von der Möglichkeit ehrlicher, sauberer Politik überzeugt. Die Enttäuschung über <strong>die</strong><br />

neuen Entwicklungen veranlasste ihn zu schweigen. Für <strong>Sartre</strong> war Politik hingegen schon<br />

immer ein Schmutzgeschäft, das durch <strong>die</strong> letzten Ereignisse höchstens noch etwas<br />

schmutziger wurde. F<strong>und</strong>amental hatte sich für ihn nichts geändert. Ein Rückzug aus der<br />

Politik hätte vielmehr im Widerspruch zu dem gestanden, was <strong>Sartre</strong> immer vertrat: der Verantwortung<br />

für <strong>die</strong> Situation, in der der Mensch sich befindet, kann <strong>die</strong>ser nicht entfliehen,<br />

denn auch Schweigen ist eine Stellungnahme getreu dem Gr<strong>und</strong>satz Qui tacet, consentire<br />

videtur.<br />

In den zwei Jahren nach dem Beginn des Koreakriegs gab es für <strong>Sartre</strong> allerdings nichts,<br />

wofür, <strong>und</strong> wenig, wogegen er sich engagieren hätte können. 17 Dies änderte sich abrupt, als<br />

Jacques Duclos, der Präsident der kommunistischen Fraktion, Ende Juni 52 trotz seines Status<br />

als Parlamentarier anlässlich einer Demonstration verhaftet wurde <strong>und</strong> in seinem Auto<br />

gef<strong>und</strong>ene tote, zum Essen bestimmte Tauben in den Händen der Staatsanwaltschaft zu<br />

Brieftauben für <strong>die</strong> Kommunikation mit Moskau mutierten. Der bürgerliche Westen hatte jede<br />

Maßstäbe vernünftigen Handelns verloren. Schon zuvor, im Juni 51, hatte der Pariser Poli-<br />

13 Maurice Merleau-Ponty/Jean-Paul <strong>Sartre</strong>, „Die Tage unseres Lebens“, in: Jean-Paul <strong>Sartre</strong>, Krieg<br />

im Frieden 1, Reinbek 1982, S. 21 („Les Jours de notre vie“, Jan. 50)<br />

14 Victor Serge war ein belgischer Schriftsteller jüdisch-russischer Abstammung, der wegen Unterstützung<br />

Tróckijs in der <strong>Sowjetunion</strong> 1927 <strong>und</strong> 1933-36 in Haft war.<br />

15 MacArthur war bei weitem nicht der einzige Falke unter den führenden US-Militärs. Curtis LeMay,<br />

1948-57 Kommandant des Strategic Air Command, dem <strong>die</strong> Langstreckenbomber <strong>und</strong> Interkontinentalraketen<br />

für einen Angriff gegen <strong>die</strong> <strong>Sowjetunion</strong> unterstanden, 1957-61 stellvertretender, 1961-65<br />

Chief of Staff of the Air Force, war bekannt dafür, dass er für einen Erstschlag gegen <strong>die</strong> <strong>Sowjetunion</strong><br />

eintrat. Dies war auch noch unter Kennedy der Fall, als er auch für eine Besetzung Kubas eintrat,<br />

selbst nachdem <strong>die</strong> Sowjets ihre Raketen abgezogen hatten. Wegen ständiger Querelen mit Verteidigungsminister<br />

McNamara musste LeMay 1965 den Hut nehmen. 1968 war LeMay Kandidat für das<br />

Amt des Vizepräsidenten unter dem Rassisten George Wallace.<br />

16 Siehe ders., „Fre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> Widersprüche: Über Merleau-Ponty“ („Merleau-Ponty vivant“, 1961),<br />

in: ders., <strong>Sartre</strong> über <strong>Sartre</strong>, Reinbek 1980, S. 93-96.<br />

17 Im Fall eines sowjetischen Sieges in einem Dritten Weltkrieg erwartete <strong>Sartre</strong> <strong>die</strong> Liquidation oder<br />

<strong>die</strong> Verschickung nach Sibirien. Ernsthaft machte er sich mit Beauvoir Gedanken darüber, im<br />

Kriegsfall nach Lateinamerika zu emigrieren (in: Simone de Beauvoir, Der Lauf der Dinge, Reinbek<br />

1998, S. 226f. / La Force des choses, 1963). Im Falle einer sowjetischen Besetzung befürwortete er<br />

<strong>die</strong> Résistance (in: Jean-Paul <strong>Sartre</strong>, David Rousset, Gérard Rosenthal, Entretiens sur la politique,<br />

Paris 1949, S. 184).<br />

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